FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




4. Gesellschaftliche Stabilität und EU-Beitritt

Dieses Strategiekonzept einer raschen Erweiterung, die dank geringer Kosten und großer politischer Nutzen ratsam erscheint, verdrängt allerdings jede realistische Analyse und Debatte der wirklichen Effekte sowie der daher notwendigen Politiken, um einen Stabilisierungseffekt zu sichern. Im Lager der Europapolitiker bestehen zwar Bedenken bezüglich der Wirkungen der Erweiterung auf die Union selbst, aber kaum Überlegungen, die die Auswirkungen für Ostmitteleuropa betreffen. In der Tat würde aber ein EU-Beitritt unter den gegenwärtigen Bedingungen und erst recht nach einer Reform zur Reduzierung der Struktur- und Agrarausgaben einige der oben skizzierten Krisenpotentiale in Ostmitteleuropa verschärfen, wenn nicht entsprechende Maßnahmen dagegen ergriffen werden. Die Verschränkung von Transformation und Integration erlaubt eine Vielfalt von Entwicklungswegen, die unterschiedliche gesellschaftliche und politische Interessenlagen betreffen und auslösen.

Bei der Süderweiterung der EU haben alle Beitrittsländer hohe Handelsdefizite gegenüber der EU entwickelt, die sie durch die Transfereinnahmen aus dem EU-Haushalt und durch gestiegene Direktinvestitionen finanzieren konnten. Dies ist auch für Ostmitteleuropa zu erwarten. Der Stabilisierung der export-orientierten Sektoren steht damit ein zunehmender Konkurrenzdruck für die Branchen gegenüber, die mit Importen konkurrieren. Dabei müssen sie sich nicht nur mit Einfuhren aus der EU messen, sondern auch aus Drittländern mit ähnlich niedrigen Löhnen wie in Ostmitteleuropa (z.B. AKP-Staaten, Südostasien), da sie als EU-Mitglieder den gleichen Außenzollschutz wie die EU gegenüber Drittländern anwenden müssen. Umgekehrt könnte die Übernahme des EU-Protektionismus bei manchen Hochtechnologie-Gütern (z.B. Autos, EDV, Kapitalgüter), die zwar die Alt-EU, aber nicht die Beitrittsländer anbieten und daher schützen, die Importkosten erhöhen. Dieses Problem deutete sich bei der Autoindustrie an, als europäische Investoren in Ostmitteleuropa höheren Zollschutz durchsetzten.

Die Wettbewerbsfähigkeit Ostmitteleuropas gründete sich bisher vor allem auf niedrige Kosten dank geringer Löhne und schwacher Währungen. Das Gewicht des intra-industriellen Handels - ein Indikator für die Position auf der Stufenleiter zwischen einer komplementären Peripherie- und einer kompetitiven Mitgliedsökonomie - liegt im Handel zwischen EU und Ostmitteleuropa etwa zwischen dem des Maghreb und dem Südostasiens. Eine weitere Modernisierung bedarf einer gezielten Entwicklung der systemischen Wettbewerbsfähigkeit im Zusammenspiel von Privatsektor, Gesellschaft und Staat. Schutz und Förderung der einheimischen Anbieter, etwa durch Subventionen, setzen in vielen Fällen die Zustimmung durch die EU voraus. Damit wird eine selektive Industriepolitik, wie sie etwa ostasiatische Länder zur nachholenden Modernisierung betrieben haben, praktisch sehr schwierig, wenn nicht unmöglich.

Die ostasiatischen Modernisierer zeichneten sich auch durch eine relativ egalitäre Einkommensverteilung aus. Auch dieser Aspekt einer erfolgreichen Aufholstrategie läßt sich in Ostmitteleuropa im EU-Kontext mit seinen liberalisierten Märkten und harmonisierten Politiken nur eingeschränkt nachvollziehen. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes könnte vor allem bei höher qualifizierten Arbeitnehmern zu Einkommenssteigerungen führen, die den Kostendruck der Unternehmen erhöhen. Die Liberalisierung der Kapitalmärkte zersetzt die immer noch bestehenden privatisierungsbedingten Verkrustungen zwischen Unternehmen, Investitionsfonds, Banken und Staat und erzwingt weitere Produktivitätssteigerungen, die die Arbeitslosigkeit erhöhen dürften. Ausländische Investoren setzen best practice Standards und treiben die Preise wichtiger knapper Inputs hoch. Besonders kritisch ist der Agrarsektor, in dem Nachfrageeinbrüche nach der Preisfreigabe, Privatisierung und eine wettbewerbsschwache Nahrungsmittelindustrie zu erheblichen Beschäftigungseinbrüchen um ca. 30% geführt haben und der je nach Design der reformierten Agrarpolitik zusätzlichen Belastungen durch die erheblich modernere EU-Nahrungsmittelproduktion ausgesetzt wird. Die grenznahen Regionen werden am stärksten vom EU-Beitritt profitieren, womit sich das schon vorhandene regionale Entwicklungsgefälle in Ostmitteleuropa weiter verschärft. Interregionale Konflikte erhöhen den Bedarf an Ausgleichs- und Partzipationsmechanismen unterhalb der zentralstaatlichen Ebene, die in Ostmitteleuropa gerade fehlen.

Wirtschaftspolitisch verengt die Beitrittsperspektive die Handlungsspielräume für eine aktive Modernisierungspolitik. Die Transfers aus den Strukturfonds der EU würden - bei der allerdings unwahrscheinlichen Anwendung der gegenwärtigen Regelungen - zwar enorme Zuflüsse bringen, aber auch die nationalen Haushalte in großem Umfang vorstrukturieren, da sie vom Empfängerland eine 50 prozentige Kofinanzierung erfordern. Bei Zuflüssen in Höhe von 3-4% des Empfänger-BSPs bedeutet dies Beiträge in Höhe von ca. 12% der Staatsausgaben, also wahrscheinlich mehr als die gesamten staatlichen Investitionen. Die Maastrichtkriterien erzwingen eine prioritäre Stabilisierung in Form geringer Inflation, niedriger Haushaltsdefizite und relativ sinkender Staatsverschuldung. Der Wechselkurs steht nur noch bedingt als Schutzmechanismus durch Abwertung oder Unterbewertung zur Verfügung.

Manche der Anpassungszwänge, die sich durch den Beitrittsprozeß ergeben, verlangen lediglich Politiken, die ohnehin notwendig und sinnvoll für die Entwicklung der Länder sind. Dazu gehören etwa eine solide Geld- und Fiskalpolitik. Aber im Kontext politischer Stabilitätsprobleme zählen weniger die ökonomische Sinnhaftigkeit als viel mehr die sozialen Wirkungen und die politische Legitimation der Maßnahmen. Letztere mag durch einen Verweis auf Brüssel erleichtert werden, aber um den Preis einer möglichen Stärkung antieuropäischer Ressentiments.

Die meisten wirtschaftlichen Risiken fallen auf die gesellschaftlichen Gruppen und Schichten, die schon zu den Verlierern des bisherigen Reformprozesses zählen (Bauern, Arbeiter, vor allem in Branchen und Regionen mit nur geringen Exportchancen). Damit drohen sich die antieuropäischen Ressentiments mit der ohnehin vorhandenen Reformskepsis zu verknüpfen. Die bisher registrierte hohe Europabefürwortung in Ostmitteleuropa verdankt sich wahrscheinlich weitgehender Unkenntnis über die Bedingungen und Wirkungen einer EU-Vollmitgliedschaft sowie der (falschen) Annahme, eine Mitgliedschaft brächte rasch westeuropäische Lebensverhältnisse für alle. Für diese Vermutung spricht u.a. die Tatsache, daß bei den gleichen Umfragen der Anteil der proeuropäischen Stellungnahmen deutlich über dem zugunsten von Demokratie und Marktwirtschaft lag (1992 wollten um die 80% der Befragten in die EU, aber nur um 60% befürworteten die Marktwirtschaft und knapp 30% waren mit der Demokratisierung zufrieden). Viele Ostmitteleuropäer mißtrauen dem westeuropäischen Vorbild und wünschen eine Entwicklung auf der Grundlage eigener Werte und Traditionen (63% in Tschechien, 58% in der Slowakei, 63% in Ungarn). Die Spaltung der Tschechoslowakei belegt soziokulturelle Präferenzen für nationale Alleingänge gegen ökonomisch rationale Integrationsmodelle.

Die Selbstbeschränkung des Handlungsspielraums der Regierungen im Zuge der EU-Integration könnte - wie oben mehrfach ausgeführt - die Legitimationsprobleme angesichts nationaler Werteorientierungen und schwacher Leistungen verschärfen. Die EU-Mitgliedschaft bietet aber noch ein zusätzliches spezifisches Demokratieproblem: das Demokratiedefizit der europäischen Mehrebenenpolitik, die ein wachsendes Spektrum supranationaler Entscheidungen direkter demokratischer Kontrolle entzieht. Sie erlaubt den Regierungen, nach innen Verantwortung mit Verweis auf Brüssel abzulegen oder - wahlweise - die Anerkennung für europäische Erfolge einzuheimsen. Der intergouvernementale Entscheidungsprozeß in Brüssel privilegiert die Regierungen vor den Parteien und gesellschaftlichen Gruppen durch ein weitgehendes Monopol über Informationen. So verführerisch diese Lage für die Regierungen und politischen Eliten ist, so gefährlich ist sie für ihre Legitimität und die Akzeptanz der mittels dieses Systems gefällten Entscheidungen, wie die westeuropäischen Regierungen schmerzlich im Zuge der Referenden zu Maastricht erfahren mußten.

Im Ergebnis droht auch in Ostmitteleuropa die Frage des EU-Beitritts das politische Spektrum zu polarisieren. Im Zuge einer Parallelisierung von Bruchlinien könnten sich Reformverlierer, Nationalisten und Vertreter eines interventionistischen Staates verbünden, da sie alle ihre Interessen und Werte gleichermaßen gefährdet sehen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

Previous Page TOC Next Page