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Taiwan / Gunter Schubert. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 29 S. = 65 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




  • Nach dem Wahlsieg des Kandidaten der oppositionellen DFP, Chen Shuibian, bei den Präsidentschaftswahlen im März 2000 ist eine Minderheitsregierung installiert worden. Noch muss ein modus vivendi gefunden werden, damit diese nicht an der Oppositionsmehrheit der Guomindang im Legislativyuan scheitert. Diese muss jedoch aufpassen, sich durch eine Obstruktionspolitik nicht noch weiter zu diskreditieren und damit Gefahr zu laufen, auch die Parlamentswahlen im Dezember 2001 zu verlieren.

  • Viel spricht für die allmähliche Ausbildung eines Zweiparteiensystems nach US-amerikanischem Muster, in dem für die Neue Partei und die Peoples First Party, beide Abspaltungen von der GMD, kein Platz ist. Voraussetzung dafür ist jedoch eine strukturelle und personelle Erneuerung der GMD, die diese mittlerweile in Angriff genommen hat.

  • Obwohl der neue Präsident konziliante Töne gegenüber der VR China angeschlagen hat, ist eine Lösung des sino-taiwanesischen Konflikts nicht in Sicht. Noch besteht die VR China auf der bedingungslosen Unterwerfung Taiwans unter ihre Version des Ein-China-Prinzips als conditio sine qua non neuer Verhandlungsrunden. Außerdem droht sie seit Beginn des Jahres mit militärischer Invasion, sollte sich Taipei einer zügigen Wiedervereinigung widersetzen.

  • In Taiwan setzt man indes auf Zeit und hofft auf eine veränderte politische Großwetterlage auf dem Festland. In allen politischen Lagern und bei der großen Mehrheit der Bevölkerung besteht Konsens darin, dass die faktische Eigenstaatlichkeit der Inselrepublik nicht zur Disposition steht.

  • Die taiwanesische Wirtschaft ist trotz Asienkrise stabil geblieben und im regionalen Vergleich bereits wieder überaus erfolgreich. Allerdings stehen Umstrukturierungen im Kredit- und Bankensektor an, um die bedenkliche Zunahme notleidender Kredite zu stoppen und das korrupte Geflecht aus Politik und Wirtschaft zu entwirren.

  • Der Chinahandel boomt und wird sich durch den anstehenden Beitritt der VR China und Taiwans zur WTO weiter intensivieren. Dadurch werden beide Seiten ungeachtet ihrer politischen Differenzen in formale Verhandlungen gezwungen, um etwaige Handelsstreitigkeiten auszuräumen. Davon könnten die entscheidenden Impulse für eine substantielle politische Annäherung ausgehen.


Fassungsloses Entsetzen und unbändige Freude standen nah beieinander, als am 24. März 2000 zur Überraschung aller Beobachter der Kandidat der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DFP) Chen Shuibian die zweiten direkten Präsidentschaftswahlen in Taiwan gewann. Nie hätte sich die mehr als fünf Jahrzehnte regierende Guomindang (GMD) träumen lassen, so eindeutig geschlagen zu werden. Ihr Kandidat, der amtierende Vizepräsident Lian Zhan, landete abgeschlagen auf Platz drei - noch hinter dem aus der GMD zuvor ausgeschlossenen, früheren Provinzgouverneur von Taiwan Song Chuyu. In den folgenden Tagen kam es in der Hauptstadt Taipei zu tumultuösen Szenen. Rund 2.000 GMD-Anhänger machten ihrem Unmut über die verlorenen Wahlen Luft und demonstrierten aufgebracht vor dem GMD-Hauptquartier. Es flogen Eier und Steine, einige passierende Funktionäre wurden sogar tätlich angegriffen. Als Hauptverantwortlicher für die Wahlniederlage galt ausgerechnet der „Vater der taiwanesischen Demokratie", der amtierende Staats- und Parteichef Li Denghui. Er hatte den Rausschmiss des beim Volk beliebten Song aus der GMD betrieben und damit das Stimmenreservoir des Regierungslagers gesplittet; dem neuen Präsidenten Chen reichten 39% für den Sieg.

Taiwan: Präsidentschaftswahlen 2000


Stimmen

Stimmenanteil in %

Chen Shuibian (DFP)

4.977.737

39,30

Song Chuyu (unabhängig)

4.664.932

36,83

Lian Zhan (GMD)

2.925.513

23,10

Xu Xinliang (unabhängig)

79.429

0,63

Li Ao (NP)

16.782

0,13



Doch war der Aufruhr nach den Wahlen zu keinem Zeitpunkt mit der Gefahr verbunden, dass der personelle Wechsel an der Staatsspitze zu einer innenpolitischen Krise führen könne. Taiwan ist nach seinem Abschied vom Autoritarismus und der Einleitung einer demokratischen Wende 1986/87 heute eine stabile Demokratie mit frei gewählten Parlamenten, einem funktionierenden Parlamentarismus, Meinungs- und Organisationsfreiheit und einer lebhaften Zivilgesellschaft. Die erstmalige Übernahme des Präsidentenamtes durch die Opposition signalisierte insofern eher politische Normalität. Nun ist es sogar nicht mehr ausgeschlossen, dass die GMD bei den nächsten Parlamentswahlen Ende 2001 auch ihre absolute Mehrheit im Legislativyuan verliert. Dies würde den vielleicht letzten Schritt in dem kontinuierlichen und sehr erfolgreichen Demokratisierungsprozess in Taiwan markieren.

Dennoch stellt die Einführung der neuen Regierung durchaus einen Einschnitt, vielleicht sogar eine Zeitenwende im politischen Leben Taiwans dar. Der charismatische Präsident, der sich als Rechtsanwalt politischer Dissidenten in den frühen 80er Jahren erste Meriten erwarb und nach der Gründung der DFP 1986 zu einem der führenden Oppositionspolitiker des Landes heranreifte, galt bisher als konsequenter Verfechter einer taiwanesischen Unabhängigkeit von China. Deshalb suchte Beijing, seine Wahl mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Drohung und verbalen Einschüchterung zu verhindern. Chen wurde im Vorfeld des Urnenganges als Vaterlandsverräter diffamiert, dessen Sieg zu einer rapiden Verschlechterung der Beziehungen zwischen der VR China und Taiwan führen könne. Seit der Wiedereingliederung Hongkongs und Macaos in den Jahren 1997 und 1999 steht die „Vollendung der chinesischen Einheit" durch den Anschluss Taiwans an den chinesischen Staatsverband ganz oben auf der politischen Agenda Beijings. Nach den Präsidentschaftswahlen hat sich die chinesische Regierung jedoch zunächst einmal auf Abwarten verlegt. Argwöhnisch beobachtet sie die ersten Schritte der Chen-Administration auf dem stark verminten Felde der Chinapolitik und ist sich selbst noch unschlüssig, wie auf die veränderten Konstellationen in Taiwan und die konzilianten Gesprächsangebote des neuen Präsidenten angemessen zu reagieren sei.

Innenpolitisches Tauziehen

Die ersten Monate nach der Amtsübernahme der neuen Regierung haben gezeigt, dass die taiwanesische Variante der cohabitation - also die Zusammenarbeit eines vom Präsidenten ernannten Minderheitenkabinetts mit der Legislative - noch erheblicher Eingewöhnung bedarf. Nicht zuletzt weil die GMD das Parlament mit 125 von 225 (55,6%) Sitzen dominiert, gab Präsident Chen bereits bei seiner Amtseinführung im Mai 2000 die Parole aus, nun müsse eine „Regierung für das ganze Volk" gebildet werden. Dies war zwar mitnichten ein Aufruf zur Bildung einer Koalition aus DFP und GMD, wohl aber Grundlage für die Berufung eines GMD-Politikers zum neuen Premierminister sowie eines Kabinetts aus überwiegend Parteilosen (21) und GMD-Mitgliedern (12); lediglich 7 der 40 Posten in der neuen Administration wurden mit DFP-Leuten besetzt. Trotzdem haben schon die ersten Monate gezeigt, dass auch diese Konstellation ein hartes Aufeinandertreffen zwischen den beiden größten Parteien im Parlament nicht verhindert. Dabei nutzte die GMD bereits mehrfach ihre gesetzgeberische Mehrheit, um entweder Regierungsvorlagen zu blockieren oder aber eigene Vorhaben durchzudrücken. Besonderes Aufsehen erregte die Verabschiedung eines Gesetzes zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit im Juni 2000. Während die Regierung unter Premierminister Tang Fei für eine durchschnittliche Stundenzahl von 44 eintrat, setzte die GMD schließlich eine Verkürzung auf 42 Stunden durch. Man profilierte sich hier aus rein politischen Gründen - und ganz im Gegensatz zur in dieser Hinsicht wenig ruhmreichen eigenen Vergangenheit - als Anwalt der Arbeiter und Angestellten, obwohl diese Maßnahme von großen Teilen der Wirtschaft scharf kritisiert wurde.

Da die taiwanesische Verfassung keinen eigenen Schlichtungsmechanismus für solche Fälle vorsieht, kann die Mehrheitspartei im Legislativyuan theoretisch jede Regierungsarbeit torpedieren und damit eine politische Krise heraufbeschwören. Sie kann dies stets unterhalb der Schwelle des verfassungsrechtlich vorgesehenen Misstrauensvotums gegen den Premierminister tun, da - falls dieses erfolgreich ist - der Präsident dann das Parlament auflösen darf und Neuwahlen auszurufen sind. Ziel einer systematischen Blockadestrategie wäre es, die Regierung zu diskreditieren und den Präsidenten zur Bildung einer Koalition zu zwingen - genau jene Forderung also, die aus den Reihen der GMD seit Monaten erhoben wird. Der neue Staatschef will sich darauf jedoch nicht einlassen und hält sich aus dem Konflikt so gut es geht heraus. Er ist der GMD mit der personellen Besetzung seiner Regierung bereits sehr weit entgegengekommen. Jetzt, so seine Devise, müsse die DFP mit ihrem strategischen Nachteil im Parlament fertigwerden und durch überzeugende Arbeit der Bevölkerung zeigen, dass der politische Gegner lediglich Obstruktion um ihrer selbst willen betreibe. In der Tat liegt hier eine Gefahr für die GMD: Sollte der Eindruck entstehen, dass sie ein schlechter Verlierer ist, könnte die Strafe dafür spätestens in den nächsten nationalen Wahlen folgen.

Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum sich Chen Shubian nicht zu sehr in das politische Alltagsgeschäft hineinziehen lassen will: Es könnte seinem Ansehen schaden. Dabei ist zu bedenken, dass der Präsident formal der Regierung gar nicht angehört. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Premierminister ist verfassungsrechtlich nicht im Einzelnen festgelegt, obwohl die Ernennung des letzteren durch den Präsidenten (ohne Zustimmung des Parlaments) sehr wohl eine dominierende Stellung des Staatschefs gegenüber der Regierung garantiert. Die Distanz zum Kabinettstisch hat durchaus ihren Sinn, denn der Präsident soll und muss mehr als der Vertreter einer Bevölkerungsgruppe sein, um übergreifende Legitimität gewinnen zu können. Es war daher nicht überraschend, dass Chen Shuibian schon bei seiner Regierungsübernahme erklärte, die Mitgliedschaft in der DFP für die Dauer seiner Amtszeit ruhen zu lassen, um besser auf die Integration aller politischen Meinungslager hinwirken zu können - ganz entlang des traditionellen Verständnisses vom Staatsführer als Übervater und Integrationsfigur der Nation. Allerdings wird er gerade in dieser Eigenschaft wohl zu handeln gezwungen sein, sollte sich der Konflikt zwischen der Mehrheitsfraktion im Legislativyuan und seiner „Regierungspartei" als nicht mehr lösbar erweisen. Dann müsste der Präsident wohl oder übel einer Koalitionsregierung den Weg bereiten und damit den wahren Machtverhältnissen im Lande Rechnung tragen. Einstweilen setzt er jedoch auf die Strategie, durch seine „Regierung für das ganze Volk" die GMD politisch so zu marginalisieren, dass sie nach ihrer fürchterlichen Wahlniederlage im März dieses Jahres auch die 2001 anstehenden Parlamentswahlen verliert. Tatsächlich könnte man erst dann, wenn die absolute Mehrheit der GMD in diesem Gremium gebrochen ist, von einem wirklichen Regierungswechsel in Taiwan sprechen.

Die Chancen dafür stehen freilich nicht schlecht. Denn ungeachtet ihrer jüngsten innerparteilichen Reformanstrengungen ist die GMD angeschlagen. Vor allem die Gründung der People First Party des in den Präsidentschaftswahlen nur knapp unterlegenen GMD-Abweichlers Song Chuyu führt viele Beobachter zu dem Schluss, dass das Stimmenreservoir jenseits der DFP langfristig zuungunsten der GMD gespalten wird. Allerdings könnten sich solche Voraussagen auch als irrig erweisen. Schon 1993 hatte sich die GMD mit einer Abspaltung - der Neuen Partei (NP) - abfinden müssen, doch blieb dies weitgehend folgenlos. Während damals noch ideologische Gründe für den Zwist ausschlaggebend waren - die NP hatte der GMD unter Li Denghui Verrat am Ziel der nationalen Wiedervereinigung mit Festlandchina vorgeworfen -, ging es diesmal nur um eine Personalie, nämlich die Nominierung des GMD-Präsidentschaftskandidaten. Sachpolitisch ist kaum erkennbar, wo sich die PFP gegen die GMD oder die DFP zukünftig profilieren könnte. Und ob eine Ein-Mann-Partei, deren Anhängerschaft sich vorwiegend aus unzufriedenen GMD-Wählern speist, gegen die finanzstarke Wahlmaschinerie der GMD bestehen kann, ist mehr als zweifelhaft. Trotzdem dürfte die GMD längere Zeit brauchen, um sich zu konsolidieren. Auf ihrem außerordentlichen Parteitag im Juni wurde der Stellvertreter des langjährigen Vorsitzenden Li Denghui, Lian Zhan, zwar mit großer Mehrheit zu dessen Nachfolger gewählt. Auch will die Partei mit weiteren innerparteilichen Reformen und dem Versprechen, das enorme Parteivermögen offenzulegen, Vertrauen bei der Bevölkerung zurückgewinnen. Doch ist nicht sicher, ob die Zeit bis zum Dezember 2001 reicht, um den Schock der Präsidentschaftswahlen vergessen zu machen und den strukturellen Erneuerungsprozess bis dahin entscheidend voranzutreiben.

Langfristig spricht vieles für die Ausbildung eines taiwanesischen Zweiparteiensystems nach US-amerikanischem Vorbild. Dagegen dürften weder die NP, noch die PFP oder die kleine Taiwanesische Unabhängigkeitspartei überlebensfähig sein. Positionell nähern sich die GMD und die DFP dabei zunehmend einander an. Das gilt nicht nur für die Innen-, Rechts- und Sozialpolitik, sondern auch für die früher zwischen beiden Seiten besonders umstrittene Außen- und Chinapolitik. Diese Entwicklung ist Ausdruck der Entstehung eines homogenen Gemeinwesens, das den alten Konflikt zwischen einheimischen „Taiwanesen" und vorwiegend nach 1949 zugewan-derten „Festländern" sowie deren Nachkommen allmählich überwunden hat, sich zum demokratischen Verfassungsstaat bekennt und seit den frühen 90er Jahren eine eigene politische, wenn nicht gar nationale Identität ausbildet. Zwar markieren die historische Erfahrung der Inselbevölkerung mit der autoritären GMD-Herrschaft und der damit eng verbundene Streit um eine taiwanesische Unabhängigkeit von China noch immer die wesentliche Grenzlinie zwischen DFP und GMD. Aber diese Grenze verwischt sich seit geraumer Zeit immer mehr.

„Ein China" oder „ein China, ein Taiwan"?

Anfang Juli 1999 sorgte ein Interview, das der damalige taiwanesische Staats- und GMD-Parteichef Li Denghui der Deutschen Welle gab, für internationale Schockwellen. Nach dem Verhältnis zwischen Beijing und Taipei befragt, sprach Li plötzlich von „Beziehungen zwischen zwei Staaten" bzw. „besonderen zwischenstaatlichen Beziehungen". Dies schien auf eine qualitative Veränderung der taiwanesischen Chinapolitik hinzudeuten, die bis dato der hohen Sensibilität der VR China für jeden Anschein einer chinesischen Zweistaatlichkeit Rechnung zu tragen bemüht war und stets von entsprechenden Formulierungen abgesehen hatte. Denn in den Augen Beijings gibt es nur ein China, zu dem Taiwan zweifelsfrei gehört und dessen einzig legitime Regierung die der VR China ist. Auch Taipei hatte bisher auf offizieller Ebene stets am Ein-China-Prinzip festgehalten, jedoch seit Anfang der 90er Jahre „China" als eine noch nicht realisierte Idee bezeichnet. Einstweilen gebe es zwei „politische Entitäten", die verschiedene Gebiete dieses fiktiven Gesamtchinas verwalteten, gleichberechtigt seien und friedlich nach einer Wiedervereinigung unter demokratischen Bedingungen strebten.

Besorgt über die für den taiwanesischen Standpunkt unvorteilhafte politische Entwicklung nach einer neuen Annäherung zwischen Beijing und Washington seit Mitte 1998, brach der Präsident deshalb ein Tabu: Die taiwanesische Regierung schien endgültig vom Ein-China-Prinzip Abschied nehmen und fortan die Position einer chinesischen Zweistaatlichkeit offensiv vertreten zu wollen. Damit, so die Rechtfertigung Lis für seine offenkundig mit niemandem vorher näher abgesprochene Aktion, sollte endlich wieder Bewegung in die seit mehreren Jahren festgefahrenen Verhandlungen zwischen den beiden Seiten der Taiwanstraße gebracht werden. In Beijing, aber auch in Washington schrillten die Alarmglocken. Die taiwanesische Regierung wurde von mehreren Seiten unter Druck gesetzt, nicht zuletzt von ihrem wichtigsten Partner USA. Schließlich hatte Präsident Clinton anlässlich des sino-amerikanischen Gipfeltreffens im Juni/Juli 1998 noch eine Politik der „Drei Nein" verkündet, die die Anerkennung einer taiwanesischen Unabhängigkeit durch Washington prinzipiell ausschloss. Schnell versicherten die offiziellen Stellen in Taipei daraufhin, dass sich an der taiwanesischen Chinapolitik nichts ändern werde und man weiterhin auf einen konstruktiven Dialog mit der VR China setze. Von einer direkt bevorstehenden Unabhängigkeitserklärung könne keine Rede sein. Außerdem habe Präsident Li von „besonderen" zwischenstaatlichen Beziehungen gesprochen, die sich von „normalen" Beziehungen souveräner Staaten unterschieden. Dies reflektiere die Realität des beiderseitigen Verhältnisses und sei keineswegs etwas Neues.

Die raschen Beschwichtigungen konnten jedoch nichts an den harschen Reaktionen der KP-Führung ändern, die in den folgenden Wochen wüste Beschimpfungen gegen Li Denghui ausstieß und auch militärisch mit dem Säbel rasselte. Zwar kam es nicht mehr wie noch im März 1996 - vor und während der ersten direkten Präsidentschaftswahlen auf der Insel - zu einer ernsten Krise, als bei großangelegten Militärmanövern vor den Küsten Taiwans sogar Raketen mit scharfer Munition abgeschossen wurden und die USA zwei Flugzeugträgerverbände in die Straße von Taiwan einfahren ließen. Man erinnerte sich in Beijing daran, dass diese Aktionen dem schon damals verhassten „Vaterlandsverräter" Li Denghui einen glänzenden Wahlsieg beschert hatten. Dennoch war das Klima in der Taiwanstraße überaus angespannt. Li hatte eben nicht einfach nur die Stimmungslage der Mehrheit der Inselbevölkerung auf den Punkt gebracht und die bestehenden Verhältnisse beschrieben; er hatte auch an den Grundfesten der Beijinger Version des Ein-China-Prinzips und damit am nationalen Selbstverständnis der chinesischen Führung gerüttelt. Außerdem würde keiner seiner Nachfolger so einfach hinter die nun gezogene Linie zurücktreten können. Taiwan, so das klare Signal, würde unbeirrbar nach der internationalen Anerkennung seiner postulierten Eigenstaatlichkeit streben.

Nach der überraschenden Wahl Chen Shuibians zum neuen Präsidenten der Inselrepublik musste sich die Nervosität in der chinesischen Führung steigern. Chen war seit Jahren bekannt für seine engagierte Unterstützung eines unabhängigen Taiwans, auch wenn er sich als Bürgermeister der Hauptstadt Taipei (1994-1998) diesbezüglich eher in Zurückhaltung geübt hatte. Zudem gehörte er einer Partei an, deren Plattform bis heute die Forderung nach einem Referendum über den zukünftigen politischen Status der Insel enthält. Gemeint ist damit ein Plebiszit über die Frage der Ausrufung einer souveränen Republik Taiwan. Um so mehr bekundete der neue Präsident schon im Vorfeld der Wahl, besonders aber danach, verhandlungsbereit zu sein. In seiner Antrittsrede im Mai gab er zu Protokoll, dass er während seiner Amtszeit weder die Unabhängigkeit Taiwans ausrufen wolle, noch die von Li Denghui in die Debatte geworfene „Theorie der Zweistaatlichkeit" in die Verfassung aufzunehmen gedenke. Über die Bedeutung des Ein-China-Prinzips, so signalisierte er nach Beijing, könne erneut diskutiert werden. Doch dürfe China keine Gewalt gegen Taipei anwenden und auch nicht seine eigene Interpretation des Ein-China-Prinzips zur conditio sine qua non neuer Gespräche zwischen beiden Seiten machen.

Die Botschaft Chens ist somit klar: Er hält faktisch an der alten Linie Li Denghuis fest, derzufolge Taiwan von der Regierung in Beijing als gleichberechtigter Partner anzuerkennen ist, damit Verhandlungen über eine gegenseitige Annäherung vorankommen. Diese Gleichberechtigung müsse nicht zuletzt mit Blick auf eine internationale Anerkennung Taiwans zum Ausdruck kommen, die von China nicht länger blockiert werden dürfe. Unter den Bedingungen von Gleichheit und Gleichberechtigung könne dann auch über das Ein-China-Prinzip geredet werden. Einstweilen möge man sich in diesem Punkt aber am besten auf die Sprachregelung der frühen 90er Jahre verständigen, derzufolge beide Seiten an der gesamtchinesischen Idee festhalten, allerdings einstweilen nicht darin übereinstimmen, was unter „China" konkret zu verstehen sei - also ein Kompromiss nach dem Motto „agree to disagree".

Diese Linie der Chen-Administration ist allerdings trotz aller äußeren Konzilianz so weit von der chinesischen Auffassung entfernt, dass eine Lösung des sino-taiwanesischen Konflikts auf dem Verhandlungswege nicht möglich erscheint. Denn dazu müsste eine der beiden Seiten ihre bisherige Position aufgeben bzw. maßgeblich modifizieren, was derzeit in keiner Weise abzusehen ist. Vielmehr geht der VR China die Geduld mit ihrer „abtrünnigen Provinz" zur Neige. Nach der „Heimholung" Hongkongs (1997) und Macaos (1999) soll nun mit hoher Geschwindigkeit die „Lösung der Taiwanfrage" betrieben werden. Taiwan ist ein nationalistisches Symbol, das erheblich zur Restlegitimation des KP-Regimes beiträgt. Noch im Februar, also kurz vor den Präsidentschaftswahlen, veröffentlichte der chinesische Staatsrat ein wichtiges taiwanpolitisches Dokument. In ihm wurde die Anwendung von Gewalt angekündigt, sollte sich die Insel zügigen Schritten auf dem Weg zu einer Wiedervereinigung anhaltend widersetzen. Das war neu, denn bis dahin hatte man Taiwan nur für den Fall einer formalen Unabhängigkeitserklärung, der Entwicklung von Atomwaffen oder einer Einmischung Dritter in den Konflikt mit einer militärischen Intervention gedroht. Die chinesische Führung erwartet von der neuen Regierung in Taipei endlich ein Einlenken in der Souveränitätsfrage und die Akzeptanz einer lediglich um mehr Autonomierechte erweiterten Version des Modells „ein Land - zwei Systeme", auf dessen Grundlage die Wiedervereinigung stattfinden soll.

Mit dieser Marschrichtung stößt man jedoch nicht nur beim neuen Präsidenten, sondern auch bei allen maßgeblichen politischen Parteien in Taiwan auf kompromisslosen Widerstand. Obgleich sowohl die GMD als auch die NP und die neue PFP in den letzten Monaten unabhängige Gesprächsinitiativen starteten und eigene Parlamentarierdelegationen zu Gesprächen mit hochrangigen Vertretern des KP-Regimes auf das Festland schickten, so war dies ungeachtet vieler Meinungsverschiedenheiten keinesfalls als Versuch einer inoffiziellen Außenpolitik gegen die eigene Regierung zu werten. Auch lehnt es die große Mehrheit der Bevölkerung ab, nach Hongkonger Vorbild in ein autoritäres China integriert zu werden. Nur 11,5% konnten sich im April 2000 eine solche Lösung für Taiwan vorstellen; 70,7% sprachen sich dagegen aus. Man pocht in Taiwan auf sein demokratisches Selbstbestimmungsrecht, das in einem langen politischen Kampf gegen das GMD-Regime Mitte der 80er Jahre erstritten wurde und das man nicht gegen eine neue Diktatur eintauschen will. Zu Beginn dieses Jahres votierten nur noch rund 21% der Insulaner für eine Wiedervereinigung mit Festlandchina. Dagegen plädierten 55% für den Status quo einer zumindest faktischen Eigenstaatlichkeit Taiwans und 18% für die Ausrufung der Unabhängigkeit. Mit anderen Worten: Unter den gegenwärtigen Bedingungen lehnen nahezu drei Viertel der Inselbevölkerung ein Zusammengehen mit dem Festland ab. Es gibt also einen breiten innergesellschaftlichen Konsens in Taiwan, demzufolge das eigene Recht auf umfassende politische Souveränität nicht infrage steht und über eine Wiedervereinigung nur in Zukunft - und dies allein durch eine demokratische Entscheidung auf beiden Seiten der Taiwanstraße - befunden werden kann. Unter dieser Voraussetzung will heute sogar die DFP, die immer für die Unabhängigkeit Taiwans eintrat, ein Zusammengehen mit der VR China akzeptieren. Es ist aber überhaupt nicht absehbar, wann sich demokratische Bedingungen auf dem Festland einstellen werden. Deshalb handelt es sich bei dieser Forderung aus der Sicht Beijings lediglich um eine „versteckte" Unabhängigkeitserklärung.

Somit befinden sich die sino-taiwanesischen Beziehungen in einer Sackgasse - eine Situation, die vor allem für Taiwan auf lange Sicht gefährlich werden könnte. Denn obwohl es nach allgemeiner Expertenmeinung der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) zur Zeit noch nicht möglich ist, die Insel mit militärischen Mitteln zu erobern, dürfte dies schon in wenigen Jahren anders aussehen. US-amerikanische Studien prognostizieren, dass die chinesische Volksbefreiungsarmee in den Jahren 2005/6 endgültig eine militärtechnologische Überlegenheit über die taiwanesischen Streitkräfte errungen haben wird - ungeachtet der Waffen, die Washington auf der Grundlage des Taiwan Relations Act von 1979 zu Verteidigungszwecken an die Inselrepublik liefert. Genauer gesagt wird die VBA dann dazu in der Lage sein, mit modernen Lenkwaffen zielgenaue Bombenangriffe durchzuführen, die von der taiwanesischen Luftabwehr nicht mehr wirksam verhindert werden können und die, anders als eine großangelegte Landeoperation, „kostengünstig" sind. Schon heute sollen 200-300 Kurz- und Mittelstreckenraketen auf Taiwan ausgerichtet sein - ein Arsenal, das an Umfang jährlich um rund 50 neue Raketen zunimmt. Gleichzeitig modernisiert die VBA ihre Luftwaffe und Marine, während man in Taiwan Probleme hat, moderne Waffensysteme - vor allem zur Abwehr von Raketen - aus dem Ausland zu erwerben und den eigenen Ausbildungsstand in genügend schneller Zeit daran anzupassen. Hierzu passen die Gerüchte über angebliche Bemühungen der taiwanesischen Regierung, eigene Raketen zu entwickeln und zu stationieren, um eine Invasion abzuschrecken.

Sollte es zu einem Angriff der VR China auf Taiwan kommen, so hängt das Schicksal der Insel allerdings schon heute von der Bereitschaft seiner inoffiziellen Schutzmacht USA ab, sich notfalls auch in eine militärische Auseinandersetzung mit der VBA zu begeben. Die diesbezüglichen Signale aus Washington könnten jedoch widersprüchlicher nicht sein. Die USA haben stets eine friedliche Lösung der Taiwanfrage verlangt, auch wenn sie am Ein-China-Prinzip nach Maßgabe der VR China festhielten und Taiwan kein Recht auf eine formale Eigenstaatlichkeit zubilligten. Zwar zeigte man während der „Raketenkrise" im Frühjahr 1996 militärisch Flagge, als die VBA aggressive Militärmanöver durchführte und kurz vor den damaligen Präsidentschaftswahlen in Taiwan eine Eskalation des sino-taiwanesischen Konflikts befürchtet werden musste. Auch ist Taiwan aus geopolitischen bzw. militärstrategischen Gründen wichtig für die USA, da es bis heute eine Brückenkopffunktion für die Kontrolle der VBA im süd- und ostchinesischen Meer ausfüllt. In diesen Kontext sind auch die von Beijing scharf verurteilten Überlegungen Washingtons zu stellen, Taiwan in einen regionalen Raketenschutzschirm (Theatre Missile Defense) in Ostasien zu integrieren. Aber gleichzeitig bereitet die Gefahr, wegen einer kleinen Insel Krieg gegen das bevölkerungsstärkste Land der Welt führen zu müssen, dem politischen Establishment in den USA große Sorge. Daran ändern auch die Tiraden aus dem Lager des republikanischen Präsidentschaftskandidaten George W. Bush nichts, der zukünftig wieder für eine härtere Chinapolitik der USA, gerade in der Taiwanfrage, eintreten will. Nicht nur in Washington, sondern auch in den asiatischen Nachbarländern steigt deshalb der Druck auf Taiwan, sich kompromissbereiter als bisher zu zeigen und die VR China keinesfalls über Gebühr zu provozieren. Man fürchtet dort nicht zu Unrecht, dass eine Eskalation der sino-taiwanesischen Spannungen die gesamte asiatisch-pazifische Region erfassen und politisch destabilisieren könnte. Dies aber kann für Taiwan nur bedeuten, dass man in der Auseinandersetzung mit der VR China vor allem auf die eigenen Kräfte setzen muss.

Konkret heißt das, weiterhin friedlich für den gleichberechtigten Dialog mit Beijing zu werben, grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft in allen Frage einschließlich der Wiedervereinigung zu zeigen, auf eine Strategie des allmählichen Vertrauensaufbaus durch praktische Annäherungsschritte zu setzen und damit letztlich Zeit zu gewinnen, bis eine Veränderung der politischen Bedingungen in der VR China die gewünschte demokratische Entscheidung über die Wiedervereinigung möglich oder diese vielleicht sogar obsolet macht. Gleichzeitig muss man sich militärisch wappnen und so viel moderne Waffensysteme, insbesondere im Bereich der land-, luft-, und seegestützten Raketen- und Flugzeugabwehr, wie nur möglich erstehen. Auch ist aus der Sicht der Regierung alles dafür zu tun, dass die Taiwanfrage zum Gegenstand einer internationalen Debatte wird und sie aus ihrer von Beijing vehement verteidigten Beschränkung auf eine „rein innerchinesische Angelegenheit" befreit wird. Das übergeordnete Ziel ist also klar: Taiwan versucht die Kosten einer gewaltsamen Intervention für die VR China sowohl militärisch als auch politisch hochzuhalten und gleichzeitig den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen.

Ob diese Linie erfolgreich sein kann, hängt vor allem von der innenpolitischen Entwicklung in der VR China ab. Noch hat sich die KP-Führung nicht auf eine konsistente Strategie verständigt, die den neuen Machtkonstellationen in Taiwan Rechnung trägt. Mit Spannung blickt man deshalb auf die informelle „Sommer-Tagung der KP-Spitze im Küstenort Beidaihe, von der die Konturierung einer neuen Taiwanpolitik erwartet wird. Allerdings sind die Handlungsoptionen für Beijing mindestens ebenso begrenzt wie die für Taipei. Von den lautstark erhobenen Forderungen nach einer zügigen Wiedervereinigung wird man nicht abrücken können. Deshalb hat eine Rückkehr zum Verhandlungstisch aus chinesischer Perspektive eigentlich wenig Sinn, solange die taiwanesische Seite in der Souveränitätsfrage keine Zugeständnisses machen kann. Ein militärisches Abenteuer aber verbietet sich (noch!): Zu unsicher ist der notwendige rasche Erfolg, zu gefährlich für das auf schwacher Legitimationsgrundlage stehende KP-Regime die Aussicht auf eine nach 1989 erneute internationale Ächtung. Alles deutet also auf eine Perpetuierung des prekären sicherheitspolitischen Status quo in der Taiwanstraße hin, der sich jederzeit zu einer militärischen Konfrontation - möglicherweise unter internationaler Beteiligung - zuspitzen kann. Dieser Tatbestand benachteiligt nicht zuletzt den Wirtschaftsstandort Taiwan.

Wirtschaft: Zwischen Krisenresistenz und Strukturwandel

Mit der 1997 ausgebrochenen Asienkrise wurde Taiwan relativ gut fertig - auch wenn sich dabei viele Probleme (spekulative building bubbles, Korruption, hochverschuldete Banken und Finanzierungsgesellschaften) offenbarten, die in den anderen Krisenländern der Region als ursächlich für die Abwertungsspirale ihrer Währungen eingestuft wurden.

Die wesentlichen Gründe für die Krisenresistenz der taiwanesischen Volkswirtschaft lagen in einer aufgrund eigener Devisenreserven von rund 90 Mrd. US-Dollar hohen geldpolitischen Interventionskapazität der Zentralbank, einer begrenzten Konvertibilität des NT-Dollar (besonders sichtbar an dem 1998 ausgesprochenen Verbot von Derivat-Geschäften), einer im regionalen Vergleich sehr niedrigen Eigenkapitalverschuldung der taiwanesischen Unternehmen, eines im selben Vergleichsmaßstab relativ geringen Umfangs notleidender Kredite und solider Staatsfinanzen. Als industrialisiertes Exportland mit international führenden Marktpositionen bei der Ausfuhr von elektronischen High-Tech-Produkten wie Notebooks, Modems und Mobiltelephone, dessen effizienzorientierte Wirtschaftsbürokratie und politischen Eliten zudem einer weitgehend funktionierenden demokratischen Kontrolle unterliegen, schien die Inselrepublik in der Tat bestens für die Krise gewappnet. Zwar wurde auch Taiwan durchaus von der Krise getroffen und verzeichnete im Jahresverlauf 1997-98 einen Rückgang des BSP um gut 2%; doch spätestens seit 1999 weisen alle maßgeblichen ökonomischen Kennziffern auf ein back to normal aus mit für europäische Verhältnisse traumhaften Zuwachsraten bei Bruttosozialprodukt, Industrieproduktion, Export und privatem Verbrauch.

Seit 1995 ist Taiwan der weltweit drittgrößte Hersteller von IT-Hardware und internationaler Marktführer bei Notebook-Computern (45%) und Scannern (80%). Spezielle Elektronikerzeugnisse und informationstechnische Ausrüstungen nahmen 1999 bereits einen Anteil von etwa 30% an den taiwanesischen Gesamtausfuhren ein; erweitert um die Sparte „Maschinenbau, Elektro, Elektronik" machte der Anteil von Hochtechnologieprodukten sogar 83% aus. Andere wichtige Exportgüter sind Industrie- und Elektromaschinen sowie Haushaltsgeräte, während die in der Aufbauphase der taiwanesischen Volkswirtschaft in den 60er und 70er Jahren so wichtige Textil- und Bekleidungsindustrie in der Außenhandelsstatistik mit einem Anteil von nur noch 13% weit zurückgefallen ist. Auch der hohe Beitrag des tertiären Sektors zum BSP von zuletzt 64,3% (zum Vergleich: Industrieller Sektor 33,1%; Primärsektor 2,6%) und seine in allen Bereichen hohen jährlichen Zuwachsraten verweisen auf eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, die externe Investoren nach wie vor anzieht. 1999 genehmigten die taiwanesischen Behörden Auslandsinvestitionen in einer Gesamthöhe von 4,23 Mrd. US-Dollar, die vornehmlich in die Elektro- und Elektronikindustrie und in den Banken- und Versicherungssektor flossen. Größter einzelner Investor waren dabei die USA mit einer genehmigten Gesamtsumme von 1,15 Mrd. US-Dollar. Deutschland, obgleich der wichtigste Handelspartner Taiwans in der Europäischen Union, investierte dagegen lediglich knapp 30 Mio. US-Dollar - deutlich weniger als andere europäische Länder wie die Niederlande (192,7 Mio. US-Dollar) und Großbritannien (143,4 Mio. US-Dollar).

Taiwan: Wirtschaftsdaten


1995

1996

1997

1998

1999

2000

BSP-Zuwachsrate (in %)

6,4

6,1

6,7

4,6

5,4

6,6 (P)

Inflationsrate (Verbraucherindex)

3,7

3,1

0,9

1,7

0,2

1,5 (Juli)

Industrieproduktion (Zuwachsrate in %)

4,7

2,0

7,4

2,6

7,5

10,1 (Juni)

Privater Verbrauch (Zuwachsrate in %)

5,6

6,5

7,3

6,5

5,4

6,2 (P)

Import (Zuwachsrate in %)

21,3

-1,1

11,8

-8,5

5,8

41,9 (Juli)

Export (Zuwachsrate in %)

20,0

3,8

5,3

-9,4

10,0

36,5 (Juli)

Devisenreserven (in Mrd. US$)

90,3

88,0

83,5

90,3

106,2

113,5 (Juli)

Staatsverschuldung/BSP (in %)

16,3

16,6

17,3

16,0

14,6

25,0 (P)
(7/99-12/00)

(P) Prognose
Quelle: Directorate General of Budget, Accounting and Statistics (DGBAS), Monthly Bulletin of Statistics, July 2000.

Die trotz Asienkrise insgesamt positive Wirtschaftsentwicklung der vergangenen Jahre sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Taiwan noch einige Hausaufgaben zu machen sind, um von zukünftigen Finanzkrisen nicht weit stärker betroffen zu werden als zuletzt geschehen. So muss die Regierung dringend das Finanz- und Bankensystem restrukturieren, denn auch in Taiwan ist das Problem notleidender Kredite und das Ausmaß politischer Korruption ernster als allgemein angenommen. Mehrere Finanzskandale der jüngeren Vergangenheit haben ein recht düsteres Bild der Verstrickungen von Politik und Wirtschaft gezeichnet. So wurden im Mai bei der Chung Hsing-Bank nach einer von der regierungsoffiziellen Central Deposit Insurance Corporation eingeleiteten Untersuchung nicht gedeckte Kredite in Höhe von 10% aller vergebenen Darlehen festgestellt; die erlaubte Höchstgrenze beträgt lediglich 6,5%. Zudem hatten leitende Angestellte der Bank offenkundig Schmiergelder für die Vermittlung eines Kredits an die Taiwan Pineapple Corporation erhalten, der ein Volumen von 40% des Stammkapitals der Bank einnahm. Eine so große Abhängigkeit von einem Einzelkunden ist jedoch nicht zulässig. Kurz nach Bekanntwerden der Unregelmäßigkeiten setzte ein Kundenansturm auf die privaten Einlagen an, der die Bank zahlungsunfähig machte und eine staatliche Intervention auf den Plan rief. Im Falle der Taiwan Development and Trust Corporation, einer privaten Immobilienentwicklungs- und Treuhandgesellschaft, soll die Summe nicht mehr einbringbarer Kredite im Mai zwischen 21% und 26% gelegen haben. An diesem Fall ist wiederum pikant, dass die Gesellschaft erst vor kurzem privatisiert wurde und ihr Management noch von der alten GMD-Regierung berufen wurde. Auch hier deutet also einiges auf klientelistische bzw. korrupte Strukturen hin, die für die Solvenzschwierigkeiten verantwortlich zeichnen.

Dies sind lediglich zwei Beispiele für eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Fälle, die seit mehreren Jahren auf dringenden Handlungsbedarf im taiwanesischen Finanzsektor hinweisen. Nach offiziellen Zahlen beträgt der Umfang aller notleidenden Kredite in Taiwan derzeit 5% des bewilligten Gesamtvolumens; die private Taiwan Ratings Corp. geht jedoch von 7 bis 9% aus, was deutlich über der erlaubten offiziellen Obergrenze läge. Wiederum andere Quellen sprechen von überfälligen Verbindlichkeiten in einer Höhe von mittlerweile rund 1000 Mrd. NT-Dollar. Vor allem die vielen genossenschaftlichen Darlehensvereine - z.B. die Kreditabteilungen der staatlichen Fischer- und Bauernkooperativen - sind hochverschuldet und werden teilweise mehr als 50% ihrer Kredite abschreiben müssen. Dies aber stellt sie vor die Existenzfrage. Denn nach den Bestimmungen des taiwanesischen Bankengesetzes müssen Kreditinstitutionen, die mehr als ein Drittel ihres Stammkapitals verloren haben, schließen oder restrukturiert werden. Dies bedeutet heute faktisch, dass nicht nur die kleinen Kreditgenossenschaften, sondern auch nahezu alle der 47 taiwanesischen Geschäftsbanken ernste Refinanzierungsprobleme haben.

Erst jetzt, nach dem Regierungswechsel, kommt das Ausmaß der Probleme des taiwanesischen Finanzsektors allmählich zum Vorschein. Für die Zukunft wird man deshalb noch mit einer Reihe von unangenehmen Überraschungen rechnen müssen. Es könnten noch mehr Banken von Zusammenbrüchen bedroht sein und die Regierung zur Intervention zwingen. Denn politisch wäre eine harte Lösung - der Konkurs der betroffenen Institute und die Entwertung der umfangreichen privaten Einlagen - für die Chen-Administration nicht durchzuhalten. Dies aber bedeutet, dass erhebliche budgetäre Mehrbelastungen auf den taiwanesischen Staat zukommen - vielleicht die letzte große Rate, die für das Ende der autoritären Ära 1986/87 und die intransparenten Verflechtungen zwischen der früheren Regierungspartei GMD und der Wirtschaft zu zahlen ist. Allerdings wird Taiwan diese Belastungen anders als die südostasiatischen Krisenländer ohne ernste Probleme verkraften können. Auch aus der Sicht internationaler Rating-Agenturen wie Standard & Poor sind die Basisdaten seiner Volkswirtschaft gut und auch das Bankensystem grundsätzlich stabil. Insofern werden die jetzt vorzunehmenden Eingriffe zwar schmerzhaft sein, dürften aber zu einer raschen Gesundung des aufs Ganze gesehen doch mit überschaubaren strukturellen Problemen belasteten taiwanesischen Wirtschaftssystems führen.

Neben diesen eher kurz- bis mittelfristig zu lösenden Problemen sieht sich Taiwan langfristig einem schwierigen Strukturwandel gegenüber. So ist die traditionell auf einer ausgeprägten klein- und mittelständischen Unternehmensstruktur basierende Exportwirtschaft der Inselrepublik in Zeiten eines weltweiten Konzentrationsprozesses nur noch bedingt ein Wettbewerbsvorteil. Viele dieser Unternehmen können schon heute im internationalen Wettbewerb, der sich durch die anstehende Mitgliedschaft Taiwans in der World Trade Organization noch erheblich verschärfen wird, kaum mehr bestehen. Da mittlerweile nicht mehr nur die arbeitsintensiven Wirtschaftszweige, sondern auch in wachsendem Maße die Entwicklung und Produktion von Hochtechnologie in kostengünstigere Länder - vor allem in die VR China - verlegt werden, stellt sich in Taiwan zunehmend die Frage nach der Absorption der in den nächsten Jahren freigesetzten Arbeitskräfte. Qualifizierungs- und Beschäftigungsinitiativen, aber auch eine innovative Bildungspolitik - für taiwanesische Verhältnisse eher ungewohnte Politikfelder - werden größere Bedeutung erlangen und den staatlichen Haushalt erheblich belasten. Dasselbe gilt für die Sozialausgaben, ebenfalls eine Folge fortgesetzter Modernisierung, spiegeln sie doch nicht nur eine Veränderung der Alterspyramide mit einem stetig steigenden Anteil der Bevölkerung im Rentenalter wider, sondern auch mehr Arbeitslosigkeit und soziale Marginalisierung sowie ein größeres Anspruchsdenken gegenüber dem Staat und seiner Verantwortung für die Herstellung gleicher materieller Lebensverhältnisse. Taiwan ist insofern schon heute in vielen Bereichen mit den selben Problemen konfrontiert wie die alten Industrieländer des Westens. Es hat jedoch den Vorteil, auf eine lange Erfahrungen mit der Anpassung an veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen zurückblicken zu können. Die Unternehmerschaft ist flexibel und innovativ, der Staat weltmarktorientiert, das Ausbildungssystem gut und die Gesellschaft erfolgs- und aufstiegsorientiert. Zudem man hat einen riesigen chinesischen Markt vor der eigenen Haustür, der die notwendigen strukturellen Anpassungsprozesse innerhalb des Wirtschaftssystems durch das auf dem Festland relativ niedrige Preis- und Lohngefüge erheblich erleichtern kann.

Außenwirtschaft: Wie viel Chinahandel ist gesund?

Allerdings kann das Potential der sino-taiwanesischen Wirtschaftsbeziehungen noch längst nicht ausgeschöpft werden, stehen diese doch im Schatten des politischen Verhältnisses zwischen Beijing und Taipei. Das Verbot direkter Kommunikations-, Handels- und Transportverbindungen besteht auf taiwanesischer Seite weiter, obwohl seit Jahren über seine Aufhebung diskutiert wird. Mit der Legalisierung direkter Verbindungen zwischen den von Taipei verwalteten und der chinesischen Küstenprovinz Fujian direkt vorgelagerten Inseln Jinmen, Pengu und Mazu im April wurde zwar ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung gemacht. Es ist angesichts der derzeitigen Spannungen zwischen den Regierungen beider Seiten jedoch mehr als zweifelhaft, ob sich die von Präsident Chen schon für das Jahresende vorgeschlagene Zulassung umfassender direkter Kontakte realisieren lässt. Dass diese allerdings kommen werden, steht angesichts des von der taiwanesischen Unternehmerschaft auf ihre Regierung ausgeübten Drucks und der allseits unbestrittenen Lukrativität des Chinageschäftes außer Zweifel.

Ungeachtet weiterer Beschränkungen, die taiwanesische Investitionen in „strategische" (also High tech-) Industrien in der VR China genauso verbieten wie eine Beteiligung von mehr als 50% an der Investitionssumme eines Projekts auf dem Festland, ist Taiwan schon heute der nach Hongkong zweitgrößte Investor dort. Nach offiziellen chinesischen Angaben sollen taiwanesische Unternehmen weit mehr als 20 Mrd. US-Dollar in rund 40.000 Einzelprojekten investiert haben. Unabhängigen Quellen zufolge beläuft sich das tatsächliche Investitionsvolumen jedoch auf eher 30 Mrd. US-Dollar. Damit hat das Festland in den 90er Jahren insgesamt rund 40% der taiwanesischen Direktinvestitionen angezogen. Zudem wickelt die Inselrepublik ein knappes Fünftel ihres gesamten Exportgeschäfts mit der VR China ab, die ihr mittlerweile drittgrößter Handelspartner ist.

Sorge bereiten der taiwanesischen Regierung dabei seit Jahren vor allem zwei Kennziffern: Die hohen Überschüsse aus dem Handel mit der VR China (1999: 16,7 Mrd. US-Dollar; bis Mai 2000: 17 Mrd. US-Dollar), die für eine anhaltende Unzufriedenheit auf der chinesischen Seite sorgen, und eine hohe taiwanesische Außenhandelsabhängigkeit vom Festland, die mittlerweile knapp 18% erreicht und immer wieder die Frage nach der Grenze für eine potentielle ökonomische Erpressbarkeit der Insel durch die Machthaber in Beijing aufwirft. Dennoch hält man an zahlreichen Importbeschränkungen für chinesische Einfuhrprodukte fest, obwohl das Handelsdefizit dadurch nicht kleiner wird. Auch die Bestimmung, dass Unternehmen mit einer chinesischen Kapitalbeteiligung von mehr als 20% in Taiwan nicht zugelassen werden dürfen, wirkt handelspolitisch kontraproduktiv. Allerdings dürfte es nach einer Aufnahme Taiwans in die WTO nicht mehr möglich sein, den Chinahandel derart restriktiv zu regulieren. Da dieser Beitritt schon für das nächste Jahr, nach der Aufnahme der VR China, erwartet wird, steht vielmehr eine neue Dynamik der sino-taiwanesischen Wirtschaftsintegration zu erwarten.

Taiwan: Daten zum taiwanesischen Chinahandel via Hongkong (1991-2000)*

Jahr

Taiwanesischer Export in die VR China
(in Mio. US$)

Anteil am Gesamtexport
in %)

Taiwanesischer Import aus der VR China
(in Mio. US$)

Anteil am Gesamtimport
(in %)

1991

5,593.1

9,84

1,126,0

1,79

1992

7,406.9

12,95

1,119,0

1,55

1993

8,689.0

16,47

1,103.6

1,43

1994

9,809.5

17,22

1,292.3

2,18

1995

11,457.0

17,40

1,574.2

2,98

1996

11,300.0

17,87

1,582.4

3,02

1997

11,458,9

18,39

1,743.8

3,42

1998

10,019.0

17,94

1,654.9

3,93

1999 (Jan.-Sept.)

7,101.6

17,57

1,168.8

4,04

*Nach offiziellen taiwanesischen Schätzungen
(Quelle: DGBAS)

Der neue Präsident sieht dieser Perspektive weitaus gelassener entgegen als sein Vorgänger, der noch auf eine „Eile mit Weile"-Politik setzte und sich für eine notfalls administrativ zu erzwingende Reorientierung der taiwanesischen Außenwirtschaft auf andere Weltregionen einsetzte. Man glaubt in Taiwan, heute erkannt zu haben, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der VR China auch in politischer Hinsicht eher eine Chance bietet, als ein Risiko darstellt. Gelingt es nämlich, so die Sicht der neuen Regierung, diese Zusammenarbeit erfolgreich voranzutreiben, so könnten davon Impulse für eine engere Kooperation auch auf anderen Gebieten ausgehen. Freilich spricht daraus viel Wunschdenken. Die VR China sitzt zweifellos am längeren Hebel, wenn sie eines Tages den wirtschaftlichen Würgegriff erproben sollte. Taiwan braucht den chinesischen Markt mehr, als die VR China je von taiwanesischem Kapital und know how abhängig sein wird. Deshalb ist es auch in Zukunft für Taiwan wichtig, eine Diversifizierung seiner Außenhandelsströme anzustreben und den Handel mit Europa und den USA auszubauen. Dies, so weiß die Regierung, würde die Inselrepublik auch davor bewahren, bei einer größeren Krise in der VR China - sei sie nun ökonomischer oder politischer Natur - in unmittelbare Mitleidenschaft gezogen zu werden.

Ausblick

Die wichtigsten innenpolitischen Aufgaben der neuen taiwanesischen Regierung bis zu den Parlamentswahlen im Dezember 2001 liegen in einem politischen Ausgleich mit der GMD, um zu verhindern, dass deren Mehrheit im Legislativyuan einen Stillstand der gesetzgeberischen Arbeit herbeiführt. Nur so kann verhindert werden, dass sie durch ständige Kompromisse und Abstimmungsniederlagen destabilisiert wird. Dazu will Chen Shuibian, so verkündete der neue Präsident Ende Juli, einen runden Tisch mit den Parteiführern von GMD, DFP und PFP einberufen. Verhandelt werden soll dabei über alle strittige Themen, um einen parteiübergreifenden Konsens herzustellen. Dabei wird nicht zuletzt die ungeklärte Finanzierung des „3-3-3"-Wohlfahrtsprogramms der Regierung auf der Agenda stehen. Sie will damit die sozialpolitischen Wahlversprechen des neuen Präsidenten einlösen und schrittweise eine Grundrente über 3000 NT-Dollar ab 65 Jahren, einen 3%-igen Hypothekenkredit für die erstmalige Anschaffung von Wohneigentum und eine kostenlose medizinische Versorgung für Kinder bis zu drei Jahren einführen.

Besondere Brisanz dürfte bei einer solchen Gesprächsrunde auch die Zukunft des vierten Atomreaktors haben, der seit März 1999 im Bau ist. Ungeachtet heftiger Proteste der taiwanesischen Atomkraftgegner betrieb die GMD-Regierung hier eine Politik des Faktensetzens, verbaute ein gutes Viertel der Investitionssumme und vergab für ein weiteres Viertel die Aufträge. Die Kritiker dieser Politik, die vor allem ein fehlendes Entsorgungskonzept für den taiwanesischen Atommüll geltend machen und seit Jahren auf die Kontaminierung der Küstengewässer nahe der drei bereits existierenden Reaktoren hinweisen, erhoffen sich von der neuen Regierung einen Baustopp. Diese hat vor kurzem ein mehrmonatiges Moratorium verfügt, um noch einmal intensiv über Sinn und Unsinn dieses Projektes mit einem veranschlagten Gesamtvolumen von 5,3 Mrd. US-Dollar diskutieren zu lassen. Auch hier wird somit eine Debatte nachgeholt, die in den westlichen Industrieländern schon seit Jahrzehnten geführt wird: Braucht Taiwan zur Sicherung seiner Energieversorgung mehr Atomstrom, oder liegt die Lösung in Effizienzverbesserungen beim derzeitigen Energiemanagement sowie in der Entwicklung alternativer Stromerzeugungsquellen? Dabei befindet sich die DFP in einer ähnlich pikanten Lage wie die deutschen Grünen. Auch sie ist seit ihrer Gründung 1986 vehement gegen den Bau weiterer Atomreaktoren in Taiwan eingetreten und muss nun einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust befürchten, sollte sie den vierten Meiler letztlich doch absegnen. Genau dies ist aber mehr als wahrscheinlich.

In der Chinapolitik hat die neue Regierung, wie gezeigt, wenig Spielraum. Man wartet hier auf neue Initiativen aus der VR China, die entscheiden muss, ob sie weiterhin an ihrer Version des Ein-China-Prinzips als Vorbedingung bilateraler Gespräche festhalten will oder mehr Flexibilität zu zeigen bereit ist. In diese Richtung könnten angebliche Äußerungen des chinesischen Vizepremiers und früheren Außenministers Qian Qichen im Vorfeld der „Sommertagung" des KP-Politbüros in Beidaihe gehen, denen zufolge Taiwan und das Festland beide Teile Chinas seien. Genau dies ist die Sprachregelung der taiwanesischen Regierung seit Anfang der 90er Jahre. Tatsächlich bleibt der chinesischen Regierung jenseits einer militärischen Lösung des Konflikts gar nichts anderes übrig, als auf den Kompromiss von 1992 zurückzugehen und verschiedene Interpretationen des Ein-China-Prinzips zuzulassen. Damit wäre die Voraussetzung für neue Verhandlungen geschaffen, die auf die Einrichtung direkter Handels- und Transportverbindungen zwischen beiden Seiten der Taiwanstraße hinauslaufen würden. Viel spricht dafür, dass die Entwicklung ab der zweiten Jahreshälfte 2000 allmählich in diese Richtung gehen wird. Flankierend kommt hinzu, dass der WTO-Beitritt der VR China und Taiwans ohnehin offizielle Kontakte zur Lösung von Handelsstreitigkeiten bringen und insofern für eine „erzwungene Normalität" im bilateralen Verhältnis sorgen wird.

So ist eine Entspannung in der Taiwanstraße nicht unwahrscheinlich. Dennoch darf dies den Blick für die beständige Möglichkeit erratischer Entwicklungen auf dem Festland nicht verstellen: Der Taiwankonflikt kann jederzeit eskalieren, wenn dies der KP-Führung opportun bzw. - etwa zur Ablenkung von einer innenpolitischen Krise - notwendig erscheint.

Unter dem Strich bietet die politische, wirtschaftliche und soziale Lage Taiwans zur Jahresmitte 2000 jedoch allen Grund zu Optimismus. Die Demokratie ist konsolidiert, die Wirtschaft floriert und die Reformanforderungen an die Bildungs-, Rechts- und Sozialpolitik - Stichworte sind hier eine Modernisierung des Ausbildungssystems an den Schulen und Universitäten sowie jüngst die Errichtung einer nationalen Menschenrechtskommission durch die neue Regierung - durch zahlreiche Gesetzesinitiativen in Angriff genommen. Sollte sich das Verhältnis zur VR China in den kommenden zwei Jahren mindestens stabilisieren, so dürfte dies nicht nur positive Auswirkungen auf die sicherheitspolitische Situation in der gesamten asiatisch-pazifischen Region haben. Besonderer Nutznießer davon wäre auch die taiwanesische Exportwirtschaft und hier vor allem der Handel mit dem Festland. Im Falle einer nachhaltigen Entspannung dürfte sich sogar die Frage einer chinesischen Wiedervereinigung neu stellen, die ja auch von der taiwanesischen Regierung nicht prinzipiell ausgeschlossen wird. Allerdings könnte sie durch den Gang der Ereignisse auf dem Festland und einen dort stattfindenden Demokratisierungsprozess eines Tages ihren heutigen Stellenwert für das sino-taiwanesische Verhältnis verlieren. Ohne diese Demokratisie-rung schwebt über der Zukunft der Inselrepublik trotz aller positiven Rahmenbedingungen weiterhin das Damoklesschwert einer militärischen Invasion und politischen Unterdrückung durch den „großen Bruder" auf der anderen Seite der Taiwanstraße.


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