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Brasilien : nach der Krise ist vor der Krise / Jörg Meyer-Stamer. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 23 S. = 72 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Essentials]

  • Brasiliens letzte Wirtschaftskrise begann 1998, schien sich aber 1999 schon wieder zu beruhigen. Die Anfälligkeit für Krisen bleibt jedoch hoch. Die Ursache hierfür liegt in Brasilien selbst, genauer: in der Art, wie seit 1994 die Stabilisierung betrieben wurde. Diese Stabilisierungsstrategie wiederum findet ihre Begründung in politischen und gesellschaftlichen Grundstrukturen, ohne deren Veränderung an ein dauerhaftes Wachstum in Brasilien nicht zu denken ist.

  • Da Lösungen dieser hausgemachten Probleme nicht in Sicht sind, ist die nächste ökonomische Krise trotz augenblicklich nicht ungünstiger makroökonomischer Daten absehbar. Im Moment erscheint die Lage stabil, und ausländisches Kapital fließt wieder. Wall Street hat entschieden: Die Krise ist vorbei. Es bleiben jedoch makroökonomische Risikofaktoren und gravierende politische Strukturprobleme, die einer soliden makroökonomischen Politik hartnäckig im Wege stehen.

  • Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung (Mitte 1999 50% des BIP) bleiben neuralgische Punkte. Ihre Basis sind eine unzureichende Entwicklung der Einnahmen, bedingt durch ein bizarres, intransparentes und ungerechtes Steuersystem und eine umfangreiche Schattenwirtschaft sowie ein Rentenversicherungssystem, dessen Finanzierung in den letzten Jahren völlig aus dem Ruder gelaufen ist.

  • Ferner tragen dazu bei eine staatliche Haushaltspraxis, die durch eine politische Logik geprägt wird, die ökonomische Faktoren ignoriert - dies gilt auf der Landes- und Kommunalebene noch mehr als auf der Bundesebene - und schließlich die bereits existierende Verschuldung, die – weil der Schuldendienst zum großen Teil kreditfinanziert wird – angesichts der extrem hohen Realzinsen auch ohne sonstige Probleme kräftig wächst.

  • Die Regierungshoffnung, die Exporte auf US$ 100 Milliarden zu verdoppeln, scheint unerfüllbar. Bestenfalls wird es gelingen, leichte Überschüsse in der Handelsbilanz zu erwirtschaften. Die Leistungsbilanz wird aufgrund der Zinszahlungen auf die Auslandsschulden sowie der Gewinntransfers der ausländischen Unternehmen weiterhin defizitär bleiben. Der Kapitalzufluß aus dem Ausland könnte angesichts noch ausstehender attraktiver Privatisierungen noch eine Weile anhalten.

In welchem Land wäre es angemessener, Fußballweisheiten auch zum Verständnis anderer Sachverhalte zu bemühen, als in Brasilien? Nach dem Spiel ist bekanntlich immer vor dem Spiel. Entsprechend gilt: Nach der Krise ist immer vor der Krise. Brasiliens bislang letzte Wirtschaftskrise begann in der zweiten Jahres-hälfte 1998, spitzte sich im Januar und Februar 1999 dramatisch zu – und ist seit der zweiten Jahreshälfte 1999 offenbar schon wieder vorbei. Das Kernargument dieses Papiers lautet freilich: zwischen Schein und Sein liegt ein Abgrund. Ursache der Wirtschaftskrisen sind nicht externe Schocks, sondern eine strukturelle politische Krise, und es gibt nur wenige Hinweise darauf, daß diese Krise gelöst wird. Demzufolge bleibt die Anfälligkeit Brasiliens für ökonomische Krisen hoch.

Wer war schuld an der letzten Brasilienkrise?

Am 12. Januar 1999 gab die brasilianische Regierung den Versuch auf, die Landeswährung, den Real, zu verteidigen. Der Zentralbankpräsident, der für die Politik des Wechselkursankers gestanden hatte, trat zurück. Der Real verlor innerhalb weniger Wochen fast die Hälfte seines ursprünglichen Werts; in der Folgezeit folgte der Wechselkurs dem Gesetz des Jojos, d.h., Ausschläge in beide Richtungen lösten einander ab, wobei jeder Ausschlag geringer ausfiel als der vorherige. Das Stabilisierungsprogramm, das die Regierung im Oktober 1998 mit dem IWF vereinbar hatte, wurde durch die Abwertung zur Makulatur. Ein neues Programm wurde Anfang März unterzeichnet – mit noch drastischeren Einschnitten als zuvor vorgesehen, mit ambitionierten Vorgaben zur Handelsbilanz und mit einer ernüchternden Prognose: Das Bruttoinlandsprodukt werde 1999 zurückgehen, und zwar um mindestens 3 Prozent, wahrscheinlich aber mehr, vielleicht sogar um das Doppelte.

Es steht außer Frage, daß wir hier ein Debakel beobachten konnten, das viele Fragen aufwirft. Eine von ihnen wurde mit besonderer Leidenschaft diskutiert: Wer war schuld? Es standen verschiedene Bösewichte zur Auswahl. Der Präsident der Interamerikanischen Entwicklungsbank, Enrique Iglesias, war sich sicher: Die Krise speziell in Brasilien sei nicht hausgemacht, sondern über andere Regionen wie Asien und Rußland importiert. Die eigentlichen Schuldigen seien die internationalen Finanzspekulanten. In ähnlicher Weise äußerte sich u.a. der US-Starökonom Paul Krugman. Und auch in Brasilien selber erfreut sich diese Interpretation einiger Beliebtheit.

Ein anderer Kandidat für die Rolle des Schurken ist der Herr, dem schon unter normalen Umständen die Haare zu Berge stehen: Itamar Franco, Ex-Präsident und seit dem 1. Januar 1999 Gouverneur des Bundesstaats Minas Gerais. Gleich in der ersten Woche seines neuen Amts kündigte er ein Moratorium auf die Schulden seines Staates an, weil nämlich die Kassen leer seien. Diese Ankündigung wurde von den Finanzmärkten als Vorzeichen einer allgemeinen Zahlungsunfähigkeit Brasiliens interpretiert und war der Anlaß für die spekulativen Angriffe auf den Real. Aber hier ist ein feiner Unterschied zu beachten: Anlaß ist nicht gleichbedeutend mit Ursache.

Die Ursache für die Krise, so die These dieser Analyse, liegt in Brasilien selbst, genauer: in der Art, wie seit 1994 die Stabilisierung betrieben wurde; und diese Stabilisierungsstrategie wiederum findet ihre Ursache in politischen und gesellschaftlichen Grundstrukturen, ohne deren Veränderung an ein dauerhaftes Wachstum in Brasilien nicht zu denken ist.

Der Traum vom Genuß ohne Reue

Brasilien hatte in den 80er Jahren eine galoppierende Inflation, die zu Beginn der 90er Jahre in die Hyperinflation überging. Mehrere „heterodoxe" Stabilisierungsprogramme scheiterten. Sie gingen davon aus, daß die Inflation vor allem aufgrund ihrer Eigendynamik und der gut funktionierenden Anpassungsmechanismen (regelmäßiger Inflationsausgleich von Preisen, Löhnen, Mieten etc.) ins Galoppieren gerate und mit Hilfe eines Schockprogramms (Lohn- und Preisstop) zu bekämpfen sei. Orthodoxe Stabilisierung durch Austeritätspolitik und Strukturanpassungsmaßnahmen wurde nur kurz und nicht sehr ernsthaft versucht – die heterodoxe Erklärung hatte ihren Charme und kam insbesondere wichtigen gesellschaftlichen Interessen entgegen, denn die Besserverdienenden und die Unternehmen profitierten von der Inflation, und der Staat konnte dank der Inflation sein notorisches Defizit verstecken (Einnahmen waren indexiert, Ausgaben nicht, und daher wurden Ausgaben erst dann getätigt, wenn die ursprünglichen Haushaltsansätze einen beachtlichen Teil ihres realen Werts verloren hatten). Das heterodoxe Konzept übersah allerdings, daß es sehr wohl reale Ursachen der Inflation gab – sowohl das staatliche Haushaltsdefizit als auch die Besonderheiten der Preisbildung auf den Gütermärkten.

1993/94 schwenkten die Regierungsökonomen dann auf ein anderes Stabilisierungskonzept um, das sich in anderen Ländern zu bewähren schien: einen Wechselkursanker. Es wurde mit dem Real eine neue Währung eingeführt, die an den Dollar gekoppelt war – allerdings anders als in Argentinien nicht mit einer festen 1:1-Parität, sondern mit administrierten Wechselkursen. Die Inflation war binnen kurzem verschwunden, die Wirtschaft wuchs – Anpassung nach dem Prinzip „Genuß ohne Reue". Nur: Ein solches Rezept führt notwendigerweise zu einer Überbewertung der Währung, und es hat keinen inhärenten Mechanismus, um diese Überbewertung abzubauen. Die Inflation sinkt nicht von einem Tag auf den nächsten auf Null, insbesondere nicht bei non-tradeables, d.h. jenen Gütern, die keiner Importkonkurrenz ausgesetzt sind, z.B. den Dienstleistungen. In den ersten Monaten nach der Verkündung des Wechselkursankers gibt es weiterhin eine – wenn auch sinkende – Inflation. Die Differenz zwischen der inländischen Inflation und jener in den USA entspricht bei fester Parität der Überbewertung der nationalen Währung. Nur gab es in Brasilien eben keine feste Parität, sondern im Gegenteil in den ersten Tagen eine kräftige nominale und in den ersten Monaten eine reale Aufwertung des Real, dessen Kurs bis auf 0,83 pro Dollar anstieg. Dieser Prozess wurde von der Regierung gerne toleriert, weil er z.B. die Probleme für die Bedienung der Auslandsschulden verringerte und gleichzeitig die Einfuhren verbilligte, was den Inflationsdruck im Inland weiter reduzierte (auch deshalb, weil damit auch für nationale Produzenten von tradeables die Spielräume für Preiserhöhungen auf Null reduziert wurden).

Der Effekt dieses Prozesses war nicht nur ein rasch wachsender Negativsaldo in der Handelsbilanz. Auch die Dienstleistungsbilanz wies eine zunehmende Lücke auf; im Jahr 1998 besuchten z.B. nicht weniger als 333.000 brasilianische Touristen New York, von denen jeder im statistischen Schnitt US$ 1.350 in der Stadt ließ (mehr übrigens als irgendeine andere Gruppe von Besuchern). Die Lücke in der Leistungsbilanz muß durch Kapitalimporte geschlossen werden, was solange funktioniert, wie ausländische Investoren Vertrauen in das Land haben. Weil es aber ein strukturelles Defizit ist, werden die Investoren zwangsläufig über kurz oder lang das Vertrauen verlieren.

Nun wäre es unfair, den Makroökonomen in Brasília vorzuwerfen, sie hätten die Volkswirtschaft ihres Landes sehenden Auges in den Abgrund gesteuert. Sie setzten darauf, daß die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für einige Jahre stabil bleiben würden, das Vertrauen ausländischer Anleger stabil und die internationalen Zinsen niedrig blieben und diese Zeit genutzt werden könne, um einen Modernisierungsprozeß in der brasilianischen Volkswirtschaft voranzutreiben und durch dramatische Produktivitätsgewinne die Überbewertung zu kompensieren. Daß es überdies gelingen würde, inländische makroökonomische Risikofaktoren unter Kontrolle zu bringen, verstand sich für sie von selbst.

Der eine Prozeß, der nicht in der Verantwortung der Politik liegt – der Produktivitätssprung –, hat tatsächlich stattgefunden (allerdings in erster Linie dadurch, daß ein Drittel der Industriebeschäftigten entlassen wurden, und nur zum geringeren Teil durch fundamentale Maßnahmen wie technologische und organisatorische Modernisierung). Der andere Prozeß, der ausschließlich in der Verantwortung der Politik liegt, hat zum größeren Teil nicht stattgefunden. Und dies wiederum führt uns zur nächsten Frage.

Ist die Krise schon vorbei?

Wenn man in den letzten Monaten am Grab vom Keynes vorbeigegangen wäre, hätte man möglicherweise dumpf ein leises Kichern hören können, denn in Brasilien ereignete sich etwas ganz Eigenartiges: Während die Regierung damit beschäftigt war, die tiefste Rezession seit langem zu initiieren, zeigten die Unternehmen antizyklisches Verhalten – und waren dadurch verantwortlich dafür, daß ursprüngliche Krisenprojektionen wieder in den Schubladen verschwanden und die Ökonomie letztlich sogar im Jahr 1999 um 0,8 % wuchs. Insgesamt erscheint die Lage stabil, und ausländisches Kapital fließt wieder. Wall Street hat entschieden: Die Krise ist vorbei.

Die Gründe für diese durchaus überraschende Entwicklung sind vielfältig:

  • Viele Unternehmen – insbesondere ausländische Firmen, die (wie die Autohersteller) mit dem Aufbau neuer Fabriken oder (wie z.B. im Telekommunikationssektor) mit der Modernisierung alter Unternehmen beschäftigt waren – haben ihre Investitionsvorhaben trotz der ungünstigen Prognosen durchgezogen. Zum Teil wurden Vorhaben sogar beschleunigt, weil während der Phase des overshooting des Wechselkurses beim Transfer von Finanzmitteln aus dem Heimatland nach Brasilien viel Geld zu sparen war.

  • Die Erwartung, daß nationale Unternehmen, die sich im Ausland verschuldet hatten, in Turbulenzen geraten würden, bewahrheitete sich nicht – die Firmen hatten rechtzeitig hedging betrieben und sich damit gegen die Abwertung abgesichert. Dieses hedging geschah freilich in erster Linie durch den Erwerb von wechselkursfixierten Staatsanleihen, durch die nach der Abwertung die Anpassungslast auf den Staat abgewälzt wurde.

  • Unmittelbar nach der Abwertung sah es so aus, als würde die Inflation zurückkehren. Diese Befürchtung hat sich jedoch schnell wieder gelegt: Im Gegensatz zu früheren Zeiten, als die Unternehmen selbst in Phasen verschärfter Rezession Preiserhöhungen durchsetzen konnten, hat sich die brasilianische Ökonomie diesmal lehrbuchmäßig verhalten – die enorm hohen Zinsen (die Leitzinsen lagen monatelang bei annähernd 50 %; die Zinsen, die Unternehmen und Konsumenten effektiv zahlen mußten, lagen dadurch zwischen 50 und 100 % p.a.) und der Nachfrageeinbruch sorgten dafür, daß Preiserhöhungen nicht durchsetzbar waren und die Inflation unter 10 % blieb.

  • Zugleich zogen die hohen Zinsen die Unternehmen nur begrenzt in Mitleidenschaft – die Zinsen liegen seit jeher hoch (in den letzten Jahren lag der Leitzins nie unter 20 %), Geschäftsbanken geben in der Regel keine langfristigen Kredite, und die Unternehmen weisen im Schnitt hohe Liquidität, kräftigen Cash-flow und eine starke Eigenkapitalbasis auf.

Brasilien steht damit auf den ersten Blick eine goldene Zukunft bevor – es fehlt nicht mehr viel, und das Land erfüllt die Maastricht-Krite-rien, und was sollte dann noch einem neuen Wirtschaftswunder im Wege stehen? Die Antwort ist wenig erfreulich: alles Mögliche, insbesondere aber fortbestehende makroökonomische Risikofaktoren und gravierende politische Strukturprobleme, die einer soliden makroökonomischen Politik hartnäckig im Wege stehen.

Von Friedman über Keynes zu Copperfield

Nach dem Scheitern der heterodoxen Stabilisierungsversuche gab es 1992/93 ein kurzes Interludium orthodoxer Stabilisierung (d.h. eigentlich: Schadensbegrenzung), als die Regierung versuchte, mit monetären Instrumenten den Anstieg der Inflation einzudämmen. Es schloß sich in Form des Plano Real ein Nachfrageprogramm an, das vorübergehend u.a. die Kaufkraft der ärmeren Bevölkerungsmehrheit stärkte und dadurch die Wirtschaft ankurbelte. Im letzten Jahr hingegen konnte man wahre Zauberei à la David Copperfield besichtigen – kaum eine der avisierten Maßnahmen konnte wie geplant umgesetzt werden, und trotzdem scheint man sich den mit dem IWF vereinbarten Kennziffern anzunähern.

Die Stabilisierungsmaßnahmen, die im Oktober 1998 und im März 1999 beschlossen wurden, zielten in erster Linie auf die Beseitigung des staatlichen Haushaltsdefizits; die Verringerung des Leistungsbilanzdefizits wurde auch versprochen, insbesondere im März, ohne daß aber recht klar wurde, wie dies bewerkstelligt werden sollte. Wenn ein Staat seinen Haushalt ausgleichen will, muß er mehr einnehmen und weniger ausgeben. Der brasilianische Staat tat beides – er erhöhte die Steuern und Abgaben und kündigte verschiedene Sparmaßnahmen an. Ein wichtiger Teil beider Elemente entfiel auf den Bereich der staatlichen Rentenversicherung, das letzthin zusammen mit der Staatsverschuldung die gefährlichste Dynamik hinsichtlich des wachsenden operationalen Staatsdefizits auslöste.

Auch in Brasilien gilt freilich das Prinzip: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Zentrale Maßnahmen konnte nicht wie vorgesehen implementiert werden. Diverse Branchen und Typen von Unternehmen erstritten vor Gerichten Ausnahmen von der Steuer auf Finanztransaktionen (0,38 % auf jeden Scheck). Und die Erhebung von Rentenversicherungsbeiträgen auf Renten wurde von den Gerichten genauso abgeschmettert wie Versuche der Erhöhung der Beitragszahlungen.

Künftige makroökonomische Krisen können durch einen jener beiden Faktoren ausgelöst werden, die auch schon in der jüngeren Vergangenheit entsprechend gewirkt haben:

  • auf der binnenwirtschaftlichen Seite durch die Kausalkette steigendes Haushaltsdefizit -> steigende Staatsverschuldung -> steigende Risikoprämie -> Erhöhung der Realzinsen -> Rezession;

  • auf der außenwirtschaftlichen Seite durch die Kausalkette Vertrauensverlust ausländischer Anleger und direkt investierender Unternehmen aufgrund hohen / wachsenden Leistungsbilanzdefizite oder binnenwirtschaftlicher Krisenfaktoren -> abnehmende Kapitalzuflüsse -> Zahlungsbilanzkrise.

Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens mindestens eines dieser Szenarien ist groß:

  • das binnenwirtschaftliche Szenario ist das wahrscheinlichere der beiden, weil die zur Reform der Staatsfinanzen notwendigen Reformen teils langsam, teils gar nicht vorankommen; dies ist teils aktuellen, vor allem aber strukturellen politischen Faktoren geschuldet;

  • das außenwirtschaftliche Szenario könnte als Konsequenz einer binnenwirtschaftlichen Krise eintreten, ist aber auch für sich genommen vorstellbar, denn es gibt eine Reihe struktureller Faktoren, die für ein weiterhin hohes Leistungsbilanzdefizit sprechen.

Wenden wir uns im weiteren zunächst den Hindernissen zu, die einer nachhaltigen binnenwirtschaftlichen Stabilisierung im Wege stehen.

Ursachen des Haushaltsdefizits und der Staatsverschuldung

Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung stiegen während der ersten Amtsperiode der Regierung Cardoso kräftig – das Defizit verdoppelte sich allein zwischen 1996 und 1998 von 3,5 % auf 7 % des BIP, die Staatsverschuldung stieg zwischen 1994 und 1998 von unter 30 % auf über 40 % des BIP. Aufgrund der Stabilisierungsanstrengungen gelang es, im Jahr 1999 zumindest einen sogenannten „primären Überschuss" zu erwirtschaften, d.h. die laufenden Einnahmen übertrafen die laufenden Ausgaben aller staatlicher Ebenen und Teilhaushalte mit der Ausnahme der Schuldenverwaltung. Diese Betonung des primären Ergebnisses ist eine Besonderheit der brasilianischen wirtschaftspolitischen Folklore; sie ist u.a. historisch damit zu erklären, daß in der Vergangenheit staatliche Schulden wegdekretiert (im Rahmen sog. Stabilisierungsprogramme) oder weginflationiert werden konnten. Weil mittlerweile in der brasilianischen Wirtschaftspolitik aber ein erhebliches Maß an Seriösität Einzug gehalten hat, existieren diese Optionen heute nicht mehr, und daher ist es durch nichts zu rechtfertigen, daß insbesondere das Parlament bei der Aufstellung des Haushalts so tut, als ob der Schuldendienst nicht vorhanden wäre. Dies gilt umso mehr, als eine kürzlich veröffentlichte Studie regierungsnaher Ökonomen nachweist, daß nicht weniger als 71 % der Zunahme der Verschuldung der Zentralregierung im Zeitraum 1994-98 auf die Kreditfinanzierung von Zinszahlungen zurückzuführen ist (nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß dies einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die ohnehin schon skandalöse ungleiche Einkommensverteilung hat).

Der primäre Überschuß lag im Jahr 1999 bei R$ 31,1 Milliarden – auf den ersten Blick eine beachtliche Summe. Sie relativiert sich jedoch, wenn man analysiert, wie der Überschuß zustande kam:

  • die Einnahmen stiegen aufgrund von Steuer- und Beitragserhöhungen, die im Oktober 1998 eingeführt wurden und die z.T. die Kostenbelastung der Privatwirtschaft weiter steigen ließen;

  • die Einnahmen stiegen außerdem dadurch, daß verschärft rückständige Steuerzahlungen und Sozialversicherungsbeiträge eingetrieben wurden – also außerordentliche Einnahmen, die sich nicht fortschreiben lassen;

  • die Ausgaben stiegen im Saldo nur leicht an. Weil aber bestimmte Ausgaben, insbesondere Gehälter, wuchsen, mußten andere gekürzt werden, insbesondere laufende Ausgaben und Investitionen. Die Folgen kann man in Form von Schlaglöchern, deren Größe und Tiefe ständig wächst, und Investitionsvorhaben, die kaum vorankommen, im ganzen Land besichtigen.

Während der Haushalt durch die Verschiebung von Ausgaben auf den Bürger (Stoßdämpfer statt Instandhaltung) stabilisiert werden konnte, nahm die Verschuldung im ersten Halbjahr kräftig zu und erreichte im August 1999 mit rd. 50 % des BIP ihren Höchststand. Danach war sie leicht rückläufig und lag im Dezember 1999 bei knapp 47 % des BIP, entsprechend R$ 516,6 Milliarden.

Sieht man einmal von Sonderfaktoren ab (z.B. der starken Zunahme der Staatsverschuldung direkt im Anschluß an die Abwertung), so gibt es im Kern vier Komponenten, die die Tendenz zu Haushaltsdefizit und steigender Staatsverschuldung begründen:

  • eine unzureichende Entwicklung der Einnahmen, bedingt einerseits durch ein bizarres, intransparentes und ungerechtes Steuersystem, andererseits (und auch dadurch bedingt) durch eine umfangreiche Schattenwirtschaft;

  • ein Rentenversicherungssystem, dessen Finanzierung in den letzten Jahren völlig aus dem Ruder gelaufen ist;

  • eine staatliche Haushaltspraxis, die durch eine politische Logik geprägt wird, die ökonomische Faktoren ignoriert; dies gilt auf der Landes- und Kommunalebene noch mehr als auf der Bundesebene;

  • die bereits existierende Verschuldung, die – weil der Schuldendienst zum großen Teil kreditfinanziert wird – angesichts der extrem hohen Realzinsen auch ohne sonstige Probleme kräftig wächst.


Reformvorhaben zur Sanierung der Staatsfinanzen

Die wirtschaftliche Reformpolitik der Regierung kreist derzeit um diese Probleme. Es gibt drei zentrale Vorhaben: eine Steuerreform, die Fortsetzung der Reform der Rentenversicherung und verschiedene Maßnahmen zur Behebung des Problems der unsoliden Finanzen auf der dezentralen Ebene.

Steuerreform

Ausgangspunkt der Steuerreform ist die Beobachtung, daß das Steuersystem zu komplex, unsystematisch und voller Schlupflöcher ist. Es geht u.a. darum, Bedingungen zu schaffen, mit denen man den florierenden informellen Sektor wieder in die Formalität holen kann. Im Grunde muß man aber fragen: Gibt es in Brasilien überhaupt einen formellen Sektor?

Erster Befund: Von den 530 größten nicht-Finanzunternehmen zahlten im Jahr 1998 die Hälfte überhaupt keine Einkommensteuer, und das Aufkommen der anderen Hälfte belieft sich auf nur 3 Mrd. R$; davon zahlten z.B. die großen Automobilhersteller nur 40 Mio. R$. 28 der 66 größten Banken zahlten ebenfalls keine Einkommensteuer. Große Unternehmen stehen damit weit besser da als KMU und Mikrofirmen: Während die großen im Schnitt auf eine Steuer-/Umsatzrelation von 1 % kommen, sind es bei den KMU 3 %, und die simples-Regelung für Mikrofirmen setzt 4 % an.

Zweiter Befund: Es gibt eine florierende Schattenwirtschaft, die generell keine Steuern und meist auch keine Sozialabgaben zahlt. Ihr Umfang ist freilich strittig. Eine Studie des nationalen Statistikamts kam zu dem Ergebnis, daß ein Viertel der Beschäftigten in der Schattenwirtschaft aktiv sei und dort 8 % des Bruttoinlandsprodukts erzeugt würden. Wer Brasilien kennt, findet diese Daten wenig realistisch, weil viel zu niedrig. Ganz andere Zahlen kamen bei einer Analyse der Daten heraus, die bei der Erhebung der „Schecksteuer" (d.h. der Steuer auf Finanztransaktionen, CPMF) anfielen. Der „unerklärliche" Teil an Finanzbewegungen – d.h. Bankbewegungen für wirtschaftliche Transaktionen, die ansonsten nicht versteuert wurden – belief sich 1998 auf 825 Mrd. R$ – bei einem BIP von etwa 900 Mrd. R$. Von den 100 größten Zahlern der Schecksteuer, Unternehmen und Privatpersonen, haben nur 52 eine Einkommensteuererklärung abgegeben. Die im Rahmen der CPMF-Erhebung gewonnenen Daten über juristische und natürliche Personen dürfen jedoch nicht für Sonderprüfungen genutzt werden.

Diese Zahlen erklären das Paradox, daß die Steuern sehr hoch sind (und insbesondere die Unternehmen ständig über die hohe Steuerbelastung klagen), das Steueraufkommen jedoch weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Und es spricht wenig dafür, daß sich nach der derzeit hitzig diskutierten Steuerreform daran etwas ändern wird.

Die Steuerreform tangiert die indirekten Steuern. Die bisher existierenden Umsatzsteuern auf Industrieprodukte der Bundesstaaten (ICMS) und der Zentralregierung (IPI) sollen in einer Mehrwertsteuer zusammengefaßt werden, für die ein Satz von 20 bis 22 % angepeilt wird und die auch auf Dienstleistungen erhoben werden soll. Verschiedene Sozialversicherungsbeiträge (COFINS, PIS u.a.) sollen in einer einzigen Umlage aufgehen, die auf die Mehrwertsteuer aufgeschlagen werden und mindestens weitere 7 % betragen soll. Insgesamt könnte die Mehrwertsteuer sich damit einem Betrag von 30 % nähern.

Was würde damit erreicht? Das Steuersystem würde etwas übersichtlicher und transparenter, und die Kumulation von Steuern und Abgaben würde beseitigt; damit würde die Ineffizienz des Steuersystems reduziert. Außerdem würde dem „Steuerkrieg" (guerra fiscal), d.h. dem Subventionswettlauf zwischen Bundesstaaten, damit die Grundlage entzogen. Die Kehrseite: eines der zentralen Kriterien für die Besteuerung, nämlich die Steuergerechtigkeit, würde grob verletzt. Die Bedeutung der indirekten Steuern, die die einkommensschwachen Gruppen überproportional belasten, stiege. Die einzige Steuer, mit der bislang die Schattenwirtschaft erfaßt wurde, nämlich die Schecksteuer, soll abgeschafft werden. Die direkten Steuern würden auch weiterhin nur sehr selektiv bezahlt, und insbesondere die Reichen und Superreichen würden auch in Zukunft – der traditionellen Praxis in Lateinamerika folgend – vorwiegend entsprechend ihres Konsums an Austern und Champagner besteuert.

Aber all dies sind Spekulationen, denn ob, wann und in welcher Form eine Steuerreform vor den Kongreß kommt, ist mittlerweile völlig unklar. Eine Arbeitsgruppe des Kongresses legte Mitte 1999 einen Entwurf mit den zuvor genannten Eckpunkten vor. Dieser Entwurf zog von vielen Seiten Kritik auf sich. Eine Seite dürfte dabei besonders relevant sein: Finanzministerium und Zentralbank lehnten den Entwurf strikt ab. Damit ist eine Blockadesituation entstanden: Von Seiten des Kongresses wird es allein schon um des Prinzips der Demonstration der eigenen Macht gegenüber der Exekutive wegen keine Neuformulierung geben, die den Vorstellungen des Finanzministeriums entspricht, und die Exekutive wird die weitere Behandlung des existierenden Entwurfs im Kongreß torpedieren.

Rentenversicherung

Unter den laufenden Ausgaben ist seit einigen Jahren die Rentenversicherung derjenige Posten, der mit Abstand am meisten zur Haushaltskrise beiträgt. Bislang gibt es zwei getrennte Kassen: In der Rentenversicherung der Beschäftigten im Privatsektor stieg das Defizit im vergangenen Jahr von R$ 7,2 auf R$ 9,3 Milliarden, in der Rentenversicherung der Staatsbediensteten von R$ 18,1 auf R$ 19,8 Milliarden. Das dahinterstehende Ungleichgewicht ist noch größer: Rund 22 Millionen Beschäftigte im Privatsektor zahlen etwa R$ 51 Milliarden ein, und ca. 19 Millionen Rentner erhalten insgesamt ungefähr R$ 61 Milliarden; der durchschnittliche Arbeiter im Ruhestand erhält damit pro Monat etwa R$ 267. Im öffentlichen Dienst hingegen sehen die Zahlen wie folgt aus: 8 Millionen Beschäftigte zahlen knapp R$ 3 Milliarden ein, und 3 Millionen Pensionäre erhalten ca. R$ 23 Milliarden, d.h. im Durchschnitt pro Monat R$ 639. Kernproblem ist mithin die Tatsache, daß sich insbesondere im öffentlichen Dienst eine Schere zwischen Ein- und Auszahlungen auftut – und dies im Laufe der letzten Jahre dramatisch schnell, nicht zuletzt deshalb, weil viele Beschäftigte angesichts der Diskussionen um die Begrenzung von Renten vorzeitig in den Ruhestand gingen, solange die alten Regeln noch galten.

Ende 1998 arbeitete eine Kommission unter Leitung des BNDES-Präsidenten André Lara Resende an einer grundlegenden Rentenreform, um das Defizit zu schließen. Die Rentenversicherung Brasiliens sollte auf eine langfristig tragfähige Basis gestellt werden – interessanterweise nicht mit einem individualisierten System chilenischer Prägung, wie es heute en vogue ist. Vorgesehen war stattdessen ein System, das im privaten Bereich gewisse Ähnlichkeiten mit dem deutschen System von Zusatzversicherungen hat. Dieses Projekt ist mittlerweile schubladisiert – vermutlich deshalb, weil Lara Resende nach einem Abhörskandal, durch den bekannt wurde, daß die Regierung bei den Telekommunikations-Privatisierungen in die Zusammensetzung der Bieterkonsortien einge-griffen hatte, zurücktreten mußte. Und weil Politik in Brasilien hochgradig personalisiert ist, trat damit auch sein Plan zurück.

Statt dessen werden heute inkrementelle Veränderungen diskutiert, die zumindest die fatale Dynamik des immer größer werdenden Defizits bremsen sollen. Bereits verabschiedet und vom obersten Gerichtshof für verfassungsgemäß erklärt wurde eine Regelung, die die Bezüge vor Frührentnern kürzt; diese Maßnahme wird das Wachstum des Defizits drosseln. Darüber hinaus steht Salamitaktik an: Die Regierung wird versuchen, durch eine Reihe von Einzelmaßnahmen die Regeln für Staatsbedienstete an jene für Beschäftigte in der Privatwirtschaft anzugleichen; dies wird ein zäher und langwieriger Prozeß sein, weil die obersten Richter selbst eine großzügige Altersversorgung genießen und gerne Veränderungen abwürgen, die daran etwas ändern würden.

Fiskalische Verantwortung

Weil sich auf der Einnahmen- wie auf der Rentenseite wenig tun wird, bleibt der Regierung derzeit wenig anderes übrig, als sich auf Maßnahmen zur Steigerung der „fiskalischen Verantwortung" zu konzentrieren. Hier gibt es mehrere Ansatzpunkte:

  • Die Beschneidung der in der Verfassung vorgeschriebenen Transfers an Länder und Kommunen. Bereits vor dem Plano Real wurde ein Fundo Social de Emergência eingerichtet, der später in Fundo de Estabilidade Fiscal (FEF) umbenannt wurde und der so etwas wie ein Feuerwehrfonds ist, um allfällige Haushaltslöcher zu stopfen. Gestützt auf Dekrete des Präsidenten, wurden damit 20 % der Transfers zurückgehalten. Diese Praxis soll für die Zukunft gesetzlich verankert werden (Desvinculação dos Recursos da União, DRU).

  • Begrenzung der Personalausgaben der Gebietskörperschaften (Lei de Responsabilidade Fiscal): Dieses Gesetz soll den Anteil der Personal- an den Gesamtausgaben von Ländern und Gemeinden auf maximal 60 % begrenzen. Vermutlich wird diese Regelung jedoch erst ab 2001 greifen, denn das laufende Jahr ist ein Wahljahr (Kommunalwahl am 1. Oktober), und kein Bürgermeister wird in einem Wahljahr Massenentlassungen vornehmen.

  • Deckelung der Gehälter im öffentlichen Bereich: Nachdem in der Vergangenheit mehrere Anläufe gescheitert waren, zeichnet sich ab, daß im ersten Halbjahr 2000 eine entsprechende Regelung verabschiedet wird. Es läuft wohl darauf hinaus, daß das Maximalgehalt auf R$ 11.500,- pro Monat festgelegt und zugleich die Möglichkeit der Akkumulation geschaffen wird. Letzteres bezieht sich auf Personen, die aus früheren Tätigkeiten im öffentlichen Bereich eine Rente beziehen, die ebenfalls, wie wir gesehen haben, aus dem laufenden Haushalt bezahlt werden muß. Möglicherweise wird es eine Deckelung der Akkumulation, etwa bei R$ 23.000 pro Monat, geben.

Im ersten Quartal 2000 gab es zwei weitere Konflikte, die zeigen, wie leicht die Konsolidierungsbemühungen in Frage gestellt werden können. Zum einen wurde ausgerechnet von der PFL, der konservativen Partei in der Regierungskoalition, die fällige Erhöhung des Mindestlohns aufgegriffen und eine Erhöhung auf 100 Dollar, d.h. etwa R$ 180, vorgeschlagen – ein Schritt, der wahljahrbedingt ist, denn zuletzt lag der Mindestlohn bei R$ 136, und es gibt zahllose arme Haushalte, für die eine kräftige Erhöhung einen dramatischen Anstieg des verfügbaren Einkommens bedeuten würde. Dies gilt insbesondere für solche Haushalte, in denen mindestens ein Mitglied über 65 Jahre alt ist, denn diese Personen erhalten – unabhängig von früheren Berufstätigkeiten – eine Rente in der Höhe eines Mindestlohns. Damit ist auch schon die Kehrseite der Medaille angedeutet: Die Zusatzbelastung für den Rentenhaushalt der Zentralregierung läge bei R$ 6 – 7 Milliarden. Letztlich wurde der Erhöhung auf R$ 151 begrenzt – ergänzt um die Komponente, daß die Bundesstaaten den Mindestlohn für Beschäftigte auf R$ 180 erhöhen dürfen, wenn sie wollen. Letzteres schafft für Gouverneure ein interessantes Dilemma: Einerseits können sie durch eine Erhöhung ihre Popularität steigern, andererseits schwächen sie damit die Position ihres Bundesstaats im Standortwettbewerb.

Zum anderen startete der Präsident des Senats, Antônio Carlos Magalhães, eine Initiative zur Reform der Haushaltskompetenz des Kongresses. Bislang legt der Haushalt, den der Kongress verabschiedet, Obergrenzen für die Ausgaben der Zentralregierung fest; er ist also kein Haushaltsplan in dem uns vertrauten Sinne. Dies bedeutet in der Praxis, daß jeder Parlamentarier bemüht ist, möglichst viele Projekte für seine Heimatregion bzw. seine Klientel im Haushalt unterzubringen, auch wenn dadurch die Endfassung des Haushalts die tatsächlich existierenden Finanzierungsmöglichkeiten weit übersteigt. Die politische Logik ist simpel: Der Parlamentarier kann zu Hause darauf verweisen, daß er die Interessen seiner Wähler vertreten hat – und wenn die Straße, die Brücke oder der Staudamm dann nicht gebaut werden, ist es nicht seine Schuld, sondern die des Finanzministers. Umgekehrt eröffnet diese Praxis dem Finanzministerium eine beachtliche Flexibilität im Umgang mit dem Budget. Im vergangenen Jahr wurde beispielsweise in den Staaten São Paulo und Rio de Janeiro nur ein Drittel bzw. ein Viertel der im Haushalt maximal vorgesehenen Mittel tatsächlich ausgezahlt.

Der Vorschlag von Magalhães läuft darauf hinaus, daß der Kongreß einen verbindlichen Haushalt verabschiedet. Aus demokratietheoretischer Perspektive wäre dies ein wichtiger Schritt nach vorne. Es spricht jedoch wenig dafür, daß eine solche Reform über Nacht dazu führt, daß der Kongreß zu einer verantwortungsvollen Haushaltspolitik übergeht. Es wäre mithin auch ein großer Schritt in Richtung Staatsbankrott.

Staatsverschuldung

Weil der Schuldendienst zu einem großen Teil über Neuverschuldung finanziert wird, hat die Wirtschaftspolitik eine direkte Auswirkung auf die Staatsverschuldung: Wenn die Zinsen angehoben werden müssen, ist ein kräftiges Wachstum der Neuverschuldung innerhalb weniger Wochen die unweigerliche Folge. Diese Dynamik hält an, solange nicht die Zinsen auf ein Niveau sinken, wie es in Industrieländern üblich ist, und durch Haushaltsüberschüsse die Verschuldung abgebaut werden kann. Letzteres stößt auf die beschriebenen Probleme. Ersteres ist derzeit nicht absehbar; die Zentralbank zögert angesichts der unklaren Inflationsentwicklung, die Leitzinsen unter 19 % senken. Die unklare Inflationsentwicklung hängt u.a. damit zusammen, daß im brasilianischen Warenkorb Agrarprodukte eine relativ große Bedeutung haben, so daß Variationen in den Ernten einen beachtlichen Einfluß auf die Entwicklung des Preisindex haben. Die Regierung hat in den letzten Jahren dem Verfall von Agrarpreisen zugesehen, weil dadurch der Inflationsdruck reduziert wurde. Dadurch jedoch hat sich – bei stark gestiegenen Zinsen – die ökonomische Situation eines Großteils der Betriebe dramatisch verschlechtert, und es ist absehbar, daß in diesem Bereich erstens Sanierungs-, d.h. Entschuldungsbedarf entsteht. Zweitens ist denkbar, daß der Anbau vieler Grundnahrungsmittel mit stark gesunkenen Preisen zurückgeht, bis denn die Preise wieder steigen und damit zugleich Inflationsdruck entsteht.

Zentrales Reformhindernis: Die politische Krise existiert fort

Strukturprobleme einer späten Demokratie

Bevor wir zu den politischen Strukturproblem kommen, die in den vorherigen Abschnitten bereits durchschimmerten, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, daß Brasilien eine „späte Demokratie" ist. Schon der Übergang von der Monarchie zur Republik erfolgte erst Ende des 19. Jahrhunderts, weit später als in anderen lateinamerikanischen Ländern. Es folgten vier turbulente Jahrzehnte einer Elitendemokratie, in der sich verschiedene Fraktionen der Ober-schicht in der Macht ablösten. Von 1930 bis 1945 herrschte die Diktatur von Getúlio Vargas. Zwischen 1945 und 1964 gab es zwei weitere Jahrzehnte Elitendemokratie; die Zahl der Wahlberechtigten blieb gering. Erst in der Endphase der Militärdiktatur seit Ende der siebziger Jahre waren moderne demokratische Tendenzen auszumachen – ausgehend von einem neuentstandenen Unternehmertum, neuen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Zugleich war aber die personelle Kontinuität beim Übergang von der Militärdiktatur zur „Neuen Republik" hoch, und das Grundmuster des politischen Prozesses blieben drei Elemente, die sich wechselseitig bedingen und verstärken:

  • Patronage, d.h. die Nutzung und Verteilung von staatlichen Ressourcen ohne Wettbewerb und transparente Regeln zur Steigerung des eigenen (Karriere-) Vorteils von Politikern und anderen staatlichen Amtsträgern,

  • Klientelismus, d.h. persönliche Abhängigkeitsbeziehungen zwischen mächtigen und weniger mächtigen Politikern und Amtsträgern sowie ihrer jeweiligen Basis,

  • Patrimonialismus, d.h. politische Amtsträger behandeln den Staat, als sei er ihr Privateigentum (es gibt übrigens im Portugiesischen kein Wort für den Begriff Gemeinwohl).

Dieses Muster ist dadurch noch vertieft und verbreitet worden, daß mit der Verfassung von 1988 im endlosen Prozeß von Zentralisierung und Dezentralisierung der politischen Struktur eine neue Runde der Dezentralisierung eingeleitet wurde – mit erweiterten Kompetenzen für Bundesstaaten und Gemeinden und hohen Finanzzuweisungen der Bundesregierung an die unteren Einheiten.

Verhältnis zwischen Zentrale, Bundesstaaten und Kommunen

Die Gouverneure, die am 1. Januar 1999 ihr Amt angetreten haben, fordern einen neuen „Pacto Federativo". Was sie damit meinen: sie wollen mehr Geld von der Zentralregierung. Diejenigen unter ihnen, die neu gewählt wurden, fanden nicht nur geplünderte Kassen vor. Es ist übliche Praxis, daß ein abgewählter Gouverneur in den Wochen zwischen Wahl und Amtsübergabe alles Geld, über das er verfügen kann (d.h. die Steuereinnahmen sowie das Maximum an Krediten) ausgibt, denn auf diese Weise kann er seine Unterstützer und seine Klientel bedienen und damit die Chancen für eine künftige Wiederwahl erhöhen. Und ein neugewählter Gouverneur (wie auch ein neugewählter Bürgermeister) weiß, daß er sein erstes Amtsjahr vorwiegend mit finanziellem Krisenmanagement verbringen wird.

Neben den leeren Kassen hatten die Gouverneure aber noch zwei weitere Probleme. Erstens war die Amtszeit ihrer Vorgänger jene Phase, in der der „Guerra Fiscal" getobt hatte – ein gnadenloser Subventionswettlauf zwischen den Bundesstaaten, denen dadurch heute jährlich rund 9 Mrd. R$ an Steuereinnahmen entgehen. Zweitens hält die Zentralregierung einen Teil der Zuweisungen, die in der Verfassung festgeschrieben sind, zurück. Insbesondere aufgrund des FEF (bzw. in Zukunft: DRU) sehen sich die Bundesstaaten als Opfer, nicht als die Täter, die sie in Wahrheit sind. Während die Zentralregierung seit Jahren ernsthafte Stabilisierungsmaßnahmen verfolgt, wird in vielen Bundesstaaten weitergeprasst wie eh und je, und die Zentralregierung wird in ihren Konsolidierungsbemühungen zurückgeworfen, weil sie bankrotte Staatsbanken, Pensionsfonds oder Staatsregierungen refinanzieren muß. Die in diesem Bereich existierenden Risiken sind in ihrem Gefahrenpotential schwer einschätzbar, weil viele Bundesstaaten noch allerlei Skelette im Schrank haben ("esqueleto" ist in der brasilianischen wirtschaftspolitischen Diskussion ein fest etablierter Begriff). In Santa Catarina beispielsweise wurden im Zuge der Vorbereitung der Privatisierung der bankrotten Staatsbank kürzlich allerlei alte nicht mehr durchsetzbare Forderungen sowie Verpflichtungen gegenüber den Sozialkassen entdeckt, die sich insgesamt auf mehr als R$ 2 Mrd. belaufen.

Diese unsolide Haushaltspraxis zu ändern, ist zäh und mühsam – und politisch schwierig, weil die politischen Vertreter einzelner Bundesstaaten dazu neigen, über Parteigrenzen hinweg zusammenzuhalten, wenn es darum geht, eine Staatsbank zu erhalten; schließlich könnte jeder von ihnen in Zukunft in die Gelegenheit kommen, Gouverneur zu werden und damit privilegierten Zugriff auf diese Bank zu erhalten. Die Hartnäckigkeit, mit der die Zentralbank sich im seit Anfang 1999 weigerte, einen bailout für die bankrotte Staatsbank von Santa Catarina zu inszenieren, und letztlich nicht nur die Privatisierung durchsetzte, sondern auch der Landesregierung in Florianópolis einen Teil der Sanierungskosten aufbürdete, könnte zu einem wichtigen Symbolfall werden.

Nicht zu unterschätzen ist darüber hinaus auch die Fähigkeit der Gemeinden, die Staatsfinanzen zu ruinieren. Dies gilt nicht nur für große Gemeinden mit großen Budgets (die Stadt São Paulo hat – nach der Zentral- und der SP-Landesregierung – das drittgrößte Budget aller Gebietskörperschaften in Brasilien), sondern auch für kleine Municípios. Ihre Zahl steigt beständig an (in den letzten zehn Jahren um mehr als ein Viertel). Dahinter stehen zwei Logiken. Erstens: In vielen Gemeinden gibt es Peripherien, die sich vom jeweiligen Zentrum vernachlässigt fühlen und die sich besserstellen, wenn sie sich selbständig machen. Zweitens: Eine Gemeinde muß nicht ökonomisch tragfähig sein, sondern kann alleine auf der Grundlage der Zuwendungen gut überleben. Und weil eine Gemeinde einen Bürgermeister, mehrere Dezernenten und eine Reihe von Stadtverordnungen braucht, ergeben sich hier interessante Einkommensmöglichkeiten – es ist gar nicht selten, daß das Gehalt eines Bürgermeisters einer 10.000-Seelen-Gemeinde in der gleichen Größenordnung liegt wie das des Staatspräsidenten (d.h. ca. DM 8.000 pro Monat). Dagegen wird es lokal auch wenig Protest geben, weil es ja nicht das Geld der lokalen Steuerzahler, sondern das der Bundesregierung zu sein scheint, das da verschwendet wird. Überdies ist nicht zu unterschätzen, daß Politik hier ein wichtiger Umverteilungsmechanismus ist, denn nicht wenige Politiker stammen aus der unteren Mittelschicht und erzielen als gewählte Politiker ein Einkommen, das für sie anders kaum zu erreichen wäre.

Parteienfinanzierung

Betrachtet man die lokale Politik, so gibt es drei Motive, die dafür sorgen, daß viel Geld beiseitegeschafft wird. Erstens gibt es das Motiv der persönlichen Bereicherung. Dies ist nicht zu unterschätzen, aber es ist nicht das Hauptmotiv. Zweitens gibt es das Motiv des Klientelismus; dies ist schon wichtiger. Am bedeutendsten ist aber das dritte Motiv, nämlich die Finanzierung von Wahlkämpfen.

Es gibt in Brasilien keine staatliche Wahlkampfkostenerstattung, und daher muß jeder Wahlkämpfer sehen, wo er sein Geld herbekommt. Aufgrund der amorphen Struktur der Parteien und des ständigen Wechsels von Politikern zwischen Parteien spielen Parteikassen auch nur eine begrenzte Rolle. Was bleibt, sind zwei wichtige Quellen. Zum einen drehen die Politiker mit dem Hut in der Hand ihre Runde bei lokalen und regionalen Geldgebern. Insbesondere Unternehmen sind wichtige Finanziers von Politikern, die ihre Wahlkampfkasse zu füllen haben. Zum anderen ist da die Staatskasse. Wer gewählt ist, hat damit eine Quelle zur Sanierung der persönlichen Finanzen, d.h. zur Tilgung der monetären Schulden, die der Wahlkampf ihm beschert hat. In der praktischen Umsetzung gibt es dazu verschiedene Instrumente – von hohen Gehältern über Jobs für alle Verwandten bis hin zur Überfakturierung bei öffentlichen Aufträgen oder der Abwicklung von Scheingeschäften.

Es ist mithin nicht (oder zumindest nicht ausschließlich und in erster Linie) individuelle Geldgier, die Phänomene wie 10.000-Mark-Gehälter für Kleinstadtbürgermeister erklären, sondern der Sachzwang, der durch den Kreislauf der Politik geschaffen wird – gewählt werden ist teuer, und wenn die Kosten der Wahl abbezahlt sind, beginnt die Ansparphase für den nächsten Wahlkampf. Es gibt bislang keine erfolgversprechenden Versuche, diesen Kreislauf zu durchbrechen; eine restriktive Regelung der Finanzierung von Wahlkämpfen in Verbindung mit einer Stärkung der Position der Parteien wäre vorstellbar, jedoch schwer zu implementieren, und in jedem Fall stößt jedes Reformvorhaben in diesem Bereich auf den hartnäckigen Widerstand der politischen Klasse. Damit aber ist klar, daß der Anreiz zur Ruinierung der Staatsfinanzen, insbesondere auf der dezentralen Ebene, weiterexistiert.

Wahlkampf als Dauerzustand

Auf der zentralen Ebene machte sich seit Ende 1998 das Fehlen von Gemeinwohlorientierung besonders unangenehm bemerkbar. Man könnte sich ja vorstellen, daß in einer extrem schwierigen ökonomischen Situation – wie sie seit August 1998 bestand, sich im Oktober zuspitzte und im Januar 1999 nochmals an Schärfe zunahm – die wichtigen politischen Akteure, die noch dazu in einer Koalition zusammengeschlossen sind, zusammenrücken. Tatsächlich war aber das Gegenteil der Fall: Präsident Cardoso wurde systematisch geschwächt, die Handlungsfähigkeit der Regierung unterminiert.

Hintergrund dieses Phänomens ist die Tatsache, daß der brasilianische Präsident nur einmal wiedergewählt werden kann. Mit dem Tag der Wahl von Cardoso im Oktober 1998 war daher das Rennen um seine Nachfolge eröffnet. In diesem Rennen war jedes Mittel erlaubt. In der Phase der Regierungsbildung, in den letzten Monaten des Jahres 1998, wurden Cardosos engste Vertraute kaltgestellt. Es gab eine Abhör-Affäre, in die der Kandidat für das Industrieministerium verwickelt war – ein Weggefährte und Parteigänger Cardosos, der überdies deswegen inopportun erschien, weil dem Industrieministerium die Entwicklungsbank und damit beachtliche Finanzmittel (mit entsprechendem Patronagepotential) zugeordnet sind. Überdies kursierten mysteriöse Dokumente, die angeblich die Existenz von Konten auf den Cayman-Inseln belegten – Konten nicht nur von engen Mitarbeitern Cardosos, sondern auch von ihm selber. Und selbst, als diese Affären ausgeräumt waren, ging das Gerangel zwischen den Koalitionspartnern weiter, das eine konstruktive Arbeit der Legislative massiv behindert.

Als zweitmächtigste Person des Landes (die Position des Mächtigsten wird seit den 80er Jahren unbestritten von Roberto Marinho, dem Inhaber des Globo-Medienimperiums, eingenommen) etablierte sich in diesen Auseinandersetzungen Antônio Carlos Magalhães, zentrale Figur in der PFL, dem konservativen Partner in der Koalition der Regierungsparteien. In seiner Funktion als Präsident des Senats, der oberen Kammer des brasilianischen Parlaments, sitzt er an einer zentralen Schaltstelle der Macht, denn er hat weitgehenden Einfluss darauf, welche Vorhaben im Senat vorangetrieben und zur Abstimmung gebracht werden. Um seine Flügel zu stutzen, initiierte die PSDB, die Partei von Präsident Cardoso, Anfang 2000 ein Neuarrangement der Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhaus. Sie bildete einen Block mit einer kleineren Partei und wurde damit zur größten Fraktion. Die PMDB, die verbleibende der drei großen Parteien, tat es ihr nach, und plötzlich hatte die PFL nur noch die drittgrößte Fraktion. Damit hat künftig die PSDB privilegierten Zugriff auf die Posten der Vorsitzenden von Ausschüssen und Sonderkommissionen. Umgekehrt bleiben die Wirkungen auf die Regierungskoalition abzuwarten – es ist nicht auszuschließen, daß es für die Regierung noch schwieriger wird, ihre Vorhaben durchzubringen; der Mindestlohnvorstoß könnte ein erster Hinweis sein auf das, was noch kommen wird.

Perspektiven der Reduzierung des Leistungsbilanzdefizits

Die zweite typische Ursache von Brasilienkrisen sind hohe und zunehmende Defizite in der Leistungsbilanz. An sich würde man vermuten, daß nach einer kräftigen Abwertung die Wahrscheinlichkeit einer Zahlungsbilanzkrise abnimmt – Importe sollten sinken, Exporte steigen, Gewinntransfers abnehmen und Zinszahlungen gleichbleiben. Tatsächlich sanken jedoch auch die Exporte, und die Zinszahlungen stiegen.

Kontraintuitiv ist insbesondere die Entwicklung der Exporte. Das Finanzministerium argumentiert, daß dies in erster Linie auf sinkende Weltmarktpreise für viele der wichtigsten brasilianischen Exporte zurückzuführen sei; dies gilt insbesondere für Rohstoffe, zugleich nahm das in Gewicht ausgedrückte Exportvolumen zu.

Es gibt eine Reihe weiterer Erklärungen für die Exportperformance, und nicht alle verheißen Gutes für die Zukunft:

  • Ein time-lag bei der Zunahme der Exporte: Ein großer Teil der brasilianischen Exporte sind keine commodities, d.h. standardisierte Güter, die auf internationalen Spotmärkten oder anderen anonymen Märkten gehandelt werden, sondern Erzeugnisse, die konzernintern gehandelt oder von wenigen Handelshäusern gekauft werden. Typisch für das eine sind z.B. Kraftfahrzeugkomponenten, die von den Fabriken der multinationalen Hersteller an Werke in anderen Ländern geliefert werden; ein Beispiel für das andere sind z.B. die Damenschuhe, die in großer Zahl aus Rio Grande do Sul exportiert werden, vornehmlich in die USA, wo eine kleine Zahl von Zwischenhändlern bzw. Endverkäufern globale Lieferantennetzwerke koordiniert. Bei solchen Produkten wird eine Abwertung nicht umgehend zu einem Anstieg der Exporte führen. Die Ausfuhren werden erst dann steigen, wenn die international agierenden Konzerne bzw. die Aufkäufer in den Industrieländern ihre internen Planungen umgestellt haben. Letzteres kann relativ schnell gehen, insbesondere in jenen Produktsegmenten, in denen bereits stabile Lieferbeziehungen existieren. Es gibt jedoch auch eine Reihe von Produktsegmenten, in denen der Welthandel durch stabile Lieferbeziehungen gekennzeichnet ist (z.B. Bekleidung, Möbel) und in denen brasilianische Lieferanten in den letzten Jahren kaum oder garnicht präsent waren. In diesen Segmenten ist auch in der nächsten Zeit nicht mit einer raschen Zunahme der Exporte zu rechnen.

  • Der Protektionismus der Industrieländer: Die USA haben Sonderzölle gegen verschiedene, wichtige brasilianische Exportgüter verhängt (u.a. Stahl, Tabak, Zucker, Orangensaftkonzentrat). Darüber hinaus ist die Handelspolitik zwischen den beiden Ländern durch eine konfliktive Grundorientierung gekennzeichnet. Mit der EU gibt es vor allem im Agrarbereich Konflikte; brasilianische Agrarexport in die EU sehen sich mit zunehmendem Verarbeitungsgrad steigen Zöllen gegenüber. Der Handel mit Argentinien hat aufgrund der Einrichtung der Freihandelszone Mercosul stark zugenommen, erleidet jedoch immer dann Rückschläge, wenn eines der beiden Länder in einer schwierigen makroökonomischen Lage ist. Dies galt zuletzt für Argentinien, das sich verschiedene tarifäre und nicht-tarifäre Importbarrieren einfallen ließ.

  • Exporthemmnisse in Brasilien: Während andere Länder große Kreativität im Ersinnen tarifärer und nicht-tarifärer Importhemmnisse beweisen, legt die brasilianische Regierung insbesondere großen Einfallsreichtum in der Schaffung tarifärer und nicht-tarifärer Exporthemmnisse an den Tag. Immerhin gelang es vor einigen Jahren, Exporte von der Umsatzsteuer zu befreien („Lei Kandir"); aber weil diese Regelung zu Lasten der Haushalte der Bundesstaaten ging, ist sie immer wieder umstritten. Andere Steuern und insbesondere verschiedene Abgaben und Umlagen werden bis heute bei Exporten nicht erstattet; allein die Abgaben zur Finanzierung von SENAI, SESI und SEBRAE sowie die Sozialversicherungsumlage COFINS liegen bei jeweils 3 %, und 6 % Aufschlag auf den Preis kann bei preissensiblen Produkten das Aus bedeuten. In Sachen nicht-tarifärer Exportbarrieren sind z.B. die bürokratischen Hindernisse zu nennen. Die Zollbehörde Receita Federal setzt zwei Tage (also 48 Stunden) für die Kontrolle von Exportgütern an. Wenn ein Unternehmen aus dem Landesinneren dieses Verfahren mit der örtlichen delegacia hinter sich gebracht hat, kann es sein, daß die delegacia am Hafen oder Flughafen das nicht akzeptiert und eine weitere Kontrolle fordert, womit wieder zwei Tage verlorengehen. Für brasilianische Exporte gilt außerdem die 40-Stunden-Woche, d.h. die gesetzliche Arbeitszeit der Receita Federal; außerhalb der Regelarbeitszeit wird nicht exportiert. Andere Hindernisse betreffen z.B. grenzüberschreitende Finanztransaktionen, die häufig so aufwendig und damit teuer sind, daß sich der Export für kleine Betriebe nicht lohnt. Grenzüberschreitender Internet-Handel ist bislang praktisch unmöglich.

Die Regierung hat schon vor einigen Jahren die Parole ausgegeben, die Exporte auf US$ 100 Milliarden verdoppeln zu wollen. Es gibt keine Hinweise darauf, daß dieses Ziel in absehbarer Zukunft erreicht werden kann. Bestenfalls wird es gelingen, leichte Überschüsse in der Handelsbilanz zu erwirtschaften. Die Leistungsbilanz wird – aufgrund der allfälligen Zinszahlungen auf die Auslandsschulden sowie der Gewinntransfers der ausländischen Unternehmen, deren Bedeutung in der brasilianischen Wirtschaft in den letzten Jahren stark zugenommen hat, weiterhin defizitär bleiben. Die Regierung setzt darauf, daß auch in Zukunft der Kapitalzufluß aus dem Ausland anhält und damit auf der außenwirtschaftlichen Seite Ruhe herrscht. Angesichts der Tatsache, daß es noch etliches zu privatisieren gibt – derzeit stehen bundesstaatliche Banken an, und anschließend könnten z.B. Wasserbetriebe dran sein –, ist diese Hoffnung nicht unbegründet. Aber es ist gleichwohl ein riskantes Kalkül, denn die Investitionen strömen in der Erwartung, daß sich die brasilianische Wirtschaft dynamisch entwickelt – und diese Erwartung kann durchaus trügerisch sein. Recht undurchsichtig ist die Position der Regierung zur Wechselkursentwicklung, der im ersten Quartal 2000 – zum großen Verdruß der Wirtschaft – eher in Richtung Aufwertung tendierte.

Perspektiven

Die Kernbotschaften dieses Papieres stehen bewußt im Gegensatz zur derzeit vorherrschenden Sichtweise.

Erstens: Die nächste Krise kommt bestimmt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Brasilien ohne größere Turbulenzen durch dieses Jahr kommt. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß dies auch im kommenden Jahr so bleibt – z.B. deshalb, weil im Oktober auf der kommunalen Ebene gewählt wird, und weil in Wahljahren der Staatshaushalt immer aus den Fugen gerät. Immerhin ist mit der Abwertung eine makroökonomische Konstellation, die kein kräftiges Wirtschaftswachstum zuließ, durchbrochen worden; die Zentralbank ist jetzt nicht mehr in der Not, eine entstehende Wachstumsdynamik abwürgen zu müssen.

Zweitens: Brasilien ist nicht das unschuldige Opfer internationaler Währungsspekulanten, sondern hat seine Krisen im wesentlichen selbst zu verantworten. Dies deckt sich nicht mit der Wahrnehmung, daß die Regierung Cardoso insgesamt einen guten Job macht. Hat sich die Performance von Präsident Cardoso verschlechtert oder hat sich die Wahrnehmung geändert? Vieles spricht für letzteres: Schon in seiner ersten Amtsperiode kamen viele der wichtigsten Reformvorhaben kaum voran. Sein standing fußte in erster Linie auf dem Plano Real und dem gelungenen makroökonomischen Management, einschließlich der Bewältigung der Bankenkrise.

Der Gerechtigkeit halber muß man jedoch auch anmerken, daß Cardoso vor einer monumentalen Aufgabe steht. Im Grunde geht es um nicht weniger als die Durchsetzung von Reformen, die Strukturen aufbrechen sollen, die sich über lange Zeit – zum Teil über Jahrhunderte – entwickelt haben. Die Tatsache, daß das politische System selber dringend reformbedürftig ist, macht die Bewältigung dieser Aufgabe nur noch schwieriger.

Die letzte Krise war ironischerweise zu schnell vorbei – im Januar und Februar 1999 waren plötzlich Reformen möglich, die zuvor jahrelang im Parlament blockiert waren. Insofern ist es durchaus nicht zynisch, dem Land eine baldige weitere Krise zu wünschen, denn es wird wohl nur auf diese Weise gelingen, die notwendigen Reformen durch das Parlament zu boxen.

Brasilien: Leistungsbilanz 1995 bis 1999


1995

1996

1997

1998

1999

Handelsbilanz (FOB)

-3 351

-5 554

-6 765

-6 591

-1 198

Export

46 506

47 747

52 990

51 140

48 011

Import

49 858

53 301

59 755

57 731

49 209

Dienstleistungen

-18 595

-20 483

-26 284

-28 798

-25 212

Zinsen

-8 158

-9 173

-10 390

-11 948

-15 170

andere Dienstleistungen

-10 437

-11 310

-15 894

-16 850

-10 042

Transferzahlungen (Saldo)

3 974

2 900

2 216

1 778

2 035

Saldo der Leistungsbilanz

-17 972

-23 136

-30 833

-33 611

-24 375

Quelle: Zentralbank. Angaben in Millionen US-$

Brasilien: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 1993-1998



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