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Ungarn / Jürgen Illing. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 22 S. = 66 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Essentials]

  • Im Transformationsprozeß nimmt Ungarn unter den ehemals planwirtschaftlichen Reformstaaten Mittel- und Osteuropas eine Vorreiterrolle ein. Dies gilt insbesondere für den Grad der Umgestaltung zu einer funktionierenden Marktwirtschaft und die Beurteilung der Beitrittsreife zur Europäischen Union.

  • Nach der jüngsten Einschätzung der Europäischen Kommission erfüllt Ungarn die Kopenhagener Beitrittskriterien zur EU am ehesten von allen Kandidaten aus den Reformstaaten, da bereits jetzt zahlreiche Unternehmen dem Wettbewerb im Binnenmarkt standhalten können.

  • Die liberal-konservative Koalitionsregierung läßt erwarten, daß noch nicht erfüllte Beitrittsaufgaben bis zum Jahre 2002 erledigt sind, zumal sie eine möglichst frühe Integration als prioritäres Ziel definiert hat.

  • Risiken liegen freilich in einer noch nicht vollzogenen Verwaltungsreform, in unbefriedigend entwickelter Rechtssicherheit und einer zu hohen staatlichen Abschöpfung von Privaten sowie der damit verbundenen ausgeprägten Schattenwirtschaft.

  • Ungarn wird weiterhin erhebliche wirtschaftliche Vorteile aus seiner geographischen Lage ziehen können. Es wird sich zu einem logistischen Zentrum für Süd-Ost-Europa bzw. den Balkan entwickeln und zum wirtschaftlichen Wiederaufbau sowie zur Entwicklung stabiler Verhältnisse der Region beitragen können.

  • Das seit 1996 festzustellende Wachstum des Sozialproduktes wird voraussichtlich anhalten und sich angesichts des hohen Integrationsgrades der ungarischen Wirtschaft in den europäischen Binnenmarkt weiterhin in der Größenordnung des Doppelten des durchschnittlichen westeuropäischen Wachstums bewegen.

  • Deutschland hat wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung Ungarns seit der Wende beigetragen. 1999 stammten knapp 30 Prozent der ungarischen Importe aus Deutschland, gut ein Drittel der Exporte waren dorthin gerichtet und knapp 40 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen waren deutschen Ursprungs. Die Bedeutung des Wirtschaftspartners und des Standortes Ungarn für die deutsche Wirtschaft wird mittelfristig weiter zunehmen.

Die ungarische Wirtschaft vor der Wende

Eine Betrachtung der wirtschaftlichen Entwicklung des geschichtsbewußten Ungarn muß die Revolution von 1956 einbeziehen. Ungarn ist das einzige Land der sozialistischen Welt, in dem jemals ein bewaffneter Aufstand gegen die sowjetische Besatzung stattfand. Er ermöglichte damals, wenn auch nur für sehr kurze Zeit, die Machtausübung durch eine Mehrparteienregierung, wobei die Parteien sich innerhalb weniger Tage gebildet und organisiert hatten. Der Aufstand wurde von Hunderttausenden direkt oder indirekt unterstützt. Nach seiner Niederschlagung wurden 229 Todesurteile gefällt und vollstreckt, Tausende in die Gefängnisse geworfen und Zehntausende von ihren Arbeitsplätzen entfernt. Die Einschüchterung erreichte einen großen Teil der Bevölkerung. Das nationale Trauma der niedergeschlagenen Revolution von 1956 liefert sowohl für den „Gulaschkommunismus" als auch den Verlauf des Reformprozesses nach der Wende und damit für die heutige wirtschaftliche Situation Erklärungsansätze.

Mátyás Rákosi, die dominierende politische Figur während der stalinistischen Phase in Ungarn, wird zur Erläuterung des hohen investiven Anteils am Staatshaushalt mit der Bemerkung wiedergegeben, man wolle derart sicherstellen, daß der Henne, die später goldene Eier legen werde, nichts zustoße.

Auf der wirtschaftspolitischen Prioritätenskala des Kádár-Regimes hingegen stand seit Beginn der sechziger Jahre eine konsumorientierte Steigerung des materiellen Wohlstandes weit oben, höher jedenfalls als in anderen sozialistischen Staaten. Dies war einerseits nach dem Ende der stalinistischen Ära mit ihren klassischen sozialistischen Prioritäten einer Wirtschaftspolitik möglich. Andererseits entsprach es dem Bedürfnis der Bevölkerung, wenn schon nicht frei, so doch materiell ordentlich leben zu können. Dieses Bedürfnis war durchaus in Einklang zu bringen mit dem Bestreben des Machtapparates, das Trauma der niedergeschlagenen Revolution, wenn schon nicht vergessen zu machen, so doch zumindest durch materielle Wohltaten abfedern und den realen Sozialismus relativieren zu können.

Die machtpolitische, ja, machiavellistische Interpretation der Konsumorientierung mag erklären, warum es vergleichsweise schwierig ist, einen auf die in Deutschland durchaus wohlwollend und anerkennend gemeinten Schlagworte „Gulaschkommunismus" und „Lustigste Baracke des Ostblocks" vorbehaltlos stolzen Ungarn zu treffen.

Zwischen 1966 und 1975 erlebte man in Ungarn die sogenannten Goldenen Jahre. Der private Konsum stieg ungeachtet der volkswirtschaftlichen Entwicklung jährlich um durchschnittlich 5,3 Prozent. Wenngleich die Produktion in jener Zeit schneller als der Konsum wuchs, war die Steigerung etwa ab Anfang der 70-er Jahre nur um den Preis steigender ausländischer Verschuldung möglich.

Auch der Rahmen wirtschaftlichen Handelns veränderte sich: Ab 1968 eröffneten sich stetig Freiräume für privates Engagement. Gut die Hälfte der Preise industrieller Erzeugnisse wurde ebenso wie die Preise von ungefähr 20 Prozent der Konsumgüter liberalisiert und bildete sich über den Markt.

Ab 1972 waren, wenn auch mit den seinerzeit im Ostblock üblichen Einschränkungen und Erschwernissen, Joint-Ventures mit ausländischen Kapitalgesellschaften möglich. 1973 erfolgte der GATT-Beitritt, 1982 der Beitritt zum Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. 1986 wurde ein für ein planwirtschaftliches System ungewöhnliches Konkursgesetz verabschiedet.

Trotz der bemerkenswerten Liberalisierungen, auf die bei der Wende zurückgegriffen werden konnte, zeigte sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre eine Tendenz, die in Ungarn letztlich ebenso wie in der DDR politische Veränderungen erzwingen sollte: Der Anteil öffentlichen und privaten Konsums am Sozialprodukt stieg, der Anteil investiver Ausgaben hingegen sank. Das Wachstum der Industrieproduktion verlangsamte sich daraufhin deutlich und blieb über fast ein Jahrzehnt nahezu konstant, bis es nach der Wende endgültig abstürzte.

Ab Mitte der achtziger Jahre stagnierte denn auch das Sozialprodukt bzw. entwickelte sich rückläufig. Hierauf wurde reagiert, indem Investitionen gegenüber dem Konsum nochmals stärker zurückgenommen wurden. Während der Phase des in der zweiten Hälfte der Dekade fallenden Sozialproduktes entwickelte sich auch der private Konsum rückläufig: allerdings nur in ungefähr der Hälfte der Größenordnung, in der das Wachstum negativ verlief. In Folge dessen stieg die ausländische Verschuldung noch weiter stark an.

Jahr

Auslandsverschuldung
in Mrd. USD

Pro-Kopf-Auslandsverschuldung (USD)


1975

3,9

369

1980

9,1

850

1985

14,0

1.326

1990

21,3

2.057

1995

31,6

3.084

1999
(geschätzt)

26,9

2.625

Quellen: Ungarische Nationalbank, Zentrales Statistik-Büro

Vor diesem Hintergrund überrascht nicht weiter, daß bereits Mitte der achtziger Jahre Überlegungen angestellt wurden, wie der absehbare wirtschaftliche Kollaps abgewendet werden könnte. Ökonomische Analysen motivierten innerhalb der Einheitspartei Ideen, wie eine Annäherung an den Westen gelingen könnte. Von einer Reform des planwirtschaftlichen Systems schienen zumindest diejenigen, die ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die politische Initiative ergriffen, nichts zu erwarten, wenngleich nahezu allen vorliegenden Quellen zu entnehmen ist, daß ihnen die Aufgabe des Monopolanspruches der Einheitspartei die meisten Schwierigkeiten bereitete.

Daneben spielte zweifelsohne der schon sprichwörtliche politische Mut der Ungarn eine Rolle, den sie nicht zuletzt 1956 bewiesen hatten. Auf fachlicher Ebene entstanden im Wirtschafts- und auch im Finanzministerium Regelungswerke, die Kapitalgesellschaften mit in- und ausländischer Beteiligung zuließen und bis weit in die neunziger Jahre hinein in Kraft waren. Das ungarische Gesetz über die Wirtschaftsgesellschaften jedenfalls, das in seinem grundlegenden Charakter dem deutschen GmbH-Gesetz vergleichbar ist, stammt bereits aus dem Jahr 1988. Flankiert wurde das Gesetz von einem Umsatzsteuergesetz, das ebenfalls vor der Wende im Gesetzblatt erschien.

1989 gab es mithin bereits einen wenn auch lückenhaften und privatem wirtschaftlichen Engagement gegenüber mißtrauischen und daher einschränkenden Rahmen, innerhalb dessen sich kleinere, nicht kapitalintensive Engagements gebildet hatten. Auch erste ausländische Direktinvestitionen waren bereits vorhanden.

Was geschah nach der Wende?

Die oben gezeigte Tabelle belegt einen deutlichen Anstieg der Auslandsverschuldung für 1994, mithin bereits nach der Wende. Aus den ersten demokratischen Parlamentswahlen ging 1990 eine national-konservative Regierung unter dem Universitätsprofessor József Antall hervor. Sie ging unverzüglich daran, Rahmenbedingungen für den strukturellen Wandel hin zu einem demokratischen Staatsgefüge und auch einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu schaffen. Doch veränderte sie auch die konsumorien-tierte Wirtschaftspolitik?

In Polen und der Tschechoslowakei unterstellten die ersten demokratischen Nach-Wende-Regierungen der Bevölkerung in ihrer Freude über das Ende von Sozialismus und Planwirtschaft offensichtlich eine ausgeprägte Opferbereitschaft. Jedenfalls nutzten sie die Gunst der Stunde, um makroökonomische Korrekturen auch zu Lasten der Bevölkerung vorzunehmen.

Fortsetzung der Konsumorientierung

Nicht so in Ungarn. Die Gründe mögen in einem politischen Realismus liegen, daß nämlich Ungarn, dem Land unter den RGW-Staaten mit der am geringsten ausgeprägten Repression, die Euphorie über die Veränderungen mithin nicht so gewaltig war. Und außerdem hatte man seinen eigenen Beitrag zu den Veränderungen, die ganz Europa ein neues Gesicht geben sollten. Oder aber die in den Mechanismen einer parlamentarischen Demokratie noch unerfahrenen Politiker schreckten vor einem Popularitätsverlust oder gar dem Unmut der Bevölkerung für den Fall zurück, daß man von der jahrzehntelang „bewährten" Konsumorientierung abwich. Hierzu mag ein Massenprotest beigetragen haben, der wegen einer Benzinpreiserhöhung im Oktober 1990 von Taxifahrern ausging. Der Protest erreichte durch die völlige Blockade der Hauptstadt sein Ziel, nämlich ein deutliches Abrücken der Regierung von ihren Absichten. Angesichts des Verhaltens der Opposition war die neue Regierung sich schnell der Grenzen ihrer Möglichkeiten bewußt. Auch bei einem einige Jahre später angedrohten landesweiten Protest wurde deutlich, daß die ungarische Gesellschaft keine radikalen Schritte liebte, Konfrontationen vermied und gelegentlich erfolgreicher als in sozialpartnerschaftlichen Strukturen durch informelle Kontakte im Vorfeld Konflikte zu lösen weiß.

Jedenfalls gab es keine wirtschaftliche Schocktherapie, kein Programm des engeren Gürtels. Angesichts des Zusammenbruchs der gelenkten Wirtschaftssysteme konnte von einer weiteren Ausweitung öffentlichen und privaten Konsums allerdings auch keine Rede sein: Die Politik orientierte sich jedoch an der Maxime, die Reduzierung des Verbrauchs weitestgehend zu minimieren. Die am weitesten verbreitete Haltung ist mit der Aussage überliefert, wenn der Konsum denn schon zurückginge, dann so sanft und gering wie irgend möglich.

Für investive Zwecke wurde verwandt, was übrig blieb. Beispielhaft für das Fortbestehen der Konsumorientierung sei die Erstellung und der Unterhalt öffentlicher sowie privater Bauten erwähnt. Seit Mitte der siebziger Jahre gingen die Aufwendungen dafür über zwei Jahrzehnte stetig zurück. Lediglich im privaten Wohnungsbau waren seit 1992 allerdings erhebliche positive Veränderungen zu erkennen.

Nicht selbstverständlich war, daß trotz des politischen Strukturwandels die staatliche Verwaltung personell weitgehend unangetastet blieb. Damit war die Funktionsfähigkeit der Administration durch die Übernahme des Sachverstandes sichergestellt, wenngleich dies die Entstehung der in allen Reformstaaten Mittel- und Osteuropas zu beobachtenden sozialen Verwerfungen begünstigte.

Die in Partei und Verwaltung beschäftigten Spitzenfunktionäre bzw. –beamten fanden sich vor dem Hintergrund der bereits begonnenen Entwicklung relativ schnell mit den Anforderungen der neuen Wirtschaftsordnung zurecht und reüssierten auch im privatwirtschaftlichen Bereich. Die meisten der 1993 in privaten Unternehmen verantwortlich Tätigen hatten bereits

vor der Wende herausgehobene Funktionen inne. Die tabellarische Übersicht über die Eliten erklärt, warum der Ausdruck „unsere Genossen Manager" zu einem geflügelten Wort wurde.

Neue und alte Eliten

Funktion 1988

Gesamte neue Elite (1993)

Wirtschaftselite (1993)

Nomenklatura

32,7

34,8

Andere höhere Funktion

47,5

54,7

Nicht-Elite

19,8

10,5

Quelle: Iván Szelényi, Circulation of Elites in Post-Communist Transitions, Michigan, 1994

Makroökonomisch waren die Einschnitte tiefer, und die wirtschaftliche Erholung verlief deutlich langsamer als ursprünglich erwartet. Das Sozialprodukt schrumpfte 1991 um gut neun Prozent, 1992 und 1993 nochmals um fünf bzw. 1,5 Prozent. Die Industrieproduktion fiel allein 1991 und 1992 um insgesamt knapp ein Drittel. Die Verbraucherpreise verdoppelten sich von 1991 bis 1993. Neben der schwachen Verfassung der Binnenwirtschaft waren auch keine Impulse aus der europäischen bzw. der teilweise krisenhaften Weltwirtschaft zu verzeichnen.

Angesichts dieser Verhältnisse wurde vieles über soziale Transfersysteme aufgefangen. Staatliche Unterstützungssysteme, die wie die Arbeitslosenversicherung vor der Wende nahezu unbekannt waren, erhielten erheblichen Zulauf. Zur Vermeidung der Arbeitslosigkeit war ein regelrechter Run auf den subventionierten Erziehungsurlaub zu verzeichnen. Ungarns Sozialbudget im Verhältnis zum Sozialprodukt überstieg deutlich den OECD-Durchschnitt. Ein Vergleich zwischen Ungarn und Schweden macht deutlich, wie stark sich die Regierung durch die Gewährung sozialer Transferleistungen um einen möglichst sanften Übergang in die Marktwirtschaft bemühte, wenngleich damit keine Aussage zur Höhe der Transfers verbunden ist.

Beschäftigte (in 1000)

Schweden 1989

Ungarn 1993

1. Öffentlicher Dienst

1.427

875

2. Rentner

1.899

2.647

3. Arbeitslose

62

694

4. Beschäftigungsprogramme

144

54

5. Krankenstand

317

150

6. Erziehungsurlaub

126

262

7. Summe 1.-6.

3.975

4.682

8. Private Unternehmen

3.020

2.842

9. Verhältnis 7. zu 8.

1.32

1.65

Quelle: János Kornai, Paying the bill for goulash-communism, Budapest 1996

Privatisierung

Die Regierung hatte nur wenige Möglichkeiten einer animierenden Wirtschaftspolitik, die sie zudem nach dem Tod des Ministerpräsidenten Antall 1993 und der daraus resultierenden politischen Unsicherheit nicht vollständig nutzten konnte. Das Parlament verabschiedete zwar in einem ungeheueren Kraftakt mehr als 400 wirtschaftsrelevante Gesetze. Damit korrespondierten jedoch nicht immer eindeutige Durchführungsverordnungen.

Wegen unzureichender Staatseinnahmen und des höher als im Beistandsabkommen mit dem IWF festgelegten Haushaltsdefizits wurde 1993 an der Steuerschraube gedreht: Körperschaftssteuer und doppelbesteuerungsrelevante Quellensteuern wurden zwar gesenkt, Einkommens- und Umsatzsteuer jedoch auf 44 Prozent angehoben bzw. der Anwendungsbereich des Regelsatzes von 25 Prozent durch Streichung von ermäßigten Sätzen erweitert.

Gleichwohl wurde durch die Antall-Regierung ab 1993 mit erheblichem politischem Mut eine echte Privatisierung der staatseigenen Betriebe nach dem Modell der deutschen Treuhandanstalt in Angriff genommen. Die Privatisierung, die auch von der ab 1994 bis 1998 amtierenden sozialistisch-liberalen Koalition trotz einer Neufassung des Privatisierungsgesetzes in ihren Grundzügen nicht in Frage gestellt wurde, unterschied sich von den Maßnahmen in anderen mittel- und osteuropäischen Staaten durch ihren umfassenden Ansatz, ihre Frühzeitigkeit und ihre Reichweite.

Bislang wurden von den ehemals gut 2.000 im Staatseigentum stehenden Unternehmen etwa 1.600 veräußert. Zahlreiche Unternehmen konnten erst nach einer organisatorischen Neugliederung an neue Eigentümer gebracht werden, die allerdings häufig eine erste Restrukturierung und Orientierung am Wettbewerb mit sich brachte. Unverkäufliche Unternehmen wurden auch liquidiert. Insgesamt konnte die staatliche Privatisierungs- und Treuhandgesellschaft APV bis Ende 1999 einen Erlös von gut 11 Mrd. USD erzielen.

Die Privatisierung war gründlich: Staatliche Banken waren ebenso erfaßt wie Industrieunternehmen. Auch vor dem Bereich der Daseinsvorsorger wurde nicht Halt gemacht: Die Deutsche Telekom beispielsweise erwarb in Ungarn ihre erste Auslandsbeteiligung, indem sie sich mit Ameritech an der Telefongesellschaft Matáv beteiligte. Die Privatisierung von Elektrizitätswerken, Gasversorgern und auch Wasserwerken gehörte gewissermaßen zur Tagesordnung.

Durchaus in den Kontext paßt, daß 1996 die erste privat finanzierte Autobahn in Europa in Ungarn in Betrieb genommen wurde, die sich von der österreichischen Grenze nach Györ ausdehnt.

Ergebnis der Privatisierungsaktivitäten war, daß Ungarn derzeit mit gut 2.000 Euro pro Kopf der Bevölkerung die mit Abstand höchsten ausländischen Direktinvestitionen unter den Reformstaaten auf sich vereinigen konnte. Erst 1998 wurde man von dem erheblich größeren und bevölkerungsreicheren Polen in dem Betrag der kumulierten Direktinvestitionen überflügelt.

Die Privatisierung ist heute fast abgeschlossen. In den Händen der staatlichen Vermögensverwaltungsgesellschaft sind ungefähr 100 Unternehmen aus der Agrar- und Forstwirtschaft sowie Anteile an Unternehmen im Infrastruktur-bereich verblieben, in denen der Staat aus unterschiedlichen Gründen längerfristig engagiert bleiben will. Außerdem erhält er in 27 Unternehmen über sogenannte Golden Shares seinen wirtschaftlichen Einfluß. Die Privatisierung wird in den nächsten Jahren vornehmlich durch die Verwertung von Immobilien geprägt sein, wenngleich auch noch einzelne Unternehmen wie die Arzneimittelhersteller Human Rt. und Gedeon Richter Rt., die Fluggesellschaft Malév oder aber Beteiligungen an Industrieunternehmen im Portefeuille vorhanden sind.

Die insgesamt gelungene Privatisierung konnte jedenfalls einen Mangel ausgleichen, der ausländische Investitionen auf der grünen Wiese hinderte. Steuervorteile wurden ab Januar 1994 vorübergehend beseitigt. Nachfolgende Investitionsförderinstrumente bedurften einer Einzelgenehmigung, die nur begrenzt vorhersehbar war. Investitionen auf der grünen Wiese wurden denn auch bis 1995 nur relativ zurückhaltend angegangen, zumal im Portefeuille der Privatisierungsanstalt genug Unternehmen vorhanden waren.

Ohne die mutige Privatisierung wäre die Erfolgsstory des gelungenen Strukturwandels in Ungarn nicht vorstellbar. Beispiellos unter den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten ist, daß sich dank der gelungenen Privatisierung der Privatanteil an der ungarischen Wirtschaft mittlerweile auf knapp 80 Prozent beläuft.

Das Austeritätspaket: Abschied von der Konsumorientierung

Nach dem Tode von Ministerpräsident Antall verlor die national-konservative Regierung 1994 nicht zuletzt wegen der schlechten Wirtschaftslage die Wahlen. Ihr folgte eine sozialistisch-liberale Koalitionsregierung nach, die von Ministerpräsident Gyula Horn geführt wurde und der man ausgeprägtere administrative Erfahrung im Staat und in der Wirtschaft zutraute.

Die als reformkommunistische Abspaltung von der ehemaligen Staatspartei entstandene Sozialistische Partei verfügte bereits ohne Koalitionspartner über eine parlamentarische Mehrheit. Als sie mit ihrem linksliberalen Partner die Zusammenarbeit begründete und damit mehr als 70 Prozent der Stimmen im Parlament hinter sich brachte, wurde allgemein eine konstruktive und zielstrebige Reformpolitik erwartet.

Die Koalition setzte die Schwerpunkte ihres Regierungsprogrammes in die Wiederherstellung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts, den Ausgleich des Staatshaushaltes sowie in die weitere Förderung der Privatisierung. Angesichts der zugespitzten wirtschaftlichen Lage und der mutmaßlich zur Ankurbelung der Wirtschaft erforderlichen unpopulären Maßnahmen konzentrierten die Erwartungen sich auf den Beginn der Legislaturperiode, zumal der Popularitätsverlust sich in deren Verlauf durch eine spürbare wirtschaftliche Gesundung nicht zwingend bei den nächsten Wahlen bemerkbar machen müßte.

Doch die kraftvolle Koalition erschöpfte sich in monatelangen Konsultationen mit ihrer gewerkschaftlichen Klientel. Während der linksliberale kleinere Partner zu kräftigen Einschnitten bereit schien, hatten die Sozialisten auch noch wirtschaftspolitische Flügelkämpfe zu überstehen. Schließlich entstammten zahlreiche Manager und Eigentümer von Unternehmen, die vor der Wende in Partei- oder Staatsfunktionen waren, ihrem politischen Milieu.

Zwischenzeitlich lagen auch die Zahlen zum Haushaltsdefizit aus 1993 vor, das sich auf immerhin 9 Prozent belief. Für 1994 sollte es auf fast 10 Prozent ansteigen. Der IWF äußerte sich inzwischen kritisch, und auch die internationalen Finanz- und Wirtschaftszeitungen runzelten über den unverständlichen Kurs des vermeintlichen Musterschülers in Mittel- und Osteuropa die Stirn, der nach nur wenigen Monaten seinen Finanzminister Lászlo Bekesi verschlissen hatte.

Nahezu handstreichartig legte sein Nachfolger Lajos Bokros sodann am 12.März 1995 ein Stabilisierungsprogramm vor, das nicht mit den Sozialpartnern abgesprochen und auch nicht von der größeren Regierungspartei bzw. deren Parlamentsfraktion verabschiedet war. Gleichwohl wurde es im Parlament gebilligt und trat zur Jahresmitte trotz des unter Protest erfolgten Rücktritts zweier weiterer Minister in Kraft. Für ungarische Verhältnisse gänzlich ungewöhnlich mehrten sich bis Jahresende 1995 Proteste und gar Warnstreiks besonders betroffener Bevölkerungskreise und Berufsgruppen.

Dabei enthielt das Paket nichts anderes, als was Beobachter seit längerem erwartet und gelegentlich bereits angemahnt hatten: Einen Abschied von der wirtschaftspolitischen Ausrichtung auf den Konsum. Dessen prioritäre Stellung wurde von der Wiederherstellung des ernstlich aus dem Takt geratenen volkswirtschaftlichen Gleichgewichtes eingenommen.

Wesentliche Merkmale waren angesichts des Zwillingsdefizits im Haushalt und im Außenhandel ein Maßnahmenbündel von Abstrichen bei den Sozialausgaben sowie Kürzungen bei den Ausgaben für Verwaltung und öffentliche Dienstleistungen, außerdem beträchtliche Anhebungen der Tarife für öffentliche Güter und Dienstleistungen sowie letztlich die Anhebung des Umsatz- und Verbrauchssteuersatzes. Die Körperschaftssteuern hingegen wurden zu Zwecken der Investitionsstimulanz für tesaurierte Erträge von 36 auf 18 Prozent halbiert. Außenwirtschaftlich wurde ein spürbarer Zuschlag von 8 Prozent auf Importzölle eingeführt und Maßnahmen zur Förderung des Exports verabschiedet. Dieser Kurs wurde begleitet von strikten geld- und kreditpolitischen Maßnahmen. Der Kurs des Forint wurde um 9 Prozent abgewertet und u.a. eine gleitende Abwertung gegenüber dem Währungskorb aus US-Dollar und Deutscher Mark eingeführt.

Das Austeritätspaket zeigte bereits in der zweiten Jahreshälfte 1995 Wirkung: Die seit 1994 festzustellende leichte Konjunkturerholung flachte wegen der Maßnahmen zwar ab. Doch gingen in- und ausländische Beobachter davon aus, daß die mittelfristige Wirtschaftsentwicklung durch die erfolgreichen Stabilitätsmaßnahmen positiv beeinflußt werde und die ungarische Wirtschaft spätestens in der zweiten Jahreshälfte 1996 wieder auf den Wachstumspfad zurückkehren werde.

Und so geschah es auch: Die Maßnahmen griffen, das Haushaltsdefizit sank 1995 um mehr als 40 Prozent, das Leistungsbilanzdefizit um ungefähr 30 Prozent. Wenngleich die Auslandsverschuldung weiter auf brutto mehr als 30 Mrd. USD anstieg, war die Wende auch wirtschaftspolitisch endgültig vollzogen.

Ungarn hatte noch nicht alle Schwierigkeiten gelöst, doch die Grundsteine für eine nachhaltige positive Entwicklung waren gelegt. Die Investitionsausgaben stiegen ebenso wie der Produktionszuwachs für die bzw. in der Gesamtindustrie zweistellig. Die Konsumgüternachfrage sank zwar wegen des deutlichen Rückgangs der realen Einkommen, die sich von den Einschnitten des Bokros-Paketes erst 1997 wieder erholen sollten.

Doch ausländische Direktinvestitionen und der damit zusammenhängende ungarische Export entwickelten sich zu Stützen der ungarischen Wirtschaft. Mit dem Zufluß ausländischen Kapitals kamen 1995 nicht nur knapp zwei Mrd. USD ins Land. Der damit einhergehende know-how-Transfer leistete einen wesentlichen Beitrag zur Modernisierung und Rationalisierung der ungarischen Wirtschaft, die von ausländischen Wirtschaftsforschern insbesondere im Verhältnis zu den Wettbewerbern in anderen mittel- und osteuropäischen Reformstaaten angemahnt worden war.

Die Investitionstätigkeit insgesamt weitete sich allein im ersten Halbjahr 1995 um mehr als 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr aus, wobei der Zuwachs deutlich der Anschaffung von Anlagen in der Industrie zugute kam.

Die Bedeutung des Exports für das Verlassen der Talsohle wird daran deutlich, daß er mit gut zwanzig Prozent drei mal so schnell wie der industrielle Gesamtabsatz wuchs und der Anteil der Exportproduktion am Gesamtausstoß bei ungefähr 30 Prozent lag. War 1993 das Produktionswachstum noch in seiner Gesamtheit von der Inlandsnachfrage induziert, stammte es 1994 zu ungefähr gleichen Teilen aus der Inlandsnachfrage und der Exportsteigerung. 1995 hingegen war das Produktionswachstum bereits in seiner Gesamtheit auf das Exportwachstum zurückzuführen. Und die Trendlinien zwischen Im- und Export, die in den Vorjahren stets auseinanderdrifteten, näherten sich 1995 erstmals wieder einander an.

Von Interesse ist die Veränderung der Außenhandelsstruktur. Unterhielt man vor der Wende vornehmlich mit RGW-Staaten Außenhandelsbeziehungen, hatte sich dies bereits 1995 wesentlich verändert. Mit ehemaligen sozialistischen Ländern wurden nur noch knapp 25 Prozent der ungarischen Im- und Exporte abgewickelt, mit entwickelten westlichen Ländern hingegen bereits mehr als zwei Drittel. So war es Anfang 1996 auch an der Zeit, daß Ungarn als zweites mittel- und osteuropäisches Land nach Tschechien in die OECD aufgenommen wurde.

Die Aufnahme in die OECD hatte nicht nur Auswirkungen auf die Stellung Ungarns in der Weltkonjunktur, auch die Finanzsphäre verbesserte sich entscheidend. Kurz zuvor waren Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds erfolgreich abgeschlossen worden, der Ungarn einen neuen Stand-By-Kredit gewährte. Ungarns Kreditwürdigkeit wurde aufgewertet, die Auflagen von Anleihen und anderen Wertpapieren erfolgten zu günstigeren Konditionen, und die Kosten für Kredite verringerten sich.

Als größter Erfolg, der in seinen Auswirkungen auch heute noch die wirtschaftspolitische Debatte bestimmt, wurde das konsequente und energische Vorantreiben der Privatisierung sowie das Werben um ausländische Direktinvestitionen angesehen. Nach anfänglichen Unsicherheiten, ob denn wohl die neu strukturierte und ausgerichtete Privatisierungsholding ihren geplanten Beitrag zum Staatshaushalt leisten könne, führten die Anstrengungen ein gutes halbes Jahr nach dem Austeritätspaket zu positiven Ergebnissen. Die für 1995 erzielten Einnahmen aus der Privatisierung und zugeflossenen Direktinvestitionen waren mit mehr als 3 Mrd. USD doppelt so hoch wie geplant.

Doch nicht alle Faktoren entwickelten sich positiv: Die Inflation erlebte einen starken Schub und kletterte nicht zuletzt wegen der eingeschlagenen Wechselkurspolitik und der Einführung des Importzuschlages auf knapp 30 Prozent. Negative Begleiterscheinungen der Wirtschaftsstabilisierung waren die Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums und die einschneidenden Verschlechterungen der Lebensbedingungen weiter Teile der Bevölkerung. Der unerwartet hohen Inflation stand ein Rückgang der Realeinkommen um zwölf Prozent gegenüber. Außerdem mußten die Ungarn erhebliche Kürzungen beim Gesundheitssystem, den Familienbeihilfen und den Ausbildungszuschüssen hinnehmen. Ein Rückgang der Inlandsnachfrage um fünf Prozent nimmt sich bei diesen Veränderungen vergleichsweise gering aus. Einen Lichtblick gab es hingegen bei der Zahl der Arbeitslosen zu verzeichnen: Diese hatte ihren Höchststand 1993 erreicht und belief sich Ende 1995 auf gut zehn Prozent. Bedenklich und bis heute anhaltend ist jedoch der Anteil der Langzeitsarbeitslosen, deren Anteil ungefähr bei 50 Prozent lag.

Die Durchsetzung des harten Kurses stieß angesichts dieser Entwicklung bei der Bevölkerung und damit auch auf der politischen Bühne auf erheblichen Widerstand. Nicht nur die Opposition, auch im eigenen Regierungslager wurde das Sparprogramm stark kritisiert oder abgelehnt. Auch das ungarische Verfassungsgericht erklärte einige Teile des Paketes für unwirksam. Doch nach Durchschreiten der Talsohle zeichnete sich 1996 eine wirtschaftliche Gesundung ab. Stagnierte die Konjunktur im ersten Halbjahr nahezu, war in der zweiten Jahreshälfte bereits eine deutliche Belebung zu verzeichnen. Die Akzeptanz in der Bevölkerung nahm zu. Man hatte sich nicht nur auf die vermeintlich für Ungarn typische Weise mit dem Unvermeidbaren arrangiert. Auch in Gesprächen mit dem nicht immer zutreffend derart genannten einfachen Bürger war zu bemerken, daß die Einsicht in die Notwendigkeit der rigiden Maßnahmen wuchs. Das Tagesgespräch war durchaus von der Interpretation volkswirtschaftlicher Daten beeinflußt, die den Einzelnen wegen der auch 1996 anhaltenden negativen Veränderungen der realen Einkommen um weitere fünf Prozent unmittelbar betrafen.

Angesichts der 1998 anstehenden Wahlen war 1997 ein entscheidendes Jahr. Eine wachstumsorientierte Politik war gefragt, die den Mann auf der Straße die Erfolge der Wirtschaftspolitik spüren ließ. Die Verbraucher sollten den Gürtel nicht noch enger schnallen müssen, wenn auch die öffentliche Hand weiterhin behutsam mit Staatsverbrauch und Investitionstätigkeit umgehen mußte.

Das politische Kalkül stimmte denn auch mit den wirtschaftlichen Realitäten überein. Das 1996 begonnene Wachstum setzte sich 1997 fort, beschleunigte sich im Laufe des Jahres und übertraf letztendlich die Prognosen um mehr als ein Prozent.

Bis heute ist die Faustformel gültig, daß das ungarische Wachstum ungefähr doppelt so hoch ist wie das durchschnittliche Wachstum in der Europäischen Union. Neben Exporten und Investitionen stieg auch die Inlandsnachfrage erstmals wieder leicht an. Der Rückgang des privaten Verbrauchs wurde gestoppt, die Reallöhne stiegen um fünf Prozent. Die Arbeitslosigkeit sank, wenngleich unterproportional zur wirtschaftlichen Entwicklung, auf 8,1 Prozent.

Ausländische Investoren hatten Vertrauen in das Land gefaßt. Im Privatisierungsprozeß konnte Ungarn seine führende Rolle unter den Reformstaaten weiter behaupten, wenngleich Polen 1997 erstmals einen höheren Zufluß ausländischer Direktinvestitionen verzeichnen konnte. Bis 1998 lag Ungarn jedoch bei dem Gesamtinvestitionsvolumen seit der Wende vorne, was angesichts der relativ geringen Größe des Landes zu den mit großem Abstand höchsten Pro-Kopf-Volumina an ausländischen Direktinvestitionen unter der Reformstaaten führte und die Vorreiterrolle verdeutlicht. Industrieminister Fazakas war ein Befürworter einer investitionsfördernden Wirtschaftspolitik, die insbesondere auf exportorientierte Industriezweige gerichtet war. Seine Absicht, derart die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu steigern und den Konjunkturmotor Export weiter ankurbeln zu können, konnte erfolgreich umgesetzt werden. In harter Währung gerechnet stieg der Export binnen Jahresfrist um mehr als 20 Prozent, wuchs die industrielle Produktion um mehr als zehn Prozent.

Er fand als vierter Wirtschaftsminister im erst zwei Jahre alten Kabinett Horn eine gute Ausgangsbasis für seinen Kurs vor. Ungarn war bei dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems das Land, das unter den RGW-Staaten die vergleichsweise beste Infrastruktur aufzuweisen hatte, das durch seinen undogmatischen wirtschaftspolitischen Kurs im letzten Jahrzehnt des Kádár-Regimes zumindest einen zeitlichen Vorsprung vor anderen Reformstaaten geschaffen hatte. Und die Standortqualitäten hatten sich seit der Wende stetig verbessert, nun mußten sie verkauft, an den Mann gebracht werden. Und dies ist erfolgreich gelungen.

Gute Voraussetzungen also für das Wahljahr 1998, mit dem die sozialistisch-liberale Koalition denn auch in den Wahlkampf startete. Ihr harter wirtschafts- und sozialpolitischer Kurs hatte sich augenscheinlich als der richtige erwiesen. In den Umfragen lag sie mit großem Abstand vor den zersplitterten Oppositionsparteien. Die wirtschaftlichen Erfolge lagen auf der Hand, wenngleich die Bevölkerung sie noch nicht unmittelbar und ausreichend genug spürte. Doch bei Betrachtung des vor wenigen Jahren gefürchteten und nun geschrumpften Zwillingsdefizits war deutlich nicht nur nationaler, sondern auch hart verdienter Stolz auf das Geleistete zu spüren.

Makroökonomische Indikatoren (1989 = 100)


Jahr

BIP

Reallohn pro Beschäftigtem

Privater
Verbrauch

Zahl der Beschäftigen

Produktivität

1989

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

1990

96,5

96,5

96,4

99,3

97,2

1991

84,5

89,9

90,8

96,0

88,4

1992

82,3

88,5

90,8

86,1

95,6

1993

81,7

85,0

92,4

77,7

105,1

1994

84,2

91,2

92,4

73,8

114,1

1995

85,5

80,2

86,3

72,1

118,6

1996

86,8

76,2

83,9

71,1

122,1

1997

90,9

79,7

85,5

70,8

128,4

1998

95,5

82,6

88,8

71,2

134,1

1999*

99,5

85,6

94,0

71,5

138,9

Quelle: Wirtschaftsnachrichten Ungarn, Dezember 1999; Angaben für 1999 geschätzt

Gefestigter Wachstumskurs der ungarischen Wirtschaft

Und doch kam alles anders als erwartet. Überraschend war vor allem der Wahlausgang im Mai 1998: Entgegen aller Prognosen zog eine Koalition aus den Jungdemokraten, die mit ihrem charismatischen Vorsitzenden Viktor Orbán zu Wendezeiten als Studentenpolitiker gestartet waren, gemeinsam mit der freilich kaum noch bedeutsamen Antall-Partei MDF und der Partei der Kleinlandwirte an den so erfolgsbewußten Regierenden vorbei. Es war der zweite politische Richtungswechsel nach der Wende. Nur Politik? Beileibe nicht. Trotz der Fortsetzung des grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Kurses traten andere Schwerpunkte in den Vordergrund, die Auswirkungen auf die wirtschaftliche Landschaft haben werden.

Wenngleich der Wahlkampf mit einem wirtschaftspolitisch wachstumsorientierten Kurs geführt worden war, hat sich die Entwicklung etwas verlangsamt. In der politischen Landschaft spielte denn auch die Frage eine große Rolle, ob es der jungen Mannschaft um den Mittdreißiger Orbán gelingen werde, an die Wachstumsraten des vergangenen Jahres anzuknüpfen. Eine Diskussion, die an den wirtschaftlichen Realitäten vorbeiging. Wie wichtig das Wachstum für die Einkommensverteilung und die Schuldentilgung auch sein mag, die Regierung hatte wesentliche Determinanten nicht in der Hand. Ungarn als kleines und auch rohstoffarmes Land ist extrem von äußeren Einflüssen abhängig, die sich nahezu geschlossen gegen das Wachstum verschworen hatten. Drei Faktoren sind ausschlaggebend:

Die Rußlandkrise, die mangels erheblicher Exporte dorthin zwar nicht den für das Land so wichtigen Außenhandel betraf, doch zu einem relativ deutlichen Abzug von Portefeuilleinvestitionen an der Budapester Börse führte und allgemein das wirtschaftliche Klima in Ungarn eintrübte. Schließlich war es doch noch gar nicht so lange her, daß man Ungarn in einem Zusammenhang mit den anderen planwirtschaftlichen Staaten in Osteuropa gesehen hatte. Wenngleich die Gefahr eines Überschwappens der Krise auf Mitteleuropa und damit Ungarn relativ schnell gebannt war, blieb die Unsicherheit bei den Finanzinvestoren, deren Anlagen nur zögerlich zurückflossen.

Der zweite Faktor liegt zumindest geographisch näher: Die Kosovokrise traf das Land, als es gerade zwei Wochen lang Mitglied der NATO war. Der devisenträchtige Tourismus war erheblich getroffen, berichteten doch ungarische Literaten selbst in deutschen Feuilletons von ihrem Schrecken vor der Auseinandersetzung. Und auch die Aktivitäten der Unternehmen, die von Ungarn aus Süd-Ost-Europa und den Balkan abdecken wollten, wurden beeinträchtigt. Die Unterbrechung der Wasserstraße Donau führte zu erheblichen Steigerungen der Frachtkosten, die die exportorientierte ungarische Wirtschaft belastete.

Insbesondere jedoch machte sich die nachlassende europäische Konjunktur und die krisenhaften Erscheinungen in Asien bemerkbar. Mehr als 70 Prozent der ungarischen Ausfuhren gehen in den Binnenmarkt der EU. Dies ist ein höherer Anteil als bei den deutschen Exporten. Einerseits ist der hohe Anteil ein Beleg für die de facto erfolgte Integration der ungarischen Wirtschaft in die der Union. Andererseits gilt auch bei einer Abschwächung des Wachstums im Binnenmarkt die erwähnte Faustformel, wonach das ungarische ungefähr doppelt so hoch wie das durchschnittliche Wachstum im Binnenmarkt ist.

Ähnliches gilt für das Zwillingsdefizit: Die Diskussion konzentrierte sich im Jahresverlauf darauf, daß die Prognosen bei weitem überschritten werden würden. Gegen Jahresende wurde es ruhiger: Die Anzeichen mehrten sich, daß das Leistungsbilanzdefizit sogar leicht unter Vorjahresniveau bleiben kann, ebenso das Budgetdefizit. Die Arbeitslosigkeit sank unter neun Prozent, die Inflation unter zehn. Die realen Einkommen hingegen stiegen um nahezu sechs Prozent., der private Verbrauch zog um real gut vier Prozent an. Ausländisches Kapital floß weiter in das Land und unterstützte die ungarische Wirtschaft, wobei die Prognosen aller Voraussicht nach übertroffen werden.

Die Fakten sind gut, die Stimmung jedoch nicht unbedingt. Forschungsinstitute sind unterschiedlicher Meinung, nicht nur in Ungarn. Doch hierzulande scheint ein politisch geprägter Graben auch durch die wirtschaftliche Landschaft zu gehen. Nicht nur parteipolitisch gefärbte bzw. parlamentarische Auseinandersetzungen sind von unterschiedlichen Grundhaltungen gekennzeichnet. Über unterschiedliche volkswirtschaftliche Schulen hinaus treten bereits bei der Feststellung von Tatbeständen Differenzen auf. Selbst im Kreis von Unternehmensführern sind heftig geführte Diskussionen zu beobachten, je nach politischem und/oder beruflichem Werdegang. Ein endgültiger Abschied der alten Eliten von der Macht? Ein unterschiedliches Verständnis in verschiedenen Generationen? Oder schlichtweg ein ganz normales Phänomen in einem postkommunistischen Reformstaat? Antworten darauf werden wohl auch nur mit einem gewissen Vorverständnis zu geben sein.

Regionalentwicklung, Ausbau der Infrastruktur

Unstreitig dürfte sein, daß mit erfolgter wirtschaftlicher Konsolidierung und Ausrichtung auf den für das Land richtigen Pfad neue, qualitative Aufgaben auf der Tagesordnung stehen. Ex-Wirtschaftsminister Chikán, der inzwischen die Funktion des Leiters des wirtschaftspolitischen Beraterstabes des Ministerpräsidenten einnimmt, setzte ausgeprägte Akzente bei der Beseitigung der regionalen Ungleichgewichte und der Förderung der sich langsam entwickelnden klein- und mittelständischen Unternehmen. Sein Nachfolger Matolcsy soll nach dem geglückten Nachweis seines Vorgängers, daß wirtschaftliches Wachstum und Gleichgewicht sich nicht gegenseitig ausschließen, diese Akzente nahezu projektbezogen durch verstärkte Regionalförderung und den Ausbau der Infrastruktur verstärken. Eines Nachweises, daß er das Wachstum nicht vernachlässigen wird, bedarf es nicht: Er gilt als der Wachstumspolitiker schlechthin in Ungarn.

Bei der Regionalentwicklung und der Infrastruktur liegt allerdings einiges im argen. Ausländische Investitionen, die sich seit der Wende auf mittlerweile 23 Mrd. Euro summieren und damit einen wesentlichen Beitrag zur Umstrukturierung leisteten, haben sich äußerst ungleich über das Land verteilt. Im Westen nahe der Grenze zu Österreich, insbesondere jedoch in Budapest und im Speckgürtel drumherum landeten mehr als drei Viertel des Engagements. Der Süden und insbesondere der Osten konnten nur wenige Investoren anziehen. Im Gebiet östlich der Theiß, das ungefähr ein Fünftel des Landes ausmacht, landeten gar weniger als ein Prozent der ausländischen Engagements.

Ein Blick auf die Straßenkarte liefert die Erklärung: Ausländische Investoren siedelten insbesondere in Regionen mit Autobahnanschluß. An Autobahnen und vierspurigen Schnellstraßen hat das Land jedoch nur rund 500 Kilometer zu bieten, davon kaum einen in den von den Investoren gemiedenen Gebieten.

Die traditionell landwirtschaftlich geprägten Gebiete haben nicht nur an den Segnungen der Investitionen bislang nicht teilgehabt. Sie haben auch durch die Umstrukturierung der Landwirtschaft erhebliche Beschäftigungseinbußen hinnehmen müssen. Betrug der Anteil der Agrarwirtschaft vor der Wende noch ein gutes Achtel am Inlandsprodukt und konnte er knapp ein Viertel der Beschäftigten auf sich vereinigen, so sind dies heute deutlich weniger als ein Zehntel mit einem Anteil von weniger als fünf Prozent am Sozialprodukt.

Die Umgestaltung hat sich gründlich ereignet: machten 1989 noch zu rund drei Vierteln Rohprodukte den Agrarexport aus, sind es heute in fast demselben Verhältnis verarbeitete Produkte. Die starken ausländischen Investitionen in der Lebensmittelverarbeitung haben bewirkt, daß der Strukturwandel vollzogen und die Branche international wettbewerbsfähig ist. Ein gelungenes Beispiel struktureller Veränderungen, die auch in den Reformstaaten nicht selbstverständlich sind und völlig ohne europäisches Beihilfesystem möglich waren.

Ausländische Direktinvestitionen und Förderung von KMU

Die Bedeutung des ausländischen Engagements für den Strukturwandel wurde bereits mehrfach erwähnt. Ungarische Unternehmen mit ausländischem Kapitalanteil tragen zu mehr als 70 Prozent zum ungarischen Export bei. Volkswirtschaftlich eine unbedenkliche Entwicklung, erfolgt doch die Wertschöpfung in Ungarn. Doch macht diese Ziffer deutlich, welchen Stellenwert die nach der Wende erfolgten Ansiedlungen für die Wirtschaft erlangt haben.

Gerade wegen des Stellenwertes nehmen sie eine gewisse Außenseiterstellung ein. Sie verfügen über modernes Produktions- und Managementwissen, das in Ungarn eigenständig erarbeitet werden muß, und sie konnten Spitzenkräfte mit Schlüsselqualifikationen rekrutieren, die für sie im Gegensatz zu ungarischen Wettbewerbern auch nach dem Anstieg der Arbeitskosten bezahlbar blieben. Sie sind kapitalstark und können notwendige Investitionen im Gegensatz zu den meisten Unternehmen ohne ausländischen Kapitalanteil finanzieren. Dadurch erreichen sie eine für die meisten einheimischen Unternehmen nicht mögliche Produktivität und vergrößern dergestalt die bereits bestehenden Entwicklungsunterschiede. Sie können auf angestammte Auslandsmärkte zurückgreifen, die von inländischen Unternehmen erst mühsam und kostenintensiv erschlossen werden müssen, und sie erfreuen sich einer außerordentlichen politischen Aufmerksamkeit, die kapitalschwachen nationalen Unternehmen nicht immer zuteil geworden ist.

Mit dem neuerlichen Regierungswechsel hielt auch die verstärkte Förderung der klein- und mittelständischen Betriebe (KMU) ohne ausländischen Kapitalanteil in das wirtschaftspolitische Vokabular Einzug. Angesichts der erklärten Absicht, die Entstehung bürgerlicher Strukturen wo irgend möglich zu fördern, war dies sicherlich nicht nur wirtschaftlich begründet.

Wie sieht denn nun die Unternehmenslandschaft in Ungarn aus? Etwas mehr als 860.000 gewerblich tätige Einheiten vermeldete das Statistische Amt im vierten Quartal 1999 für Ungarn. Diese Zahl erscheint bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von circa 3,5 Mio. Hoch. Dies hat mehrere Ursachen:

Zur Vermeidung von Beschäftigungslosigkeit haben sich zahlreiche Mikrounternehmen gegründet, die vornehmlich Dienstleistungen anbieten oder aber angesichts liberalisierter Öffnungszeiten auch erfolgreich im Einzelhandel tätig sein können. Des Weiteren ist die staatliche Abschöpfung der Privaten in Ungarn, wie auch in anderen Reformstaaten, zur Finanzierung der außerordentlichen Aufgaben hoch. Bereits ab einem Jahreseinkommen von ungefähr 9.000 DM wird der Spitzensteuersatz von derzeit 40 Prozent erreicht. Freibeträge bestehen nur in einer vernachlässigenswerten Größenordnung. Die Beiträge zur Sozialversicherung liegen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei ungefähr 50 Prozent, wobei der Arbeitgeber davon nahezu drei Viertel zu tragen hat. Es ist nachvollziehbar, daß sämtliche legalen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, der Abgabenlast so weit wie möglich durch eine de iure selbständige Tätigkeit zu entgehen, wenngleich sie de facto in den betrieblichen Ablauf des Auftraggebers integriert ist.

Eurostat unternahm eine Gewichtung der nach Brüssel gemeldeten Zahlen und beschränkte sich bei seiner im Herbst erfolgten Analyse auf rund 80.000 Unternehmen. Von diesen beschäftigen immer noch zwei Drittel weniger als zehn Mitarbeiter, 27 Prozent zwischen zehn und 50 Mitarbeitern, 6 Prozent zwischen 50 und 250 Mitarbeitern und 2 Prozent mehr als 250 Mitarbeiter. Nochmals sei erwähnt, daß die Masse der unternehmerisch oder freiberuflich Tätigen sich auf rund 800.000 weitere Unternehmen beläuft.

Der Zugang zu Finanzmitteln bleibt ihnen trotz bis in den Mittelstand hinein extremer Unterkapitalisierung weitgehend versagt, zumal wegen noch bestehender Lücken im zivilrechtlichen Bereich verwertbare Sicherheiten kaum gegeben werden können. Ist dies dennoch der Fall, sind bei Kreditaufnahme in ungarischer Währung Zinsen von mehr als 20 Prozent zu entrichten, die von kaum einem der jungen Unternehmen erwirtschaftet werden können.

Die Aktivitäten der Mittelstandsförderung beinhalten denn auch Zinssubventionen zur Modernisierung von Anlagen und Fertigungsabläufen. Gefördert wird die Verzahnung von mittelständischen Unternehmen mit ausländischen Investoren. Diese suchen häufig lokale Zulieferer, die ihre potentiellen Partner freilich weder in ausgeprägtem Maße mit know-how noch mit Kapital ausstatten wollen. Folgerichtig werden denn auch Unterstützungen zur Rationalisierung und Zertifizierung von betrieblichen Abläufen gewährt. Gelingt es, die Verzahnung herzustellen, ist damit jedenfalls ein Teil der Integrationsaufgabe ausländischer Investoren erledigt.

Ihnen obliegt es, nicht nur eine wirtschaftliche Integration zu bewerkstelligen, sondern darüber hinaus auch Teil der ungarischen Entwicklung in gesellschaftlichen Bereichen zu sein. Wirtschaft ist stets Teil einer Gesellschaft, kann ohne sie nicht effektiv funktionieren. Ungarische Unternehmen mit ausländischem Kapitalanteil haben sich dieser Aufgabe gestellt. Ihr Engagement geht weit über die gesellschaftlichen, kulturellen und auch karitativen Aktivitäten hinaus, die man in West-europa aus Gründen von Marktpositionierung und PR unternimmt. Sie haben eine privilegierte Stellung inne, und sie sind sich der Interdependenz zwischen dieser Situation und ihren wirtschaftlichen Perspektiven bewußt. Sie können am Standort Ungarn nur dann langfristig erfolgreich produzieren, vertreiben oder sonstige Dienstleistungen erbringen, wenn sich auch ihr Umfeld weiterhin positiv entwickelt und verfestigt. Insbesondere europäische Investoren, die der Anzahl nach mehr als und dem Volumen nach fast drei Viertel aller Investitionen ausmachen, denken langfristig und sind an kurzfristig erzielbaren Erträgen weniger interessiert.

Für sie ist die Integration Ungarns in den Binnenmarkt das wesentliche Datum. Fast die Hälfte von ihnen will sein Engagement in Ungarn verstärken, wenn es denn so weit ist.

Perspektiven

So ist denn auch die möglichst frühzeitige Aufnahme in die Europäische Union erklärtes wirtschaftspolitisches Ziel mit hoher Priorität. Seit 1991 besteht ein Assoziierungsabkommen, seit 1998 laufen die konkreten Beitrittsverhandlungen. Die Mehrheit der Kapitel sind bereits erfolgreich abgeschlossen.

Gleichwohl macht sich eine gewisse Ernüchterung breit: wie in allen anderen Reformstaaten, die in der ersten Reihe der Kandidaten stehen, sinkt die wirtschaftsfreundliche Einstellung wegen der Transformationserfahrungen, die die Menschen im vergangenen Jahrzehnt machten. Doch der Zustimmungsgrad, das Interesse der Menschen an der Re-Integration in die westliche Wertegemeinschaft ist in Ungarn im Vergleich zu anderen Reformstaaten mit am höchsten ausgeprägt. Als Parallele mag das Referendum über den Beitritt zur NATO herangezogen werden. Die Beobachter waren nicht sicher, ob es weniger als ein Jahrzehnt nach der Lösung aus dem Warschauer Pakt bereits ein klares positives Votum geben würde. Es fiel dann eindeutig mit mehr als achtzigprozentiger Zustimmung aus. Eine vergleichbare Haltung wird bei fortschreitender wirtschaftlicher Stabilisierung und Gesundung gegenüber einem EU-Beitritt zu erwarten sein.

Was bedeutet dies für die Wirtschaft? Sie klagt vernehmlich über eine ausufernde Bürokratie. Mehr als 800 wirtschaftsrelevante Gesetze sind zwecks Übernahme des acquis communitaire im letzten Jahrzehnt in Ungarn verändert worden. Mit deutschen Augen betrachtet, eine Leistung, die der Übernahme einer moslemisch geprägten Wirtschaftsordnung und vor allem der Implantierung moslemischen Rechts in Deutschland als naturgemäß hinkendem Vergleich gleichkommt. Innerhalb der kurzen Zeitspanne kann nicht alles perfekt gelöst werden. Regelungslücken und Unebenheiten werden denn auch stetig nachgebessert.

Weniger die Rechtsquellen, als vielmehr deren Anwendung sind jedoch das eigentliche Problem. Sie erfolgt häufig positivistisch, es fehlt an einer Ermessenskultur verantwortlich handelnder Beamten. Die Verwaltung scheint noch zu hierarchisch und trotz aller ungarischer Herzlichkeit aus alten Zeiten von einem abgrenzenden Verständnis zum Bürger geprägt. Das Subordinationsverständnis wird besonders häufig beim Zoll beklagt, wenngleich dieser über ein EU-kompatibles Vorschriftenwerk und auch moderne EDV-Technik verfügt. Er scheint symptomatisch zu sein für die von der Europäischen Kommission angeregte Verwaltungsreform, die, von Einzelbereichen abgesehen, seit der Wende noch nicht stattfand.

Der Wegfall von Grenzkontrollen ist für einige hundert ausländische Unternehmen bereits Realität. Sie siedelten in Zollfreigebieten, sind zolltechnisch mithin Ausländer. Zu einer Nagelprobe für die Investorenfreundlichkeit Ungarns kann die Abwicklung dieser Gebiete bei Einbeziehung des Landes in den Binnenmarkt werden. Wie und gegebenfalls mit welchen Werten werden die Gebiete in das Inland integriert? Mit welchen Abgaben werden Unternehmen belastet, die im Extremfall zur Unrentabilität der Investition führen könnten? Insgesamt werden mit den Binnenmarktsverhältnissen vereinbare Verwaltungsstandards den Unternehmen jedoch weitere Perspektiven eröffnen, die zu einem noch stärkeren Engagement führen werden.

Die Ungarn haben sich nicht erst seit der Wende den Ruf erworben, flexible, kreative und intelligente Lösungen zu entwickeln. Dieses Potential haben zahlreiche Unternehmen mit der Verlagerung von Forschungs- und Entwicklungseinheiten für sich entdeckt, sind doch in Westeuropa und insbesondere in Deutschland Berufsgruppen kaum zu rekrutieren, die in Ungarn gut ausgebildet zur Verfügung stehen. Angesichts der noch nachwirkenden einheitlichen Vergütungsstruktur sind sie zudem verhältnismäßig deutlich günstiger als Facharbeiter. Die Geltung europäischer Rahmenbedingungen wird diese Tendenz verstärken und auch Aktivitäten ohne ausländische Beteiligung in Gang setzen. Den Begriff des europäischen Silicon Valley haben zahlreiche Regionen bereits für sich in Anspruch genommen. In Ungarn, dem Land der Tüftler und Denker, könnte er Realität werden.

Schließlich wird der Binnenmarkt den Standort Ungarn für Distributeure attraktiver erscheinen lassen. Denn Ungarn ist Mitglied der CEFTA, der mitteleuropäischen Freihandelszone. Deren Mitglieder wie die Slowakei, Bulgarien und Rumänien stehen nicht in der ersten Reihe der Beitrittskandidatenstaaten. Angesichts der ungarischen Anstrengungen, die regionale Vorreiterrolle weiter zu bewahren, angesichts des nun auch mit Unterstützung aus europäischen Strukturfonds geplanten zügigen weiteren Ausbaus der Infrastruktur könnte Ungarn bzw. Budapest eine Rolle zukommen, die Österreich bzw. Wien über Jahrzehnte innehatte. Fast die Hälfte der ehemals dort ansässigen regionalen Zentralen größerer Unternehmen hat diese Funktion bereits Richtung Osten nach Ungarn verlagert.

Entwicklung in der Region

Diese Rolle könnte Ungarn nicht zuletzt wegen der Krise in Jugoslawien zuwachsen. Nicht nur bei dem Transfer demokratischen Gedankengutes, sondern auch bei dem wirtschaftlichen Wiederaufbau wird Ungarn absehbar eine besondere Bedeutung zukommen. Denn Schäden an Infrastruktur und industriellen Anlagen sind während des Kosovokonfliktes neben Belgrad vor allem in der Vojvodina entstanden, in der eine starke ungarische Minderheit lebt. Ihre Autonomie, die sogar ein eigenes Parlament umfaßte, ist ebenso wie die im Kosovo aufgehoben worden. Neben den Treffen von Oppositionspolitikern mit EU- und ungarischen Vertretern, die in der ungarischen Grenzstadt Szeged stattfinden, geben sich in Budapest mittlerweile auch überseeische Unternehmensvertreter auf dem Weg in die Vojvodina die Klinke in die Hand. Europa ist ordnungspolitisch gefordert, und das Hineinwachsen Ungarns in die europäischen Strukturen wird seine Rolle bei der Erfüllung dieser Aufgaben auch in wirtschaftlicher Hinsicht stärken.

Ungarische Minderheiten sind, seitdem das Land durch den Vertrag von Trianon 1920 zwei Drittel seines damaligen Territoriums verlor, rund um die Grenzen anzutreffen. Daß dieser Umstand von Unternehmen genutzt wird, zeigen allein rund dreißig von ihnen mit deutschem Kapitalanteil. Sie erwarben oder gründeten in Ungarn, erweiterten aber oder kauften dazu in den Grenzregionen anliegender Länder. Ungarisches Management steuert nun die Tochtergesellschaften beispielsweise in Rumänien, das im Gegensatz zu Ungarn noch höchst attraktive Lohnkosten zu bieten hat. Die Kostenschübe, die seit 1994 in Ungarn zu verzeichnen waren, haben diese Überlegungen für lohnintensive Fertigungen beschleunigt.

Rund dreißig Prozent der Unternehmen mit ausländischem Kapitalanteil sind über die Lan-desgrenzen hinaus tätig. Ist Ungarn in der Lage, diesen aufgrund seiner geostrategischen Position gegebenen Brückenkopf weiter auszubauen, wird sich daraus ein erhebliches Potential für seine weitere Entwicklung ergeben.


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