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TEILDOKUMENT:




2. Strukturprobleme der demokratischen Systeme Ostmitteleuropas

Ein, wenn nicht das Grundproblem der ostmitteleuropäischen Demokratien ist ihre kurze Geschichte. Es gibt keine nennenswerten Bevölkerungsteile, die Erfahrung mit demokratischen Systemen haben, mit Ausnahme einiger mindestens Fünfundsiebzigjähriger in der Slowakei und Tschechien. Dies gilt insbesondere für die politischen Eliten und die Verwaltung, die daher oft im undemokratischen "alten" Stil an Probleme und Konflikte herangehen. Solche und andere Fehler der demokratischen Regierungen lastet die unerfahrene Öffentlichkeit dann schnell dem demokratischen System schlechthin an.

Die meisten Menschen in Ostmitteleuropa lehnten die kommunistische Parteidiktatur ab. Dieses System bezeichnete sich aber selbst als "Demokratie" und pflegte alle formalen demokratischen Verfahren und Institutionen (Wahlen, Parteien, Parlamente etc.). Diese Orwellsche Sprachverfälschung (und das ihr folgende schiefe Verständnis) belastet die neuen Demokratien, auch wenn sie in der ersten Phase eine gewisse formale Kontinuität ermöglichte. Allgemein vermuten einige Beobachter, daß die Wertebasis der Demokratien (Solidarität, Toleranz, Zivilcourage, Engagement etc.) durch die lange totalitäre Vergangenheit weitgehend fehlt und sich nur sehr enge materielle Interessen und evtl. national(istisch)e Werte einer größeren Verbreitung erfreuen. Das Demokratieverständnis konzentriert sich auf die politisch-institutionelle Ebene (Freiheiten, Rechte, Mehrparteiensystem), während soziale Werte (Wohlstand, Rechte der Frauen, Gleichheit, Beschäftigung) und individuelle Aspekte (moralische Wahlfreiheit) als weniger zur Demokratie gehörig empfunden werden.

Meinungsumfragen bestätigen, daß die Ostmitteleuropäer mit den Ergebnissen der Demokratie wenig zufrieden sind und eine große Minderheit ihr grundsätzlich eine relativ geringe Wertschätzung entgegenbringt (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Haltung zur Demokratie in Ostmitteleuropa (Angaben in %)

Land

Zufrieden mit Demokratie

Reaktion auf mögliche Auflösung des Parlaments


1992

1994

1991

1994


ja

nein

ja

nein

dafür

dagegen

dafür

dagegen

Polen

Ungarn

CSFR

Tschechien

Slowakei

27

30

28

50

60

66

35

20

49

74

32

22

13

48

19

65

65

40

48

78

29

30

18

24

71

70

82

76

Quellen: Zufriedenheit: Eurobarometer der EU; Reaktion: Neue Demokratien Barometer der Paul-Lazarsfeld Gesellschaft

Die Umfragen zeigen, daß sich die Haltung zur Demokratie zwar verbessert hat (Ausnahmen: Slowakei und partiell Ungarn vor 1994), aber nur sehr langsam. Ein Grund für die skeptische Haltung lag sicher in der schweren Rezession, die alle Transformationsländer zwischen 1990 und 1994 erlebten. Die Bevölkerung reagierte darauf teils mit Demokratieverdrossenheit (sinkende Wahlbeteiligung), teils mit einem demokratischen Wechsel der Regierung (Sieg der Reformkommunisten in Polen und Ungarn).

Die Parteiensysteme sind in Ostmitteleuropa relativ stark zersplittert und instabil. Dank der Hürden für den Einzug ins Parlament sind die Parlamente weniger fraktioniert, allerdings um den Preis der parlamentarischen Vertretungslosigkeit relativ großer Wählergruppen: z.B. in Polen 1993 34%, in Ungarn 1990 22% und 1994 13%, in der Slowakei 1994 13%. Die Parteien sind kaum fest in großen Wählergruppen verankert, deren Interessen sie artikulieren. Dies äußert sich auch in den sehr geringen Mitgliederzahlen (mit Ausnahme einiger postkommunistischer Parteien). Eine Folge dieser Distanz sind starke Schwankungen in der Wählergunst und - in einigen Fällen - Spaltungen. Der Wechselhaftigkeit der Wähler entspricht der hohe Umschlag unter den Parlamentariern, was die professionelle Qualität der Volksvertretung beeinträchtigt. So waren in Polen 69 Prozent der Abgeordneten nach den Wahlen von 1993 neu im Parlament und in Ungarn 1994 64 Prozent. Die Schwankungen der Parteienwahl liegen in Ostmitteleuropa höher als in Deutschland, Österreich, Italien und Südeuropa nach dem Sturz der Diktaturen 1945 und 1974 und massiv über denen in stabilen Demokratien.

Auch die Wahlbeteiligung war oft sehr niedrig, was auf die Überzeugung vieler Wähler hinweist, daß sie sich von der Politik keine wesentlichen Verbesserungen ihrer Lage erwarten. Meinungsumfragen belegen auch, daß nur eine Minderheit der Bevölkerung glaubt, gegen politische Entscheidungen, die ihre Interessen verletzen, angehen zu können (unter 20% in Ostmitteleuropa, insbesondere in Polen mit nur 5%, aber über 70% in den USA, 20-40% in Europa und Lateinamerika). Die Mehrheit der Bürger glaubt nicht, daß sie unter dem demokratischen Regime mehr Einfluß auf die Politik hat als unter dem kommunistischen.

Der subjektiven Hilflosigkeit entsprechen objektive Betroffenheit durch die Transformation und mangelnde Partizipation am politischen Prozeß. Insbesondere in Polen und Ungarn liegt die Wahlbeteiligung niedrig. In allen Ländern vertreten die großen, im Parlament vertretenen Parteien nicht nur den Reformkonsens von Demokratie, Marktwirtschaft und Westorientierung, sondern auch meist klare Politiken der Stabilisierung und des Beitritts zur EU und NATO. Reformverlierer, die oft auch einer Westintegration skeptisch gegenüberstehen dürften, sind in den Parlamenten nur schwach und in Form extremer Parteien vertreten. Dieser Selbstausschluß der Reformverlierer und -skeptiker fördert kurzfristig die Stabilität des demokratischen Systems und stärkt das Image der ostmitteleuropäischen Länder als erfolgreiche Reformer. Langfristig bildet diese große Gruppe aber ein Potential systemdestabilisierender Kräfte.

Mittelfristig werden Gewinner und Verlierer des Transformationsprozesses ihre jeweiligen Interessen artikulieren, wobei die Sprengkraft ihrer parteipolitischen Organisation vom Verlauf der übrigen politischen Bruchlinien abhängt. Die neuen sozialen Gruppen (Selbständige, Unternehmer) werden sich organisieren. Problematisch wird die Entwicklung, wenn die Gewinner / Verlierer-Bruchlinie mit anderen relevanten Bruchlinien (etatistisch/autoritär/interventionistisch/nationalistisch/religiös gegenüber liberal/demokratisch/kosmopolitisch/säkular) zusammenfällt. Für die weitere Stabilisierung wäre es günstig, wenn die Bruchlinien sich weiter kreuzen, statt sich zu einer einzigen zu vertiefen, und sich die spezifischen Interessen getrennt gesellschaftlich organisieren.

In Ostmitteleuropa fehlen unterhalb der Ebene des Zentralstaates noch immer weitgehend gesellschaftliche Strukturen (Verbände etc.), die Interessen artikulieren, sie ins politische System einfüttern und eine lebendige Demokratie gewährleisten.

Die Kirche (vor allem in Polen) und die Gewerkschaften sind praktisch die einzigen gesellschaftlichen Großorganisationen. Dabei weisen nur die postkommunistischen Gewerkschaften hohe, wenn auch sinkende Mitgliedszahlen auf. Die Gewerkschaften sind in allen Ländern in tripartistische Arrangements eingebunden, die aber an der Schwäche der beteiligten Parteien kranken und sich überwiegend auf die Behandlung kurzfristiger Fragen der Entlohnung und Arbeitsmarktpolitik beschränken.

Die gesetzlichen und faktischen Spielräume für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sind bescheiden. Die Ostmitteleuropäer zeigen nach jahrelanger Zwangsmitgliedschaft in verschiedenen Organisationen wenig Interesse an gesellschaftlichem Engagement. Die Vielzahl der NGOs darf nicht über ihre marginale Bedeutung und geringe Mitgliederstärke hinwegtäuschen.

Die Medien in allen ostmitteleuropäischen Ländern werden meist entweder von der Regierung oder von Wirtschaftsinteressen kontrolliert. Angesichts der Abhängigkeit des privaten Mediensektors vom Wohlwollen der Regierung in vielen Aspekten (z.B. Distribution in der Slowakei) tendiert auch er zu einer regierungsfreundlichen Berichterstattung. Der Zwischenbereich, der einen pluralistisch strukturierten Diskurs zu den zentralen politischen Themen ermöglicht, ist nur unzureichend ausgeprägt.

Die ostmitteleuropäischen Länder sind immer noch weitgehend zentralistisch aufgebaut und weisen nur ein geringes Maß an regionaler und lokaler Selbstverwaltung auf. In der Slowakei übt die Regierung Druck auf die Städte und Gemeinden aus, die häufig von der Opposition regiert werden. In Tschechien blockiert der Premierminister die Regionalisierung. In Ungarn hängen die Gemeinden zu 70 Prozent von finanziellen Zuweisungen der Zentralregierung ab. In Polen zeigten die reformkommunistischen Kabinette Tendenzen zur Rezentralisierung.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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