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Großbritannien : Ende der Tory-Herrschaft dank "neuer" Labourparty? / von Klaus Funken. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1994. - 13 S. = 42 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1997

© Friedrich-Ebert-Stiftung



Trotz einer nicht ungünstigen Wirtschaftsentwicklung hält das Meinungstief der regierenden Konservativen Partei und vor allem ihres Premiers, John Major, in der britischen Öffentlichkeit an. Major ist der unpopulärste Regierungschef seit Jahrzehnten.

Seit 1992 haben die Tories in Nachwahlen, in den Europa- und den Kommunalwahlen schwere Niederlagen einstecken müssen, Labour befindet sich dagegen in einem anhaltenden Aufwind.

Die Wähler konzentrieren im britischen Mehrheitswahlrecht inzwischen ihre Stimmen zu regelrechten Anti-Tory-Koalitionen und bevorzugen den Oppositionskandidaten, der die größten Chancen hat, den Wahlkreis direkt zu gewinnen. Diese Änderung im Wahlverhalten macht einen Regierungswechsel immer wahrscheinlicher.

Der neue Labourchef Blair, ein Vertreter des rechten Parteiflügels, hat die Partei auf einen Modernisierungskurs eingeschworen, der Labour zur Mitte öffnet. Sozialistische Rhetorik, Gewerkschaftsdominanz und Ambivalenz gegenüber der Marktwirtschaft werden abgelöst durch Bekenntnisse zur unternehmerischen und individuellen Initiative.

Das Blair-Programm setzt auf eine Qualifikationsoffensive der Beschäftigten und auf weniger Staat, bekennt sich zu Europa und zur technologischen und politisch-sozialen Erneuerung der britischen Gesellschaft. Die Tories werden mit ihren eigenen Waffen geschlagen.

Der Transformationsprozeß der Labourparty von einer sozialistischen zu einer sozialdemokratischen Partei verändert die britische Politikkultur. Labour ist "in", das Ende der Toryherrschaft scheint sich abzuzeichnen.

Vieles deutet darauf hin, daß das Jahr 1994 als ein Jahr in die politischen Geschichte Großbritanniens eingehen wird, in dem sich der Meinungsumschwung von den Konservativen zugunsten einer sozialdemokratisch mutierten Labour Party (The New Labour Party) vollzogen hat.

Der anhaltende verbitterte Streit innerhalb der Konservativen Partei über die Rolle Großbritanniens in einer sich rasch wandelnden Welt, der sich an Fragen der weiteren europäischen Integration nur gefährlich entzündet, jedoch über europapolitische Fragen hinausgeht, ist alles andere als entschärft. Europapolitisch ist die Regierung auf dem Rückzug und lässt sich von den Euroskeptikern Tempo und Ausmaß ihrer Politik diktieren. Bei innen-, finanz- und sozialpolitischen Themen fällt es ihr immer schwerer, Konsens in ihren Reihen herzustellen. Die Rücksichtnahme auf Partialinteressen bestimmt immer mehr das Überleben der Regierung. Der unpopuläre, auch in seiner eigenen Partei nach wie vor umstrittene Premierminister bleibt freilich im Amt, denn alle Versuche innerhalb der Partei, John Major in diesem Jahr loszuwerden, sind daran gescheitert, daß eine andere Personalentscheidung nicht mehrheitsfähig zu sein scheint. Die Regierung ist personell verbraucht, ohne neue Ideen, in endlose Grabenkriege verzettelt. Die Konservative Partei insgesamt scheint orientierungslos, in kaum überbrückbare Flügelkämpfe verstrickt, ist sie zur Schwäche an der Spitze und zu faulen Kompromissen in wesentlichen Fragen der Politik verurteilt. Das Durchschlagen des gordischen Knotens durch eine Führungsfigur von der Statur Margret Thatchers ist nicht in Sicht.

Anders die Labour Party. Nach dem tragischen Tod von John Smith stellt sich die Wahl seines Nachfolgers als ein Glücksfall heraus. Mit dem neuen Vorsitzenden Blair vollzieht die Labour Party einen Generationenwechsel, der personell und programmatisch einer Zäsur gleichkommt. Auf dem Parteitag der Labour Party Anfang Oktober in Blackpool stellte Blair unter Beweis, daß er nicht nur über eine starke charismatische Ausstrahlung verfügt, die seinem Vorgänger John Smith mangelte, er verkörpert auch für viele Siegeszuversicht, Glaubwürdigkeit und Kompetenz. Schon spricht die britische Presse von der "New Labour Party", die die Meinungsführerschaft, die über fünfzehn Jahre die Konservativen innehatten, erfolgreich übernommen habe. In der Rechts- und Innenpolitik, in der Finanz- und Beschäftigungspoltik, in der Außen- und Europapolitik wird in Meinungsumfragen der Labour Party inzwischen eine höhere Kompetenz als den Konservativen zugebilligt. Es ist wieder chic, sich als Labour-Anhänger auszugeben. Und dies reflektiert sich auch in der veröffentlichten Meinung.

Es ist nun schon dreißig Jahre her, als mit Harold Wilson eine Persönlichkeit an der Spitze der Labour Party stand, die, wie Tony Blair, der Partei und der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln kann, daß ein Wechsel überfällig und realistisch ist. Blairs Wahl und sein Programm der Mitte stellen zugleich die Entschlossenheit der Labour Party unter Beweis, mit einer Politik des Pragmatismus und Augenmaßes, gepaart mit einem gesunden Machtwillen, die konservative Regierung unter John Major abzulösen.

Die Krise der Konservativen Partei

John Majors Partei bleibt im Meinungstief, obwohl die wirtschaftlichen Daten durchaus beeindrucken könnten: Die Preissteigerungsrate ist seit mehr als einem Jahr bei etwa zwei Prozent stabil geblieben, die wirtschaftlichen Leistungen wachsen in diesem Jahr, schneller als von der Regierung vorausgesagt, um drei Prozent, die Arbeitslosigkeit ging gegenüber dem Höchststand 1992 um 400 000 zurück. John Major hat es bislang jedoch nicht geschafft, daraus Vorteile zu ziehen; er ist mit Abstand der unpopulärste Premier seit den dreißiger Jahren, als zum erstenmal in Meinungsumfragen die Popularität von Premierministern ermittelt wurde.

In einer repräsentativen Gallup-Umfrage für den Daily Telegraph vom September 1994 wird dieser Befund untermauert: Auf die Frage, ob die derzeit gute wirtschaftliche Lage der Politik der Regierung oder weltwirtschaftlichen Einflüssen zuzuschreiben sei, antworteten 8% der Befragten, die Regierung sei dafür verantwortlich, 68% nannten dagegen weltwirtschaftliche Einflüsse. Selbst aus dem konservativen Lager hielten nur 18% den Wirtschaftsaufschwung der Regierung zugute, 54% meinten, er sei eher auf die Entwicklung der Weltwirtschaft zurückzuführen.

Entsprechend sahen die Antworten auf die für Wahlen so entscheidende Frage nach der wirtschaftspolitischen Kompetenz aus. Auf die Frage "Wenn Britannien in wirtschaftlichen Problemen steckt, welche Partei, glauben Sie, würde am ehesten damit fertig, die Konservativen oder die Labour Party?" antworten für :

Aug.94 Jun.94 1992
Labour 49,1% 46,6% 38,0%
Konservative 21,0% 22,4% 44,6%

Anhaltende Wahlniederlagen der Tories

Seit der Unterhauswahl im April 1992 zeichnet sich ein Trend bei By-elections, Kommunal- und Regionalwahlen ab, der für die Tories durchweg negativ verläuft, und der sich in diesem Jahr weiter verstärkt hat. Die Konservative Partei hat seit 1992 praktisch keine Wahl mehr für sich entscheiden können. Besonders deutlich wird dies in den Kommunalwahlen vom Mai und den Europawahlen vom Juni dieses Jahres. Hinter diesem Trend verbirgt sich eine Veränderung des Wahlverhaltens, die sich durch den Blair-Effekt noch beschleunigt hat.

In der Kommunalwahl am 5. Mai 1994 mußte die Konservative Partei die bisher schwerste Niederlage ihrer Geschichte hinnehmen. Sie verlor in den 18 County-Councils insgesamt 429 Sitze, die Labour Party gewann 83 Mandate, die Liberale Partei 373. Gegenüber der "Schreckenswahl" von 1990, als die Konservativen auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die sogenannte Poll-tax mit 32% eine bis dahin nicht für möglich gehaltene Wahlniederlage hinnehmen mußte, bedeutet das Ergebnis der Kommunalwahl 1994 eine nochmalige Verschlechterung. Hinter der Labour Party, die 41% der Stimmen (1990 40%) errang, und der Liberalen Partei, die 28% der Stimmen (1990 18%) auf sich zog, lag die Konservative Partei mit 27% an dritter Stelle. In Schottland schnitt sie sogar noch schlechter ab: dort rangiert sie nunmehr nach den Schottischen Nationalisten auf dem vierten Rang.

Sieger in der Kommunalwahl vom Mai war die Liberaldemokratische Partei, die ihren Stimmenanteil von 18 auf 28% erhöhen konnte und über 370 Mandate hinzugewann. In London nahm sie der Labour Party den Wahlkreis Lambeth, eine Hochburg der Linken in der Labour Party, und den Konservativen den Wahlkreis Kingston, von jeher ein Herzland der Tories, ab. In Bath gewann sie von den Konservativen 21% der Stimmen und in Worthing 15%, beide Wahlkreise galten als uneinnehmbare konservative Hochburgen. Einziger Wermutstropfen für die Liberalen war ihre Niederlage in Tower Hamlet, dem Londoner Wahlkreis, in dem die örtliche Parteiorganisation versucht hatte, es der rechtsradikalen British National Party mit ausländerfeindlichen Parolen gleichzutun. Die Parteiführung sah sich gezwungen, ein Parteiordnungsverfahren gegen die Verantwortlichen einzuleiten und die Kampagne öffentlich zu verurteilen. Die Quittung für ihren Flirt mit rechtradikalen Parolen erhielten die Liberaldemokraten dann in der Kommunalwahl, als sie ihre Mehrheit gegen Labour verloren.

Der Stimmenzuwachs für die Labour Party fiel nicht ganz so stark aus. Der Grund dafür war, daß sie 1990 bereits ein hervorragendes Wahlergebnis erzielt hatte. Die Liberaldemokraten hatten dagegen 1990 nicht so gut abgeschnitten. Gleichwohl legte Labour noch einmal einen Prozentpunkt zu und erzielte das beste Ergebnis in einer Kommunalwahl seit ihrem Bestehen: In Schottland, im Norden Englands, in den Midlands, im Süden konnte die Labour Party ihr glänzendes Ergebnis der Kommunalwahl von 1990 stabilisieren. Birmingham wurde gehalten, obwohl die Konservativen alles daran setzten, den Labour Stadtrat zu kippen. Croyden, im Süden Londons, wurde nach einer über hundertjährigen Vorherrschaft der Konservativen zum ersten Mal von Labour erobert, auch der Londoner Bezirk Ealing wurde gewonnen. Anderseits konnte Labour wichtige Ziele noch nicht erreichen: die beiden Londoner Wahlbezirke Westminster und Wandsworth wurden von den Konservativen gehalten, obgleich der konservative Stadtrat von Westminster in einem landesweit bekannten Wohnungsbauskandal verwickelt war. Im Süden des Landes konnte die Labour Party ihr Ergebnis von 1990 nicht ganz verteidigen, Bath ging an die Liberaldemokratische Partei.

Europawahl: Erfolg der Labour Party

In der Europawahl am 12. Juni mußte die Konservative Partei erneut eine demütigende Niederlage einstecken. Die Wahlbeteiligung blieb mit gut 35% niedrig, was hauptsächlich auf die Wahlenthaltung des konservativen Wählerpotentials zurückzuführen war. Zur großen Überraschung schnitt diesmal die Liberaldemokratische Partei nicht so erfolgreich ab wie in den Wahlen vom 5. Mai. Großer Gewinner war die Labour Partei, die ihren Stimmenanteil um 4,1% auf 44,2% erhöhen konnte. Von den 87 britischen Sitzen im Europaparlament konnte sie allein 62 (+ 17 Sitze) auf sich vereinigen, die Konservativen erzielten mit 27,8% (- 6,3%) 18 Sitze (- 14 Sitze), die Liberaldemokraten brachten es mit 16,7% auf ganze 2 Sitze. Die Schottischen Nationalisten erhielten 3,2% (2 Sitze), die nordirischen Parteien SDLP (Social Democrat and Labour Party), die DUP (Democratic Ulster Unionists) und die OUP (Official Ulster Unionists) erhielten jeweils einen Sitz im Europaparlament.

Für die oppositionelle Labour Party war dies das beste nationale Wahlergebnis seit über 30 Jahren. In der schwierigen Phase nach dem Tode von John Smith hatte die Führung der Partei ein erhebliches Maß an Geschlossenheit und Disziplin gezeigt und ein verkrampftes Gerangel um die Nachfolge von John Smith vermeiden können. Sie hatte sich geradezu statesmanlike verhalten, was ihr zusätzliche Sympathien einbrachte. Hinzukommt der Blair-Effekt, der sich an dem relativ ungünstigen Ergebnis für die Liberaldemokraten zeigt. Labour hat in der Europawahl zum ersten Mal in einer nationalen Wahl einen deutlichen Durchbruch im Südwesten des Landes erzielt, die strongholds der Konservativen, die bis dahin nur die Liberaldemokraten erfolgreich zu schleifen verstanden. Jetzt zeigt die Labour Party, daß auch sie in der Lage ist, die Konservative Partei auf ihrem eigenem Platz zu besiegen.

Die Tories erzielten ihr schlechtestes Wahlergebnis auf nationaler Ebene, aber es wurde als nicht so catastrophic bewertet wie zuvor befürchtet worden war. Die Zentrale der Konservativen Partei und die Tory freundliche Presse hatte bereits nach dem Desaster der Kommunalwahl und den By-elections vom 5. Mai die Erwartungen für die Europawahl so niedrig angesetzt, daß selbst ein erneutes Debakel noch als ein relativer Erfolg des Premierministers gewertet werden konnte. So wurde die Devise ausgegeben, daß John Major nur dann gefährdet sei, wenn die Konservative Partei ein nur einstelliges Ergebnis erzielen würde, was als höchst unwahrscheinlich gelten konnte. So hatten sich John Major und seine Helfer eher mit einem Trick vor einer erneuten untimely leadership discussion gerettet, bevor die Abgeordneten in die Sommerpause gingen.

Die Wahlergebnisse der letzten beiden Jahre, in denen die Konservativen bei keiner Wahl - seien es By-elections, Regional- oder Kommunalwahlen - einen Erfolg erzielen konnten, zeigen einen bedeutenden Wandel im Wahlverhalten der nichtkonservativ wählenden Bevölkerung: Sie gibt dem Kandidaten der Oppositionsparteien ihre Stimme, der die meisten Chancen hat, den Wahlkreis direkt zu gewinnen. Die Liberaldemokraten stellen ihre Wahlkampfstrategie ganz bewußt darauf ab. Obwohl beide Parteiführungen Wahlabsprachen oder Empfehlungen an Wähler ablehnen, läuft das Wahlverhalten der Stimmbürger, auch der meisten Parteimitglieder, darauf hinaus, eine erfolgversprechende antikonservative Wahlentscheidung herbeizuführen.

Das absehbare Ergebnis dieser Entwicklung wird sein, daß die Konservative Partei es nicht mehr schaffen wird, mit ca 43% der Stimmen - wie 1983, 1987 und 1992 - nationale Wahlen zu gewinnen. Vielmehr wird sie 45% und mehr Stimmen auf sich vereinigen müssen, um ihre absolute Mehrheit im House of Commons zu verteidigen. Selbst bei Veränderung der bestehenden Wahlkreisgrenzen zugunsten der Konvervativen Partei und zulasten vornehmlich der Labour Party wird es für die Konservativen extrem schwierig werden, 45% und mehr der abgegebenen Stimmen zu gewinnen. Ein Regierungswechsel in Großbritannien wird deshalb immer wahrscheinlicher.

Das neue Profil der Labour Party

Die Chancen für einen Wechsel sind für Labour so gut wie lange nicht mehr. Nicht nur bei Kommunal- und Regionalwahlen, bei Nachwahlen zum Unterhaus und bei der Europawahl, sondern auch in den seit Juli veröffentlichten Meinungsumfragen ließ die Partei ihre Mitbewerber meist weit hinter sich. Entscheidend ist, daß Labour in den bislang für sie uneinnehmbaren Wahlkreisen im Süden des Landes inzwischen vor den Konservativen und den Liberaldemokraten liegt. Die Liberalen fühlen sich am stärksten von Blair bedroht, drängt er doch die Labour Party weiter in die Mitte und damit in das Wählerspektrum, das die Liberalen seit jeher für sich in Anspruch zu nehmen versuchen und das ihnen die Labour Party unter Michael Foot und Tony Benn so generös überlassen hatte. So sind die Liberaldemokraten in der Wählergunst von etwa 24% vor John Smith' Tod im Frühjahr auf 17% Mitte August zurückgegangen.

Hinzukommt, daß Tony Blair in bis dahin labourfeindlichen oder zumindest labourskeptischen Wählergruppen Sympathie und Zustimmung erfährt: bei den begüterten Alten wie bei den wertefesten Mittelstandsfrauen, bei Selbständigen, kleinen und mittleren Unternehmern und beim parteiungebundenen Management der Großunternehmen. Gleichzeitig gelingt es ihm, das traditionelle Labour Milieu bei der Stange zu halten.

In der Gallup-Umfrage für den Daily Telegraph vom September wird der Stimmungsumschwung zugunsten Labour festgehalten. Nur noch zwölf Prozent der Befragten fanden die Konservative Partei attraktiv, 81% mißbilligten die Leistungen der Regierung. 62% fanden dagegen die Labour Party "favourable", 34% die Liberaldemokraten. Seit Anfang der sechziger Jahre ist die Labour Party zum erstenmal wieder "in", ist es "fashionable", sich mit ihr zu identifizieren. Auf die Frage, welche Partei sie wählen würden, wenn jetzt Unterhauswahlen stattfänden, sprachen sich aus für:

Aug. 94 Jun 94 Wahl 92
Labour 55,5% 51,8% 35,2%
Konservative 23,0% 21,8% 42,8%
Liberale 16,6% 20,3% 18,3%

Ganz wesentlich geht der Stimmungsumschwung zugunsten der Labour Party auf ihren neuen Parteichef zurück: Auf die Frage, wer für das Amt des Premierministers am besten geeignet sei, stimmten in der Gallup-Umfrage im September 41,5% für Tony Blair, 15,6% für John Major und 14,5% für Paddy Ashdown. Der Premierminister liegt also rund 26 Prozentpunkte hinter seinem Herausforderer zurück.

Mehr innerparteiliche Demokratie

Es ist erst gut zwei Jahre her, daß John Smith mit einem überwältigenden Vertrauenbeweis als Nachfolger von Neil Kinnock zum Parteichef gewählt worden war. Smith hatte die Partei nach ihrer deprimierenden Niederlage im April 1992 nicht nur zusammenhalten können, sondern auch auf ihrem Modernisierungsweg weitergeführt. Eckpunkte seiner Modernisierungsstrategie waren: Abkehr von kollektivistischen Denkmodellen und von den sozialistischen Dogmen der Vergangenheit wie Verstaatlichung, tradionelle Subventionspolitik und eine exzessive redistributive Besteuerungspolitik, Hinwendung zum Individuum mit seinen jeweiligen Nöten, Interessen und Erwartungen, Bekenntnis zu Pragmatismus und realistischer Reformpolitik.

Ein wesentlicher Eckpunkt dieser Strategie betraf das Verhältnis der Labour Party zu den Gewerkschaften. Es ging darum, das Prinzip "One member one vote" (OMOV) als entscheidendes Gestaltungsprinzip für die innerparteilichen Entscheidungsprozesse durchsetzen und damit das sogenannte block voting Verfahren abzuschaffen, mit dem den der Labour Party verbundenen Gewerkschaften eine entscheidende Mitsprachemöglichkeit eingeräumt worden war. In Wahrheit dominierten die "Gewerkschaftsbarone" mehr oder weniger die Politik der Partei. Das galt vor allem bei Personalentscheidungen. So munkelt man, daß der abrupte Abgang von Neil Kinnock und die überaschend schnelle Inthronisierung von John Smith kurz nach der verlorenen Aprilwahl 1992 im wesentlichen von den fünf mächtigsten Gewerkschaftsbossen beschlossen und durchgesetzt worden war. Vor allem blieben die Einflußmöglichkeiten der Einzelmitglieder in den Wahlkreisen limitiert, was die Attraktivität der Labour Party in Öffentlichkeit und Gesellschaft stark beeinträchtigte und der Partei den Ruf einbrachte, sie sei gewerkschaftshörig.

Zur Überraschung vieler machte John Smith bereits kurz nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden deutlich, daß in Zukunft die Gewerkschaftsführungen keinen direkten Einfluß bei der Auswahl der Kandidaten für das britische Parlament oder bei der Wahl der Parteispitze mehr ausüben werden. Gewerkschaftsmitglieder sollten nur durch ihre individuelle Mitgliedschaft in der Labour Party Einfluß auf Politik und Auswahl von Kandidaten gewinnen.

Zuerst nicht recht ernstgenommen, organisierten die großen Gewerkschaften erbitterten Widerstand, als sie merkten, daß Smith mit Beharrlichkeit und Überzeugungskraft eine Mehrheit in der Parteiführung hinter sich vereinigen konnte. Gewerkschaften wie UNISON, TGWU, GMB und MSF sprachen sich auf ihren Kongressen eindeutig gegen OMOV aus. Vor dem Parteitag konnte kein Kompromiß zwischen Smith und den Gewerkschaftsbaronen, allen voran John Edmonds von GMB und Bill Morris von TGWU, erzielt werden. Es schien so, als habe Smith keine Mehrheit auf dem Parteitag hinter sich, da die Auswahl der Delegierten stark von den oppositionellen Gewerkschaften beeinflußt war und das block voting Verfahren noch immer in Kraft war. Erst als MSF, die bis dahin auch gegen OMOV gestimmt hatte, ihren Delegierten die Abstimmung freistellte und nachdem John Prescott in einer fulminanten Rede sich für Smith' Vorschlag ausgesprochen hatte, kam das neue Abstimmungsverfahren mit einer denkbar knappen Mehrheit durch.

Der Brighton-Beschluß sieht folgendes vor:

1.) Parlamentskandidaten werden nicht mehr - wie bisher - von Einzelgewerkschaften und Parteimitgliedern aus den Wahlkreisen, sondern nur noch von von den Parteimitgliedern in den Wahlkreisen gewählt. Gewerkschaftsmitglieder, die einer der Labour Party angegliederten Gewerkschaft angehören und einen zusätzlichen Beitrag von 3 Pfund Sterling jährlich an die Partei abführen, können an der Kandidatenauswahl teilnehmen, affiliierte Gewerkschaften können eigene Kandidaten vorschlagen.

2.) Die Parteivorsitzenden und ihre StellvertreterInnen werden zukünftig von einem electoral college aus drei gleichgroßen Gruppen gewählt: Gewerkschaften, Mitglieder des House of Commons und des Europaparlaments und Parteimitglieder aus den Wahlkreisen. Bisher hatten die Gewerkschaften 40% der Delegiertenstimmen, 6o% die Parteimitglieder aus den Wahlkreisen und die Labour-Mitglieder im House of Commons und im Europaparlament.

3.) Die Gewerkschafter werden auf den Parteitagen nicht mehr im Auftrag ihrer jeweiligen Gewerkschaft im Block abstimmen, sondern jeder von den Gewerkschaften entsandte Gewerkschafter wird über ein individuelles Stimmrecht verfügen. Der Anteil der Gewerkschafter auf den Parteikongressen beläuft sich - wie bisher - auf 70% der Delegiertenstimmen, er wird jedoch, in dem Maße, wie die Zahl der Einzelmitgliedschaften in der Partei zunimmt, zurückgehen. Erhöht sich die Mitgliedschaft von derzeit 250.000 auf 300.000, sinkt die Gewerkschaftsquote auf 50%.Die Zahl der Gewerkschafter im Parteivorstand geht von 18 auf 12 von ingesamt 29 Parteivorstandsmitglieder zurück.

Nach wie vor bleibt also der unmittelbare Einfluß der Gewerkschaften auf die Labour Party hoch, wenngleich der Beschluß von Brighton eine innerparteiliche Zäsur markiert: Die Labour Party als der politische Arm der Gewerkschaften im Parlament hat nun endgültig ausgedient, wenngleich sich gegen eine solche Sicht nach wie vor Widerstand in den Gewerkschaften artikuliert, mit dem Tony Blair weiter rechnen muß.

Damals in Brighton ahnte niemand, daß knapp ein dreiviertel Jahr nach dem Beschluß über OMOV das neue Wahlverfahren bereits angewandt werden mußte, um die Nachfolge von John Smith im Amt des Parteivorsitzenden zu bestimmen.

Leader und deputy leader werden von einem "electoral college" gewählt, das aus drei gleichgroßen Sektionen besteht: 1/3 MPs und MEPs, 1/3 Einzelmitglieder in den Wahlkreisen, 1/3 Mitglieder von der Labour Party affiliierten Gewerkschaften und "socialist societies". Im Auftrag des Parteivorstandes wurde eine Wahlkommission (Unity Security Balloting Services) gebildet, die die Mitglieder der Labour-Fraktionen im Unterhaus und im Europäischen Parlament sowie die Einzelmitglieder in den Wahlkreisen zu einer Briefwahl aufrief und ihnen Briefwahlunterlagen zusandte. Die Gewerkschaften führten die Briefwahl für ihre Mitglieder in eigener Verantwortung durch. Als gewählt in der jeweiligen Sektion gilt derjenige, der über 50% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen kann. Wird die 50% Marke nicht ereicht, wird der Kandidat gestrichen, der die wenigsten Stimmen erhielt, seine Stimmenzahl wird dann auf die verbliebenen Kandidaten verteilt.

Das neue Wahlverfahren verleiht dem neuen Parteivorsitzenden ein bisher in Großbritannien nicht gekanntes Ausmaß an demokratischer Legitimation, das automatisch seine Position in der Partei, insbesondere jedoch gegenüber Fraktion und Gewerkschaftsführern, beträchtlich stärken wird. Zugleich wurde die Macht der Gewerkschaftsspitze und der Parteifunktionäre bei der Auswahl der Parteielite entscheidend beschnitten. Diese demokratische Revolution wird das Gesicht der Labour Party grundlegend verändern. Tony Blair hatte in der Parteiführung diesen Prozeß nachdrücklich gefordert und ihn zusammen mit John Smith im letzten Jahr auf dem Parteitag in Brighton durchsetzen können. Er weiß selbst, daß das neue Parteistatut noch nicht das letzte Wort in Sachen innerparteilicher Demokratie ist, weitere Schritte werden folgen müssen, doch der entscheidende irreversible Anfang in Richtung auf eine moderne, demokratische Partei ist gemacht. Das neue Wahlverfahren hat aber gleichzeitig die Attraktivität der Labour Party insgesamt in der Gesellschaft gesteigert. Auch davon haben sie und ihr neuer Parteichef profitiert, wie die jüngsten Meinungsumfragen ausweisen.

Hoffnungsträger Blair

Mit 57% der Stimmen haben die Mitglieder der Labour Party für Tony Blair als neuen Vorsitzenden gestimmt. Stellvertreter wurde überraschend John Prescot, der sich mit 56,5% gegen Margaret Beckett, die Kandidatin der Linken und Feministinnen, durchsetzen konnte. Blair gewann in allen Sektoren der Wahlberechtigten: 61% der Parlamentarier in House of Commons und im Europaparlament, 58% der Stimmen in den Wahlkreisen und 52% der Stimmen bei den Gewerkschaften. Die Wahlbeteiligung bei den Gewerkschaften lag bei nur knapp 20%, während sie in den Wahlkreisen bei gut 70% lag.

Tony Blair ist mit 41 Jahren der jüngste Parteichef, den die Labour Party je zu ihrem Vorsitzenden gewählt hat. Er gilt als glänzender Debattenredner und als telegen. Wie Gordon Brown, der Shadow Chancellor of the Exchequer, gehört er dem rechten Parteiflügel an. Er gilt als der entschiedendste Modernisierer in der Parteiführung. Der gelernte Rechtsanwalt, in Privatschulen und Eliteuniversitäten des Landes ausgebildet, ist eher ein Newcomer in der Labour Party, der seinen Weg in der Partei nach dem Zwischenspiel unter Michael Foot und Tony Benn machte. Insofern gilt er als völlig unbelastet von dem traditionellen Labour Milieu der siebziger Jahre wie dem Niedergang der Partei Anfang der achtziger Jahre.

Kaum ins Parlament gewählt, wurden ihm rasch herausgehobene Positionen in der Fraktion angetragen. Er wird deshalb von seinen Gegnern häufig als konturenloser Senkrechtstarter kritisiert. In den Shadow Cabinets unter Neil Kinnock und John Smith war er verantwortlich für Bildung, Beschäftigung und zuletzt für Innenpolitik. Blair machte sich vor allem mit seiner law and order Politik einen Namen, die der konservativen Regierung auf ihrem ureigenen Profilierungsfeld erfolgreich Konkurrenz machte.

Mit der Wahl von Tony Blair zum Vorsitzenden und John Prescott, den viele als altgedienten Haudegen der Arbeiterklasse eher unterschätzen, zum Stellvertreter wird die Labour Party ihren Modernisierungskurs mit noch mehr Nachdruck und Tempo fortsetzen. Die Richtungsentscheidung der Labour Party zur politischen Mitte hin, die Erkenntnis, daß Wahlen nicht an den Rändern, sondern in der Mitte gewonnen werden, hat mit der Wahl von Tony Blair nunmehr auch personell einen glaubwürdigen Ausdruck gefunden.

Der neue Parteivorsitzende muß nun die drei wichtigsten Handikaps, die einem Sieg der Labour Party in den letzten 15 Jahren im Wege standen, beseitigen: die Ambivalenz der Partei gegenüber der Marktwirtschaft, ihre Abhängigkeit von den Gewerkschaften und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Hoffnungen und Erwartungen der Mittelklasse.

Blair hat in einer Reihe von Grundsatzreden, vor allem in seinem leadership manifesto und in seiner Rede vor dem Labour Parteitag in Blackpool deutlich gemacht, daß er alle drei Handikaps aufzugreifen gedenkt, wobei sicherlich das Verhältnis zu den Gewerkschaften das schwierigste sein wird. Nach wie vor ist das Verhältnis einiger Gewerkschaftsführer zur Labour-Führung unfreundlich bis gestört. Gleichwohl haben sich die meisten Gewerkschafter damit abgefunden, daß sie nicht mehr wie zuvor die Parteitage der Labour Party dominieren können. Der Versuch des neuen Parteichefs, mit einem Überraschungscoup Clause Four des Labour Party Grundsatzprogramms zu eliminieren, das die Partei auf "common ownership of the means of production, distribution and exchange" verpflichtet, scheiterte nur knapp. Gleichwohl wissen nicht nur Blair, sondern auch die Gewerkschafter, daß ein Teil der Glaubwürdigkeit der Labour Party genau davon abhängt, ob und wie sie es schafft, alte Zöpfe - wie etwa Clause 4 - abzuschneiden.

Blairs Programm der Mitte

Blair setzt mehr auf die traditionellen Werte der britischen Mittelstandsgesellschaft als auf den Multikulturismus der Regenbogenkoalitionen aus blue collar Arbeiterklasse und allerlei Randgruppen in der Gesellschaft. Er betont den zentralen Wert der Familie für eine gedeihliche Entwicklung der Gesellschaft, er sieht die Rechte des Einzelnen mit seinen Pflichten gegenüber dem Nächsten, der Gesellschaft und dem Staat untrennbar verbunden, er setzt eher auf Subsidiarität als Gestaltungsprinzip seiner Gesellschaftspolitik als auf die traditionelle Solidarität der Arbeiterklasse.

Für ihn steht der Einzelne im Mittelpunkt mit seinen Hoffnungen, Erwartungen und Interessen, nicht ein anonymes Kollektiv, auch nicht die machtvolle gesellschaftliche Gruppe, die ihre Interessen mehr oder weniger wirkungsvoll durchzusetzen versteht, je mehr sie sich der jeweiligen Regierung verbunden fühlt. Eine Rückkehr zum typisch britischen Kooperativismus der Nachkriegszeit wird es auch unter Tony Blair nicht geben. So machte er gleich nach seiner Wahl zum Vorsitzenden klar, daß er den Gewerkschaften keinen privilegierten Zugang zu einer zukünftigen Labour Regierung mehr einräumen wird.

Politik habe sich der Frage zu stellen, wie klassen-, schichten-, geschlechts- und rassenspezifische Benachteiligungen der Einzelnen abgebaut oder besser gleich verhindert werden können. So stehen Fragen der Erziehung, einer guten Allgemeinbildung für alle, einer zukunftsgerichteten Berufsausbildung, eines umfassenden Fort- und Weiterbildungssystems für ein lebenslanges Lernen im Mittelpunkt seiner Innenpolitik.

In seiner Grundsatzrede auf dem Parteitag in Blackpool vom 4. Oktober hat Blair den Führungsanspruch der Labour Party in der britischen Politik mit einem ganzen Paket tiefgreifender politischer Reformen deutlich gemacht: "We are putting forward the biggest programme of change to democracy ever proposed by a political party.

- Every citizen to be protected by fundamental rights that cannot be taken away by the state or their fellow citizens enshrined in a bill of Rights.

- Government will be brought closer to the people. We will legislate for a strong Scottish Parliament, an Assembly for Wales, in the first year of a Labour government. And the Tory quangos (das sind quasi-autonomous non-governmental organisations) will be brought back under proper democratic control.

- We will enact a Freedom of Information Act to attack secrecy wherever it exists, public or private sector.

- We will reform the House of Commons to make its working practices and its powers to investigate more effective, and to achieve through our Party the increase in the number of women MPs that we have talked about for so long.

- We will make history by ending the ancient and indefensible of hereditary peers voting on the law of the land.

- We will tighten the rules of financing of political parties. And since trade unions are balloted on their political contribution, it is only fair that in this free country shareholders are balloted on theirs."

Das Leadership manifesto vom 23. Juni, mit dem Blair seinen Anspruch für das Amt des Leaders of the opposition und auch für das eines künftigen Premierministers einer Labour Regierung anmeldete, formuliert ein Programm der Kontinuität und Modernisierung mit deutlichen Akzenten in den Bereichen Wirtschafts- und Erziehungspolitik.

Alle highlights ehemaliger Labour Politik, wie die Frage nach Markt oder Staat, öffentlicher oder privater Sektor, Nationa-lisierung oder Privatisierung, Regulierung oder Deregulierung, werden vermieden. Die Gesellschaft habe eine vitale Rolle zu übernehmen bei der Entwicklung einer wirksamen Markwirtschaft, die Regierung solle aber nicht die Wirtschaft selber führen. "The purpose of economic intervention is not so that the government can run industry, but that it should work with it so that industry is better able to run itself."

Innerhalb einer "invest-and-growth culture" seien vordringlich Anstrengungen notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Industrie zu verbessern. Dazu gehörten Prüfung der Strukturen der Regierungstätigkeit und des Steuersystems in Hinblick auf die Förderung langfristiger Investitionen und die Einrichtung einer Entwicklungsbank für kleine und mittlere Unternehmen. Sicherzustellen, daß jede Firma in ihre Arbeitskräfte investiert sowie die Nutzung der neuesten Massenkommunikationsmittel für eine "University of Industry", die, wie die "open university", ein umfassendes Umschulungs-, Fortbildungs- und Weiterbildungsangebot bereitstellt, unterstreichen die Bedeutung, die der Qualifizierung von Arbeitskräften beigemessen wird.

Blair sieht sich dem Ziel der Vollbeschäftigung verpflichtet, vermeidet jedoch, exakt zu definieren, was er unter "high and stable levels of employment" versteht. Kurzfristig sollen Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit z. B. durch kommunale Wohnungsbauprogramme und durch die Reform der employer's national insurance angegangen werden. Die Ausweitung von Arbeitnehmerrechten auch für Teilzeitbeschäftigte, die Einführung eines Mindestlohnes, das Recht der Arbeitnehmer auf gewerkschaftliche Vertretung und die Anerkennung der Gewerkschaften als Verhandlungspartner sind weitere Eckpunkte des Programms.

In seiner Parteitagsrede hat sich Blair eindeutig zur Europäischen Union bekannt und sich damit distanziert von der gefährlich wachsenden Europaverdrossenheit der Konservativen Partei, die von immer mehr führenden Tories, auch in der Regierung, geteilt wird. Blair in Blackpool: "The Tories are playing with Europe and the future of this country. Let them. Under my leadership, I will never allow this country to be isolated or left behind in Europe... Britain's interests demand that this country is at the forefront of the development of the new Europe." Die Einführung einer einheitlichen europäischen Währung, wird unterstützt, "but it cannot be forced in defiance of economic facts". Für eine Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit werden key areas wie Beschäftigung, Infrastrukturen, Technologie und Weiterbildung genannt.

In der Steuerpolitik geht es im wesentlichen um Fragen der Steuergerechtigkeit, um Ehrlichkeit und Fairness "in place of lies and widening inequalities of the Conservative years."

Bildung und Ausbildung erhalten eine Schlüsselstellung nicht nur für die Erfüllung persönlicher Erwartungen, sondern auch für die Prosperität der Wirtschaft und Schaffung einer "good society".

Bei der Reform des Sozialsystems sollte die Schaffung von Arbeit für diejenigen, die arbeiten können, im Mittelpunkt stehen. Hilfen sollten auf Familien und Pflegepersonen konzentriert werden, Behinderten sollte ein "civil right" eingeräumt werden, jeder sollte in einer anständigen und finanziell tragbaren Wohnung wohnen können.

Bei der Bekämpfung der Kriminalität sieht Blair in der Wiederherstellung des Vertrauens in das criminal justice system einen Schwerpunkt, den Opfern von Verbrechen müsse mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, das Gerichtswesen sei von Grund auf zu überholen. "Local partnership strategies" mit mehr Polizisten im Revier, Zusammenarbeit mit der Zentralregierung bei bestimmten Delikten wie Drogenkriminalität sind weitere Vorschläge.

Konservative ratlos

Der nicht endende Popularitätsschwund ihres Premierministers und das andauernde Meinungshoch für die Labour Party und ihres neuen Vorsitzenden hat die Konservative Partei zutiefst beunruhigt. Sie weiß nicht recht, wie sie Blair anpacken soll, als verkappten Konservativen oder als einen (sozialistischen) Wolf im (konservativen) Schafspelz. Blair wird deshalb vorzugsweise totgeschwiegen. Stattdessen schießt sich die Konservative Partei auf Blairs Stellvertreter John Prescott ein, der als alter Kämpe der Arbeiterklasse eine, wie sie meint, bequeme Zielscheibe abgibt. Bisher hat diese Taktik jedoch kaum Erfolg.

Hinzukommt, daß ihr inzwischen auch die bislang freundlich gesonnene Presse davonläuft. Das Presseimperium des australischen Medientycoons Rupart Murdoch, das spätestens seit dem "black wednesday" im September 1992 zum Sturz von John Majors immer wieder animiert hat, findet Gefallen an dem jungen, brighten und telegen Labourchef. Ob der Blair honey moon in der Öffentlichkeit lange anhält oder ob sogar die Murdoch-Presse mit ihren Flagschiffen "Sun" und "Times" die Seite wechselt und tatsächlich zu Labour überläuft, ist noch nicht vorauszusagen. Allein diese Frage aufzuwerfen, zeigt jedoch den Wandel in der britischen Politik.


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