FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Staatliche Unabhängigkeit

1991 traten voraussetzungslos, gleichsam als "accidental states", fünf neue Staaten in einer Region in Erscheinung, die der internationalen Wahrnehmung lange Zeit entschwunden war. Dabei hatte Mittelasien in älteren Geschichtsperioden, z.B. unter der Herrschaft Timur Lenks und seiner Nachfolger im 14.-15.Jahrhundert, in dem, was man heute das "internationale System" nennen würde, durchaus seine Position eingenommen. Der Einordnung ins gegenwärtige internationale System galt die politische Energie der jungen Staaten in den ersten Jahren der Unabhängigkeit. Die Unionsrepubliken hatten keine Erfahrung mit der Entfaltung diplomatischer Beziehungen, sie hatten keine diplomatischen Kader. Ein Land wie Kasachstan holte dieses Manko rasch nach. Bereits bis Ende 1993 war der junge Staat von 110 Staaten anerkannt worden und richtete seine Botschaften im Ausland ein. Ähnlich energisch gingen - mit Ausnahme des durch Bürgerkrieg verhinderten Tadschikistans - die anderen Staaten an den Ausbau außenpolitischer Beziehungen heran, wobei sich im Falle Turkmenistans ein Kontrast zwischen den außenpolitischen Ambitionen und der Abgeschlossenheit der politischen Kultur des Landes mit seinem anachronistischen Führerkult zeigte.

Es wäre eine Lebenslüge, wenn die neuen Staaten ihre Unabhängigkeit als erkämpft betrachteten. Es gab keinen zentralasiatischen Kenyatta oder Gandhi, ein lebendes Symbol für nationalen Unabhängigkeitskampf zur ideologischen Untermauerung der Eigenstaatlichkeit in ihrer Anfangsphase. Die lokalen bürokratischen Eliten hatten am Sowjetsystem festgehalten, das allerdings zugunsten der Unionsrepubliken dezentralisiert werden sollte. Beim Gorbatschowschen Referendum für den Erhalt und die Erneuerung der Sowjetunion vom März 1991 war die Zustimmung in Zentralasien besonders hoch gewesen. Wenig später lag dann das Votum bei Referenden für die staatliche Unabhängigkeit ähnlich hoch. Die Unabhängigkeitserklärungen waren Resultat der politischen Eruptionen nach dem gescheiterten Putschversuch in Moskau im August 1991 und der nachfolgenden Liquidierung der Sowjetunion. Danach wurde der Begriff der Souveränität rasch zur zentralen politischen Vokabel. Frappant war dieser Wandel wiederum in Turkmenistan, wo die Republikführung, die den Zerfall des Sowjetsystems als Schock erlebt hatte, die staatliche Unabhängigkeit nun als Quintessenz des historischen Bestrebens der Turkmenen seit Jahrhunderten darstellte.

Es ist allerdings die Frage, wie weit das Bewußtsein nationalstaatlicher Souveränität nicht nur von politischen Eliten, sondern von der breiten Bevölkerung geteilt wird. Wird der Zerfall des Sowjetimperiums als die große Befreiungstatsache gesehen? Die Begleitumstände der nachsowjetischen Transformation erlaubten dies kaum, denn alle Gliedstaaten des zerbrochenen kommunistischen Vielvölkerreichs wurden zunächst um Jahre zurückgeworfen, was ihren Lebensstandard und ihre makroökonomischen Daten betrifft. In Kasachstan übte z.B. der Schriftsteller Olshas Sulejmenow, der Ende der achtziger Jahre eine ökologische Bürgerbewegung gegen die kommunistische Bürokratie geleitet hatte, Kritik an den Umständen der Auflösung des Imperiums und ihren Folgen. Laut Meinungsumfragen während des Parlamentswahlkampfs im Winter 1995 bekannten sich aber trotz gewaltiger sozialer Probleme etwa 80% der befragten Kasachen zu ihrem unabhängig gewordenen Staat und reagierten ablehnend auf sowjetnostalgische Parolen, mit denen die Kommunistische Partei ihre Kampagne gestaltete. Solche Nostalgie wird heute sogar als staatsfeindlich geahndet. Präsident Nasarbajew, der selber die Umstände der Reichsauflösung kritisiert hatte, warnte restaurative Kräfte davor, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

In der ersten Phase der Unabhängigkeit fehlten noch viele Attribute nationaler Souveränität, wie z.B. eigene Währungen, aus eigener Kraft befestigte Staatsgrenzen, nationale Streitkräfte u.a. Sie wurden nach und nach entwickelt. Insbesondere die nationalen Währungen sind inzwischen etabliert und halbwegs stabilisiert, wobei Kirgistan sogar von allen GUS-Staaten die am wenigsten inflationäre Nationalwährung hatte. In bezug auf andere Souveränitätsattribute bestehen nach wie vor Abhängigkeiten von Rußland, das z.B. in den meisten GUS-Staaten (mit Ausnahme der Ukraine, Aserbaidschans und Usbekistans) am Schutz der exsowjetischen Außengrenzen beteiligt ist und Militärbasen im sogenannten "nahen Ausland" unterhält.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

Previous Page TOC Next Page