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Wohlstand für alle trotz Globalisierung und langsamen Wirtschaftswachstums : Thesen für den Arbeitskreis Europäische Integration / von Alfred Pfaller. - [Electronic ed.]. - [Bonn], 1997. - [3 Bl.] = 16 Kb, Text Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998 © Friedrich-Ebert-Stiftung
1. In fast allen Gesellschaften der Europäischen Union wird eine wachsende Bevölkerungsminderheit vom nationalen Wohlstand abgekoppelt. Ihr Einkommen liegt weit unter dem nationalen Prokopfeinkommen, für das Alter steht ihnen ein sehr geringes Renteneinkommen bevor. Ein zusätzliches, ebenfalls wachsendes, Bevölkerungssegment ist zwar aktuell nicht arm, aber von erhöhtem Risiko des Einkommensausfalls mit allen seinen sozialen Abstiegskonsequenzen bedroht. Diese zunehmende Marginalisierung" äußert sich einerseits in Arbeitslosigkeit, andererseits in ungenügendem Arbeitseinkommen (sei es aufgrund niedriger Stundenentlohnung, sei es aufgrund ungenügender Zahl an entlohnten Arbeitsstunden). Die EU-Länder teilen die Marginalisierung mit anderen fortgeschrittenen Industrienationen in Europa, Nordamerika, Ozeanien und ansatzweise seit neuestem auch Japan. 2. Die Marginalisierung hat ihre Ursache letztlich in dem vergleichsweise niedrigen Wirtschaftswachstum der letzten 25 Jahre, das nicht ausreichte, um die Arbeitsmarkteffekte einer zunehmenden Erwerbsbevölkerung und weiterhin (wenn auch nicht mehr so stark wie vor 1973) steigender Produktivität zu kompensieren. Arbeitskraft verlor als Folge zunehmend ihren Knappheitswert. Das Arbeitseinkommen, von dem der Großteil der Bevölkerung sowohl für den laufenden Konsum als auch für die soziale Absicherung abhängt, wurde für viele ungenügend oder fiel ganz aus. 3. Die Mehrheit der Bevölkerung ist jedoch in allen Ländern heute kaum schlechter gestellt als Anfang der 70er Jahre, also zu Zeiten des ungebrochenen Massenwohlstandes. Vielen Arbeitnehmern geht es besser. Die realen nationalen Prokopfeinkommen liegen heute überall beträchtlich über dem damaligen Stand. Allerdings ist die Verteilung viel ungleicher geworden, sowohl zwischen Arbeit und Kapital (meinthier Einkommen aus Vermögensbesitz und Unternehmertätigkeit) als auch innerhalb der Arbeitnehmerschaft. 4. Als Ursache der zunehmenden Marginalisierung läßt sich bislang nur ganz am Rande Sozialabbau ausmachen. Eher im Gegenteil, die Ausgaben der sozialen Absicherungssysteme liegen heute in fast allen Bereichen und fast allen Ländern signifikant über dem Niveau Anfang der 70er Jahre. Nur sind eben die Anforderungen an diese Systeme stark gestiegen und überfordern sie zunehmend. 5. Über die Ursachen des OECD-weiten Wachstumsrückgangs seit Anfang der 70er Jahre soll hier nicht spekuliert werden. Festzuhalten ist nur, daß selbst optimistische Wachstumsprognosen für die mittelfristige Zukunft keine auch nur annähernd hinreichende Lösungsperspektive für das Problem des Arbeitskräfteüberflusses bieten. Dennoch gilt: Je rascher die Wirtschaft wächst, desto geringer wird der Problemdruck in Bezug auf soziale Marginalisierung. 6. Auch bei fortgesetzt langsamem Wirtschaftswachstum kann der Marginalisierung Einhalt geboten und die bestehende Marginalisierung eliminiert werden. Auch der vom verschärften internationalen Wettbewerb ausgehende Kostendruck muß die soziale Reintegration der Marginalisierten - in anderen Worten, die Wiederherstellung von Wohlstand für alle" - nicht behindern. Die These, der Wohlfahrtsstaat mittel- und nordeuropäischer Prägung sei unbezahlbar geworden, ist nur richtig (wenn überhaupt) in dem Sinne, daß die Bürger die Bezahlung verweigern. Sie ist falsch in dem Sinne, daß der internationale Wettbewerb solchen Luxus nicht mehr zulasse. Auch weiterhin läßt es sich einrichten, daß alle Bürger (Einwohner?) ein Einkommen beziehen, daß vom nationalen Durchschnitt nicht allzu weit entfernt ist allen Kranken die dem (in die Breite der Behandlungszentren diffundierten) Stand der Heilkunst entsprechende Behandlung zuteil wird niemand wegen vorübergehender Krankheit signifikante Einkommenseinbußen hinnehmen muß alle jungen Einwohner eine im Industrieländervergleich gute Basisausbildung (mindestens 10 Jahre) sowie eine ihrer Leistungsfähigkeit entsprechende Chance zu weiterführender Ausbildung von ebenfalls hohem Standard erhalten allen Müttern die Möglichkeit geboten wird, Erwerbsarbeit und Kinderfürsorge in einer Weise zu verbinden, die weder die beruflichen Chancen der Mutter noch die physische und psychische Entwicklung der Kinder beeinträchtigen die Arbeitszeit für alle Lohnabhängigen gemäß den herrschenden Vorstellungen von Lebensqualität geregelt wird. Größere Schwierigkeiten gibt es allerdings bei der Sicherung der Renteneinkommen, ganz egal, welches System der Altersfürsorge man wählt. 7. Wenngleich es keinen ökonomischen Grund gibt, die aufgezählten Ergebnisse nicht sicherzustellen, so sind doch erhebliche Änderungen an der Art der Finanzierung nötig. Spürbare finanzielle Einbußen für die Mehrheit der Arbeitnehmer dürften unvermeidlich sein. 8. Dreh- und Angelpunkt der sozial integrierten Wohlstandsgesellschaft ist ein ausreichendes Einkommen für alle diejenigen, die kein Vermögen haben und deshalb nur ihre Arbeitskraft auf dem Markt anbieten können. Es geht also darum, allen, die darauf angewiesen sind, ein akzeptables Arbeitseinkommen anzubieten oder ihnen zusätzliche Einkommensquellen zu erschließen. Wenn man von massiver Vermögensumverteilung absieht, stehen drei strategische Optionen, die auch miteinander kombiniert werden können, zur Verfügung, um das Ziel auch dann zu erreichen, wenn das Wirtschaftswachstum nicht von selbst zu einer neuen Arbeitskräfte-Knappheit führt. A) steuerfinanzierte Ausweitung der staatlichen Nachfrage nach Arbeitskraft, und zwar für Produkte, die im Markt sonst nicht nachgefragt würden (Pflegeleistungen, Schulunterricht, öffentliche Infrastruktur) B) kartellisierte Verringerung der Arbeitsstundenquoten, die jeder Anbieter von Arbeitskraft in den Markt einbringen darf, so daß alle Anbieter auf dem Arbeitsmarkt mit einem akzeptablen Stundenlohn zum Zuge kommen C) steuerfinanzierte Transfereinkommen für alle diejenigen, die im Arbeitsmarkt kein akzeptables Einkommen beziehen. 9. Option A läuft dem Zeitgeist, der die Verringerung der Staatsquote fordert, zuwider. Die politischen Chancen stehen deshalb schlecht. Darüber hinaus spricht jedoch wenig gegen diese Option, wenn die Bürger sie wollen und bereit sind, dafür höhere Steuern zu zahlen. Die Akzeptanz für diese Option ließe sich vielleicht erhöhen, wenn bisherige Staatsleistungen, die sich dafür eignen, privatisiert werden - wobei die öffentlichen Interessen durch entsprechende Rahmenauflagen durchaus gewahrt werden können. Dies senkt die Staatsquote und eröffnet - von der ideologischen Verpackungsseite her - Spielraum für neue beschäftigungsschaffende und außerdem gesellschaftlich sinnvolle staatliche Tätigkeiten. Ökonomisch spricht evtl. gegen diese Option, daß sie Ressourcen in Aktivitäten bindet, die i.d.R. dem Produktivitätsfortschritt nicht so zugänglich sind. Das Wachstumspotential der Volkswirtschaft wird dadurch eingeschränkt. Diesem Einwand sollte man jedoch nicht zu viel Gewicht beimessen, da die säkulare Entwicklung ohnehin in die Richtung geht, daß sich der Produktivitätsfortschritt auf einen immer kleineren Teil der Wirtschaft - nämlich die Herstellung von Gütern - beschränkt. 10. Option B, die vieldiskutierte Arbeitszeitverkürzung, stößt auf viele praktisch-organisatorische Schwierigkeiten, die das Feld der Möglichkeiten sicher einengen, die Strategie insgesamt aber wohl nicht entwerten. Ökonomisch spricht gegen sie die Verschwendung von Ressourcen, die mit der forcierten Brachlegung von Arbeitskraft einhergeht. Dieses Argument greift aber nur im Vergleich mit Alternativen, die mehr Arbeitsleistung implizieren. Im Vergleich mit der gegenwärtigen Situation (samt der zugehörigen Entwicklung) ist es auf jeden Fall eine bessere Option, da sie die Arbeitslosigkeit gleichmäßig verteilt. Aber auch im Vergleich mit einem höheren Volumen an Erwerbsarbeit ist folgendes zu bedenken: Regelmäßige Freizeit, die sich mit Arbeitszeit abwechselt und keine erzwungene Erwerbslosigkeit darstellt, ist ein Stück Lebensqualität. Sie wirkt der Entfremdung durch einen großen Teil der Erwerbsarbeit entgegen und schafft Raum für Belange, die tendenziell zu kurz kommen in unserer sich immer weiter kommerzialisierenden, das Leben über den Markt abwickelnden, Gesellschaft, insbesondere die ganze sogenannte reproduktive Sphäre (Familie). Die Option schafft auch Raum für die Entwicklung lokaler Parallelökonomien, die auf dem Austausch von Dienstleistungen, vermittelt durch lokale Konventionswährungen (talents") basieren. Damit wird der Übergang in die auf Dauer ohnehin fällige Dienstleistungsökonomie erleichtert. Das eigentliche Hindernis ist hier wiederum der Wille derer, die mit den Arbeitszeitverkürzungen auch Einkommensverzicht in Kauf nehmen müssen. 11. Option C verträgt sich am besten mit der marktwirtschaftlichen Philsophie, weil sie den Arbeitsmarkt gewähren läßt und somit allokative Effizienz fördert. Das Verteilungsergebnis wird losgelöst von der Allokation gesichert. Wie Option A, so läuft auch diese Option auf eine erhöhte Steuerlast für die Viele (wahrscheinlich die Mehrheit der Bevölkerung) hinaus. Ohne gleichzeitige Privatisierung erhöht sich auch hier die Staatsquote. 12. Alle drei Strategien lassen sich wettbewerbsneutral finanzieren und somit gegen Weltmarktdruck immunisieren. Dazu ist wichtig, daß ihre Finanzierung nur in dem Maße den Unternehmen angelastet wird (etwa in Form erhöhter Stundenlöhne oder höherer Unternehmenssteuern), wie Ausgleich über den Wechselkurs geschaffen werden kann. In der EWU ist dies für einzelne Länder nicht mehr möglich, aber auch sonst ist der Wechselkurs kein gezielt einsetzbares Instrument der Wirtschaftspolitik. Viel besser ist es, die Finanzierung von vornherein kostenneutral vorzunehmen. Das heißt also: Stundenlohnneutralität der Arbeitszeitverkürzung bei Option B, direkte oder indirekte Besteuerung der Haushalte bei Optionen A und C. Letzteres schließt eine starke Progression der Steuersätze nicht aus. Freilich muß man sehen, daß Haushaltseinkommen aus Vermögensbesitz und Unternehmertätigkeit bessere Möglichkeiten haben, sich der Besteuerung zu entziehen als Arbeitseinkommen. Eine stärkere Verlagerung der Steuerlast auf den Konsum begünstigt direkt die hohen Einkommen, die zum größeren Teil gespart, d.h. der Vermögensmehrung zugeführt werden. Insgesamt wird man schwerlich darum herumkommen, die mittleren und hohen Arbeitseinkommen stärker zu belasten. Dies dem Wahlvolk zu verkaufen, ist die eigentliche politische Aufgabe bei der Wiederherstellung des Wohlstandes für alle". 13. Das gleiche gilt für die Finanzierung der Absicherung im Krankheitsfall (Einkommenssicherung und angemessene Heilbehandlung). Auch hier geht es primär um die Bereitschaft der Bürger, die Kosten zu tragen, die sich daraus ergeben, daß (a) immer mehr aufwendige Heilmethoden zur Verfügung stehen und (b) der Anteil der Kranken an der Gesellschaft mit zunehmendem Durchschnittsalter tendenziell steigt. Auch das lange Leben hat seinen Preis. Darüber hinaus geht es beim Gesundheitswesen natürlich auch um die Ausschaltung von Mißbrauch bzw. von Kartellen (a) auf Seiten der Anbieter von Gesundheitsleistungen (Ärzte, Labors, Pharmaindustrie), (b) auf Seiten der Patienten. Prinzipiell läßt sich auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall getrennt von den Unternehmen als öffentliche oder staatlich geregelte Sozialversicherung aufziehen. Die Kosten fallen dann nicht in der Unternehmenskalkulation an. Sie werden der Bevölkerung direkt über Steuern direkt und nicht indirekt über höhere Produktpreise aufgebürdet. Beides hat natürlich unterschiedliche Verteilungswirkungen. Steuern sind wahrscheinlich der verteilungsfreundlichere Weg. 14. Schwieriger ist die Sache bei der Einkommenssicherung fürs Alter. Die demographische Entwicklung führt dazu, daß - wie auch immer - eines von drei unangenehmen Dingen durchgesetzt werden muß, nämlich die nicht mehr Erwerbstätigen bekommen ein Einkommen, das weiter unter dem der Erwerbstätigen liegt, als dies heute der Fall ist (Rentenkürzung) die Erwerbstätigen treten einen größeren Teil des Bruttosozialprodukts für den Konsum der nicht mehr Erwerbstätigen ab, als dies heute der Fall ist (höhere Rentenbeiträge oder höhere Sparquote) die Menschen arbeiten bis zu einer höheren Altersgrenze und erhöhen so die Erwerbsbevölkerung, was ceteris paribus das oben behandelte Problem der Sicherung eines akzeptablen Arbeitseinkommens verschärft, also auf diesem Feld mehr Umverteilung nötig macht. Durch eine stärkere Privatisierung der Altersvorsorge läßt sich das Problem nicht aus der Welt schaffen. Möglicherweise lassen sich unangenehme Lösungen so besser politisch verkaufen (z.B. weil der Anspruch an eine Lebensversicherung nominal festgelegt und gegen inflationäre Konsequenzen unzureichender Sparleistungen späterer Generationen nicht geschützt ist). Das Problem der Rentenansprüche von Nichtbeitrittszahlern (Studenten, Hausfrauen, Mütter) wird dann explizit und politisch brisanter. Auswege aus dem Rentenproblem bieten evtl. eine verstärkte Einwanderung Arbeitsfähiger und ein verstärkter Rückgriff auf die Ersparnisse relativ junger, aber wirtschaftlich wachsender Gesellschaften. Letzteres ist mit Leistungsbilanzdefiziten verbunden. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998 |