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Rußland : neue Perspektiven in der Innen- und Europapolitik / Peter W. Schulze. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 18 S. = 55 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




  • Mit den Wahlen zur Staatsduma und Präsidentschaft hat sich ein neuer „Machtblock" formiert. An die Stelle der Ungewissheit über die Stabilität der politischen Führung, wer eigentlich die Richtung der Politik bestimmt, ist die Gewissheit getreten, dass sich nun im Land mit Präsident Putin eine feste Führung etabliert hat.

  • Das innenpolitische Klima hat sich verschärft. Die anfängliche Offenheit in der Politik ist einem restaurativen Konservatismus gewichen, der autoritäre Züge trägt und sich selbstbewusster, patriotischer geriert. Die neue Machtelite setzt sich in erster Linie aus Vertretern der inneren Sicherheit, aus Militärs, aus Wirtschaftsgruppen des Energiesektors und vor allem aus Vertrauten des Präsidenten Putin zusammen. Die Instrumentalisierung der Medien für politische Ziele geht weiter.

  • Nach der Finanzkrise vom August 1998 setzte eine deutliche wirtschaftliche Erholung ein. Seither kam es zu erstaunlichen Wachstumsraten, erstmals seit zehn Jahren wuchsen die Investitionsrate und ausländische Direktinvestitionen; Lohnschulden wurden beglichen, die Steuereinnahmen stiegen. Die Auslandsschulden konnten bedient und Rücklagen bei der Zentralbank gebildet werden.

  • Bleiben die Energiepreise auf hohem Niveau und werden die erzielten Erlöse zur technologischen Modernisierung und Diversifikation der Produktion sowie zur Verbesserung der Infrastruktur verwendet und nicht zur Alimentierung des staatlichen Haushalts, könnte die russische Wirtschaft in eine Phase nachhaltigen Wirtschaftswachstums eintreten.

  • Für die russisch-europäischen Beziehungen ergeben sich neue Perspektiven: Die „Gemeinsame Strategie der EU für Russland" von 1999 geht über den Aspekt wechselseitiger Beziehungen hinaus. In ihrer „mittelfristigen Strategie" erkennt die russische Politik ihrerseits die EU erstmals als globalpolitisch operierenden Akteur mit eigenen Interessen an und beobachtet ernsthaft die Versuche der EU, sich eine außen- und sicherheitspolitische Identität sowie militärische Durchsetzungsfähigkeit zu verschaffen.

  • Die Normalisierung und Entfaltung der Beziehungen zur EU sind für Russland die Basis für eine flexiblere und entspanntere Politik gegenüber den USA. Russland will zum sicherheitspolitischen Partner der EU werden, dabei aber seine Eigenständigkeit und Distanz zu Europa bewahren. Falls geboten, sollten beide Seiten sich in internationalen Organisationen abstimmen und bei Krisenprävention und Konfliktminimierung im OSZE-Raum eng kooperieren.




Das Primat der Innenpolitik

Als Ergebnis der Wahlen zur Staatsduma und zur Präsidentschaft hat sich ein neuer „Machtblock" formiert, ist eine neue „Partei der Macht" entstanden. An die Stelle der Ungewissheit über die Stabilität der politischen Führung, wer eigentlich die Richtung der Politik bestimmt, ist die Gewissheit getreten, dass sich nun im Land eine feste Führung etabliert hat, die berechenbar ist und auf die man sich für eine längere Periode einlassen muss. In Anbetracht der Tatsache aber, mit welcher Härte die neue Führung den Krieg in Tschetschenien betreibt und gegen politische Gegner vorgeht, mehren sich Sorgen, ob die demokratische Entwicklung nicht auf der Strecke bleiben wird. Zweifellos, das innenpolitische Klima hat sich verschärft. Die anfängliche Offenheit in der Politik ist einem restaurativen Konservatismus gewichen, der autoritäre Züge trägt und sich selbstbewusster, patriotischer geriert. Die Instrumentalisierung der Medien für politische Ziele, die im Vorfeld der Duma- und Präsidentschaftswahlen bereits groteske Züge annahm und teilweise an totalitäre Praktiken der dreißiger Jahre erinnerte, geht weiter. Die Medien haben ihre Funktion als kritische Instanz in der Gesellschaft weitgehend eingebüßt.

Auf dem Weg zum Zwei-Parteien-System?

Vom Präsidenten gehen eindeutige Bestrebungen aus, die Konstellation der politischen Kräfte, der Parteien und Bewegungen, neu zu ordnen. Dies kann notfalls mit Hilfe eines Wahlgesetzes geschehen, das den Zugang zur Staatsduma erschwert, indem die Sperrklausel von fünf auf acht Prozent angehoben wird. Die Diskussion darüber dauert an. Es ist nicht mehr auszuschließen, dass nach der Neuordnung der Kompetenzen und Zusammensetzung der zweiten Kammer, dem Föderationsrat, tiefgreifende Einschnitte im parlamentarischen System anstehen. Die Regierung unter Präsident Putin setzt alles daran, eine starke Partei der Macht, die sich aus der Regierungspartei Edinstwo, aus Überläufern von OWR und aus der SPS zusammensetzt, systematisch zu fördern. Aus think tanks des Kreml sickern immer wieder Überlegungen in die Öffentlichkeit, dass man ernsthaft an die Einführung eines Zweiparteiensystems denkt.

Anfang des Jahres wurde sogar die taktische Allianz zwischen der KPRF und Edinstwo in diesem Sinne interpretiert: sie sei Teil eines arbeitsteiligen Planes, die übrigen Parteien aus der Duma zu verdrängen. Um die KPRF einerseits und um Edinstwo andererseits sollen sich die beiden neuen Parteien formieren. Demzufolge soll die KPRF endlich das Projekt einer linkszentristischen Partei realisieren und sich in diesem Prozess zu einer Partei sozialdemokratischen Zuschnittes entwickeln. Hingegen sollen von der Edinstwo Kräfte aus den übrigen Parteien angezogen werden, damit zu guter Letzt eine konservative, wirtschaftsliberale Massenpartei aufgebaut werden kann. Ob sich ein solches Zwei-Parteien-Modell in der Russländischen Föderation auf absehbare Zeit durchsetzen wird, ist mehr als ungewiss. Ob es überhaupt für die russische Demokratie förderlich wäre, ist eine weitere Frage. Denn erstens hat die KPRF kaum die Kader, eine solche Transformation zur Mitte einzuleiten. Sie würde ihre konservativ, rückwärtsgewandte politische Basis, nämlich die Ebene der Bezirkskader, verlieren. Sich aber jene Kader bei OWR oder anderswo einzukaufen, würde für viele Funktionäre der KPRF zur essentiellen Frage des politischen Überlebens. Die konservative, aber konturlose Bewegung Edinstwo hat da schon größere Vorteile. Sie ist bereits dabei, ihr Kaderproblem durch die Integration von erfahrenen Politikern aus anderen Fraktionen zu lösen. Mit dem wirtschaftspolitischen Perspektivplan von German Gref behandelt sie zugleich programmatische Fragen und gibt sich ein politisches Profil.

Doch die Kalkulation des Kreml kann aufgehen, gleichviel, ob die Kommunistische Partei mitspielt oder nicht. Denn gelingt der Aufbau einer programmatisch gefestigten Massenpartei konservativen Zuschnitts aus den Trümmern der Parteilandschaft, dann wird dies die politische Landschaft in Bewegung bringen und die KPRF unter Zugzwang setzen. In diesem Sinne werden die nächsten vier Jahre spannend. Wieder einmal ist nach der Implosion von Luschkows Otetschestwo/OWR, der Kampf um die Mitte angesagt.

Neue politische Machtstrukturen

Die Konstitution einer neuen Machtelite geht einher mit Umgruppierungen der politischen Kräfte. Die neue Machtelite setzt sich in erster Linie zusammen aus Personen der inneren Sicherheit, aus Militärs, aus Wirtschaftsgruppen des Energiesektors, vor allem aber aus Vertrauten des Präsidenten Putin, die mit ihm in seiner Zeit in St. Petersburg zusammengearbeitet haben. Diese sehr spezifische Auswahl ist aber noch kein Beleg dafür, dass diese Gruppen antidemokratische oder antiwestliche Tendenzen verstärken. Obwohl in der ersten Phase der Amtszeit Putins, übereinstimmend mit der Ära Jelzin, der Akzent auf der Innen- und Wirtschaftspolitik zu liegen scheint, sind auch Weichenstellungen und Kursberichtigungen in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik wahrnehmbar.

Die Aktionsfelder der russischen Politik sind relativ klar erkennbar:

  • Neuordnung des Staatsaufbaus und Stärkung des Zentralstaats,

  • Zurückdrängung des Einflusses von Interessengruppen und Regionen aus der nationalen Politik,

  • Konstitution einer breiteren Machtbasis zur Stärkung und Legitimation politischer Macht,

  • Modernisierung und Kräftigung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der russischen Wirtschaft,

  • Anerkennung als Großmacht und Sicherung sowie Durchsetzung nationaler Interessen in der internationalen Politik,

  • Wiederaufnahme des Dialoges um europäische Sicherheit und Überwindung der tendenziellen Selbstisolation.

Im Unterschied zur Jelzin-Ära haben sich die Voraussetzungen politischen Handelns für die Regierung erheblich verbessert: Die Duma wird nicht mehr von nationalistischen und kommunistischen Kräften dominiert. Falls die Bewegungen der demokratischen Linken, der Mitte und der Rechten zusammenfinden, kann es zu einem Zusammenspiel von Präsidialadministration und der neuen Mehrheit in der Duma kommen. Längst überfällige Reformen könnten dann auf den Weg gebracht werden.

Der Wahlausgang kam einer Aufwertung des Parlamentes gleich und setzte erneut einen Prozess politischen Realignments in Gang, der bereits erste Ergebnisse erbrachte und die Stellung der Regierung stärkte: Erstens erzwang die Wahlniederlage der demokratischen Oppositionsbewegung „Jabloko" unter Grigorij Jawlinskij die Fusion mit der rechten Bewegung SPS, dem „Bündnis der Rechten Sache". Jabloko verliert dadurch seine Eigenständigkeit als parlamentarische Kraft und nähert sich dem Regierungslager. Zweitens führte die Demontage der politischen Führung von Otetschestwo, nämlich von Jurij Luschkow und Ewgenij Primakow, zur Implosion dieser Bewegung. Nachdem zuvor schon die regionale Gruppe „Wsaja Rossia" aus dem Bündnis mit Otetschestwo faktisch ausscherte, steht sie nun vor dem politischen Aus oder vor der Entscheidung, sich einem der entstehenden Machtblöcke im Parlament anzuschließen. Präsident Putin setzte unmittelbar nach seinem Wahlsieg die Kampagne gegen Primakow aus und versuchte, ihn durch eine geschickte Umarmungspolitik für sich zu gewinnen. Drittens verbleiben als eigentliche Opposition die Kommunisten. Diese sind aber durch die erneute Niederlage Zuganows in den Präsidentschaftswahlen und durch das vorhersehbare Abschneiden bei den Dumawahlen in eine tiefe Identitätskrise geraten. Sie können nicht mehr zurück, haben allerdings keine Rezepte für die Zukunft, und relevante Teile ihrer nationalen und sozialen Programmatik sind von der neuen Regierungspartei Edinstwo übernommen worden. Zudem sind sie traditionsgemäß Zentralisten und können dem Anliegen der Rezentralisierung staatlicher Macht nur beipflichten. Pflichtgemäß votierten sie dann auch gegen den Föderationsrat und unterstützten Putin.

Zwischen der Präsidialadministration und der Duma besteht also Konsens im Vorgehen gegen die Regionen, wie die Abstimmungen um die Neuordnung des Staates belegen. Damit bricht der Kreml mit den Prämissen der eigenen Politik, wie sie bis zur Finanzkrise 1998 galten. Stützte sich der Kreml bisher auf die Regionen und auf die „Finanzindustriellen Gruppen", so sucht er heute deren Macht zu brechen.

Die Konstitution eines regierungskonformen Machtblockes in der Staatsduma, der langsam daran geht, sich ein Programm zu geben und Führungspersönlichkeiten aus anderen politischen Lagern zu gewinnen, impliziert, dass die Duma wesentlich konstruktiver bei der Gesetzgebung mitarbeiten kann als bisher und nicht mehr so leicht zum Sündenbock für einen zögerlichen Reformprozess gemacht werden kann. Allein dieser Umstand wird zur Stabilität des politischen System beitragen und seine Rückwirkungen auf die Wirtschaft haben. Zweifellos wird die neue Machtkonstellation in der Duma kaum Interesse daran haben, vorsichtige Korrekturen am präsidialen Zuschnitt des politischen Systems auf den Weg zu bringen. Eher kann das Gegenteil erwartet werden: Weil die Regierungspartei Edinstwo ihren Erfolg ausschließlich dem Präsidenten verdankt und noch kein eigenes politisches Profil entwickeln konnte, ist sie auf Gedeih und Verderb vom Erfolg seiner Politik abhängig. Ähnlich wie der Föderationsrat in der Anfangsphase der Ära Jelzin, könnte die Duma zum Instrument und Claqueur der Präsidialadministration verkümmern.

Die Rekonstitution staatlicher Autorität soll die „rechtsfreie" Situation beenden, die eine wesentliche Voraussetzung für den Aufstieg der Oligarchie, aber auch für die rasanten Veränderungen in der russischen Wirtschaft und Gesellschaft war. Die Macht der Politoligarchen, Einfluß auf die Politik und vor allem auf den Entscheidungsprozeß des Kreml zu nehmen, ist geschwunden, allerdings ist die Frage des politischen Überlebens der noch verbliebenen nicht klar beantwortet. Der Wechsel in der Machtelite vollzieht sich bereits. Berechenbare Interessengruppen aus Wirtschaftssektoren, die stärker in den Weltmarkt integriert sind und sich mithin an den internationalen Bedingungen des Wettbewerbs und des Verhaltens orientieren, haben die „Finanzindustriellen Gruppen" verdrängt. Diese neuen auf den internationalen Markt ausgerichteten Gruppen haben ein essentielles Interesse an einem erstarkenden Rechtsstaat und an innenpolitischer Stabilität. Denn der Staat ist für sie ein wichtiger indirekter Wirtschaftsfaktor, da er beispielsweise für die Sicherheit von Transportwegen, für die Bereitstellung von Infrastruktur und für die Ausbildung und Qualifizierung von Menschen sorgen muss.

Die Oligarchie selbst befindet sich seit der Augustkrise von 1998 im Umbruch oder in Auflösung und hat sich bis auf wenige Ausnahmen (B. Beresowskij, A. Tschubais, R. Abramowitsch, W. Gussinskij) aus der Politik zurückgezogen beziehungsweise erkennt die „Dominanz des Politischen" wieder an. Die „vertikale Entscheidungskompetenz" über die nationale Politik soll wieder eindeutig auf den Zentralstaat übergehen. Der Staat soll erneut zur integrierenden und hoffentlich auch zur respektierten Instanz werden, die die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhaltens setzt und sanktioniert, also idealerweise ein „even playing field" für alle Subjekte schafft und über die Einhaltung der Spielregeln wacht. Diese Erwartung ist an den neuen Präsidenten herangetragen worden, und ihm werden Erfolge abverlangt werden. Die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft gegen Mitglieder der Oligarchie, denen Gesetzesverstöße im Zuge der Privatisierung vorgehalten werden, und die Einforderung von Bußen in mehrstelligen Millionenbeträgen von Potanin (Norilsk Nickel), Alekperow (LUKoil) und Gussinskij (Media-Most) wie auch indirekte Ermittlungen gegen das Beresowskij- Imperium bei Avtowas illustrieren, dass die Regierung es mit dem Slogan von der „Diktatur des Gesetzes" ernst meint. Anders als beim Vorgehen gegen die Gouverneure treffen die Maßnahmen gegen die Oligarchie auf breite Zustimmung in der Öffentlichkeit. Auch wenn es sich mehr um symbolische Akte handelt, mit denen die kriminellen Machenschaften während der Privatisierung nicht rückgängig gemacht werden oder gar eine Welle von Renationalisierungen eingeleitet wird, so stützt der Popularitätsgewinn dieser Aktion den Präsidenten im Kampf auf anderen Politikfeldern. So im Vorgehen gegen Korruption, bürokratische Willkür und Obstruktion von Teilen der verselbständigten Bürokratie gegen die Regierungspolitik.

Das Vorgehen der Präsidialadministration gegen die Oligarchie und gegen die Macht der Gouverneure soll eine Entwicklung korrigieren, die nach dem zweiten Wahlsieg Jelzins 1996 einsetzte und die Autorität des Staates stetig aushöhlte. Präsident Putin hat einen Kampf an zwei Fronten begonnen, dessen Ausgang noch nicht entschieden ist. Es ist sicherlich richtig, dass die Geschlossenheit der Oligarchie von 1996 schon seit langem nicht mehr besteht, dass sie seit der Finanzkrise von 1998 als herrschende und die Politik mitentscheidende Kraft an Einfluss verloren hat. Anders die Gouverneure. Zwar gelang es der Kremladministration bei den Wahlen zur Duma 1999, die regionalen Eliten zu spalten und einen Großteil der verarmten und von Transferzuweisungen abhängigen Regionen auf das Zweckbündnis Edinstwo zu ziehen. Aber die Spaltung der Regionen endete abrupt, als offenkundig wurde, dass der Kreml unter dem Vorwand, den Zentralstaat zu stärken und exzessive Auswüchse des asymmetrischen Föderalismus zurückzuschneiden, die Zurückdrängung der Regionen aus der nationalen Politik betrieb. Tendenzen der Rezentralisierung bedrohen nun erneut die erstmals in der russischen Geschichte errungene relative Autonomie der Regionen und tasten die partikularen Privilegien der Gouverneure an. Zusammen mit Teilen der wirtschaftlichen Machtgruppen aus den Energie- und Rohstoffsektoren und seit 1998 auch mit der sich entwickelnden heimischen Industrie suchten insbesondere die wirtschaftlich erfolgreichen Regionen, Einfluss auf die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, aber auch auf außenpolitische Entscheidungen zu nehmen. Regionen und jene Wirtschaftssektoren, die stärker in Weltmarktzusammenhänge integriert waren, wirkten der Selbstisolation des Landes im Gefolge des Balkankonfliktes entgegen. In den Wirren der ausgehenden Jelzin-Ära wurden sie faktisch zum Stabilitätsanker der russischen Gesellschaft und kompensierten den Autoritätszerfall an der Spitze des Staates.

Wirtschaftliche Entwicklung - Silberstreifen am Horizont

Diese Tendenzen weisen der neuen russischen Regierung unter Präsident Putin die Aufgabe zu, alles daran zu setzen, die wirtschaftliche, technologische Entwicklung aus eigenen Kräften, aber unter Mitwirkung westlicher Kooperationspartner voranzutreiben. Dass diese Aufgabe gelingen könnte, ist nicht so illusorisch. Die Abwertung des Rubels und die Importsubstitutionseffekte der Finanzkrise von 1998 haben einen Anstoßeffekt für die russische Volkswirtschaft ausgelöst. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die russische Wirtschaft extrem abhängig von externen Faktoren bleibt, nämlich von der Entwicklung der Rohstoff- und Energiepreise.

Bleiben die Energiepreise auf hohem Niveau und werden die erzielten Erlöse zur technologischen Modernisierung und Diversifikation der Produktion sowie zur Verbesserung der Infrastruktur verwendet und eben nicht zur Alimentierung des staatlichen Haushaltes, so könnte die russische Wirtschaft in eine Phase des nachhaltigen Wirtschaftswachstum eintreten. Die angestrebten Reformen fallen mit einer konjunkturellen Erholung der russischen Volkswirtschaft zusammen, die nach der Finanzkrise vom August 1998 einsetzte. Seither verzeichnet die russische Wirtschaft erstaunliche Wachstumsraten und hat auch an Boden gegenüber westlichen Importen, die aufgrund der Rubelabwertung stark rückläufig wurden, gewonnen. So wuchs die heimische Industrieproduktion durchschnittlich um 15 Prozent im Jahre 1999 und in den ersten vier Monaten des Jahres 2000 pendelte sie zwischen 19,8 Prozent in den Energiebranchen und 12,1 Prozent für die Nahrungsmittelindustrie. Insgesamt nahm die Industrieproduktion 2000 gegenüber dem Vorjahr um 10,3 Prozent zu, und der Dienstleistungsbereich verzeichnete ein Wachstum von 8,6 Prozent. Erstmals seit einem Jahrzehnt wuchs auch die Investitionsrate und nahmen ausländische Direktinvestitionen zu. Der wirtschaftliche Aufschwung wirkte sich positiv sowohl auf den Arbeitsmarkt als auch auf den staatlichen Haushalt aus. Lohnschulden wurden beglichen, und die Wachstumsbranchen verzeichneten Reallohnzuwächse von ca. 6 Prozent. Nicht zuletzt aufgrund rigider Eintreibepraktiken stiegen die Steuereinnahmen des Staates. Die Auslandsschulden konnten bedient und Rücklagen bei der Zentralbank gebildet werden. Die günstige Konjunktur hat den Handlungsspielraum des Präsidenten vergrößert und seine Popularität in der Bevölkerung trotz des immer noch nicht bewältigten Krieges in Tschetschenien gefestigt.

In der Wirtschaftspolitik wird es kein Abdriften in die Abgründe panslawistischer Selbstisolation geben. Eher sind Anleihen an Methoden und Instrumente des Zusammenwirkens von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft, wie sie zeitweise in der europäischen Nachkriegsgeschichte eine Rolle spielten und noch heute in der regionalen Wirtschaftspolitik Anwendung finden, zu erwarten.

Neue Akzente in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik

Die Rekonstitution der russischen Staatlichkeit wird gegebenenfalls einhergehen mit Manifestationen russischer Interessenpolitik in der internationalen Politik. Aber nicht im Sinne einer Schaukelpolitik wie sie im Primakowschen Konzept der multipolaren Weltordnung und der euroasiatischen geostrategischen Option tendenziell angelegt war. Daher kann weder eine erhöhte Konflikt- oder Risikoorientierung der russischen Politik erwartet, noch aus der gezielten Reisediplomatie des neuen Präsidenten die Belebung euroasiatischer Illusionen gefolgert werden. Denn die gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Reformaufgaben, die es innenpolitisch zu bewältigen gilt, erlauben es nicht, sich zusätzlich noch in außenpolitische Konflikte zu verstricken. Eher könnte man vermuten, dass sich der politische Kurs „nach außen weich und nach innen hart" präsentieren wird.

Russland und die EU

Unter der Präsidentschaft Putins scheint ein neues Kapitel in den russisch- europäischen Beziehungen möglich. Das ist um so bemerkenswerter, als der russischen Politik bisher jegliche Vorstellung über die Spezifika des europäischen Integrationsprozesses und der inneren Dynamik von Kooperation, Ausgleich und Konfliktbewältigung zwischen den Mitgliedstaaten der EU fehlte. Inwieweit die hierarchischen und zentralstaatlichen Traditionen sowohl der untergegangenen Sowjetunion mit ihren wirtschaftlichen und militärischen Bündnisstrukturen als auch der post-sowjetischen Russländischen Föderation hier eine Rolle spielten, sei einmal dahingestellt. Fest steht, dass die russische Politik den europäischen Integrationsprozess als Form der intensiven Kooperation lange Zeit missverstand, daher auch das innere Spannungsverhältnis bei Entscheidungen zwischen kleinen und großen Staaten in der EU kaum interpretieren konnte und die EU primär als Handels- und Wirtschaftsmacht ohne Aktionsfelder in der Außen- und Sicherheitspolitik missdeutete. Mit dieser Fehlinterpretation steht das post-sowjetische Russland nicht allein.

Auch die amerikanische Politik hatte große Schwierigkeiten auf die erstmals Mitte der achtziger Jahre als Reaktion auf die Politik Reagans postulierte Politik des „European self-assertiveness" (Horst Ehmke) einzugehen. Gleichermaßen konnte Washington der im Maastrichtprozess bereits postulierten „europäischen außen- und verteidigungspolitischen Identität", die letztlich zu integrierten europäischen Streitkräften führen sollte, wenig abgewinnen. Vielmehr wurde eine gerechtere Verteilung der militärischen Lasten im Rahmen der NATO angemahnt, und die Europäer wurden aufgefordert, sich quasi als Juniorpartner unter Führung der einzig verbliebenen Blockführungsmacht mehr in der Weltpolitik zu engagieren. Die Stärkung des „europäischen Pfeilers" in der NATO, d.h. unter Führung der USA, sähe die amerikanische Politik schon aus innen- und budgetpolitischen Gesichtspunkten gern, nicht aber ein militärisches und außenpolitisches Eigenleben der EU. Die USA argwöhnen, dass die europäische Verteidigungsidentität erstens zu einer schleichenden Herauslösung Europas aus dem NATO-Verbund führen könnte. Zweitens befürchtet Washington, dass die NATO auf ihre traditionelle Funktion einer „letztinstanzlichen Rückversicherung" gegen Russland festgeschrieben werden könnte, hingegen die Krisenreaktionsstreitkräfte der EU flexibel zur Konflikt- und Krisenbewältigung in Europa eingesetzt würden. Drittens, dass aufgrund der nicht kongruenten Mitgliedschaft von Staaten in der NATO und in der EU sich unterschiedliche Loyalitäten herausbilden könnten, die sich negativ auf die Kohäsion der NATO und auf amerikanische Interessen in Europa und im Nahen Osten auswirken könnten. Viertens, dass die USA entgegen eigener Interessen in europäische Konflikte verstrickt werden könnten, falls die Ressourcen der EU-Staaten zur militärischen Konfliktregulierung nicht ausreichen.

Selbst namhafte Politiker wichtiger Mitgliedstaaten der EU hatten bislang erhebliche Schwierigkeiten, sich eine außen- und sicherheitspolitisch aktive und eigene Akzente setzende EU vorzustellen, die möglicherweise unabhängig von der NATO operiert. Und über die Frage, wie sich in der Zukunft die transatlantischen Beziehungen gestalten sollten, gibt es bislang keine klare Vorstellung auf Seiten der Mitgliedstaaten der EU. Die im Dezember 1999 auf der Tagung des Europäischen Rates in Helsinki beschlossene Kompromissformel, bei der Bewältigung von eventuellen Krisen in Europa der NATO militärisch den Vortritt zu lassen, lässt der europäischen Politik das Hintertürchen offen, sich nur dann aktiv um Beilegung von Konflikten und Krisen zu bemühen, wenn die NATO, sprich die USA, den Einsatz von eigenen Krisenreaktionskräften ablehnt. Diese Formel impliziert aber keineswegs europäische Entschlossenheit, sich nun stärker um die eigenen Belange zu kümmern und vor allem im eigenen Haus für Ordnung zu sorgen. Sie mutet auf dem ersten Blick eher wie ein Rückfall in die Lethargie europäischer Unentschlossenheit an, so dass Europa weiterhin der transatlantischen Führung bedarf, um die eigenen Angelegenheiten zu regeln. Gleichzeitig jedoch beschloss der Europäische Rat in Helsinki die Einrichtung eines ständigen sicherheitspolitischen Komitees mit Sitz in Brüssel, das sich mit allen Fragen der europäischen Außen-, Militär- und Sicherheitspolitik sowie des operativen Krisenmanagements befassen soll, die bei der Durchführung und Koordination von militärischen Einsätzen anfallen. Bis zum Jahre 2003 will die EU in der Lage sein, Krisenreaktionsstreitkräfte von bis zu 60.000 Soldaten innerhalb von 60 Tagen für den Einsatz bereitzustellen und diese mit zusätzlicher Unterstützung durch Marine und Luftwaffe für ein Jahr einsatzfähig zu halten. Dass die EU behutsam, aber entschieden daran geht, sich die institutionellen und organisatorischen Voraussetzungen für ein operativ-aktives Krisenmanagement zu schaffen, belegte auch der EU-Gipfel von Feira im Juni 2000. Auf diesem Gipfel wurden Maßnahmen für den zivilen und polizeilich-administrativen Einsatz von Ordnungskräften vereinbart. Die Mitgliedsländer der EU verpflichteten sich, bis zum Jahre 2003 für internationale Missionen bis zu 5000 Polizisten abzustellen und innerhalb von 30 Tagen bis zu 1000 Polizisten in Krisengebieten stationieren zu können. Konstatiert werden kann, dass die sicherheitspolitische Diskussion in Europa aufgrund der andauernden Balkankrise und des Krieges im Kosovo in Bewegung geraten ist. Mehr noch, dass die Bedrohung für die internationale Staatengemeinschaft und besonders für Europa wie sie vom Balkankonflikt ausging, aber auch die Erfahrungen gemeinsamen Krisenmanagements allmählich zur Revision normativer wie realer Ziele von nationalen außen- und sicherheitspolitischen Orientierungen führen. Das gilt für die EU wie für Russland. Hierin liegt die Chance einer erneuten gesamteuropäischen Diskussion über Zusammenarbeit.

Grundlage für einen sicherheitspolitischen Dialog, der aber thematisch wesentlich breiter gefasst ist, könnte einerseits ein Strategiepapier werden, das im Juni 1999 auf der Ratstagung der EU in Köln vorgelegt wurde. In diesem Papier versuchte die EU, erstmals systematisch die politische Dimension ihres Vertrages über Partnerschaft und Kooperation vom Jahre 1997 mit der Russländischen Föderation zu definieren. Die Konzeption der EU ist in Moskau auf große Aufmerksamkeit gestoßen, und im Oktober 1999 erfolgte die russische Antwort. In einer „mittelfristigen Strategie", die den Zeitraum der nächsten zehn Jahre anvisiert, werden die russischen Erwartungen an die EU beschrieben. Beide Konzeptionen stehen am Anfang eines zu entwickelnden Dialogs. Sie könnten aber die normativen Leitlinien markieren, entlang derer sich ein friedenspolitischer Dialog in Europa bewegen sollte.

Strategische Konzeptionen

Die „Gemeinsame Strategie der Europäischen Union für Russland", 1999 herausgegeben vom Generalsekretariat des Rates in Brüssel, die erst einmal für vier Jahre gilt, geht über den Aspekt wechselseitiger, beidseitig wirtschaftlich vorteilhafter Beziehungen, wie sie im Partnerschafts- und Kooperationsabkommen niedergelegt sind, hinaus und formuliert normative Ziele, die für ein gedeihliches Miteinander beider Gesellschaftsformationen auf dem europäischen Kontinent unerlässlich scheinen. Der Strategie liegt die sicherlich nicht ganz neue, aber zeitweise in indifferente Vergessenheit geratene Einsicht zugrunde, dass, gleichgültig welche Gesellschaftsordnung sich im Verlauf des russischen Transformationsprozesses herausbilden wird, die EU davon betroffen wird. In diesem Punkt unterscheiden sich die transatlantischen Beziehungen qualitativ vom Verhältnis der EU zur Russländischen Föderation. Leitgedanke der europäischen Strategie für Russland ist, zu einer Entwicklung beizutragen, die dem Auseinanderdriften beider Gesellschaftsformationen vorbeugt und in Russland Voraussetzungen stärken hilft, dass sich dort eine stabile, offene und pluralistische Demokratie, basierend auf rechtsstaatlichen Grundlagen und effizienten Institutionen, entwickeln kann. Demokratie, Rechtsstaat, Achtung der Menschenrechte, Pressefreiheit und die Schaffung einer verlässlichen, effizienten und berechenbaren Verwaltung, die Zurückdrängung von Korruption und die Stärkung der staatlichen Autorität auf allen Ebenen des föderativen Gemeinwesens sowie der Kampf gegen die organisierte Kriminalität werden als unabdingbare Voraussetzungen des gemeinsamen Zusammenlebens in Europa definiert und finden ihre maximale Entfaltung in der Herausbildung einer Zivilgesellschaft. Die ihm Rahmen der Tacis-Programme zur Verfügung stehenden Instrumente des Know-how-Transfers sollen zur Qualifizierung und Professionalisierung von Verwaltungen auf allen Ebenen der Föderation beitragen. Es gilt also nicht nur, die bilaterale und multilaterale Kooperation auf der höchsten politischen Ebene zwischen den Verfassungsinstitutionen Russlands, Duma, Föderationsrat, Verfassungsgericht etc., und den Mitgliedstaaten der EU zu intensivieren. Die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedsländern und Russland soll alle Ebenen der föderativen Gliederung einbeziehen. Grenzüberschreitende Kooperationen und die Vernetzung von Kommunen, Großstädten und Regionen über den Rahmen bestehender Partnerschaften hinaus sollen zur Verbreiterung und Stärkung basisdemokratischer Entwicklungen beitragen, den Aufbau der russischen Zivilgesellschaft von unten befördern und damit die demokratische Entwicklung des Landes nachhaltig stärken. Ausdrücklich erwähnt das Strategiepapier als Zielsetzung der wirtschaftlichen Kooperation die Einbeziehung Russlands in internationale Organisationen wie z.B. die EU-Unterstützung der Aufnahme Russlands in die WHO. Abbau der Handelshemmnisse auf beiden Seiten, verstärkter Schutz für Investoren, erweiterter Zugang zum Binnenmarkt der EU für russische Produkte, Verstärkung der industriell-technologischen Zusammenarbeit, Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und die Schaffung eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraumes, basierend auf einer angestrebten Freihandelszone zwischen der EU und Russland, markieren das Bestreben, soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Trennlinien in Europa abzubauen. Obwohl nicht explizit genannt, könnten so die ausgrenzenden Effekte der NATO-Osterweiterung und die Befürchtung der russischen Politik, durch die Erweiterung der EU um einige mitteleuropäische Länder wirtschaftlich und politisch Schaden zu erleiden, kompensiert werden.

Bemerkenswertes Novum der „Gemeinsamen Strategie" ist die Erweiterung der bisher eher ökonomisch definierten Partnerschaft zwischen der EU und Russland um die außen- und sicherheitspolitische Dimension. Explizit wird die gemeinsame Verantwortung beider Seiten für die Stabilität und Sicherheit in Europa und für andere Weltregionen betont. Dieser Perspektive internationaler Zusammenarbeit entspricht auf Seiten der EU die Einsicht, dass gegen oder ohne Mitwirkung Russlands, wie die Konflikte auf dem Balkan und insbesondere der Kosovo-Krieg zeigten, Stabilität und friedliche Entwicklung in Europa nicht zu erreichen sind. Ziel der europäischen Politik muss daher sein, Russland zur verantwortlichen Mitwirkung im Rahmen eines permanenten politischen und sicherheitspolitischen Dialoges in Europa zu ermuntern und diesen Dialog durch geeignete Mechanismen institutionell abzustützen. Als Felder der Sicherheitskooperation bieten sich Konsultationen und die Konzertierung von Abstimmungen im OSZE-Prozess an, die Ausbildung und Vorbereitung von russischen Krisenreaktionsstreitkräften bei gemeinsamen, zukünftigen Petersberg-Einsätzen und das Zusammenwirken beim Konzipieren europäischer Friedenspolitik, wie etwa gemeinsame Initiativen zur Konfliktbewältigung und -prävention. Damit könnte die Eindämmung von politisch extremen und isolationistischen Tendenzen gelingen, die sich von der Furcht nähren, der Westen wolle Russland marginalisieren und schwach halten. Außerdem würden in Russland demokratische Tendenzen gestärkt und die russische Wirtschaft durch Handels- und Kapitalverflechtungen noch stärker „europäisiert".

Die „mittelfristige Strategie" ist vorläufiger Endpunkt eines lebhaften Diskussionsprozesses der außen- und sicherheitspolitischen Elite des Landes über die Beziehungen Russlands zum Westen. Lange Zeit schien es, als ob die russische Politik in defensiv-aggressiver Weise hilflos und starr auf die Ablehnung der NATO-Osterweiterung fixiert war. Konzeptionelle Überbleibsel des bipolaren Blockdenkens und die Fokussierung der russischen Politik auf die USA erklären partiell, warum die politischen, wirtschaftlichen und monetären Folgen der westeuropäischen Integration - und damit die Transformation der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, die zunehmend international selbständiger agierte - kaum wahrgenommen wurden.

Möglicherweise kamen 1999 mehrere Faktoren zusammen, die, vermittelt über wirtschaftliche und soziale Erfordernisse, ein außen- und sicherheitspolitisches Umdenken in Russland begünstigten: Die russische Politik konnte die Osterweiterung der NATO nicht verhindern. Die Finanz- und Budgetkrise vom August 1998 führte zur Ablösung der amerikanischen Dominanz über den Gang der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Transformation. Diese Krise schwächte die Position der alten Machtelite, es kam zu Umgruppierungen. Unter den Regierungen Primakow und Stepaschin wurden wirtschaftspolitisch nun Akzente gesetzt, die sich stärker auf Instrumente, Methoden und Erfahrungen des europäischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg besannen. Der Kosovo-Krieg demonstrierte nicht nur die Grenzen russischer Einflussnahme, sondern enthüllte die potentielle Gefahr der Isolation und Marginalisierung Russlands in Europa.

Wenn die „Gemeinsame Strategie" der EU vielleicht auch eine Geste war, um der russischen Politik eine Brücke nach Europa zu bauen, so ließen sich die russischen Regierungen unter Sergej Stepaschin und Wladimir Putin darauf ein. Die Offerte der EU konnte auch innenpolitisch genutzt werden, um Tendenzen der Selbstisolation, der ansteigenden Radikalisierung und anti-westlichen Stimmungsmache in den Medien, ausgelöst durch die Militärschläge der NATO gegen Serbien, Einhalt zu gebieten. An einer Isolation des Landes konnten weder die Politik noch die russische Wirtschaft ein Interesse haben. Positive Signale auf die EU-Offerte wirkten so in zwei Richtungen. Zum einen konnten populistische und anti-westliche Strömungen eingedämmt werden. Zum anderen entwickelte die russische Europapolitik urplötzlich ein Eigenleben und wurde zum selbständigen und an Relevanz stetig zunehmenden Faktor in der russischen Außenpolitik. In der vom damaligen Premierminister Putin im Oktober 1999 vorgestellten „Mittelfristigen Strategie für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Russländischen Föderation und der Europäischen Union im Zeitraum von 2000 bis 2010" werden Rücksichten auf die anti-westliche Grundstimmung in der russischen Bevölkerung genommen. So wird das Zugehen auf Europa auch damit legitimiert, dass dadurch die Hegemonie der USA via NATO auf Europa eingedämmt werden könne. Aber im Unterschied zu traditionellen Ansätzen früherer Politik werden in der mittelfristigen Strategie keine Illusionen genährt, dass Russland mit einer eigenständigen Europapolitik einen Keil in die transatlantischen Beziehungen treiben könne. Eher kann postuliert werden, dass die russische Politik hier zweigleisig fährt. Sie hat akzeptiert, dass gegen die NATO kein anhaltender Widerstand ohne Rückwirkungen auf die EU formiert werden kann. Zögerliche und vorsichtige Mitarbeit im NATO-Russland-Kooperationsrat ist daher angesagt. Jeder Versuch, die EU von den USA abzuspalten, würde sich negativ auf den europäischen Handlungsspielraum auswirken und birgt die Gefahr, Russland in Europa zu isolieren. Denn für die EU ist unbedingte Loyalität im Rahmen der transatlantischen Beziehungen zu den USA die Voraussetzung für eine flexiblere und eigenbestimmte Politik gegenüber Russland. Die russische Westpolitik verfährt ähnlich. Die Normalisierung und Entfaltung der Beziehungen zur EU sind die Basis für eine flexiblere und entspanntere Politik gegenüber den USA.

Diese Konzeption, bei den jetzigen Diskussionen über den Aufbau begrenzter Raketenabwehrsysteme erstmalig ins Feld geführt, lässt sich erfolgreich an. Im Unterschied zur multipolaren Schaukelpolitik, die dem Ansatz von Primakow eigen war, nimmt die russische Europapolitik einen eigenständigen und besonderen Rang ein, ohne allerdings die Idee einer geostrategischen Partnerschaft mit asiatischen Ländern aufzugeben. Die russische Position greift normative Zielsetzungen des EU-Papiers auf. Insbesondere soll die Trennung des Kontinents in unterschiedliche wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Blöcke verhindert werden.

Russland will zum sicherheitspolitischen Partner der EU werden, dabei aber seine Eigenständigkeit und Distanz zu Europa bewahren. Zwar misst die russische Position den Beziehungen zur EU strategischen Wert bei, gibt sich allerdings nicht der Illusion hin, in naher oder ferner Zukunft die Mitgliedschaft in der EU anzustreben. Dass die russische Antwort dabei gleich das Kind mit dem Bade ausschüttet und auch von einer Assoziierung an die EU nichts wissen will, wird implizit dadurch erklärt, dass Russland eine Großmacht sei. Großmächte assoziieren sich nicht, sondern haben Vertragsbeziehungen. Sie treten auch keiner Union bei, wie 1998 an anderer Stelle der damalige Stellvertreter des Ständigen Vertreters Russlands bei den Europäischen Gemeinschaften Iwan Iwanow formulierte. Iwanow warnte davor, dass die russische Politik die Folgen der europäischen Integration und Osterweiterung unterschätzt. Die wirtschaftlichen Nachteile für Rußland liegen auf der Hand. Russland werde durch Anti-Dumping Vorschriften und Standardisierung Märkte in Mitteleuropa verlieren. Die „De-Europäisierung Russlands" könnte die Folge sein. Auch die Beitrittsgesuche der mitteleuropäischen Staaten seien nicht nur wirtschaftlich motiviert. Sie suchten Sicherheit vor Russland und würden, einmal in der EU, von innen die Beziehungen der EU zu Russland erschweren. Außerdem verbiete die „euroasiatische" Doppelnatur des Landes eine solche Entwicklung. Gegen diese traditionell machtpolitische Sichtweise weisen andere, pragmatische Stimmen des russischen Außenministeriums auf die Relevanz der russisch-europäischen Wirtschaftsbeziehungen hin. Mehr als 40 Prozent des russischen Außenhandels werden mit der EU abgewickelt. Die EU ist zum größten Direktinvestor avanciert; hier zählen besonders die Direktinvestitionen in der Industrie. Die EU-Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland, sind eng mit russischen Energiesektoren verwoben (die Zusammenarbeit erreichte im Frühsommer 2000 eine neue Qualität durch deutsche Kapitalbeteiligungen bei Gasprom). Vor dem Hintergrund der zunehmenden Investitions- und Handelsverflechtungen mit europäischem Kapital erscheint die Frage nach der Qualität und dem gegenseitigen Nutzen der europäisch-russischen Beziehungen wesentlich wichtiger als über Statusfragen zu spekulieren, ob und wann eine Form der Assoziation gefunden wird. Übereinstimmend befürwortet die russische Antwort, einen permanenten und umfassenden politischen Dialog über Sicherheit in Europa zu führen und dafür geeignete Umsetzungsmechanismen zu schaffen. Denn beide Seiten, so wird im russischen Positionspapier unterstrichen, haben das übereinstimmende strategische Interesse an einer friedlichen und stabilen Entwicklung in Europa. Sie tragen für die Sicherheit Europas eine besondere Verantwortung. Beide Seiten sollten ihre Position, falls geboten, in internationalen Organisationen abstimmen und ein Höchstmaß an Kooperation zur Krisenprävention und Konfliktminimierung im OSZE-Raum erreichen. Dem Angebot der EU jedoch, sich zu koordinieren und abzustimmen, um Missionen im Sinne der Petersberg-Erklärung besser durchzuführen, kann die russische Seite allerdings nur bedingt etwas abgewinnen. Die russische Politik reagiert auf Entwicklungen der EU, die außen- und sicherheitspolitische Identität (GASP) zu stärken, vorsichtig abwartend. Dass hier die offensichtliche Schwäche der EU in den Balkankonflikten noch nachwirkt, scheint offensichtlich. Auf russischer Seite ist Vorsicht geboten. Die Europäer sollen erst unter Beweis stellen, dass sie militärisch überhaupt in der Lage sind, notfalls ohne die USA militärische Missionen im Rahmen der Petersberg-Erklärung durchzuführen. Die in der Vergangenheit an den Tag gelegte Führungs- und Entscheidungsschwäche der EU deutet auch heute noch daraufhin, dass die EU lieber ihr Heil unter den Fittichen der Blockführungsmacht USA suchen wird, als sich mit Russland auf ein gemeinsames Krisenmanagement zu verständigen. Immerhin, zum ersten Mal erkennt die russische Politik die EU als globalpolitisch operierenden Akteur mit eigenen Interessen an und beobachtet die Versuche der EU, sich eine außen- und sicherheitspolitische Identität sowie militärische Durchsetzungsfähigkeit zu verschaffen, ernsthaft. Neu in der russischen Perzeption ist auch, dass die WEU als integraler Bestandteil der EU gesehen wird, und dass Russland eine operative Zusammenarbeit auf sicherheitspolitischem Gebiet, einschließlich des Krisenmanagements und der Durchführung von Frieden schaffenden Maßnahmen für möglich und wünschenswert hält.

Ausblick

Der Kurswechsel in der russischen Europapolitik ist durch ein komplexes Zusammenwirken von Faktoren und Ereignissen, die allesamt im Kontext der Finanzkrise vom August 1998 und dem Kosovo-Krieg 1999 angesiedelt sind, ausgelöst worden. Maßgebend war vielleicht auch die Erkenntnis, dass sich Integrations- und Kooperationsprozesse in Europa mit unterschiedlicher Dynamik vollziehen. E. Jahn hat auf diese asymmetrische Integrationskonkurrenz zwischen Brüssel und Moskau hingewiesen und zu recht postuliert, dass es keinen gleichwertigen Integrationsansatz im Rahmen der GUS gibt, in dem Russland als Motor und Zentrum fungieren könnte. Die Attraktivität und Intensität des westeuropäischen Integrationsprozesses ist wesentlich größer und verdichtet sich weiter. Sie erreicht aber nur die mitteleuropäischen Staaten. Ihre Dynamik birgt daher die Gefahr der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und militärischen Teilung des Kontinents. Chancen für eine „parallele Integration" (Jahn) sind zur Zeit gering, da Russland aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwäche und politischen Instabilität nicht in der Lage ist, als Kristallisationskern auf östlicher Seite zu wirken. Zudem können die territorialen Zerfallsprozesse im GUS-Raum noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Als Ausweg aus der sich abzeichnenden faktischen, wenn auch politisch nicht gewollten Teilung des Kontinents komme, nach Jahn, allein die Förderung „gesamteuropäischer" Integration in Betracht, bei „gleichzeitiger Anerkennung der Möglichkeit und Notwendigkeit eines eigenständigen parallelen marktwirtschaftlichen und demokratischen Entwicklungs- und Integrationsraumes zwischen der Europäischen Union und Osteuropa. Dies setzt eine Selbstbeschränkung der Osterweiterung der Brüsseler Bündnisse voraus".

Wenn auch die Forderung nach einer Selbstbeschränkung der EU bei der Osterweiterung kaum einzulösen sein wird, begrenzen die erforderlichen institutionellen und prozeduralen Reformen, die der Aufnahme und Absorption neuer Mitgliedsländer voraus und parallel gehen, faktisch ein weiteres Ausgreifen der Integrationsdynamik. Auf längere Sicht wird es also Staaten zwischen der EU und Russland geben, die von der europäischen Integrationsdynamik zwar angezogen, aber nicht angeschlossen werden. Schon heute ist bei den mitteleuropäischen Staaten erkennbar, dass sie die Zwischenstufen zur Integration durch vorbereitende Schritte der Konvergenz rechtlicher, administrativer und politischer Regelwerke sowie Normen nutzen. Diese Länder fokussieren ihre Anstrengungen auf Teilnahme am westeuropäischen Integrationsprozess. Eine „parallele" Integration ist weder politisch noch wirtschaftlich für diese mitteleuropäischen Länder vorstellbar. Ein Abrücken von der Option, sich in die EU zu integrieren, würde in diesen Ländern zu schwerwiegenden innenpolitischen Verwerfungen führen.

Andere Bedingungen finden wir aber in Russland. Dort fehlen einerseits die politischen, wirtschaftlichen und normativen Voraussetzungen für eine baldige Annäherung an den westeuropäischen Integrationsprozess. Andererseits sind die Realisierungschancen für eine „parallele Integration" im GUS-Raum äußerst schwach. Beide Faktoren erhöhen den Handlungsspielraum für die russische Politik, denn sie steht nicht unter Erfolgszwang und zeitlichen Druck sich auf den Takt der westeuropäischen Integration einlassen zu müssen.

Gleichwohl hat sich die russische Gesellschaft im Lauf der bisherigen marktwirtschaftlichen und demokratischen Transformation in eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen mit mehr oder minder ausgeprägten Interessen gespalten, haben sich spezifische Normen, Verkehrs- und Lebensweisen auf den Ebenen der Russländischen Föderation herausgebildet, stehen Institutionen und Bürger durch eine Vielzahl von Netzen und Kontakten mit der europäischen Außenwelt in Verbindung. Die Formierung einer politischen und wirtschaftlichen Machtelite, die der partiellen Integration von Wirtschaftssektoren und Regionen in Weltmarktzusammenhänge Rechnung trägt und sich von isolationistischen und imperialen Orientierungen weitgehend befreit hat, ist im vollen Umfang zu beobachten. Die „mittelfristige Strategie" ist Ausdruck der realistischen und pragmatischen Politikorientierung dieser Elite.

Schon vor Jahren formulierten Integrationstheoretiker wie Karl W. Deutsch oder Ernst B. Haas, dass sowohl für die „security community" als auch für den europäischen Integrationsprozess normative Übereinstimmungen, wirtschaftlicher Nutzen, pluralistische demokratische Gesellschafts- und Staatsverfassungen, Berechenbarkeit politischer Eliten sowie die Verrechtlichung und Institutionalisierung der politischen und wirtschaftlichen Prozesse unabdingbar waren. Ferner, dass Integration in einigen Feldern zu erweiterter Integration in anderen Feldern führte. Geht der marktwirtschaftliche und gesellschaftspolitische Transformationsprozess in Russland weiter und verdichten sich aus dem in Gang gesetzten europäisch-russischen Dialog die Felder gemeinsamer Kooperation in Technologie, Wissenschaft, Wirtschaft, Verkehrsinfrastruktur sowie in den grenzüberschreitenden Beziehungen, so können auch andere Formen der Kooperation, etwa der Dialog über Fragen der europäischen Sicherheit, davon angestoßen werden.


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