FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO


Japan - neue Regierung, alte Probleme / Michael Ehrke. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 12 S. = 38 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




  • Die Unterhauswahlen vom 25. Juni des Jahres hatten ein dramatisches Vorspiel: Am 2. April erlitt Premierminister Keizo Obuchi einen Hirnschlag, der ihn in ein Koma versetzte, aus dem er nicht mehr erwachte. In den Tagen nach Obuchis Schlaganfall war die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ohne politische Spitze. In hektischen Krisensitzungen der LDP-Führung wurde der neue Parteipräsident und Premierminister ausgewählt: Yoshiro Mori, ehemaliger Generalsekretär der Partei, Rugbyspieler und Bodyguard des einst starken Mannes der LDP, Noboru Takeshita.

  • Das Wahlergebnis war für die Regierung bei geringer Wahlbeteiligung von 63 Prozent enttäuschend: Die Koalitionsparteien wurden deutlich geschwächt; noch bedenklicher ist, dass die LDP nun auf Gedeih und Verderb auf die New Komeito angewiesen ist.

  • Die LDP gewann - wie immer - auf dem Lande und verlor in den Großstädten. Die Demokratische Partei gewann 32 Mandate hinzu, verfügt aber immer noch über 100 Sitze weniger als die Liberaldemokraten. Gleichwohl haben sich die Demokraten endgültig als die zweite große Partei des Landes etabliert.

  • Bei einer öffentlichen Verschuldung von offiziell 130 Prozent des Sozialprodukts droht Japan in eine Schuldenfalle zu geraten: Liegt der Zinssatz nicht mehr wie heute bei Null, wird der staatliche Schuldendienst zum riesigen Problem. Wie immer man die Wirkungen der Haushaltspolitik beurteilt: So fortgesetzt werden kann sie nicht.

  • Das derzeitige Kernproblem der japanischen Wirtschaft liegt im unzureichenden privaten Konsum bzw. in der hohen und trotz der Krise wachsenden privaten Ersparnisbildung. Die Sparneigung wächst trotz eines Zinssatzes in der Nähe der Nullinie; auch die fiskalische Expansionspolitik hat hieran nichts geändert.

  • Grund hierfür ist eine neue Risikowahrnehmung der Arbeitnehmer: Arbeitslosigkeit, Einkommenslosigkeit bzw. unzureichendes Einkommen im Alter sind zu breit perzipierten Risiken geworden.

  • Ein Ausweg wäre die (partielle) Entprivatisierung sozialer Risiken, d.h. die Stärkung der öffentlichen sozialen Sicherung und damit der automatischen Stabilisatoren. Dies kann in einer politischen Kultur, in der öffentliche Leistungen eher als Almosen denn als durch Beitragszahlungen erworbene Anrechte angesehen werden, freilich nur langfristig erfolgen.




Rückblick

Die Unterhauswahlen vom 25. Juni des Jahres hatten ein dramatisches Vorspiel: Am 2. April erlitt Premierminister Keizo Obuchi einen Hirnschlag, der ihn in ein Koma versetzte, aus dem er nicht mehr erwachen sollte. Obuchi starb einige Wochen später an den Folgen des Schlaganfalls. In den Tagen nach Obuchis Ausfall war die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ohne politische Spitze.

Eine Regelung für diesen Ausnahmefall im Sinne eines automatisch die Regierungsspitze übernehmenden Vertreters gab es nicht. Obuchis unmittelbarer Nachfolger, Kabinettssekretär Aoki, agierte für kurze Zeit als acting prime minister. Er behauptete, der Premier habe ihn vom Krankenbett aus beauftragt, dieses höchste Amt zu übernehmen, doch Aoki gestand später ein, gelogen zu haben. In h0ektischen Krisensitzungen der LDP-Führung wurde der neue Parteipräsident und Premierminister ausgewählt: Yoshiro Mori, ehemaliger Generalsekretär der Partei, Rugbyspieler und Bodyguard des einst starken Mannes der LDP, Noboru Takeshita (der im Juni starb). Mori, Mitglied der Obuchi-Fraktion der LDP, wurde, so wird berichtet, ausgewählt, weil er Obuchi vorbehaltlos die Treue gehalten hatte (immerhin musste sich Obuchi bei seiner Wiederwahl zum Parteipräsidenten gegen zwei Kontrahenten aus der eigenen Partei durchsetzen) und dessen Politik fortzuführen versprach.

Die erste wichtige Entscheidung, die Mori treffen musste, war die Terminierung der Unterhauswahlen. Laut Gesetz mussten diese Wahlen bis spätestens Oktober 2000 (also vier Jahre nach den letzten Unterhauswahlen vom Oktober 1996) stattgefunden haben. Das zweite Referenzdatum war der G7 plus Russland-Gipfel am 20. Juli in Okinawa. Die Wahlen wurden schließlich auf den 25. Juni festgelegt, also mehrere Wochen vor dem Gipfel, so dass die G7-Mitglieder plus Russland mit einem durch Wahlen in seinem Amt bestätigten japanischen Partner rechnen konnten.



Japanische Regierungskoalitionen seit 1996

Oktober 1996-Oktober 1998

Hashimoto

LDP, SDPJ, Sakigake0

Oktober 1998-Januar 1999

Obuchi

LDP

Januar 1999-Juni 1999

Obuchi

LDP, Liberale Partei

Juni 1999-Dezember 1999

Obuchi

LDP, Liberale Partei, Komeito

Dezember 1999-März 2000

Obuchi

LDP, New Conservative Party, Komeito

Seit April 2000

Mori

LDP, New Conservative Party, Komeito



Seit den letzten Unterhauswahlen vom Oktober 1996 wurde Japan von fünf Regierungskoalitionen unter (ohne Mori) zwei Premierministern geführt. (1) Der 1996 gewählte Premier war Ryotaru Hashimoto, unter dem die LDP in Koalition mit der Sozialdemokratischen Partei Japans (die an dem Würgegriff fast zugrunde gegangen wäre) und der kleinen, mittlerweile verschwundenen Partei Sakigake koalierte (die wichtigsten Sakigake-Politiker gründeten 1997 zusammen mit dem Reformflügel der Sozialdemokraten die Demokratische Partei, heute die größte Oppositionspartei des Landes). Im Sommer 1998 musste Hashimoto zurücktreten, weil die LDP in Oberhauswahlen viele Sitze verloren hatte und Hashimoto für die Verschärfung der Wirtschaftskrise infolge eines verfrühten haushaltspolitischen Konsolidierungskurses verantwortlich gemacht wurde. (2) Obuchi, unter Hashimoto Außenminister, trat an die Stelle Hashimotos und regierte einige Monate lang mit der LDP allein; da die LDP im Oberhaus (das allen Gesetzen, vom Haushalt und von internationalen Verträgen abgesehen, zustimmen muss), über keine Mehrheit verfügte, bedurfte Obuchi eines Koalitionspartners. Die LDP trat daher (3) in eine Koalition mit der Liberalen Partei. Die Liberale Partei war das, was von der noch vor kurzem größten (konservativen) Oppositionspartei Shinshinto übriggeblieben war. Shinshinto war das zu einer Partei zusammengeschlossene Gemisch aus einer abgespaltenen Fraktion der LDP, der Japan New Party des ehemaligen Premiers Hosokawa, der rechtssozialdemokratischen DSP und der buddhistischen Komeito, eine Kraft, die vom konservativen enfant terrible der japanischen Politik, Ichiro Ozawa, geführt wurde. Im Zuge innerparteilicher Auseinandersetzungen verlor die Shinshinto sowohl die gesamte Komeito, die sich wieder unabhängig machte, als auch eine ganze Reihe von Abgeordneten und Abgeordnetengrüppchen, die in den Schoß der LDP zurückkehrten oder sich der Demokratischen Partei anschlossen. Die Koalition LDP-Liberale Partei wurde einige Monate später erweitert durch (4) die Aufnahme der Komeito (die sich heute New Komeito nennt, ohne dass das „New" irgend etwas zu bedeuten hätte). Auseinandersetzungen um das Wahlrecht, die Pflegeversicherung und die Haushaltspolitik führten zu einer Spaltung der Liberalen Partei, deren Mehrheit unter Ozawa aus der Regierung auszog, und deren Minderheit unter dem Etikett New Conservative Party in der Koalition verblieb (5).

Obuchi war 1996 nicht als Premier ausgewählt worden, weil er besonders befähigt oder populär gewesen wäre, sondern weil er gemäß der Rotations- und Senioritätsmechanik der Postenvergabe unter den LDP-Fraktionen „dran" war. Dem Vorwurf, er gleiche einer „cold pizza" entgegnete er eher bestätigend, auch kalte Pizza könne man aufwärmen. Besondere Erfolge waren seiner Regierung nicht beschieden, als kleinen Akzent kann man allerdings die Auswahl Okinawas als Sitz des G7-plus Russland-Treffens anerkennen. Außerdem bewegte er sich in der wenig stabilen Parteienlandschaft mit einem gewissen Geschick und verstand es, der LDP die Mehrheit zu erhalten. Wirtschaftspolitisch setzt Obuchi den Kurs der Vorgänger Hashimotos fort und suchte den Ausweg aus der Krise in staatlichen Ausgabeprogrammen von astronomischen Dimensionen. Die tragische Krankheit und der Tod Obuchis allerdings stellten das Bild seiner Person und seiner Regierungszeit im Nachhinein in ein positiveres Licht: Ein Wahlsieg der LDP bzw. der Regierungskoalition und ein erfolgreiches G7-plus-Russland-Treffen waren Pflichten, die ein „gefallener Samurai" (so der LDP-Politiker Nonaka) seinen Nachfolgern auferlegt hatte. Die LDP konnte anknüpfen an die Erfahrung des Jahres 1980, als eine verloren geglaubte Wahl nach dem plötzlichen Tod des Spitzenkandidaten Ohira eine günstige Wende nahm. Die LDP konnte - bzw. hoffte es - ein zweites Mal den Mitleidsbonus nutzen.

Kokutai

Nun tat Mori in der ihm vor den Wahlen verbliebenen Zeit alles, um den Mitleidsbonus in einem Malus zu verwandeln. Beim Begräbnis Obuchis fiel er dadurch auf, dass er sich vor dem Toten nur zwei Mal verneigte - statt dreimal, wie das Ritual der Respektsbezeugung es vorschreibt (Präsident Clinton dagegen brachte es auf die vorgeschriebenen drei Verneigungen). Wichtiger und bezeichnender war eine Rede, in der Mori Japan zum „Land der Götter und des Tenno" idealisierte. Dabei ging es weniger um die präzise Aussage Moris (er behauptete, nach einer Wahlniederlage der LDP könnten die Kommunisten die japanische Volksgemeinschaft zerstören), als um die Verwendung eines Begriffs: Kokutai.

Kokutai ist der in der Meiji-Zeit geprägte Begriff des japanisches Reiches, in dem der zum Gott erhobene Tenno im Zentrum steht und zu seinen Untertanen die Beziehung eines Vaters zu seiner Familie unterhält, von deren Mitgliedern er uneingeschränkte Unterwerfung verlangen kann. Der Meiji-Verfassung zufolge liegt die Souveränität des japanischen Staates nicht beim Volke, sondern beim Kaiser. Die Regierungen der Meiji-, Taisho- und Showa-Zeit (also bis 1945) wurden nicht vom Parlament, sondern vom Kaiser bestimmt und waren dem Kaiser verantwortlich. Das Machtsystems Japans war, so wie es der Sozialphilosoph Masaru Maruyama beschrieb, ein System konzentrischer Kreise um den Tenno herum. Die Mitte dieses Systems aber war eine Leerstelle:

Der Tenno war nicht als Person oder konkreter Träger von Funktionen von Bedeutung, sondern als letztes Glied einer ununterbrochenen dynastischen Kette, deren Anfang im Jahre 700 vor unserer Zeitrechnung liegt, dem Jahre, in dem der mythische erste Kaiser Jimmu das japanische Reich gründete.

Der Begriff kokutai und die auf ihm aufbauende Ideologie sind ein modernes Phänomen - eine Ideologie des späten 19. Jahrhunderts, die sich zwar auf bestimmte animistische Traditionen des Shinto-Glaubens (in dem die Vergöttlichung von Naturphänomenen etwa anderes bedeutet als in monotheistischen Religionen) stützen konnte, die in dieser Form aber eher im Gegensatz zur peripheren Rolle des Kaisers in den vorausgegangenen Jahrhunderten des Shogunats stand. Im ausgehenden 19.Jahrhundert wurde der Volksglaube des Shinto uminterpretiert in eine Staatsreligion (Staats-Shinto). Die kokutai-Ideologie war eine moderne nationalistische Ideologie (Maruyama prägte den Begriff des Ultra-Nationalismus), die sich hervorragend dazu eignete, die potentiell destabilisierenden Folgen eines schnellen wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungsprozesses durch die Beschwörung einer uralten mythischen Gemeinschaft der Japaner zu bannen. Die Bevölkerung wurde systematisch indoktriniert, die berühmten kaiserlichen Dekrete zur Erziehung und zum Militärwesen, die die Unterwerfung unter den kaiserlichen Willen zum kategorischen Imperativ erklärten, wurden in den Schulen und Kasernen unendlich oft verlesen und auswendig gelernt. Die Wirksamkeit der kokutai-Ideologie war, so lässt es sich jedenfalls von heute aus interpretieren, einer der Gründe dafür, dass sich die Japaner vom Militär zum Krieg in Ostasien und im Pazifik verleiten ließen. Als der Tenno erstmals nach dem Abwurf der Hiroshima-Bombe im August 1945 sein Volk per Radio direkt ansprach und erklärte, er sei kein Gott, sind Augenzeugen zufolge viele Zuhörer in Ohnmacht gefallen. Die Ambivalenz der kokutai-Ideologie liegt allerdings nicht allein in der systematisch erzeugten Unterwerfungshaltung der Untertanen, sondern auch in der strukturellen Verantwortungslosigkeit des Tenno. Daher der auch heute noch geführte unlösbare Streit, in welchem Ausmaß dem Showa-Tenno die Schuld oder Mitschuld am Zweiten Weltkrieg in Ostasien zugewiesen werden muss. Ganz offensichtlich war der Kaiser eher eine Art Marionette, die von den verschiedenen Militärfraktionen (Heer gegen Marine, Generalstab gegen Feldarmee, die einzelnen Armeen gegeneinander usw.) benutzt wurde, als ein aggressiver oberster Kriegsherr.

Als einer der größten - wenn auch fragwürdigen - Erfolge des japanischen Konservatismus kann gelten, dass er es erreichte, die Institution des Tenno über die Niederlage im Pazifikkrieg hinweg zu erhalten. Aus (möglicherweise irrigen) realpolitischen Erwägungen heraus verzichteten die amerikanischen Besatzer auf die Abdankung des Tenno und die völlige Zerstörung der kokutai, stuften den Kaiser aber in der Verfassung von 1949 herunter zum symbolischen Vertreter der „Einheit der japanischen Nation". Für rechtsradikale Gruppierungen, die osmotisch bis weit hinein in die LDP wirken, gilt die Herabsetzung des Kaisers seitdem als Akt der Unterwerfung unter eine Japan fremde Herrschaftsform. Um so genauer achten japanische Demokraten darauf, dass die Grenze zwischen Kaisertum (und Shinto) und „weltlicher" Politik auf keinen Fall überschritten wird. Der Kaiserhof ist ebenso Gegenstand einer extrem unkritischen Medienverehrung (die im Unterschied zur europäischen Regenbogenpresse auch nur Andeutungen von Missfallen ausschließt) wie ihm untersagt ist, auch nur andeutungsweise auf Politik und Gesellschaft einzuwirken. Dies sichert die Imperial Household Agency, der der Premierminister vorsitzt. Der Begriff kokutai ist bei der Mehrheit der Japaner verpönt; zumindest wird er nicht zur Bezeichnung Japans als Demokratie verwandt, sondern bezieht sich auf eine alles andere als verklärte Vergangenheit, in der die Souveränität vom Tenno ausging.

Wenn ein konservativer japanischer Politiker heute öffentlich den Begriff kokutai in den Mund nimmt, kann dies mehrerlei bedeuten. Mori selbst zufolge handelte es sich um einen „Versprecher" - ein Versprecher allerdings, der zeigt, wie wenig der Regierungschef den Unterschied zwischen Kaisersouveränität und Volkssouveränität erfasst, geschweige denn verinnerlicht hat. Die Bezugnahme auf die kokutai kann aber auch ein Signal sein, ein Versuch, den diskriminierten Begriff wieder salonfähig zu machen, mit dem Ziel einer schleichenden Revision der demokratischen Verfassung. Auf jeden Fall jedoch ist es ein Akt politischer Insensibilität, der auch sofort von der Opposition gerügt wurde. Bevor es jedoch im Parlament zu einem Misstrauensvotum gegen Mori kommen konnte, ließ der Premier die Versammlung auflösen, um den Weg für die Wahlen frei zu machen.

Das Wahlergebnis

Wenn man von der Handlungsfähigkeit der Regierung ausgeht, ist das Wahlergebnis (bei einer für Unterhauswahlen vergleichsweise geringen Wahlbeteiligung von 63%) möglicherweise das schlechteste vorstellbare: Auf der einen Seite wurden die Koalitionsparteien deutlich geschwächt; sie sind heute stärker aufeinander angewiesen als vor den Wahlen. Für die LDP wird dabei das schlechte Abschneiden der New Conservative Party das geringere Problem sein: Diese Partei wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach auflösen und in der LDP aufgehen. Bedenklicher ist, dass die LDP nun auf Gedeih und Verderb auf die New Komeito angewiesen sein wird. Die New Komeito ist der politische Arm der einst militanten Sokka Gakei-Sekte, die sich in dem dramatischen Modernisierungs- und Urbanisierungsprozess nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs insbesondere der ihrer Wurzeln beraubten Land-Stadt-Emigranten angenommen hatte. Seitdem kontrollieren die Sekte und ihre Partei ganze Wohnviertel, deren Bewohner sie oft einem erheblichen Druck aussetzen. Auf jeden Fall war in der Vergangenheit die Komeito dort, wo sie verwurzelt ist, auch politisch stark: Komeito-Kandidaten galten als sichere Kandidaten. Auf der anderen Seite wirken Komeito und Sokka Gakei polarisierend; ihre Anhängerschaft schien sicher, ist aber begrenzt, während viele Japaner das missionarische Vorgehen der Sekte ablehnen.

Das schlechte Abschneiden der Komeito in den Wahlen vom Juni ist auch darauf zurückzuführen, dass der wahltaktische Kompromiss zwischen der Partei und der LDP nur auf der Seite der Komeito funktionierte. Potentielle eigene Wähler, die in bestimmten Wahlkreisen aufgerufen waren, für den LDP-Kandidaten zu stimmen, folgten dem Aufruf; umgekehrt hielten sich die potentiellen LDP-Wähler nicht an die Aufforderung, für die Komeito zu stimmen. Die Komeito ist also umstritten, und zwar nicht nur in der Wählerschaft, sondern auch innerhalb der LDP-Elite. Die Frage ist nun, welche Schlüsse die Komeito aus ihrer schweren Niederlage zieht: Wird sie der LDP das Leben schwer machen, um das eigene Profil zu wahren, unter Umständen auch um den Preis eines Auszugs aus der Regierung?




Unterhauswahlen, 25. Juni 2000. Verteilung der Parlamentssitze

Partei Sitze Verlust/Gewinn

LDP

233

-38

DPJ

127

+32

Komeito

31

-11

Konservative Partei

7

-11

KP

20

-6

SDPJ

19

+5

Liberale

22

+4

Sonstige

21

+11




Auf der anderen Seite versahen die Wähler die Opposition nicht mit den notwendigen Stimmen, um die Regierungskoalition ablösen zu können. Die Demokratische Partei gewann 32 Mandate hinzu, und selbst die Sozialdemokraten wurden nach Jahren eines nahezu unabwendbaren Niedergangs mit fünf neuen Parlamentssitzen belohnt (während die Kommunisten gegen den Trend der letzten Jahre sechs Sitze verloren). Doch noch trennen mehr als 100 Mandate die Demokraten von den Liberaldemokraten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die LDP und insbesondere ihr Spitzenkandidat Mori unmittelbar vor den Wahlen erheblich an Popularität verloren hatten.

Woran liegt es, dass sich die LDP ein weiteres Mal - wenn auch mit Verlusten - behaupten konnte? An der wirtschaftlichen Situation kann es nicht liegen. Zwar schätzte die Economic Planning Agency das Wirtschaftswachstum im ersten Quartal 2000 auf 2,4%. Doch diese hohe Wachstumsrate ist eher ein Indikator für Mängel der Wirtschaftsstatistik bzw. für die letzte Konjunkturspritze im Herbst 1999 als für die Gesundung der Wirtschaft (auch das Jahr 1999 begann mit einer hohen Wachstumsrate im ersten Quartal, der im dritten und vierten Quartal negative Wachstumsraten folgten).




Wachstumsraten in Prozent

1996


4,4

1997


-1,0

1998


-1,9

1999

I

1,5


II

1,0


III

-1,0


IV

-1,6

2000

I

2,4



Die LDP gewann - wie immer - auf dem Lande und verlor in den Großstädten. Auf dem Lande war und ist es leichter, die Wähler zu mobilisieren, weil die Kontakte zwischen den Kandidaten und der Wählerbevölkerung enger sind als in den Städten. Dies zeigt sich nicht zuletzt am Wahlerfolg politischer Dynastien: Gerade auf dem Lande haben eingesessene Politiker und deren Söhne bzw. Verwandte die besten Wahlchancen. Im Juni zog die 26jährige Tochter Obuchis ins Parlament, und die Uralt-Politiker Miyazawa und Nakasone, beide ehemalige Premierminister, hinterließen ihre Wahlkreise engen Verwandten, während sie selbst auf den Listenplätzen der LDP ihre Position behaupten konnten (die selbst gesetzte Regel, keine Kandidaten im Alter von über 73 Jahren aufzustellen, wurde für diese beiden Ausnahmen gebrochen).

Zudem kann die regierende Partei ihrer lokalen Klientel auch materielle Vorteile versprechen. Dies zeigt die Auseinandersetzung um die staatliche Haushaltspolitik. Die von der LDP geführten Regierungen (mit Ausnahme der Regierung Hashimoto) betrieben seit 1991 eine expansive Haushaltspolitik, um die wirtschaftliche Stagnation zu überwinden, ohne dass die enormen Konjunkturspritzen eine merkliche positive Wirkung auf die Konjunktur gezeitigt hätten. Die Konjunkturspritzen entfachten immer wieder (wie auch im Jahre 2000) kurzfristige Strohfeuer, ohne die Konsum- und Investitionsnachfrage nachhaltig zu stärken, so dass in den jeweils folgenden Quartalen die Wachstumsrate zurückging bzw. sich ins Negative verkehrte.

Obwohl die konjunkturpolitischen Wirkungen der Haushaltspolitik im besten Fall umstritten sind, waren ihre wahlpolitischen Konsequenzen eindeutig: Hohe Staatsausgaben bedeuten hohe Bau- und Infrastrukturinvestitionen vor allem auf dem Lande und an der Peripherie. Unabhängig von deren ökonomischer Effizienz (die japanische countryside ist bereits mit Infrastruktur zugepflastert, und die einkommenssteigernde Wirkung eines weiteren asphaltierten Feldwegs dürfte marginal sein) bedeuteten sie Einkommen und Beschäftigung für die ländlichen Wahlkreise. Und da das Gewicht einer ländlichen Wählerstimme nach wie vor etwa doppelt so hoch ist wie die einer großstädtischen Stimme, zahlt sich die expansive Haushaltspolitik nach wie vor aus (es kommt hinzu, dass die Bauindustrie zu den großzügigsten Spendern der LDP gehört).

Die Demokraten waren im Wahlkampf mit der ebenso mutigen wie potentiell selbstmörderischen Parole der haushaltspolitischen Konsolidierung angetreten. Unter anderem forderten sie die Anhebung des steuerlichen Freibetrags von 2,1 Millionen Yen (ca. 40.0000 DM) auf 3,68 Millionen Yen. Dies hätte vor allem die Bauern, die Kleinindustriellen, Einzelhändler und Bauunternehmer (es gibt in Japan 500.000 Bauunternehmen) getroffen, deren deklariertes (nicht unbedingt deren wirkliches) Einkommen oft unter der anvisierten Marge liegt. In den Großstädten unterstützten viele Wähler diese auf den ersten Blick „unsoziale" Forderung, doch die Wahlen werden - wie sich zeigte - auf dem Lande entschieden. Die Demokraten sprachen bewusst die großstädtische Bevölkerungsmehrheit an, sind aber (noch) nicht in der Lage, diese Mehrheit zu mobilisieren. In den Städten dominieren Politikverdrossenheit, Wahlenthaltung und die Präferenz für schillernde Außenseiter; stabile Loyalitäten lassen sich nur schwer aufbauen. Dies gilt insbesondere für eine Partei, die erst vor wenigen Jahren gegründet wurde und über nur schwache organisatorische Strukturen und de facto keine Mitgliedschaft verfügt - und die mit den beiden ebenfalls städtischen Parteien der Kommunisten und der Komeito um die Stimmen der Großstädter konkurrieren muss.

Was die weiteren Perspektiven des Parteiensystems angeht, haben sich die Demokraten trotz des verbleibenden Abstands zur LDP endgültig als die zweite große Partei des Landes etabliert. Die New Conservative Party wird - wie gesagt - in Kürze in der LDP aufgehen, und die Liberalen Ozawas sind trotz des Zugewinns von 4 Sitzen keine Kraft mehr, die die LDP gefährden könnte. Die Bedrohung der LDP-Herrschaft durch eine zweite große konservative Partei mit reformistischem Impetus ist abgewendet. Die Sozialdemokraten werden ebenfalls entweder in der Demokratischen Partei aufgehen oder von der politischen Bühne verschwinden: Sozialdemokraten wie Liberale sind Restposten, Überbleibsel vergangener Epochen (die Sozialdemokraten des stabilen „Systems von 1955", die Liberalen der mittlerweile überwundenen Turbulenzen in der ersten Hälfte der 90er Jahre). Komeito und Kommunisten haben eine vergleichsweise stabile, aber begrenzte Wählerschaft (die, wie die Wahlen zeigten auch schrumpfen kann), sie werden die kommenden Jahre überleben, aber allenfalls als (potentielle) Koalitionspartner von Bedeutung sein. Der Kampf um die Regierungsmacht wird in Zukunft zwischen LDP und Demokraten ausgetragen werden - wobei noch mehrere Wahlen stattfinden werden, bevor die Demokraten für die LDP eine wirkliche Konkurrenz sind.

Denn was - neben der starken Wählerbasis auf dem Lande - die Stärke der LDP ausmacht, ist der Anschein von Sicherheit, den sie einer in jeder Hinsicht verunsicherten Bevölkerung bietet. Der japanische Konservatismus war in den Jahrzehnten eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufholprozesses das unter Umständen notwendige Gegenstück des dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Wandels. Er garantierte, dass auch die Modernisierungsverlierer vom Wandel profitierten und nicht zu Gegnern der Modernisierung wurden. Heute stehen die Institutionen, die den Aufholprozess möglich gemacht haben - von der Vorherrschaft der Bürokratie bis hin zur „lebenslangen Beschäftigung" - zur Disposition. Die LDP-Herrschaft ist eine der wenigen Konstanten, die bleibt, auch wenn sie nicht mehr wie in der Vergangenheit als Garant grenzenloser Prosperität gelten kann. Das Leben ist für viele Japaner riskanter geworden: Warum sollten sie noch das zusätzliche Risiko einer neuen Regierung eingehen?

Wirtschaftspolitik und Staatshaushalt

Die Demokraten haben mit der Haushaltspolitik die für die Zukunft entscheidende Frage aufgeworfen. Bei einer öffentlichen Verschuldung von offiziell 130 Prozent des Sozialprodukts (über die vielen Schattenhaushalte und verdeckten Verpflichtungen, von den Pensionen der Eisenbahner bis hin zu den verstaatlichten faulen Krediten der Banken, lässt sich nur spekulieren) droht Japan in eine Schuldenfalle zu geraten: Wenn der Zinssatz nicht mehr wie heute bei Null liegt, könnte sich der staatliche Schuldendienst als nicht mehr beherrschbar erweisen (es gibt Projektionen, denen zufolge der Schuldendienst unter bestimmten Bedingungen die gesamten Staatsausgaben absorbieren wird). Auf der anderen Seite ist nicht klar, ob eine austeritätsorientierte Haushaltspolitik nicht die wirtschaftliche Stagnation zur schweren Depression verschärfen würde. Wenn die staatlichen Konjunkturspritzen auch nicht ausreichten, die private Nachfrage nachhaltig zu stärken, so bleibt doch offen, wie sich die Wirtschaft ohne einen expansiven Haushalt entwickelt hätte. Es gibt die begründete These, dass die staatlich geschaffene Nachfrage nicht zu groß, sondern zu klein war, um die Konjunktur effektiv zu beleben. Doch wie immer man die Wirkungen der Haushaltspolitik beurteilt: So fortgesetzt werden kann sie nicht.

Das derzeitige Kernproblem der japanischen Wirtschaft liegt im unzureichenden privaten Konsum bzw. in der hohen und trotz der Krise wachsenden Ersparnisbildung der privaten Haushalte. Die Sparneigung wächst trotz eines Zinssatzes in der Nähe der Nullinie, und auch die fiskalische Expansionspolitik hat hieran nichts geändert. Die Staatsausgaben sind offensichtlich einer sektoral (Bauwirtschaft) und lokal (die ländlichen Regionen) begrenzten Bevölkerungsgruppe zugute gekommen, während sie bei vielen städtischen Haushalten möglicherweise das Gegenteil dessen bewirkt haben, was mit ihnen angestrebt war: Die Haushalte sparen u.U. auch in Antizipation künftiger Steuererhöhungen.

Insgesamt liegt der hohen Sparrate eine neue Risikowahrnehmung der Arbeitnehmer zugrunde: Erstens ist erstmals die Arbeitslosigkeit zu einem breit perzipierten Risiko geworden, insbesondere für Männer im mittleren Alter, die dem mittleren Management der Unternehmen angehören. Obwohl die offizielle Arbeitslosenquote im internationalen Vergleich niedrig ist, hat sich das wahrgenommene Risiko der Arbeitslosigkeit mit der Aufkündigung des der lebenslangen Beschäftigung zugrunde liegenden informellen Sozialvertrags zwischen Arbeit und Kapital drastisch erhöht. Die Sicherung gegen Arbeitslosigkeit ist demgegenüber schwach, ein seit mehr als 20 Jahren Beschäftigter kann maximal 300 Tage lang Arbeitslosengeld beziehen. Darüber hinaus bedeutet in einem Beschäftigungssystem mit unternehmensinterner Ausbildung der Verlust des Jobs automatisch den Verlust der Qualifikation. Auch vorübergehende Arbeitslosigkeit ist fast immer mit einem Status- und Einkommensverlust verbunden.

Das zweite wahrgenommene Risiko ist Einkommenslosigkeit bzw. unzureichendes Einkommen im Alter. Die Leistungen der offiziellen Rentenversicherung (kozai nenkin) gelten infolge der immer wieder beschworenen Alterung der Gesellschaft als wenig sicher; erste Ansätze zur Reform des Rentensystems laufen auf eine Kürzung der ohnehin wenig großzügigen Leistungen hinaus. Die in Kleinunternehmen Beschäftigten, Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen sind in einem zweiten Rentensystem (kokusai nenkin) mit niedrigen Beiträgen und mit Leistungen versichert, die auf keinen Fall ausreichen, um den Lebensstandard auch nur annähernd zu wahren. Die betriebliche Alterssicherung befindet sich ebenso wie die privaten Lebensversicherungen in einer schweren Krise; in den letzten Jahren sind bereits drei größere private Lebensversicherer pleite gegangen. Die Krise der Lebensversicherungen (die auch die betriebliche Alterssicherung managen) geht darauf zurück, dass den Versicherten in der Vergangenheit hohe (und einklagbare) Minimalerträge zugesagt wurden, diese Zusage aufgrund der niedrigen Erträge auf die eigenen assets aber nicht gehalten werden konnte. Für die Zukunft sind weitere Zusammenbrüche zu erwarten.

Die auch in der Vergangenheit hohe Ersparnisbildung der privaten Haushalte geht darauf zurück, dass ein hoher Anteil der Sicherung gegen soziale Risiken privat - von den Unternehmen und von den Arbeitnehmern - getragen wurde. Damit war die Wirkung automatischer Stabilisatoren in Krisenzeiten - in einer Rezession wachsen automatisch die Sozialausgaben des Staates, die einen antizyklischen Effekt zeitigen - in Japan weniger ausgeprägt als in anderen Industrieländern (einschließlich der USA). Die staatlichen Konjunkturspritzen mussten und müssen mit anderen Worten so voluminös sein, weil sie auch die Schwäche der automatischen Stabilisatoren kompensieren müssen. Nun haben sich die Unternehmen (die ihre Mitarbeiter früher auch in Krisenzeiten weiter beschäftigten) in jüngster Zeit ihrem Teil der Verantwortung entzogen, so dass die soziale Sicherung gegen in der Wahrnehmung gewachsene Risiken die Haushalte noch stärker als zuvor belastet.

Die Ersparnisbildung bzw. der Konsum der Haushalte reagieren weder auf geld- noch auf traditionelle fiskalpolitische Anreize, weil die Sicherung trotz hoher Ersparnisse offensichtlich als unzureichend angesehen wird. Ein Ausweg wäre die (partielle) Entprivatisierung sozialer Risiken, d.h. die Stärkung der öffentlichen sozialen Sicherung (und damit der automatischen Stabilisatoren), und zwar nicht nur und nicht in erster Linie im Sinne einer quantitativen Steigerung der Leistungen (dies beträfe die Arbeitslosenversicherung), sondern auch und vor allem im Sinne einer höheren Glaubwürdigkeit der Sicherungszusagen (insbesondere in der Alterssicherung). Dies kann in einer politischen Kultur, in der öffentliche Leistungen eher als Almosen denn als durch Beitragszahlungen erworbene Anrechte angesehen werden, freilich nur langfristig erfolgen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001