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Zusammenfassung

Der Wiedereintritt der zentralasiatischen Region in die weltpolitische Arena im Zuge der Auflösung der Sowjetunion wird von der Außenwelt unter dem Aspekt der geostrategisch-geowirtschaftlichen Bedeutung, der regionalen Konfliktherde und der Gegensätze zwischen westlichen und östlichen Kulturen wahrgenommen. Die fünf neuen, gleichsam aus Zufall entstandenen zentralasiatischen Staaten (Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan) müssen simultan ihre nationale Souveränität und Identität festigen, die innere und regionale Stabilität angesichts starker ethnischer und politischer Konfliktpotentiale sichern, im Kontext eines dramatischen Produktionseinbruchs ihre Volkswirtschaften neu organisieren und womöglich demokratische politische Institutionen aufbauen. Mangels nationaler Geschichte versuchen sie, historische Anknüpfungspunkte zu nationalen Symbolen umzudeuten. Überall setzten sich autoritäre Herrschaftsstrukturen durch.

Tadschikistan zerfiel im bewaffneten Kampf zwischen Clan-gestützten (und ideologisch etikettierten) Anwärtern auf die Macht. Im Hinblick auf die vielfältigen Konfliktlinien und Sicherheitsrisiken sowie die schwachen integrativen Institutionen wurde Stabilität zur obersten politischen Priorität. Am demokratischsten präsentiert sich noch Kirgistan, das jedoch ebenfalls dem Trend zur Präsidialautokratie folgt. Die zentralasiatischen Republiken sehen sich durch interne Konflikte in ihren Nachbarländern (Tadschikistan, Afghanistan), durch die Perspektiven massenhafter Migration und transnational organisierter Kriminalität bedroht. Hinzu kommen die Gefahren interner ethnischer Heterogenität (vor allem Kasachstan). Der wirtschaftliche Verfall als Folge des Zusammenbruchs früherer Wirtschaftsverflechtungen und Wirtschaftsordnung erhöht die Gefahren für die politische Stabilität. Politisch-administrative Unterentwicklung (u.a. mangelnde Rechtssicherheit) erschwert andererseits die wirtschaftliche Erholung. Hinzu kommen dramatische Umweltprobleme aus sowjetischer Zeit und rasches Bevölkerungswachstum.

Die Außenbeziehungen der neuen Länder werden von den alten Verbindungen zu Rußland und zur GUS, von regionalen zentralasiatischen Integrationsansätzen (verknüpft mit usbekischen Hegemoniebestrebungen), von den rivalisierenden Interessen der südlichen Nachbarn Iran und Pakistan, dem damit verwobenen Konflikt zwischen Iran und USA sowie einer zunehmenden russisch-amerikanischen Rivalität geformt. Die ethnische Verwandtschaft zur Türkei trat bislang ebenso wenig als außenpolitischer Faktor hervor wie eine islamische Orientierung. Auch der Iran hielt sich angesichts geringer Erfolgschancen in dieser Beziehung sehr zurück und konzentrierte sich auf pragmatische-realpolitische Interessen. Ein wichtiger Ansatzpunkt äußeren Interesses sind die künftigen Verkehrsverbindungen und Pipelines für zentralasiatisches Erdöl und Erdgas. Im Zusammenhang mit der geostrategischen Aufwertung der Region nimmt auch äußerer Einfluß auf den afghanischen Bürgerkrieg wieder zu.

Nach dem Zerfall der UdSSR wurde über die Entwicklungen in der "orientalischen" Peripherie des zerbrochenen Vielvölkerreichs spekuliert. Mittelasien und Kasachstan, bisher als "weicher Unterleib" der Sowjetunion wahrgenommen, mußten als eigenwertige Regionen von einer breiteren internationalen Öffentlichkeit erst entdeckt werden. Dabei bestimmten drei Grundmuster die Wahrnehmung: 1. das geostrategisch-geowirtschaftliche, das ihren Rohstoffreichtum und die Exportprobleme ins Blickfeld rückte und Konkurrenz um Einfluß in ihr zwischen einer wachsenden Zahl von Akteuren registrierte; 2. das konfliktorientierte, das den Blick auf ethnische, territoriale und politische Konfliktpotentiale richtete und 3. jenes Muster, das Samuel Huntingtons umstrittenes Stichwort vom clash of civilizations lieferte und das sich an Kultur-und Zivilisationsräumen orientiert. Für die Suche nach Bruchlinien für Zivilisationskonflikte bietet ein Region wie Zentralasien, eine klassische Kreuzungszone der Kulturen und Religionen, ideales Terrain.

Aus solchen Wahrnehmungsmustern entstanden voreilige Prognosen. Das betraf z.B. die Erwartung, daß sich die "muslimischen" Nachfolgestaaten der Sowjetunion in die mittelöstliche Staatenwelt unter rascher Abwendung von Rußland integrieren würden; eine überzogene Wahrnehmung der Konkurrenz zwischen der Türkei und dem Iran um die Seelen der "vergessenen Muslime" der Ex-Sowjetunion, Prognosen über eine Expansion des "islamischen Fundamentalismus" in Zentralasien, die den spezifischen ethnokulturellen und religiösen Verhältnissen in der Region nicht gerecht wurden. Die Prognosen und Interpretationen regionaler Entwicklungen, z.B. der Konflikte in Tadschikistan, bedurften der Differenzierung und eines genaueren Blicks auf die regionsspezifischen Verhältnisse. Das galt auch für Erwartungen des Westens an den Reformprozeß im Süden der GUS. Man mußte lernen, daß sowjetische Nachfolgestaaten insgesamt und besonders in dieser Region kaum in der Lage sein konnten, enorme Aufgaben auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig zu bewältigen - nämlich die Festigung nationaler Souveränität bei starken, aus der sowjetischen Periode ererbten Abhängigkeitsverhältnissen und in den Grenzen von Staaten, die keine historisch gewachsenen Nationalstaaten sind, die Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit bei hohem Potential für soziale und ethnische Konflikte, die Wirtschaftstransformation unter den Bedingungen einer dramatischen Wirtschaftskrise und die Umwandlung kommunistischer Herrschaftsstrukturen in demokratische Institutionen, die in der hier behandelten Region an keine historischen Traditionen anknüpfen können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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