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China 1994 : am Kreuzweg der Entwicklung / von Carsten Herrmann-Pillath. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1994. - 16 S. = 53 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1997

© Friedrich-Ebert-Stiftung


Seit dem Massaker am Tiananmen haben China ebenso wie das China-Bild in der Welt starke Veränderungen erfahren. Nach dem Boom 1992-94 treten die längerfristigen, strukturellen Entwicklungsdeterminanten in den Vordergrund.

Charakteristika sind sind die wirtschaftliche und gesellschaftliche Regionalisierung des Landes, die Internationalisierung seiner Wirtschaft, die weitergehende Institutionalisierung politischer und gesellschaftlicher Prozesse bei gleichzeitig schwindender Fähigkeit der Zentralregierung, die Gesellschaft zu steuern, und der Ausbau einer eigenständigen Machtposition Chinas im politischen Weltsystem.

Trotz weiterer Institutionalisierung der Marktwirtschaft bleiben Inflation, Arbeitslosigkeit und die Agrarproblematik Schlüsselprobleme der Entwicklung. Der Boom der neunziger Jahre hat jedoch weitreichende Auflösungserscheinungen in Politik und Gesellschaft zur Folge (allgegenwärtige Kommerzialisierung).

In dieser labilen Verfassung kann das Nachfolgeproblem große Bedeutung erlangen, allerdings sind die Machtverhältnisse komplex und in verhältnismäßig stabile Rahmenbedingungen eingebettet, wie etwa die selbständige Interessenpolitik staatlicher Organisationen.

Aus langfristiger Perspektive kommt China auf politische und gesellschaftliche Strukturen, vergleichbar denen des späten Kaiserreiches, zurück, wie etwa zu hoher gesellschaftlicher Mobilität, schwacher bürokratischer Durchdringung der Gesellschaft und Privatisierung staatlicher Ordnungsfunktionen.

Entscheidende Herausforderung an diese Strukturen werden die regional stark divergierenden Entwicklungspotentiale sein, bei gleichzeitig zunehmend schwächerer Integration des Binnenmarktes. Ein GATT-Beitritt Chinas könnte dieses Problem verschärfen und innenpolitische Interessengegensätze anstoßen.

Chinas innerer Wandel wird es als einen weltpolitischen Akteur besonderer Art konstituieren, die knapp mit dem Begriff der "Denationalisierung" charakterisiert werden könnte.

China und die Welt: Vom "clash of civilizations" zur multipolaren Koexistenz?

Das Jahr 1994 mag für viele Betrachter keine herausragenden Ereignisse für die chinesische Entwicklung aufgewiesen haben. Dennoch kann man es als eine Schlüsselperiode für die weitere Entwicklung des Landes begreifen: 1994 ist das Jahr, in dem sich bestimmte strukturelle Determinanten von Chinas künftiger Stellung in der Welt irreversibel zu verfestigen und zu verstetigen beginnen. Sicher ist diese These zugespitzt, und auch das kommende Jahr wird von einem solchen Prozeß der Festlegung langfristiger Trends geprägt sein. Doch lassen sich substantielle Argumente für diese Sicht der Dinge finden.

Nach der Dekade immer weiterreichender Reformen und Veränderungen hat China seit 1989 ein halbes Jahrzehnt der Ungewißheit und krassen Veränderungen in Politik und Wirtschaft erfahren. Das Fanal des Massakers am Tiananmen schien China weit hinter die Dynamik der Veränderungen zurückzuwerfen, die sich kurz darauf mit der Demontage des Sozialismus in Ost- und Ostmittel-Europa vollzogen. Dies betraf die politische Liberalisierung ebenso wie den weiteren Weg zur Marktwirtschaft. Politische Repression und Austeritätspolitik drohten den Wandel einzufrieren. Doch zu Beginn des Jahres 1992 änderten sich die Vorzeichen erneut und in radikaler Weise: Mit Deng Xiaoping's "Reise nach Süden" wurde ein Kurs eingeschlagen, der weitere entschiedene Schritte in Richtung Marktwirtschaft mit einer expansiven Wirtschaftspolitik verband. China trat in eine Phase raschen Wachstums ein, die gleichzeitig mit weitreichenden Auflösungserscheinungen herkömmlicher institutioneller Strukturen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft einherging. Vor diesem Hintergrund vollzog sich auch ein erneuter Wechsel der Perspektiven des Auslandes: 1989 fast aus der internationalen Gemeinschaft ausgestoßen, kehrte China als "Wirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts" auf die Weltbühne zurück und begann, auch die Außenpolitik in das Schlepptau seiner wirtschaftlichen Entwicklung zu nehmen.

Viele Erscheinungen der letzten fünf Jahre sind ohne Zweifel kurzfristiger Natur und stehen auf schwankendem Boden. Auf der anderen Seite hat es während dieser Zeit auch eine beachtliche Kontinuität bestimmter Trends gegeben, die eigentlich durch die Zäsur des Jahres 1989 nur gebrochen, aber nicht umgekehrt worden waren. Stichwortartig lassen sie sich zusammenfassen als:

- Weitergehende Regionalisierung der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes ohne Gefährdung des nationalen Zusammenhaltes,

- Wachsende Internationalisierung der Wirtschaft im Zuge einer weiterreichenden Öffnung des gesamten festländischen Wirtschaftsraumes,

- Fortsetzung der Institutionalisierung gesellschaftlicher Prozesse und Veränderungen,

- zunehmende Autonomie gesellschaftlicher Veränderungen von politischer Steuerung,

- Ausbau der unabhängigen und eigenständigen Machtposition im politischen Weltsystem.

Diese Trends erscheinen in der abstrakten Kennzeichnung durchaus im Sinne des westlichen Verständnisses von Modernisierung, Marktwirtschaft und Pluralismus, sodaß die offene Priorität für wirtschaftliche Kooperation mit China, die nun die Außenpolitik aller westlicher Staaten prägt, gerne mit entsprechenden Verweisen auf die Bedeutung der Wirtschaft für Liberalisierung und Demokratisierung autoritärer Regimes rechtfertigt wird. Der Blick auf die konkreten Verhältnisse wirft jedoch Fragen auf, die nicht mit einfachen Schlagwörtern von der "civil society", dem "clash of civilizations" oder der "interdependence" beantwortet werden können. Es zeigt sich, daß die Wahrnehmung Chinas durch den Westen eine Schlüsselrolle für Chinas Entwicklung erhalten hat, und daß die chinesische Führung schon seit langem diesen Tatbestand für die Erreichung eigener Ziele instrumentalisiert. Dies ist einer der Perspektiven einer Verortung Chinas im Jahre 1994, die auf die aktuelle Situation als Wendepunkt hinweisen.

Langfristig ist die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten, Chinas MFN-Status von der Menschenrechtsproblematik zu entkoppeln, sicherlich einer der Meilensteine von 1994, und zwar weniger aus ökonomischer, sondern aus weltpolitischer Sicht. Wirtschaftlich wird diese Unterscheidung ohnehin durch einen GATT-Beitritt Chinas früher oder später gegenstandslos. Wenn auch unterschiedliche Interpretationen dieser Entscheidung möglich sind (wie etwa als Tauschgeschäft gegen eine kooperative Haltung Chinas beim Nordkorea-Problem), so sind zwei Deutungen weltpolitisch richtungsweisend:

Erstens haben die USA die große Bedeutung des asiatisch-pazifischen Raumes für die eigene Wirtschaftsentwicklung nun definitiv anerkannt. Menschenrechtsfragen sind nicht nur hinsichtlich Chinas stets ein potentieller Störfaktor der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und asiatischen Ländern gewesen. China hatte sich in den letzten Jahren gerade in Menschenrechtsfragen als eine der führenden Stimmen des asiatisch-pazifischen Raumes etabliert. Daher mußte eine Grundsatzentscheidung zur Beziehung zwischen Menschenrechtsfragen und wirtschaftlicher Zusammenarbeit getroffen werden.

Zweitens wird die Demarkationslinie zwischen dem anscheinenden "clash of civilizations" offenbar von einer Konflikt- zu einer Waffenstillstandslinie. Mit der MFN-Entscheidung ist prinzipiell eine gewisse Berechtigung des gesamtasiatischen Anspruches anerkannt worden, daß die Menschenrechte in der US-amerikanischen Interpretation zumindestens teilweise relativiert werden sollten. Hier spielt sicherlich auch ein langsamer Wandel gesellschaftlicher Stimmungslagen in den USA eine Rolle, die zunehmend ablehnend auf soziale Desintegration und gesellschaftliche Verwerfungen in den USA reagieren.

Insofern die Vereinigten Staaten weiterhin eine führende Rolle im weltanschaulich-weltpolitischen Selbstverständnis der westlichen Welt spielen, hat also die MFN-Entscheidung Zeichen auch für andere Industrienationen gesetzt. Angemerkt sei vor allem, daß damit die Grundlage für eine gemeinsame China-Politik der USA und Japans verbessert wurde, die gerade nach 1989 Brüche erfahren hatte, da Japan die scharfe Reaktion der USA und der europäischen Staaten auf das Massaker nur teilweise und dann auch offensichtlich unwillig mitgetragen hatte. Allerdings bleiben signifikante Unterschiede im China-Bild erhalten, die sich zum Teil durch unterschiedliche Interessenlagen (die USA als Welt-, Japan als potentielle asiatische Macht), wesentlich aber auch durch systematische Unterschiede bei der Einschätzung der chinesischen Verhältnisse erklären.

Politische Spannungen zwischen China und dem Rest der Welt hatten sich nach 1989 als eine entscheidende Barriere für den Marktzutritt erwiesen. Zwischen 1989 und 1991 hatten vor allem ostasiatische Investoren die Gelegenheit genutzt, die von der Zurückhaltung westlicher Investoren geboten wurde. Als dann mit dem Boom von 1992-1994 der chinesische Raum weltweit als dynamischste Wirtschaftsregion Anerkennung fand, wuchs der Druck in den entwickelten Industrienationen, den Anschluß nicht zu verpassen. Seitdem nutzt China diese westliche Haltung als einen seiner wichtigsten Hebel, den eigenen Status im politischen Weltsystem zu erhöhen. Die chinesische Regierung verhängt gleichsam wirtschaftliche Sanktionen gegen jene, die chinesische Interessen in anderen Zusammenhängen (wie etwa bei der Taiwan-Frage) empfindlich verletzen.

1994 dürfte jedoch diese Konstellation allmählich auf den Boden der Realität zurückgeführt werden. Es fragt sich aber, ob diese Gelegenheit genutzt wird, die wirtschaftlichen Beziehungen zu China tatsächlich auf eine langfristig berechenbare Grundlage zu stellen. Konflikte über grundsätzliche Fragen gesellschaftlicher Ordnung scheinen gegenwärtig im Eigeninteresse des Westens entschärft, und Asien wird zunehmend als eigenständige Zivilisation in einer nicht nur politisch, sondern auch kulturell multipolaren Welt anerkannt. Die Frage ist aber, ob damit die bisherigen Konflikte und Spannungen hinsichtlich einer Stabilisierung von Chinas Position in der Welt ein Ende gefunden haben.

Der Primat inneren Wandels

Auch die Position Chinas in der Welt hängt im wesentlichen von seiner inneren Entwicklung ab. Genau deshalb besitzt auch das westliche Bild des inneren Wandels eine so entscheidende Rolle für die Weltpolitik. Dies betrifft zur Zeit vor allem die Wechselwirkung zwischen ökonomischen und politischen Faktoren.

Prinzipiell hat die chinesische Führung die Marktwirtschaft irreversibel als Bestandteil der Gesellschaftsordnung anerkannt. Gerade 1994 hat in dieser Hinsicht wesentliche Fortschritte bei der Institutionalisierung gebracht, wie:

- Der Beginn einer weitergehenden Bankreform in Gestalt der organisatorischen Trennung zwischen Geschäfts- und politischen Funktionen der Staatsbanken,

- die Einführung eines einheitlichen Steuersystems unter anderem mit der weitgehenden Abschaffung der planwirtschaftlichen Bruttoumsatzsteuer und der Neuordnung der Beziehungen zwischen Zentrale und Provinzen im wesentlichen nach dem Muster eines fiskalischen Trennsystems,

- die Vereinheitlichung des Wechselkurssystems, allerdings noch ohne Konvertibilität,

- die Verabschiedung bzw. das Inkrafttreten wichtiger neuer Gesetze wie das Gesellschaftsrecht (weitgehend nach westlichem Vorbild), das Arbeitsrecht oder das Gesetz gegen Mißbrauch der Staatsgewalt (insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht).

Diese Fortschritte sind keinesfalls Teil eines erneuten wirtschaftspolitischen Richtungswechsels, sondern knüpfen nahtlos an Vorarbeiten und Vorstufen der achtziger Jahre an. Dennoch ist 1994 gerade deshalb ein Kreuzweg auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht, weil entweder schon im Rahmen der erwähnten Maßnahmen oder im Bereich anderer wirtschaftspolitischer Maßnahmen keine ordnungspolitische Grundsatzentscheidung gegen einen weitreichenden Interventionismus politischer Instanzen getroffen wurde. Genau dieser Mangel erschwert nicht zuletzt auch den Beitritt Chinas zum GATT. Er hängt vor allem damit zusammen, daß gesellschaftlich und politisch konstitutive Merkmale des chinesischen Systems letztlich in prinzipiellem Widerspruch mit einer vollständig ausgebildeten marktwirtschaftlichen Ordnung stehen. Erwähnt werden sollten folgende Punkte.

1994 ist der Tatbestand hoher, wenn auch zum Teil versteckter Arbeitslosigkeit als zentrales Problem künftiger wirtschaftspolitischer Maßnahmen endgültig offen anerkannt worden, bis hin zum Wechsel der offiziellen Terminologie. Die Furcht vor der destabilisierenden Wirkung der Arbeitslosigkeit begleitete die in der Geschichte der VR China größte Bewegung von Wanderarbeitern im Frühjahr ebenso wie die weiterhin scheinbar unüberwindbaren Hindernisse bei der Reform der Staatsunternehmen, die nun schon seit zehn Jahren zu den programmatischen Schwerpunkten der Wirtschaftspolitik gehört.

Die Zentralregierung ist nach wie vor nur unzureichend in der Lage, den Investitionsprozeß und die Kreditschöpfung makroökonomisch zu steuern, es sei denn, sie greift auf administrative Instrumente zurück, wie in der ersten Hälfte dieses Jahres. Seine zweite Hälfte ist jedoch durch das Phänomen geprägt, daß auch diese Instrumente nicht geeignet sind, den weiteren Anstieg der Inflation zu begrenzen, der durch die Naturkatastrophen des Jahres noch einen einmaligen Schub erfuhr. Die Gebietskörperschaften reagieren mit weiteren Interventionen, bis hin zur erneuten Rationierung von Grundgütern. Von der Seite der kreditpolitischen Steuerung sind diese Lenkungsprobleme wesentlich auf die "weichen Budgetbeschränkungen" der Staatsunternehmen zurückzuführen, die 1994 wieder neue Rekorde bei der gegenseitigen Direktverschuldung (sog. "Dreiecksschulden") erzielten, gegen die der "ökonomische Zar" und "Gorbatschow Chinas", Zhu Rongji, bereits 1992 angetreten war.

1994 hat auch gezeigt, daß die Agrarpolitik der KP nicht zur grundlegenden Erneuerung fähig ist. Die Angebotsbedingungen der Bauern mußten erneut durch administrative Preisanpassungen und Interventionen stabilisiert werden, ein weiterer Zyklus der nachholenden Anpassung der Preisrelationen an eine Inflation, die selektiv die Realeinkommen der Bauern diskriminiert. Zwar ist die Landwirtschaft Schritt für Schritt weiter dereguliert worden, doch ist bislang nur der Zustand des typischen "urban bias" "normaler", nicht-sozialistischer Entwicklungsländer erreicht worden. Die Agrarproblematik bleibt ein entscheidender Migrationsfaktor.

Schließlich wurde 1994 auf der Ebene der wirtschaftspolitischen Institutionen der Trend zur administrativen Fragmentierung selbst auf höchster Ebene fortgeschrieben, ohne gleichzeitig dem Interventionismus Zügel anzulegen. Nachdem vor zwei Jahren die neugegründete "Kommission für Wirtschaft und Handel" den Niedergang der Planungskommission einzuläuten schien, wird sie inzwischen wieder von der Planungskommission ausbalanciert, wenn nicht überschattet. "Makroökonomische" oder "industriepolitische" Kompetenzen dieser Kommission sind häufig Instrumente der zentralen Eingriffsverwaltung.

Insofern scheint der Boom seit 1992 noch nicht ausreichend Schwungkraft besessen zu haben, um tatsächlich den endgültigen Systemsprung zu bewältigen. Zu stark war er an die Bewahrung herkömmlicher administrativer und staatlicher Machtstrukturen gebunden, die insbesondere wesentlich zur Fehlallokation von investiven Ressourcen beitrugen (etwa in Gestalt zahlloser "Industrieparks" und "Entwicklungszonen" lokaler Behörden). Auf der anderen Seite ist der "Boden der Wirklichkeit" nicht notwendig unfruchtbar. Unrealistisch hohen ausländischen Investitionszusagen des Jahres 1993 folgte 1994 ein starker Rückgang der Zusagen bei gleichzeitig stetig wachsendem Volumen realisierter Investitionen. Die Struktur der Auslandsinvestitionen zeigt auch einen wachsenden Anteil großer multinationaler Unternehmen, die einzig (anders als etwa die taiwanesischen und Hong Konger Kleinbetriebe) in der Lage sein dürften, den künftig extrem hohen Kapitalbedarf Chinas zu befriedigen. Realismus ist ohne Zweifel auch bei den weiterhin äußerst wichtigen taiwanesischen Festlandinvestitionen eingekehrt, die nach dem "Festlandfieber" nun wieder zum Trend der weltweiten Risikodiversifikation zurückgekehrt sind. Auch dies ist eher positiv denn negativ einzuschätzen. Die ingesamt stabilisierte und weiter wachsende Bedeutung ausländischer Direktinvestitionen für die chinesische Wirtschaftsentwicklung ist eigentlicher Maßstab für die zügig weitergehende Internationalisierung der chinesischen Wirtschaft, ungeachtet aller administrativen und wirtschaftspolitischen Barrieren gegen die realwirtschaftliche Integration. Dieser Trend ist unumkehrbar, da sich die chinesische Führung schon seit längerem darüber im Klaren ist, daß die gewaltigen finanziellen Erfordernisse des Aufbaus der Infrastruktur in den kommenden Jahren unmöglich durch die VR China selbst gedeckt werden können.

Wenn der Boom seit 1992 also keine Trendwende, sondern nur eine Beschleunigung des wirtschaftlichen Wandels gebracht hat, so kann seine Bedeutung für gesellschaftliche Veränderungen doch nicht hoch genug eingeschätzt werden. Prognosen sind hier notorisch unzuverlässig, doch hat, lax gesprochen, "König Mammon" die Kommunistische Partei und ihre Weltanschauung vom Thron verdrängt. Auch dies ist eine Entwicklung, die eigentlich bruchlos über die Zäsur von 1989 hinweggeht. Die demokratische Bewegung hätte diesen Trend eventuell im Sinne des beschleunigten Übergangs zur vielbeschworenen "civil society" verschieben können. Gerade ihre politische Unterdrückung hat jedoch den absoluten Stellenwert pekuniärer Handlungsmotive in der Gesellschaft endgültig zementiert und wirft inzwischen weitreichende Identitäts- und Wertfragen auf. Besonders Chinas jüngere Generation scheint inzwischen ohne Ideale und Prinzipien ausschließlich am Ziel des schnellen Geldes orientiert, - so zumindest das Ergebnis aller ernstzunehmenden Umfragen und sozialwissenschaftlichen Analysen.

Wer die Entstehung der "civil society" bereits diagnostiziert, muß in Rechnung stellen, daß die ohne Zweifel vielfältigen Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation bislang im wesentlichen an wirtschaftlichen Interessen orientiert und zumeist fest in ein Muster korporatistischer Vormacht der Partei eingebunden sind, die in der Regel am gleichen pekuniären Strang zieht. Insbesondere im ländlichen Raum ist die Lage diffus, werden doch durchaus partizipatorische und transparente Formen der dörflichen Selbstverwaltung unter Parteiführung (teilweise zu Recht) von Alt-Maoisten als "Massenlinie" beansprucht, stehen aber neben der wachsenden Bedeutung traditioneller, teilweise religiöser, teilweise geheimgesellschaftlicher Organisation einerseits und dem staatlichen Verbot der Gründung von unabhängigen Bauernverbänden als echten Interessenvertretungen andererseits.

Pekuniäre Interessen sind zur eigentlich prägenden Kraft des gesellschaftlichen Wandels geworden und sind in dieser Hinsicht Träger seiner wachsenden Autonomie. Ob daraus tatsächlich die "civil society" entsteht, wie viele gegenwärtig glauben, läßt sich kaum sinnvoll für China als Gesamtheit beantworten. Die Regionalisierung ebenso wie die soziale Kluft zwischen Stadt und Land verbieten Verallgemeinerungen auch in diesem Bereich. Eines steht aber fest: In der gegenwärtigen dynamischen, aber gleichzeitig labilen und teilweise konturlosen Verfassung Chinas besitzt das Nachfolgeproblem möglicherweise die Rolle eines richtungweisenden Ereignisses.

Nach Deng? - die pekingologische Sicht der kurzen Frist

Es wäre leicht, in wenigen Stunden hunderte von Seiten von Experten-Vermutungen zur kurz- und mittelfristigen Entwicklung "nach Deng" zusammenzustellen. Hier sollen einige weitere, dezidierte Seiten hinzugefügt werden.

Die zentralen Rahmenbedingungen der Lösung des Nachfolgeproblems sind folgende:

- Die Volksbefreiungsarmee bietet die entscheidende Machtgrundlage jeglicher zentraler Herrschaft in China, ohne damit notwendig selbst zentrale Herrschaft zu usurpieren ("Militärdikatur"). Dies betrifft im Zuge ihrer Modernisierung und Professionalisierung weniger die Rolle als innere Ordnungsmacht, wohl aber ihre Bedeutung für die Position Chinas in der Welt. Der Konsens zwischen militärischer und ziviler Führung ist konstitutives Element des nationalen Modernisierungsanspruchs und seiner legitimen Repräsentation durch eine chinesische Zentralregierung.

- Der chinesische Staat in seiner Gesamtheit ist hinreichend fest institutionalisiert, um Eigengewicht im Verhältnis zu den aktuell mächtigen Personen und Gruppen zu besitzen. Für die chinesische Politik besitzen Interessen staatlicher Organisationen (zentrale Ministerien, Gebietskörperschaften, Staatsunternehmen etc.) einen autonomen Stellenwert, sodaß der tatsächliche Wandel der politischen Praxis gegenüber dem Nachfolgeproblem teilweise abgeschirmt ist.

- Die Machtkämpfe vor und nach Deng sind komplex und lassen sich nur sehr schwer nach bestimmten Loyalitätsgruppierungen und Programmen strukturieren. Es gibt, abgesehen von den Positionen einzelner Personen, keine klaren Frontlinien zwischen Gruppen, so daß die tatsächlichen Machtverhältnisse durch eine Fülle schwankender Koalitionen und politischer Tauschgeschäfte bestimmt werden. Im Interesse aller Beteiligten liegt es aber, das Parteimonopol politischer Macht zu schützen und dessen Einheit "nach außen" (gegenüber der chinesischen Gesellschaft ebenso wie der Welt) zu demonstrieren. Es gibt keine fundamental antagonistische Machtkonkurrenz innerhalb der Partei, wie noch in den sechziger Jahren.

- Unter den jetzigen Führern der Partei, aber auch außerhalb der Partei und vor allem auch im Exil gibt es keine charismatischen Persönlichkeiten. Zudem hat der oben skizzierte Wandel der chinesischen Gesellschaft zumindestens kurzfristig das Charisma als politischen Faktor wirkungslos werden lassen.

In diesem Kontext erscheint die These vorschnell, daß eine Übergangszeit kollegialer Machtausübung "nach Deng" über kurz oder lang zu der Krise eines Machtkampfes führen müsse. Wenn die Annahme richtig ist, daß die soeben skizzierten Rahmenbedingungen einer Lösung des Nachfolgeproblems der jetzigen Führung durchaus bewußt sind, dann wissen ihre Mitglieder ebenso wie möglicherweise nachrückende Kräfte auch, daß ein Machtkampf höchstens ein Nullsummen-, vermutlich aber ein Negativsummenspiel in dem Sinne ist, als er mit hoher Wahrscheinlichkeit zur endgültigen Zerstörung des Konfliktgegenstandes, nämlich der Herrschaft der Partei als solcher führen könnte.

Natürlich ist jede Analyse des Nachfolgeproblems der Versuchung erlegen, auch Namen vorzutragen. Folgende Mitglieder des heutigen Politbüros werden in der Führung "nach Deng" eine entscheidende Rolle spielen.

Die bereits heute politisch einflußreichste und mächtigste Person Chinas ist Qiao Shi (Vorsitzender des Volkskongresses), denn seine Machtbasis ist im Sicherheitsapparat ebenso fest verankert wie im Nationalen Volkskongreß, der etwa über die ständigen Kontakte zu Vertretern der Regionen und auch als verdeckt meinungs- und entscheidungsfähige Institution durchaus eine Machtstellung eigener Qualität geworden ist. "Nach Deng" wird die potentielle Legitimation als Repräsentant der Volksvertretung ohne Zweifel Qiao Shi's Attraktivität als Führer der Partei ebenso wachsen lassen wie seine weitgehende Makellosigkeit im Kontext des Tiananmen-Massakers.

Zhu Rongji (Erster stellvertretender Ministerpräsident und Zentralbankgouverneur) zeichnet sich ebenso wie Qiao Shi dadurch aus, an der Schnittstelle verschiedener programmatischer Positionen in der Partei zu stehen und auch verschiedene Koalitionen miteinander verknüpfen zu können. Er besitzt aber keine Machtbasis im Gewaltmonopol selbst, und seine Potentiale als wirtschaftspolitische Führungspersönlichkeit sind inzwischen im mehr oder weniger vergeblichen Kampf gegen die Inflation abgestumpft. Zhu kann daher nur im Verbund mit Personen wie Qiao Shi zu engsten Führungsgruppe nach Deng gehören.

Jiang Zemin (Generalsekretär der Partei und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission) wird seit langem von vielen nur als Übergangspersönlichkeit betrachtet. Tatsächlich dürfte Jiang aber inzwischen seine seit langem angestrebte Rolle als Scharnier zwischen zivilem und militärischem Machtapparat etabliert haben. Der Anteil führender Generäle, die unter seiner Ägide aufgestiegen ist, wächst jährlich, und Jiang investiert einen erheblichen Teil seiner Zeit in die Pflege der Beziehungen zur VBA. Selbstverständlich kann er nicht auf das Charisma Deng Xiaopings setzen, wohl aber auf den Generationswechsel in der Militärführung. Jiangs Position wird von den Repräsentanten der älteren Generation von Militärführern, die im Politbüro durch Liu Huaqing vertreten ist, kaum angefochten werden.

Li Peng, der von vielen ungeliebte Ministerpräsident, kann sich nur auf die erodierende Machtbasis des Status-quo und der guten Beziehung mit den ältesten Führern der Partei stützen. Er dürfte daher außerhalb des engsten Führungskreises "nach Deng" anzusiedeln sein.

Unberechenbar bleibt die Rolle der Familie Yang Shangkun's, die weiterhin im Politbüro durch Yang Baibing vertreten ist. Yang Baibing ist wegen seines Versuches, eine dominante Machtposition in der VBA zu erlangen, aus deren Führungsriege durch Intervention Deng Xiaoping's ausgeschlossen worden. Von vielen Beobachtern wird aber übersehen, daß die Yang-Familie tatsächlich stets gute Beziehungen zum gestürzten Parteisekretär Zhao Ziyang unterhalten hat. Zhao's persönliches Netzwerk im Politbüro ist weiterhin dicht und dürfte Personen wie Tian Jiyun, Xie Fei (beide wegen enger biographischer Beziehungen Zhao's zu Sichuan und Guangdong), Li Ruihuan, Ding Guang'en (beide über früher gemeinsame, aber indirekte Beziehungen zu Wan Li und Hu Qili, die auch zu den politischen Opfern des Tiananmen-Massakers gehörten), und deren jeweilige Loyalitätsgruppen erfassen, also ein beachtlicher Teil der gesamten Führung. Diese verdeckte Machtzelle Zhao Ziyangs war ohne Zweifel eine Grundlage für die - in chinesischen Worten - "Fortführung Politik Zhao's ohne Zhao" nach 1989 und könnte insbesondere über die VBA-Loyalitätsgruppe der Yang-Familie zum eigentlichen Kern eines möglichen Nachfolgekonfliktes "nach Deng" werden. Voraussetzung ist allerdings, daß der greise, aber kerngesunde Patriarch der Yang-Familie, Yang Shangkun, Deng Xiaoping überlebt.

Auf den Punkt gebracht, wird Chinas Führung "nach Deng" aus heutiger Sicht entweder von der Achse Qiao Shi-Jiang Zemin oder durch eine Rückkehr Zhao Ziyangs in die offizielle Führung geprägt sein, wobei die erste Option deutlich höhere Wahrscheinlichkeit besitzt, da die zweite zu große Gefahren einer Destabilisierung der zentralen Herrschaft in sich birgt, allerdings die faktische programmatische Kontinuität der chinesischen Politik zwischen den achtziger und den neunziger Jahren am besten widerspiegeln würde. Freilich würde dann eine offizielle Neubewertung des Massakers am Tiananmen erforderlich, die erst kürzlich von Jiang Zemin in deutlichen Worten ausgeschlossen wurde und vor allem auch von der VBA-Führung nicht gewollt wird. Zentrale Programmpunkte der Politik Zhao Ziyangs werden jedoch weiterhin in praxi fortgeführt, wie die durchgreifende Internationalisierung der Wirtschaft (jüngst von Guangdong im Rahmen einer neuen Entwicklungsstrategie für die Provinz gefordert), die schrittweise Demokratisierung (unter anderem von Li Ruihuan hinsichtlich einer stärkeren Rolle der Volksvertretungen erneut vorgetragen) oder die Anwendung des Instrumentes der Aktiengesellschaften bei der Transformation von Staatsunternehmen. Vor allem muß immer beachtet werden, daß Zhao stets gute Beziehungen zu den "Modernisierern" der VBA unterhalten hatte, die auch heute eindeutig die dominante Position im militärischen Machtapparat einnehmen.

Die hier diskutierten Namen lassen schon erkennen, daß auf der einen Seite die Politik "nach Deng" komplizierte Figuren zeigen wird, andererseits aber keine Richtungswechsel der chinesischen Politik. Letztere wird vor allem auch vom beschleunigten Generationswechsel in der zivilen und der militärischen Führungsspitze getragen. In beiden Hierarchien spielen zunehmend persönliche Netzwerke zwischen "Akademikern", also Absolventen der gleichen Hochschulen und Angehörige gleicher Studentengenerationen eine wichtigere Rolle als etwa militärische Kameradschaften. Inzwischen rückt nicht nur die sogenannte "dritte", sondern bereits die "vierte" (die "Fünfziger") Generation in höchste Führungspositionen auf, deren Erfahrungshorizont durch die Herausforderungen des "Managements" der chinesischen Gesellschaft in konkreten Organisationen und Gebietskörperschaften der sechziger und siebziger Jahre umrissen ist. Persönliche Konfliktlinien können hier unter anderem zur Gruppe der "Kronprinzen", also der Kinder heute höchster Machthaber, verlaufen, die im Falle eines nachhaltigen Revirements an der Spitze an Einfluß einbüßen könnten.

Alles in allem läßt die gegenwärtige Machtkonstellation an der Parteispitze keine Ansatzpunkte für eine nachhaltige Destabilisierung der Parteiherrschaft durch führungsinterne Faktoren erkennen. In diesem Zusammenhang wird zumeist auch übersehen, daß Deng Xiaoping zwar das Charisma des "Führers" aufgebaut und gepflegt hat, tatsächlich aber eine kollegiale Führung realisiert wurde (siehe nur das Tandem der "Ältesten" Deng und Chen Yun). Der ohne Zweifel wesentlich gefährlichere Übergang zur "nach-Mao"-Ära war erstaunlich reibungsfrei vollzogen worden. Insofern stellt weder ein kollegiales Führungsprinzip "nach Deng" eine wesentliche Veränderung der parteiinternen Machtstrukturen dar, noch zeichnet sich die Gegenwart einer destabilisierenden Persönlichkeit wie des machtbesessenen späten Mao ab.

Damit wird zur entscheidenden Frage, ob eine Destabilisierung der Parteiherrschaft durch äußere Faktoren angestoßen werden könnte. Extreme Herausforderungen an das bestehende Herrschaftssystem könnten dieses handlungsunfähig werden lassen und zu seinem Niedergang führen. Dies läßt sich aber nur beurteilen, wenn zum einen die Natur möglicher Herausforderungen hinreichend genau antizipiert werden könnte, und wenn zweitens, die Qualität der politischen Herrschaft in China über die Verhältnisse an der Spitze treffsicher bestimmbar wäre. Dies ist aber sehr schwierig.

Regionalisierung und politische Herrschaft: Die säkulare Perspektive

Da auch die chinesische Führung gerne die langfristige, ja säkulare Perspektive ihres Denkens und Handelns betont, und dies immer wieder in der westlichen Haltung zu China thematisiert wird, seien - ohne aus Raumgründen eine detaillierte Begründung liefern zu können - wichtige Trends des Jahres 1994 kurz in einen sehr weit ausholenden historischen Kontext gestellt und damit der traditionellen politischen Kultur Chinas. Dies erscheint deshalb legitim, weil im Grunde die Jahrzehnte zwischen dem Sturz des Kaiserreiches 1911 und dem Beginn der Reformen Deng Xiaopings keine "Normalität" kannten. Die "Familienähnlichkeiten" zwischen der Entwicklung Chinas in den neunziger Jahren und den gesellschaftlichen Strukturen des späten Kaiserreiches sind jedoch hinreichend deutlich, um zumindest als kreative Perspektive der heutigen Verhältnisse dienen zu können. Folgende Stichworte kommen ins Blickfeld:

- China wird wieder zu jener hochmobilen Gesellschaft, die es während der Qing-Dynastie gewesen war, und zwar vor allem geographisch, aber auch sozial. Wie damals entstehen gewaltige Herausforderungen an eine Administration, die auf die Regulierung einer statischen Gesellschaft zugeschnitten ist (aktuelle Problemfelder: "Law and Order", Bevölkerungspolitik, und Selbstorganisation von Migranten).

- Das politische Zentrum muß sich auf die Kontrolle essentieller Karrierepfade in der Machthierarchie und die Beherrschung bestimmter Rahmenbedingungen kultureller, institutioneller und gegebenfalls rechtlicher Natur konzentrieren, ist aber nicht zum bürokratischen Durchgriff hin zur "Basis" in der Lage (aktuelle Problemfelder: Besteuerung, Durchssetzung von Rechtsnormen und Verwaltungsanweisungen).

- "China" konstituiert sich also erneut als ein Gemeinwesen, das nicht die Strukturen eines Nationalstaates westlicher Provenienz aufweist, sondern als ein kulturell definierter Wirtschaftsraum, der von der Hegemonie eines politischen Statthalters bestimmter gesamtchinesischer Ordnungs- und Entwicklungsvorstellungen geprägt ist (aktuelle Problemfelder: politische Kontrolle des Bildungs- und Kulturbereiches, Anpassung der Ideologie an gesellschaftlichen Wandel).

- Vor diesem Hintergrund wird "Regionalismus" konstitutiv für die chinesische Gesellschaftsordnung und ist keine Kraft der Desintegration. Dies gilt in kultureller Hinsicht ("regionale Variationen des Themas der chinesischen Kultur") ebenso wie in wirtschaftlicher ("desynchronisierte Zyklen in Makroregionen bei wachsender Integration des Binnenmarktes und selektiver Integration in die Weltwirtschaft"). "Regionalisierung" bedeutet gleichzeitig, daß lokale politische Mechanismen der Problem- und Konfliktlösung wichtiger werden als "nationale".

- Der säkulare Trend der "Privatisierung" gesellschaftlicher Ordnungsfunktionen wird fortgesetzt, indem aus der Symbiose neuer wirtschaftlicher Eliten und lokaler Parteiorganisationen eine autoritäre Honoratiorenherrschaft mit begrenzter lokaler und regionaler Reichweite entsteht, die durch die zentrale Kontrolle von überregionalen Karrieremustern begrenzt wird (jüngst als "Kaskadenautoritarismus" bezeichnet). Es entsteht eine "parastaatliche Öffentlichkeit", aber keine "civil society" im Sinne bürgerlicher Nationen der europäischen Modernisierung.

- Diese Privatisierung der staatlichen Ordnung wird durch die endemische fiskalische Krise des Zentralstaats vorangetrieben, die ursächlich mit der Unfähigkeit zur vollständigen bürokratischen Durchdringung der chinesischen Gesellschaft zusammenhängt. Der Zwang zur Erschließung zusätzlicher Finanzierungsquellen ("za fei" heute und gestern) zieht die Kommerzalisierung des staatlichen Handelns nach sich und begleitet mithin die durchgreifende Kommerzialisierung der gesamten Gesellschaft.

Mit diesen Merkmalen entpuppt sich China in der Tat als ein strukturell erstaunlich stabiles Gemeinwesen, denn solche allgemein formulierten Aussagen können für die Zeit des späten Kaiserreiches ebenso Gültigkeit beanspruchen wie für die Trends der neunziger Jahre. Die aktuelle Relevanz solcher Familienähnlichkeiten wird illustriert, wenn nur die Schlüsselprobleme der gegenwärtigen chinesischen Verfassung betrachtet werden, die das "Blaubuch" der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften im Frühjahr 1994 aufgelistet hat, nämlich die Beziehung zwischen Zentrale und Provinzen, Korruption, Disparitäten der Entwicklung, soziale Unruhen und Niedergang der öffentlichen Ordnung. Es wäre nun aber verfehlt, wollte man also zurückschließen, daß heute ebenfalls eine Phase des "dynastischen Niedergangs" eingeläutet ist, denn das Versagen der politischen Strukturen des Kaiserreiches ergab sich eindeutig zu einem großen Umfang aus dem extremen Druck, der von außen durch den westlichen Imperialismus ausgeübt wurde und beispielsweise die fiskalische Impotenz des Staates besiegelte. Ein solcher äußerer Druck existiert heute und auf absehbare Zeit nicht. Insofern muß gefragt werden, ob Chinas innere Entwicklungsprobleme die oben skizzierten politischen und gesellschaftlichen Strukturen zerbrechen könnten.

Ohne Zweifel spielt hier die auseinanderstrebende Entwicklung der Regionen eine Schlüsselrolle, denn sie ist unter anderem eine wesentliche Determinante der Migration. Fassen wir auch hier die wichtigsten Erkenntnisse stichwortartig zusammen.

- Bislang hat sich die Disparität zwischen den Regionen insgesamt nicht wesentlich verschärft, wohl aber haben sich erhebliche Veränderungen der relativen Position der Provinzen vollzogen, die Ausdruck divergierender regionaler Entwicklungspotentiale sind. Absolute Disparität ist daher noch ein Problem der Zukunft.

- Die chinesischen Provinzen und Regionen weisen einen seit 1978 zurückgehenden Grad wirtschaftlicher Integration auf, wenn unterschiedliche ökonomische Kenngrößen zur Entwicklung des Sozialproduktes in Beziehung gesetzt werden. Dies gilt für Handelströme ebenso wie für die fiskalische Umverteilung und interprovinzielle Kapitalströme insgesamt.

- Die Provinzen sind in höchst unterschiedlicher Weise in die Weltwirtschaft integriert, wenn die Anteile am nationalen Export und die relative Bedeutung ausländischer Direktinvestitionen an der Kapitalbildung in der Provinz betrachtet werden. Vor allem ärmere Provinzen und die meisten Binnenprovinzen sind vom dem Prozeß der internationalen Integration bislang abgekoppelt.

- In dynamischen Regionen ist ausländisches (d.h. im wesentlichen auslandschinesisches) Kapital ein zentraler Faktor für den institutionellen und strukturellen Wandel. In den zurückfallenden Regionen zeichnet sich stattdessen eine strukturelle Krise der dualistischen Wirtschaft ab, also des Nebeneinanders von traditionell geprägter Landwirtschaft und staatsindustriellem Sektor, die vor allem in den Schwierigkeiten bei der ländlichen Industrialisierung Ausdruck findet. Dies überlagert sich mit den großen Unterschieden beim institutionellen Wandel, also vor allem des Anteils der unterschiedlichen Eigentumsformen an der Kapitalbildung.

- Die Provinzen weisen eine breite Streuung der Kapitalbildung (produktiv und Infrastruktur) pro Kopf der Bevölkerung auf, die im Falle der ärmeren Provinzen eventuell nur zur Bestandswahrung führt, nicht aber zu einem Nettowachstum des Kapitalstocks. Dies gilt nicht nur für das Sachkapital, sondern auch hinsichtlich des Humankapitals, d.h. für die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Bildungsgraden und für das Bildungssystem.

Allein diese kurzen Beobachtungen weisen eindeutig auf den Tatbestand regional divergierender Entwicklungspotentiale hin. Daher sind grundsätzliche Zweifel angebracht, ob die Wechselwirkung zwischen den beiden Prozessen der Regionalisierung und der Internationalisierung der chinesischen Wirtschaft tatsächlich auch zu den erhofften "spillover"-Effekten zwischen regionalen Wachstumspolen und den Binnenregionen führen wird. Es sei nur erwähnt, daß Wachstumspole bislang nicht einmal auf Provinzebene abgegrenzt werden sollten, sondern eigentlich subregionalen Charakter haben. Das bedeutet bespielsweise, daß "spillover"-Effekte naturgemäß weniger zwischen Shanghai und den mittleren und unteren Yangzi-Provinzen stattfinden werden, sondern zunächst zwischen Shanghai und dem südlichen Jiangsu, das eine äußerst dynamische ländliche Industrie besitzt, und im zweiten Zuge vielleicht zwischen dieser entstehenden Megalopolis und dem zurückfallenden nördlichen Jiangsu. Das heißt, die große Bedeutung subregionaler Disparitäten darf nicht aus dem Blickfeld geraten, wenn von "spillover"-Effekten gesprochen wird. Dies gilt beispielsweise auch für die Gebiete des kantonesischen Wirtschaftsraumes.

Verläßliche Prognosen der künftigen Entwicklung sind nicht möglich. Vieles hängt von wirtschaftlichen Veränderungen im Umfeld Chinas ab, etwa von den möglichen Effekten einer Handelsbelebung an den Grenzen der Binnenprovinzen (zu Vietnam, Zentralasien, Sibirien, Mongolei), die ja mit der seit 1992 verfolgten gesamtchinesischen Öffnungspolitik ausdrücklich angestrebt werden. Werden die politischen Rahmenbedingungen einer Entwicklungspolitik betrachtet, die regional divergierende Entwicklungspotentiale ausgleicht, dann wirken positive und negative Faktoren zusammen, wie zum Beispiel das Staatsversagen in der Bildungspolitik auf der einen Seite, das sich auf allen gebietskörperschaftlichen Ebenen findet, und der eindeutige Wille der Zentralregierung, Ausgleichsinstrumente zu nutzen, wie etwa "weiche" Projektfinanzierung in den Binnenprovinzen als Gegengewicht zum Zustrom von ausländischen Direktinvestitionen andernorts oder die Unterstützung wirtschaftlicher Kooperation zwischen den Provinzen. Davon abgesehen, sollte die vorschnelle, aber weit verbreitete Forderung, daß Entwicklungsunterschiede durch eine starke, umverteilende Zentralregierung ausgeglichen werden sollten, kritisch reflektiert werden. Unter den gegebenen Verhältnissen dürfte eine stark zentral kontrollierte Umverteilung eher zu Fehlallokationen und bürokratischen Reibungsverlusten führen als die jetzige Form einer eher dezentralen, flexiblen Aushandlung von Ausgleichsmaßnahmen zwischen den Provinzen und zwischen Zentrale und Provinzen.

Es gibt jedoch einen exogenen Faktor, der eventuell tatsächlich zur Überlastung der Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems führen könnte: Der Beitritt Chinas zum GATT bzw. zur WTO und damit die erforderliche Minderung des Protektionsgrades. Wenn von der "Internationalisierung" der chinesischen Wirtschaft gesprochen wird, bleibt meist ungesagt, daß China in ungewöhnlich hohem Maße durch tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse vom Weltmarkt abgeschirmt ist. Entsprechend weitreichend dürften die Effekte einer Absenkung dieser Barrieren für die Binnenwirtschaft sein. Dies betrifft erneut vor allem jene Regionen, die heute eine dualistische Wirtschaftsstruktur mit Staatsindustrie und unterentwickelter ländlicher Industrie und Landwirtschaft aufweisen. Beide sind bereits heute einem erheblichen Wettbewerbsdruck ausgesetzt, der von Binnenimporten aus den entwickelteren Küstengebieten ausgeht. Treten hierzu noch verstärkte Importe etwa von Konsumgütern aus dem asiatischen Umfeld, dürften sich erhebliche regionale Strukturkrisen einstellen. Wie in der Vergangenheit könnte dies eine erhebliche Belastung für das Verhältnis zwischen Zentrale und Provinzen werden, denn die Binnenprovinzen werden ohne Zweifel erneut zum Instrument des Binnenprotektionismus greifen, um sich gegen die negativen Effekte der Absenkung des nationalen Protektionsgrades abzuschirmen.

Damit gerät erneut die internationale Perspektive ins Blickfeld. Die möglichen Folgen des GATT-Beitritts sind eine Illustration des Umstandes, daß Chinas innere Entwicklung seine Beziehungen zur Welt entscheidend prägen. Die Pekinger Zentralregierung vertritt China, aber das bedeutet künftig nicht notwendig, daß sie diese Vertretung im Sinne internationaler Absprachen, Übereinkünfte und Kontakte auch nach innen verbindlich realisieren wird. Genau in diesem Kontext gewinnt auch das Nachfolgeproblem weiterreichende Bedeutung. Zum Beispiel hat das Militär heute eine stärkere Stimme bei der Außenpolitik, und viele Figuren Chinas auf der internationalen Bühne hängen damit zusammen, daß die Konsensfindung schwierig ist. Dies war eindeutig im Zusammenhang der nordkoreanischen Nuklearfrage der Fall: Die VBA sieht weiterhin Loyalitätspflichten gegenüber dem Waffenbruder, während das Außenministerium interessiert ist, China eine angemessene Position in der Weltpolitik zu verschaffen, zu der auch die aktive Stellungnahme und Vertretung gewisser internationaler Konsenslösungen gehört, also vor allem im Dienste des eigenen Aufbaus als asiatischer Ordnungsmacht. Vermutlich haben die kommerziellen Interessen des Militärs den Ausschlag gegeben, daß letztlich der Tausch zwischen einer kooperativen Haltung Chinas in der Nordkorea-Frage und der MFN-Verlängerung akzeptiert wurde. Ähnliche innerchinesische Interessenkonflikte gibt es beispielsweise im Zusammenhang der umfangreichen chinesischen Waffenexporte auch in Spannungsgebiete.

Es ist daher gegenwärtig völlig offen, welche Konsequenzen des inneren Wandels sich für die Rolle Chinas in der Weltpolitik ergeben. Scheinbar einfache Zusammenhänge zwischen Wirtschaftswachstum und möglicher Aufrüstung lassen sich empirisch kaum fixieren: China als künftige Weltmacht ist eine Vision, die ähnlich diffus ist wie sein Bild als Wirtschaftsmacht.

Die Denationalisierung Chinas

Die Pekinger Führung versucht seit dem Niedergang des Sozialismus in Osteuropa diese Rolle Chinas in der Welt neu zu definieren. Diese Identitätsfindung ist noch nicht abgeschlossen, weil hierzu stabile innere Strukturen erforderlich wären. Der Westen tut gut daran, diese inneren Strukturen realistisch einzuschätzen, und nicht mit Pauschalurteilen über "China" Politik zu treiben. Dies ist unabdingbare Voraussetzung dafür, China als weltpolitischen Akteur berechenbar werden und bleiben zu lassen. Wenn beispielsweise das Pauschalurteil von der "Wirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts" sich als Fehlbeurteilung herausstellt (was übrigens neuerdings durch offizielle Vertreter der VR China behauptet wird), dann könnte dies eine erneute Depression des westlichen Interesses nach der Phase des gegenwärtigen China-Booms einläuten. Ein starker Rückgang des Kapitalstroms aus dem Ausland würde dann aber die latenten Strukturkrisen des Landes ohne Zweifel zum Ausbruch bringen, und damit möglicherweise einen "circulus vitiosus" von Kapitalmangel und Wachstumsbarrieren anstoßen. Geboten ist heute aber, hinter Pauschalurteile über China zu dringen und nicht nur die Probleme, sondern auch die ohne Zweifel gewaltigen Entwicklungspotentiale des Landes in einer Weise realistisch einzuschätzen, daß auch entscheidende Determinanten dieser Potentiale, wie etwa der Zustrom ausländischen Kapitals, stabil und berechenbar bleiben. Der Westen wird dann auch wissen, daß China anders sein wird als andere nationale Akteure der Weltpolitik und Weltwirtschaft: Chinas Regionalisierung und internationale Integration werden zu seiner Denationalisierung führen - einem Wirtschaftsraum ohne nationale Grenzen, und einer Wachstumsregion ohne nationalstaatlichen Machtanspruch. Dieser Entwicklung müssen dann auch die politischen Instrumente und Kommunikationsmechanismen des Westens angepaßt werden.


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