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Die Erweiterung der Europäischen Union : Probleme und Perspektiven / von Otto Schmuck. - [Electronic ed.]. - [Bonn], 1994. - 17 S. = 58 Kb, Text . - (FES-report)
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1997

© Friedrich-Ebert-Stiftung


Zusammenfassung

Mitte der neunziger Jahre steht die Europäische Union vor einer doppelten Herausforderung: Die vorhandenen Strukturen müssen in Richtung auf eine größere Handlungsfähigkeit und mehr Demokratie weiterentwickelt werden. Zugleich drängen immer mehr europäische Staaten auf eine Mitgliedschaft. Drei Gruppen von Staaten suchen über verstärkte Kooperation, Assoziierung und/oder Beitritt eine engere Anbindung an die Europäische Union:

* Aus der Gruppe der EFTA Staaten haben Österreich, die Schweiz, Schweden, Finnland und Norwegen einen Beitrittsantrag gestellt. Die Schweiz stellte ihren Antrag nach dem negativen Aushang des Referendums über Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum vorläufig zurück.

* Von den Mittelmeerländern haben Zypern, Malta und die Türkei den Beitritt beantragt.

* Die ostmitteleuropäischen Staaten Ungarn, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Bulgarien und Rumänien sind mit der Europäischen Union über die sogenannten Europa-Abkommen assoziiert, in denen sie ihren Wunsch nach Mitgliedschaft in der Europäischen Union verankert haben.

Am konkretesten ist die Beitrittsperspektive der EFTA-Staaten. Seit Februar 1993 wird in Brüssel über die Modalitäten der Mitgliedschaft verhandelt. Bereits 1995 soll der Beitritt vollzogen werden. Eine Reihe von Sachproblemen (Agrarsubventionen, Fischereifragen, soziale Standards, Transit) müssen bis dahin noch abschließend geklärt werden. Zudem müssen in den Beitrittsstaaten Volksbefragungen durchgeführt werden, deren Ausgang keineswegs als sicher gelten kann. Weniger konkret erscheint die Beitrittsperspektive der süd- und mittelosteuropäischen Staaten. Hier sind die wirtschaftlichen und z.T. auch die politischen Probleme wesentlich größer. Im Hinblick auf die Länder Mittelosteuropas kommt es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts darauf an, klare Perspektiven und tragfähige Formen der Zusammenarbeit - u.U. auch unterhalb einer Vollmitgliedschaft - zu entwickeln.

Für die Europäische Union ergibt sich durch die absehbaren Beitritte die Notwendigkeit von inneren Reformen. Eine Gemeinschaft von 16 oder 17 Mitgliedstaaten wird ohne eine Änderung der jetzigen Entscheidungsverfahren und Kompetenzaufteilungen zwischen Rat, Kommission und Europäischem Parlament nicht mehr wirksam funktionieren. Entscheidungen, die in Brüssel getroffen werden, sind für einen Bürger in Helsinki oder Dresden nur dann akzeptabel, wenn die Beteiligung der direkt gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments an Entscheidungen der Europäischen Union gestärkt wird und wenn auch die Aufgabenteilung zwischen der regionalen, der nationalen und EU-Ebene einsichtiger wird.

Vertiefung der Europäischen Union und zugleich ihre vorsichtige Erweiterung stellen demnach den einzigen erfolgversprechenden Kurs in der zur Zeit wenig übersichtlichen politischen Landkarte Europas dar. Gefordert ist zugleich die Fähigkeit zur Schaffung neuer gesamteuropäischer Strukturen, die kreative Nutzung und Weiterentwicklung der vorhandenen Organisationen in Europa und die Entwicklung unterschiedlicher Formen der Anbindung von interessierten Staaten an die EU bis hin zur Vollmitgliedschaft.

Die anhaltende Attraktivität der Mitgliedschaft in der EU

Das zurückliegende Jahr 1993 ist von vielen Kommentatoren als "europäisches Schicksalsjahr" angekündigt worden. Zum Jahresanfang war der EG-Binnenmarkt offiziell vollendet worden; der Maastrichter Vertrag über die Europäische Union trat mit zehnmonatiger Verzögerung am 1. November 1993 in Kraft. Diese Reformübereinkunft sieht weitreichende Veränderungen der bestehenden Gemeinschaftsverfahren - so unter anderem eine begrenzte Aufwertung des Europäischen Parlaments und die Einsetzung eines neuartigen Regionalausschusses - sowie verbesserte Handlungsmöglichkeiten, u.a. in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik sowie Justiz und Inneres, für die Europäische Union vor.

Trotz dieser durchaus positiv zu wertenden Veränderungen ist beim Übergang von der EG zur Europäischen Union die Stimmung in den zwölf Mitgliedstaaten im Hinblick auf die weitere europäische Einigung auf einem Tiefpunkt angelangt. Umstritten sind in Deutschland vor allem die Regelungen zur Wirtschafts- und Währungsunion, die - bei Einhaltung der vorgegebenen Stabilitätskriterien - spätestens für 1999 die Ablösung der DM durch eine gemeinsame europäische Währung vorsehen. Umfrage-Ergebnisse zeigen, daß die seit der Mitte der achtziger Jahre vorherrschende "Europa-Euphorie" einer weitreichenden Skepsis gewichen ist. Besonders bedenklich ist es, daß die neue Stimmungslage mit einer Rückwendung zu nationalstaatlichen Konzepten und einer weit verbreiteten Fremdenfeindlichkeit einher geht.

Ungeachtet dieser neuen Befindlichkeiten drängen eine Reihe von europäischen Staaten energisch auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Österreich, Schweden, Finnland, Norwegen, die Schweiz, Malta, Zypern und die Türkei haben offiziell einen Beitrittsantrag in Brüssel gestellt. Ungarn, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Bulgarien und Rumänien handelten mit der Europäischen Union in der Perspektive einer späteren Mitgliedschaft sogenannte "Europa-Abkommen" aus. Von Politikern der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen liegen Aussagen vor, die ebenfalls auf den Wunsch einer späteren Mitgliedschaft schließen lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit bis einzelne der aus Jugoslawien hervorgegangenen neuen Staaten gleichfalls die Annäherung an die Europäische Union suchen.

Die vorliegenden Reaktionen von Politikern und Kommentatoren in den EU-Staaten zu möglichen Erweiterungen sind vom Tenor her sehr unterschiedlich. Sie reichen von einer weitgehenden Zurückhaltung unter Verweis auf die Notwendigkeit der Sicherung des erreichten Integrationsstandes bis hin zu der Auffassung, die Europäische Union sehe sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts der historischen Aufgabe gegenüber, den gesamten Kontinent zu einigen und damit den Frieden in Europa auf Dauer zu sichern.

Diese widersprüchlichen Auffassungen hinsichtlich des Umfanges und des Zeithorizonts von Erweiterungen der Europäischen Union sind weitgehend durch unterschiedliche Auffassungen von der Zielperspektive der europäischen Einigung bedingt. Diejenigen Kräfte, die sich - wie die britische Regierung - für eine Ausgestaltung der Europäischen Union als einer Freihandelszone mit starker Stellung der Mitgliedstaaten ("Europa der Vaterländer") einsetzen, sprechen sich in der Regel für eine möglichst rasche und weitreichende Erweiterung aus. Wer aber die Schaffung eines handlungsfähigen europäischen Bundesstaates anstrebt, sorgt sich zunächst um den Erhalt und den Ausbau der bestehenden Strukturen. Zu Recht ist von den mit Europafragen befaßten Wissenschaftlern auf das Spannungsverhältnis zwischen einer weiteren "Vertiefung" des bestehenden Integrationssystems zu einer demokratisch legitimierten und handlungsfähigen Europäischen Union und einer allzu raschen und unkontrolliert verlaufenden Erweiterung hingewiesen worden. Das Urteil des Bundesverfassunggerichts vom 12. Oktober 1993 zum Maastrichter Vertrag schließt die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem Bundesstaat keineswegs aus, doch sei es dabei unabdingbar, daß "...die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Union ausgebaut werden".

Die Bevölkerung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zeigt sich gegenüber möglichen Beitritten vergleichsweise aufgeschlossen. Die Skala der Zustimmung zu einer Erweiterung der Europäischen Union reichte bei einer 1991 in den zwölf Mitgliedstaaten durchgeführten repräsentativen Umfrage von 89 Prozent für Schweden, 88 Prozent für Norwegen und 86 Prozent für Österreich bis hin zu 55 Prozent für die Türkei und immerhin noch 50 Prozent für Albanien.

Bedingungen und Kriterien der Mitgliedschaft in der EU

Entsprechend den vertraglichen Grundlagen kann jeder europäische Staat, der bereit ist, die Ziele der Europäischen Union mitzutragen, einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Artikel O des Vertrages über die Europäische Union hat folgenden Wortlaut:

"Jeder europäische Staat kann beantragen, Mitglied der Union zu werden. Er richtet seinen Antrag an den Rat; dieser beschließt einstimmig nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, das mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder beschließt. Die Aufnahmebedingungen und die durch die Aufnahme erforderlich werdenden Anpassungen der Verträge, auf denen die Union beruht, werden durch ein Abkommen zwischen den Mitgliedsstaaten und dem antragstellenden Staat geregelt. Das Abkommen bedarf der Ratifikation durch alle Vertragsstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften."

In der Praxis ist der Weg zur EU-Mitgliedschaft durch eine Reihe von Verfahrensschritten gekennzeichnet. Besondere Bedeutung kommt dabei der Stellungnahme der Europäischen Kommission zu. Im Falle der Türkei beispielsweise fiel diese Stellungnahme so negativ aus, daß ernsthafte Verhandlungen gar nicht erst aufgenommen wurden. Auf der Grundlage der Kommissions-Stellungnahme ermächtigt der Rat die Kommission, im Kontakt mit den beitrittswilligen Ländern Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Die Verhandlungen selbst verlaufen in einer Vielzahl von Gremien und Arbeitsgruppen unter aktiver Einbeziehung der Kommission und der Vertreter der Mitgliedsstaaten. Die Europäische Union wird in den Verhandlungen offiziell durch die amtierende Präsidentschaft des Rates vertreten. Zur Klärung besonders umstrittener Materien werden die Minister eingeschaltet. So fand beispielsweise am 21. Dezember 1993 das 5. Ministertreffen im Rahmen der Verhandlungen mit den vier beitrittswilligen EFTA-Staaten statt. Nach Abschluß der Verhandlungen wird der Beitrittsvertrag von den Vertretern beider Seiten unterzeichnet. Danach muß das Europäische Parlament seine Zustimmung erteilen. Zudem ist die Ratifikation aller Vertragsstaaaten - zumeist unter Beteiligung der nationalen Parlamente - notwendig.

In der Regel findet in den Beitrittsstaaten darüber hinaus ein Referendum über den Beitritt statt. Diese Notwendigkeit einer Volksbefragung stellt eine weitere, nicht zu unterschätzende Hürde dar. So lehnte die norwegische Bevölkerung 1972 den damals zusammen mit Großbritanien, Irland und Dänemark ausgehandelten EG-Beitrittsvertrag mit knapper Mehrheit ab. Die Diskussion darüber war so kontrovers und die Fronten selbst innerhalb von Parteien und Verbänden so verhärtet, daß die Beitrittsfrage bis heute in diesem Land als äußerst sensibel eingestuft wird. Auch für den beabsichtigten Beitritt der vier EFTA-Staaten ist die Zustimmung der Bevölkerung keineswegs sicher. Nach einer Meinungsumfrage des schwedischen Statistikamtes SCB vom November 1993 sprachen sich zu diesem Zeitpunkt lediglich 26 Prozent der Schweden für den Beitritt, 45 Prozent aber dagegen aus.

Die Beitrittskandidaten im Überblick

Insgesamt lassen sich drei Gruppen von Staaten ausmachen, die über verstärkte Kooperation, Assoziierung und/oder Beitritt eine Anbindung an die Europäische Union suchen:

(1) Aus der Gruppe der EFTA Staaten haben Österreich, die Schweiz, Schweden, Finnland und Norwegen einen Beitrittsantrag gestellt. Nach dem negativen Referendum vom Dezember 1992 über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum wurde der Antrag auf eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz vorläufig zurückgestellt.

(2) Von den Mittelmeerländern haben Zypern, Malta und die Türkei den Beitritt beantragt.

(3) Die ostmitteleuropäischen Staaten Ungarn, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Bulgarien und Rumänien sind mit der Europäischen Union über die sogenannten Europa-Abkommen assoziiert, in denen sie ihren Wunsch nach Mitgliedschaft in der Europäischen Union verankert haben.

14 Staaten aus drei Ländergruppen haben demnach heute bereits ihren Wunsch nach einem EU-Beitritt deutlich artikuliert. Damit würde sich die Zahl der Mitglieder der Europäischen Union mehr als verdoppeln. Darüber hinaus ist zu erwarten, daß auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie einzelne der aus dem früheren Jugoslawien hervorgegangenen neuen Republiken (Slowenien, Kroatien, Mazedonien u.a.) zumindest mittelfristig eine Annäherung an die EU suchen (vgl. Tabelle 1).

Eine realistische Erweiterungsstrategie muß bei einem differenzierten Vorgehen ansetzen. Das Ziel muß die zügige "Norderweiterung" der EU sein. Schweden, Finnland, Norwegen, Österreich und auch die Schweiz gehören - wenn sie wollen - in die Gemeinschaft. Die beitrittswilligen EFTA-Länder sollten bis spätestens 1995 in die EU aufgenommen werden.

Politisch und auch ökonomisch ist der Beitritt von EFTA-Staaten zweifellos ein Gewinn für die EU. Hier handelt sich um wirtschaftlich leistungsfähige Staaten mit gefestigter demokratischer Tradition und internationalem und friedenspolitischem Engagement. Bereits zur Mitte der neunziger Jahre können sie Mitglieder der Union sein.

Im Hinblick auf die beitrittswilligen Mittelmeerländer ist ein diffenzierendes Vorgehen angebracht. Malta könnte relativ schnell EU-Mitglied werden, während im Hinblick auf eine Mitgliedschaft Zyperns und vor allem der Türkei erheblich Bedenken bestehen. Für die ostmitteleuropäischen Staaten gilt, daß sie einen realistischen Zeithorizont für ihren EU-Beitritt und für eine Zwischenphase eine aktive Assoziierungspolitik benötigen, die einen organischen Weg in die Gemeinschaft ebnet. Vor dem Jahre 2000 ist realistischerweise kaum mit einem EU-Beitritt dieser Länder zu rechnen. Jeder einzelne Beitrittsantrag wird sorgfältig zu prüfen sein; eine Automatik und einen Gruppenzwang darf es in diesem Zusammenhang nicht geben.

Tabelle 1: Strukturdaten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ausgewählter Beitrittsstaaten (1990/91

Staat Einwohner (in 1.000) BIP pro Kopf ( in US-Dollar) Beschäftigte in der Landwirtschaft
Belgien 9.950 20.001 2,0 %
Deutschland 79.670 18.178 3,8 %
Dänemark 5.134 25.148 6,0 %
Griechenland 10.070 6.518 27,0 %
Frankreich 56.556 21.100 6,0 %
Irland 3.540 12.175 15,0 %
Italien 57.700 18.917 8,0 %
Luxemburg 365 22.955 2,0 %
Niederlande 15.000 18.534 5,1 %
Portugal 10.300 5.683 26,6 %
Spanien 39.200 12.613 18,0 %
Vereinigtes Königreich 57.236 17.108 2,6 %
Finnland 4.984 27.515 9,5 %
Norwegen 4.242 24.947 7,6 %
Österreich 7.762 19.910 6,0 %
Schweden 8.600 25.888 5,6 %
Schweiz 6.905 33.610 2,5 %
Malta 348 2.133 3,0 %
Türkei 57.000 1.850 58,0 %
Republik Zypern 687 7.760 23,0 %
Bulgarien 8.789 1.840 12,0 %
Polen 38.418 1.790 27,6 %
Rumänien 22.760 1.390 29,0 %
Slowakische Republik 4.991 2.470 (ehem. CSFR) 12,0 % (ehem. CSFR)
Tschechische Republik 10.302 2.470 (ehem. CSFR) 12,0 % (ehem. CSFR)
Ungarn 10.552 2.720 18,0 %

Quellen: Weltbank; Fischer Weltalmanach 1992/94.

Die Verhandlungen mit den EFTA-Staaten

Die Europäische Union verhandelt seit Februar 1993 mit Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen über eine Vollmitgliedschaft. Noch Mitte der achtziger Jahre erschien es keineswegs als zwangsläufig, daß sich diese Mitgliedsstaaten der Europäischen Freihandelszone ("European Free Trade Area - EFTA") für den Beitritt zur damaligen Europäischen Gemeinschaft entscheiden würden. Im Gegenteil wurden damals parallel zur Verwirklichung des EG-Binnemarktes umfangreiche Verhandlungen zur Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) aufgenommen, der im Vorfeld der Vollendung des EG-Binnenmarktes eine enge wirtschaftliche Anbindung der EFTA-Staaten an die Gemeinschaft zum Ziel hatte.

Dieser neue Zusammenschluß sollte mit 19 Staaten und rund 380 Millionen Verbrauchern den größten Wirtschaftsraum der Welt darstellen. Der Abschluß des Abkommens über den EWR erfolgte am 2.5.1992, nachdem auch die letzten Hindernisse im Bereich Alpentransit und Fischereirechte überwunden werden konnten. Überraschenderweise hat die Schweizer Bevölkerung jedoch den Beitritt des Landes zum EWR am 6. Dezember 1992 in einem Referendum abgelehnt. Damit rückt auch der EU-Beitritt der Schweiz in weite Ferne. Zugleich konnte der Vertrag wegen der notwendigen Anpassungen nicht, wie vorgesehen, Anfang 1993, sondern erst mit zwölfmonatiger Verspätung am 1. Januar 1994 in Kraft treten.

Das EWR-Abkommen sieht u.a. vor:

- Verwirklichung des freien Waren- , Dienstleistungs- , Kapital- und Personenverkehrs,

- Zusammenarbeit bei Forschung, Entwicklung, Bildung, Sozialpolitik, Umwelt- und Verbraucherschutz,

- Beteiligung der EFTA-Staaten am EU-Binnenmarkt,

- Finanzierung eines Solidaritätsfonds durch die EFTA-Staaten, der Spanien, Portugal, Griechenland und Irland zinsgünstige Darlehen von ca. 1,5 Mrd. ECU (3 Mrd. DM) und Zuschüsse von über 500 Mio. ECU (etwa 1 Mrd. DM) sichert,

- Schaffung eines unabhängigen Gerichtshofs,

- Schaffung eines gemischten Parlamentarischen Ausschusses.

Die Mitgliedschaft im EWR bietet auch den EFTA-Staaten, die einen Beitrittsantrag zur Europäischen Union gestellt haben, Vorteile. Sie haben die Möglichkeit, sich in der Zeit bis zu ihrer Vollmitgliedschaft allmählich den Gemeinschaftsregeln anzunähern.

Noch vor dem Fall der innerdeutschen Grenze hatte der österreichische Außenminister Mock im Juli 1989 den Beitrittsantrag seines Landes an den Vorsitzenden des EG-Ministerrates übergeben. Beobachter hatten damals sehr genau registriert, daß Österreich besonderen Wert darauf legte, daß seine Neutralität durch die angestrebte EG-Mitgliedschaft nicht berührt werden sollte. In den darauffolgenden Monaten entschlossen sich auch auch Schweden, Finnland und die Schweiz, die jedoch nach dem negativen Ausgangs des Referendums über den Beitritt zum EWR den Beitrittsantrag vorläufig nicht weiter verfolgt, zu dem gleichen Schritt. Norwegen folgte mit einiger Verzögerung im November 1992.

Am 1. Februar 1993 wurden die Verhandlungen mit den drei Beitrittskandidaten Österreich, Schweden und Finnland offiziell in Brüssel eröffnet, Norwegen wurde kurz darauf einbezogen. Man ging allgemein von zügigen Verhandlungen aus, da zwischen der Gemeinschaft und den EFTA-Staaten bereits eine lange und intensive Zusammenarbeit bestand und im Rahmen der Verhandlungen über den EWR schon für rund 60 % der Binnenmarkt-Regelungen Einvernehmen erzielt worden war. Zudem handelt es sich bei den EFTA-Staaten durchwegs um finanzkräftige Volkswirtschaften, die künftig zu den Netto-Zahlern in der Europäischen Union gehören dürften.

Trotz dieser positiven Ausgangsbedingungen zeigte es sich jedoch bald, daß jeder der Beitrittsstaaten besondere Anliegen vortrug, die eingehender Beratung bedurften. Entgegen den Erwartungen stellte aber die Neutralitätsfrage kein Hindernis für eine Mitgliedschaft dar. Die Beitrittskandidaten und auch die EU-Mitgliedstaaten vertraten übereinstimmend die Auffassung, daß angesichts der veränderten Weltlage nach dem Ende des Ost-West-Konflikts das Konzept der Neutralität neu definiert werden müsse. Allerdings wurden im Hinblick auf eine mögliche gemeinsame Verteidigungspolitik gewisse Vorbehalte angemeldet. Die Beitrittskandidaten argumentierten, sie dürften in dieser Frage nicht schlechter gestellt werden als die bisherigen Mitglieder. Fraglos wird ein Beitritt der EFTA-Staaten einen bedeutenden Einfluß auf die Ausgestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der künftigen Union haben.

Ernsthafte Probleme bei den Verhandlungen ergaben sich auch in mehreren anderen Bereichen. Beispielsweise verlangte Österreich längere Übergangszeiten bei der Einführung der EU-Agrarmarktordnung, damit sein höheres Preisniveau bei vielen Agrarprodukten allmählich an die EU angepaßt werden könne. Besondere Schwierigkeiten bereiten aus österreichischer Sicht auch die bäuerlichen Kleinbetriebe im Alpengebiet, die aus ökologischen Gründen auch weiterhin stärker als von der EU vorgesehen gefördert werden müßten. Als regelungsbedürftig wurde auch die Frage des Grunderwerbs für Zweitwohnsitze in Österreich angesehen. Die schönsten Gebiete des Landes dürften nicht von finanzkräftigen EU-Bürgern aus anderen Unionsstaaten aufgekauft werden, die nur wenige Wochen im Jahr wirklich dort leben würden.

Besonderen Wert legte Österreich auch auf eine zufriedenstellende Lösung des Transitproblems. Die Bevölkerung des Landes ist in hohem Maße in dieser Frage sensibilisiert. Österreich weist darauf hin, daß mit der EG erst 1992 ein Transitabkommen mit einer Laufzeit bis zum Jahr 2000 ausgehandelt worden ist. Zum Schutz der Anwohner und der Landschaft müßten die hierbei vereinbarten Regelungen auch weiterhin Gültigkeit besitzen.

Von allen EFTA-Staaten gleichermaßen wird die Befürchtung geäußert, daß ihre in vielen Bereichen höheren nationalen Standards, z.B. beim Gesundheitsschutz, bei der Arbeitssicherheit und bei Umweltfragen durch niedrigere Vorgaben der EU gefährdet würden. Vor allem Schweden legt auf eine Beibehaltung seiner bisherigen Standards sehr großen Wert. Dieses Land strebt auch ein Vertragsprotokoll an, wonach der EURATOM-Vertrag die schwedische Nuklearpolitik nicht berührt. Die Kommission verhält sich gegenüber diesem Anliegen sehr zurückhaltend, zumal aus ihrer Sicht ein national beschlossener Ausstieg aus der Atomenergie vom EURATOM-Vertrag nicht berührt würde.

Besondere Probleme ergaben sich bei Norwegen wegen seiner Abhängigkeit vom Fischfang sowie wegen der Kohlenwasserstoff-Ressourcen des Landes. Darüber hinaus meldete Norwegen besondere Interessen im Hinblick auf den Walfang an. Alle skandinavischen Länder waren gleichermaßen daran interessiert, mit den baltischen Staaten verbesserte Handelsbeziehungen in Form eines Freihandelsabkommens zu unterhalten.

Nach den Vorgaben der EU-Staats- und Regierungschefs sollen die Beitrittsverhandlungen mit den vier EFTA-Staaten so rechtzeitig abgeschlosssen werden, daß der Beitritt zum 1. Januar 1995 vollzogen werden kann.

Die Beitrittsperspektive der Mittelmeerländer

Für die drei beitrittswilligen Mittelmeerländer fällt die Prognose über einen möglichen EU-Beitritt sehr unterschiedlich aus. Malta ist politisch und wirtschaftlich relativ problemlos in die EU zu integrieren. Schwierig hingegen ist die Repräsentation der kleinen Inselrepublik mit ihren knapp 350.000 Einwohnern in den EU-Institutionen. Es ist kaum vorstellbar, daß Malta in der Kommission und im Rat mit jeweils einem Mitglied vertreten sein wird, obwohl dies im Fall des "Altmitglieds" Luxemburgs, das mit knapp 400.000 Einwohnern kaum größer ist, der Fall ist. An diesem Beispiel wird deutlich, daß die Gemeinschaft eine ausgewogene und faire Vertretung der Mitgliedsstaaten in den Institutionen einer erweiterten Gemeinschaft neu festlegen muß.

Trotz einiger Detailprobleme im Agrarbereich dürfte eine Einbeziehung Zyperns in die Europäische Union wirtschaftlich realisierbar sein. Doch blockiert auf absehbare Zeit der türkisch-griechische Gegensatz auf der de facto geteilten Insel weiterführende Schritte.

Der seit 1987 vorliegende Beitrittsantrag der Türkei ist von der Kommission in einer Stellungnahme zum Beitrittsantrag sehr kritisch kommentiert worden. Die Kritik bezieht sich u.a. auf die Verletzung von Menschenrechten und auf die Behandlung der kurdischen Minderheit. Objektive Schwierigkeiten treten für die Gemeinschaft in der Frage der Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus der Türkei auf.

Die EG hat den Beitrittsantrag dieses Landes zwar nicht definitiv abgelehnt, konzentriert sich jedoch - zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt - auf die Verbesserung der Beziehungen unterhalb der Mitgliedschaft. Die enge Zusammenarbeit mit der Türkei ist für die Europäische Union von besonderer Bedeutung. Dies gilt unter anderem wegen der Bindungen der Türkei zum Schwarzmeer-Raum sowie zu Zentralasien. Die Beziehungen der Europäischen Union zur Türkei sollten sich künftig darauf ausrichten, die Möglichkeiten des bestehenden Assoziierungsabkommen vollständig auszuschöpfen und die Beziehungen auf dieser Grundlage weiterzuentwickeln. Die türkischen Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik werden sich dabei als dauerndes Bindeglied zwischen der Türkei und Deutschland und der Gemeinschaft erweisen.

Perspektiven einer Osterweiterung

Besonders große Erwartungen werden in Mittel- und Osteuropa an einen EU-Beitritt geknüpft. Umfragen belegen die weitreichende Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländern für eine möglichst enge Anbindung an die Europäische Union (Tabelle 2).

Ein Problem dürfte allerdings darin bestehen, daß in diesen Staaten kaum fundierte Kenntnisse über Zielsetzungen, Verfahren und Zuständigkeiten der Europäischen Union vorhanden sind. Für die Menschen dort wird die Europäische Union häufig gleichgesetzt mit Wohlstand und stabilen politischen Verhältnissen. Die EU-Mitgliedschaft bedeutet in dieser Perspektive die Hoffnung auf Teilhabe am "westlichen" Wohlstand. Bei der Diskussion um die Osterweiterung der Europäischen Union sollte nicht übersehen werden, daß die EU mit ihren ökonomischen Erfolgen ein wesentlicher Auslöser der Veränderungen in Ost- und Mitteleuropa war.

Tabelle 2: Unterstützung einer EU-Mitgliedschaft bzw. einer Assoziierung an die Europäische Union in ausgewählten Staaten Mittel- und Osteuropas

Die ostmitteleuropäischen Nachbarn appellieren heute an die moralische Verpflichtung der EU, die Tür für die neuen Demokratien offenzuhalten. In diesem Sinne wachsen die Anforderungen an die EU, eine gesamteuropäische Verantwortung in Europa zu übernehmen. Dazu gehört die Überwindung des Wohlstandsgefälles, das als eine Hinterlassenschaft der europäischen Teilung und des Ost-West-Konflikts interpretiert wird. Gefordert ist in dieser Situation eine aktive Politik der partnerschaftlichen Zusammenarbeit, die dem Rückfall in nationale Engstirnigkeit und völkischen Nationalismus entgegenwirkt.

Die Reformstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, aber auch die Staaten der GUS, müssen daher eine verläßliche europäische Perspektive erhalten. Die EU muß solidarische Hilfe bei ihrer wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung leisten. Dazu ist das gemeinsame Vorgehen mit den europäischen und internationalen Finanzinsitutionen zu verstärken. Notwendig ist - zumindest für eine Übergangszeit - ein Netzwerk von "maßgeschneiderten" Assoziierungs- und Kooperationsabkommen, die vor allem den asymmetrischen Zugang zum Markt der EU ermöglichen. Von zentraler Bedeutung gegenüber den GUS-Staaten ist ein möglichst breiter und intensiver Transfer von Wissen und Erfahrungen über den Aufbau und die Entwicklung demokratischer, parlamentarischer, marktwirtschaftlicher Strukturen sowie Verfahren zu deren sozialer Absicherung. Wo immer möglich, sollten die Westeuropäer in Mittel- und Osteuropa auch die regionale Zusammenarbeit dieser Länder anregen und unterstützen.

Die Öffnung der EU nach Mittelosteuropa erfolgt über entsprechende Assoziierungsabkommen. Sie könnten auf den EU-Beitritt vorbereiten. Die hier angesprochenen Länder können in vielen Bereichen dem harten Wettbewerb im EU-Binnenmarkt noch nicht Stand halten. Die mit Ungarn, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakischen Republik, Bulgarien und Rumänien abgeschlossenen "Europa-Abkommen" sollen die Reformstaaten bei der Modernisierung und Anpassung ihrer Volkswirtschaften an die EU-Standards wirkungsvoll unterstützen. Dies geschieht durch eine Marktöffnung, die über zehn Jahre zum Freihandel für gewerbliche Produkte führen soll. Mit den vereinbarten Regelungen wird die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Schlüsselsektoren, wie etwa im Bereich Infrastruktur und beim Aufbau des privatwirtschaftlichen Sektors, z.B. im Dienstleistungsbereich, intensiviert. Vorgesehen sind auch ein politischer Dialog sowie Aktivitäten zur kulturellen Zusammenarbeit. In der Präambel wird die volle EU-Mitgliedschaft als Ziel genannt, allerdings ohne zeitliche Festlegung.

Eine finanzielle Unterstützung wird in den Europa-Abkommen nicht vereinbart, doch wird auf die bestehenden Fördermöglichkeiten, vor allem auf das PHARE-Programm, hingewiesen. Dieses Hilfsprogramm dient der Umgestaltung der ostmitteleuropäischen Länder. Die EG stellte hierfür 1993 einen Betrag von 1,045 Mrd. ECU zur Verfügung. Aus dem Umfeld der Kommission wurde darauf hingewiesen, daß dieser Betrag etwa verzehnfacht werden müßte, damit die betroffenen Staaten eine vergleichbare Förderung erhalten würden, wie sie heute den aus den EG-Strukturfonds unterstützten rückständigen Gebiete der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt wird.

Die ostmitteleuropäischen Länder begrüßen vor allem auch die politische Dimension der engen Zusammenarbeit mit der EU, weil sie eine Überwindung des aus ihrer Sicht vielfach als bedrohlich empfundenen sicherheitspolitischen Vakuums in dieser Region verspricht. Darüber hinaus streben einige von ihnen jedoch auch eine Mitgliedschaft in der NATO an. Die Chancen für eine Vollmitgliedschaft in diesem Verteidigungsbündnis stehen jedoch schlecht: Rußland hat in sehr klarer Weise deutlich gemacht, daß eine NATO-Mitgliedschaft seiner direkten Nachbarn nicht in seinem Interesse liegt. Die USA und die NATO haben mit dem jüngst verkündeten Konzept der "Partnerschaft für den Frieden" erst einmal alle Optionen offengehalten.

Die Staats- und Regierungschefs der EG haben bei ihrem Treffen in Kopenhagen im Juni 1992 unterstrichen, daß der Weg der mittelosteuropäischen Staaten in die Gemeinschaft vorgezeichnet ist. Doch sei in jedem Einzelfall die Erfüllung wesentlicher Beitrittskriterien zu prüfen. Für einzelne dieser Länder könnte die Mitgliedschaft in der Europäischen Union in einem Zeitraum von zehn Jahren durchaus realisiert werden. An erster Stelle sind hier Ungarn, Polen, die Tschechische Republik und die Slowakische Republik zu nennen. Wer hingegen bereits heute einen Beitritt Bulgariens, Rumäniens oder gar Albaniens zur EU betreibt, setzt die bisherigen Erfolge der europäischen Integration aufs Spiel und schadet letztlich der Entwicklung dieser Länder selbst. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die Staaten der GUS. Auch denen, die diesseits des Ural liegen, kann aus heutiger Sicht eine Beitrittsperspektive nur schwerlich eröffnet werden.

Erweiterungsbedingte Strukturveränderungen und institutionelle Reformen

Heute schon ist klar: Die Europäische Union bleibt nicht wie sie ist. Sie ist einem doppelten Druck ausgesetzt:

Einerseits drängen mehr und mehr europäische Staaten in die EU. Acht Beitrittsanträge aus dem Kreis der EFTA-Staaten und der Mittelmeerländer liegen in Brüssel vor. Ost- und mitteleuropäische Staaten bauen in ihren nationalen Reformprozessen auf eine EU-"Beitrittsperspektive".

Andererseits ist mit dem Maastrichter Vertrag ein "Vertiefungsprogramm" auf den Weg gebracht worden, das den Integrationsprozeß in den klassischen Feldern der EU-Politik weiter verdichtet und auf neue Bereiche, die Innen- und Justizpolitik und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, ausdehnt. Zudem ist die Schaffung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion spätestens für das Jahr 1999 programmiert. Bereits 1996 soll eine Regierungskonferenz über weitere Reformschritte beraten.

Die Prozesse von Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union laufen nicht automatisch ab, und sie sind auch nicht konfliktfrei. Eine vertiefte Gemeinschaft, in der die supranationalen Elemente gestärkt werden, in der zunehmend mit Stimmenmehrheit im Rat entschieden wird und in der die demokratische Legitimierung ihrer Entscheidungsverfahren immer wichtiger wird, legt die Latte für beitrittswillige Staaten zunehmend höher.

In einer erweiterten Gemeinschaft von zwanzig bis dreißig Mitgliedstaaten werden - wenn nicht weitreichende Reformen vereinbart werden - die Entscheidungsprozesse noch langwieriger und komplizierter als heute sein. Denn in der erweiterten Union sind wegen der größeren Zahl der Beteiligten die unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen wesentlich schwieriger auszugleichen und in gemeinsamen Entscheidungen zu bündeln als in der Zwölfergemeinschaft von heute. Wer auf das Europa im Jahre 2000 schaut, muß deshalb nach beidem fragen: nach der EU-Fähigkeit der Beitrittskandidaten und nach der Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union.

Dabei kann auf den Erfahrungen der beiden vorausgegangenen Erweiterungsrunden aufgebaut werden. Diese haben gezeigt, daß die Gemeinschaft Zeit braucht, um die Neuaufnahmen zu verkraften, und selber bereit und fähig zum Wandel sein muß. Die bisherigen Erweiterungen verursachten im Ergebnis erhebliche Kosten, die vor allem von den finanzkräftigeren Mitgliedsstaaten getragen werden mußten. Beispielsweise fordert die britische Regierung seit Mitte der siebziger beharrlich einen "Beitrittsrabatt", weil die Agrarpolitik der Europäischen Union den Interessen und den vorhandenen Strukturen des Landes nicht entspreche. Mit dem Beitritt Griechenlands, Spaniens und Portugals war die Schaffung und erhebliche Aufstockung der Struktur- und Kohäsionsfonds verbunden.

Will die Union die mit den Erweiterungen verbundene Verantwortung ernstnehmen, dann muß sie auch ihre eigenen internen Strukturen verbessern und der gewandelten Situation in Europa anpassen. Hierzu gehören vor allem auch die notwendigen institutionellen Reformen. Vorhandene Strukturprobleme in den Verfahrensabläufen werden durch das Hinzukommen neuer Partner verschärft werden. Eine EU-Erweiterung auf 16, 20 oder gar 25 Staaten würde die bestehenden Verfahren, die für eine Gemeinschaft mit sechs Mitgliedern konzipiert wurden, überfordern und die Legitimation der Entscheidungen der Europäischen Union insgesamt unterminieren. Aus den Erweiterungen dürfen sich zumindest keine nachteiligen Auswirkungen für die bisher bereits zum Teil sehr schwerfälligen und nicht hinreichend demokratisch legitimierten Verfahren in der Gemeinschaft ergeben. Besser wären schrittweise Verbesserungen der Entscheidungsverfahren in Richtung auf mehr Effizienz und mehr Demokratie.

Von großer Bedeutung sind dabei die Abstimmungsverfahren im Rat, in dem die nationalen Minister vertreten sind. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte im Juli 1987 wird im Rat vermehrt mit Mehrheit abgestimmt. Hier kommen die Bestimmungen von Art. 148 zur Anwendung. Ist zu einem Beschluß des Rates die qualifizierte Mehrheit erforderlich, so werden die Stimmen der Mitglieder gewogen. Dabei haben die vier großen Staaten mit mehr als 50 Millionen Einwohnern jeweils 10 Stimmen, Staaten mit 8-15 Millionen Einwohnern, wie Belgien, Griechenland, die Niederlande und Portugal, haben fünf Stimmen, und Luxemburg als der kleinste Partner verfügt immerhin noch über zwei Stimmen. Die kleineren Staaten sind demnach bei der Festlegung der ihnen zuerkannten Stimmen im Hinblick auf ihre Bevölkerungszahl gegenüber den größeren deutlich bevorzugt. Insgesamt sind im Rat 76 Stimmen vorhanden. Die qualifizierte Mehrheit ist mit 54 Stimmen erreicht. Konkret bedeutet dies, daß zwei große und ein kleinerer Staat bestimmte Beschlüsse durch eine ablehnende Haltung verhindern können.

Mit dem Beitritt der vier EFTA-Staaten, die jeweils eine Einwohnerzahl zwischen vier und neun Millionen haben, stellt sich die Frage, ob diese Stimmgewichtung nicht verändert werden muß. Österreich und Schweden sollen je vier, Norwegen und Finnland je drei Stimmen im Rat erhalten. Damit erscheint es zweckmäßig, eine künftige Sperrminorität im Rat höher anzusetzen, um die Handlungsfähigkeit auch der erweiterten Gemeinschaft sicherzustellen. Anzustreben wäre dabei ein politischer Kompromiß, der den Interessen aller Beteiligter so weit wie möglich Rechnung trägt. Zumindest sollte die Sperrminorität künftig so ausgestaltet sein, daß drei größere und ein kleinerer Staat zur Verhinderung einer Entscheidung notwendig werden.

Diskutiert wird im Zusammenhang mit der Erweiterung auch die Änderung der Vorsitzrolle bzw. der Reihenfolge der Präsidentschaft im Europäischen Rat und des Vorsitzes im Ministerrat. Gegenwärtig wird der Vorsitz im Rat (und in der EPZ) nach Art. 146 EG-Vertrag von den Mitgliedstaaten für je sechs Monate in einer am Alphabet orientierten, vertraglich festgelegten Reihenfolge wahrgenommen. In der Praxis hat sich mit Blick auf eine stärkere Kontinuität im Rat ein Verfahren herausgebildet, wonach die amtierende Präsidentschaft von ihrem jeweiligen Vorgänger und Nachfolger unterstützt wird ("Troika"). Dieses pragmatische Verfahren weist erkennbare Defizite auf: Dem Gemeinschaftshandeln mangelt es - trotz des "Troika-Verfahrens" - in vielen Fällen wegen der unterschiedlichen Prioritätensetzungen der jeweils amtierenden Präsidentschaft noch immer an Kontinuität. Zudem sind kleinere Mitgliedstaaten in der Vorsitzrolle in Einzelfällen organisatorisch überfordert und werden von wichtigen Gesprächspartnern nicht als Sprecher der Europäischen Union akzeptiert.

Der Europäische Rat hat bei seiner Sitzung am 10./11. 12.1993 in Brüssel hierzu als einem ersten Schritt festgelegt, daß die Reihenfolge der Präsidentschaft im Europäischen Rat bzw. der Vorsitz im Ministerrat dahingehend verändert wird, daß nach zwei kleineren Mitgliedsstaaten jeweils ein größerer folgt. Künftig wird demnach jeweils ein großer Mitgliedsstaat in der Troika vertreten sein.

Reformüberlegungen bezüglich der Kommission gehen von der Frage aus, ob eine Reduzierung der Zahl ihrer Mitglieder notwendig ist, um ihre Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten. Vorgeschlagen wird, daß zunächst jeder Mitgliedsstaat nur noch ein Kommissions-Mitglied benennen darf. Eine weiterreichende Lösung sieht vor, daß nur die großen Mitgliedsstaaten je einen ständigen Kommissar benennen und die restlichen Positionen unter den übrigen Staaten rotieren. Langfristig könnte die Kommission auch vom Europäischen Parlament nach politischen Gesichtspunkten (Koalitionsbildung) gewählt werden. Einem föderalen Konzept von Europa würde es entsprechen, wenn die Funktion der Regierung von der gegenüber dem Europäischen Parlament politisch verantwortlichen Kommission übernommen würde.

Das Europäische Parlament mit seinen heute 518 Mitgliedern wird seit 1979 direkt gewählt. Die Befugnisse wurden in den Gründungsverträgen mit Beratung (des Rates) und Kontrolle (der Kommission) angegeben. Seither wurden die Rechte des Parlaments kontinuierlich ausgeweitet. Über ein Drittel der Ausgaben des EU-Haushaltes mit einer Größenordnung von etwa 130 Milliarden DM entscheiden die Abgeordneten innerhalb festgelegter Höchstsätze weitgehend autonom. Wichtige außenpolitische Verträge ("Assoziierungsabkommen") und neue Beitritte zur Union können erst in Kraft treten, wenn das Parlament zugestimmt hat. An der Gesetzgebung ist es in einer Reihe von sehr unterschiedlich ausgeprägten Verfahren beteiligt, doch hat hier der Rat in der Regel das letzte Wort. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts müssen die Rechte des Europäischen Parlaments bei weiteren Integrationsschritten deutlich gestärkt werden.

Von Erweiterungen der Europäischen Union wird die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments direkt berührt. Dabei stellt sich in sehr konkreter Weise die Frage der Arbeitsfähigkeit dieser Institution mit wachsender Mitgliederzahl. Beobachter sehen 750 Sitze als die äußerste Obergrenze für eine arbeitsfähige Volksvertretung an. In Edinburgh hat der Europäische Rat im Dezember 1992 die in Maastricht offen gebliebene Frage der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nach der deutschen Vereinigung entschieden. Dabei wurde festgelegt, daß die 18 Vertreter der fünf neuen deutschen Bundesländer, die bisher lediglich einen Beobachterstatus haben, nach der nächsten Europawahl im Juni 1994 im Parlament über volle Abgeordnetenrechte verfügen sollen. Auch einigen anderen Staaten wurden zusätzliche Abgeordnetensitze zugestanden, sodaß im Ergebnis ein Schritt hin zu einer größeren Repräsentatitvität gemacht wurde, ohne jedoch das Prinzip der gleichen Stimmgewichtung durchzusetzen. Die künftige Abgeordnetenzahl des Europäischen Parlaments der Zwölferergemeinschaft liegt demnach bei 567 (vgl. Tabelle 3). Wie die Projektion in Tabelle 4 zeigt, wird die "Schallgrenze" von 750 Abgeordneten mit dem Beitritt der EFTA-Staaten noch nicht erreicht. Spätestens bei der darauffolgenden Erweiterungsrunde müßte jedoch über eine Neufestlegung der Zahl der Mandate für die einzelnen Mitgliedsstaaten neu verhandelt werden. Dabei sollte vor allem auch dem Gesichtspunkt der Proportionalität in verstärktem Maße Rechnung getragen werden, denn es ist unter demokratischen Gesichtspunkten kaum hinnehmbar, daß ein deutscher Europa-Abgeordnter heute eine etwa zwölffach höhere Zahl von Bürgerinnen und Bürgern vertritt als sein Kollege aus Luxemburg.

Tabelle 3: Die künftige Mandatsverteilung im Europäischen Parlament nach den Edinburgh-Beschlüssen

Land bisherige Mandate zusaetzliche Mandate gesamt
Frankreich 81 6 87
Deutschland 81 18 99
Italien 81 6 87
Grossbritannien 81 6 87
Spanien 60 4 64
Niederlande 25 6 31
Belgien 24 1 25
Griechenland 24 1 25
Portugal 24 1 25
Daenemark 16 - 16
Irland 15 - 15
Luxemburg 6 - 6
Gesamt 518 49 567

Tabelle 4: Projektion der Mandatsverteilung im Europäischen Parlament nach künftigen Erweiterungsrunden

Bisherige Mandate 567
Finnland 16
Norwegen 15
Oesterreich 20
Schweden 21
Schweiz 18
Gesamt Europa der 17 656
Malta 6
Tuerkei 87
Zypern 6
Europa der 20 755
Bulgarien 22
Polen 64
Rumaenien 42
Slowakische Republik 16
Tschechische Republik 25
Ungarn 25
Gesamt Europa der 26 949

Vorsichtige Öffnung der Union und Ausbau der gesamteuropäischen Zusammenarbeit als Strategieempfehlung

Die Diskussion über das Verhältnis von Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft wird sich weiter durch die neunziger Jahre ziehen. Ein Königsweg ist nicht in Sicht, der beide Richtungen gleichzeitig und gleichberechtigt vorantreibt. Allerdings wird es auch kaum zu einer scharf getrennten Stufenfolge, erst Erweiterung, dann Vertiefung, oder umgekehrt, erst Vertiefung, dann Erweiterung kommen.

Die Formel "vertiefen, um zu erweitern" liegt nicht nur im Eigeninteresse der Gemeinschaftsländer. Nur eine leistungsfähige Gemeinschaft kann auch die wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung für die ost- und mitteleuropäischen Länder wie auch für die Dritte Welt aufbringen. Diese Solidarität mit den östlichen und südlichen Nachbarn ist nicht uneigennützig. Die Stabilität in diesen Regionen, die Förderung von Demokratie und der Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft ist für die Wohlstandssicherung im Westen und für seine Sicherheit von vitalem Interesse. Zudem kann nur eine derartige weitreichende Politik den bereits vorhandenen Migrationsdruck auf die Gemeinschaft mildern. Es erscheint ausgeschlossen, daß die Union als "Wohlstandsfestung" umgeben von weitreichender Armut nach dem Ende des "eisernen Vorhangs" erneut unüberwindbare Mauern zwischen Ost- und Westeuropa sowie dem Süden aufbaut.

Doch kann die EU die weltweiten Probleme, noch nicht einmal diejenigen in Ost- und Mitteleuropa, auch nicht alleine auf sich gestellt aus eigener Kraft lösen. Die EU-Mitgliedschaft ist für die ostmitteleuropäischen Reformländer wie auch für die Balkanstaaten keine Zauberformel, die deren wirtschaftliche und soziale Sorgen und Nöte mit einem Schlag lösen könnte. Im Gegenteil würden sich - dies zeigen die Erfahrungen der ehemaligen DDR-Betriebe in Ostdeutschland sehr deutlich - viele der vorhandenen Probleme bei einer vollständigen Öffnung der Märkte durch die wettbewerbsfähigere EU-Konkurrenz noch dramatisch verschärfen.

Deshalb sind regionale Kooperations- und Integrationsgemeinschaften neben der EU zu ermutigen. Beispielsweise haben Ungarn, Polen, die Tschechische Republik und die Slowakische Republik die sog. "Visegrad-Gruppe" zur Koordinierung ihrer gemeinsamen Interessen gegründet. Zu unterstützen ist auch der Nordische Rat, in dem die skandinavischen Staaten ihre Probleme diskutieren und nach gemeinsamen Lösungen suchen. Solche funktionsfähigen regionale Zusammenschlüsse in verschiedenen Teilen Europas tragen dazu bei, daß Staaten, die (noch) nicht der Europäischen Union beigetreten sind, diesen Schritt nicht alleine deshalb schon anstreben, weil sie ihn als einzige Möglichkeit ansehen, einer ungewollten außenpolitischen Isolierung zu entgehen.

Wichtige Aufgaben können im Hinblick auf die künftige gesamteuropäische Architektur auch der bereits 1949 gegründete Europarat und die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) leisten. Der Europarat hat sich vor allem Verdienste erworben bei Kultur- und Bildungsfragen und bei der Achtung und Wahrung der Menschenrechte und des gemeinsamen demokratischen Besitzstandes in Europa. Die KSZE war zweifellos einer der wesentlichen Auslöser der demokratischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa. Hier fanden erstmals intensive blockübergreifende Gespräche statt; vertrauensbildende Maßnahmen und Kontakt- und Informationsmöglichkeiten wurden vereinbart. Die entstandenen Strukturen können auch in Zukunft als sehr wichtige Brücke zwischen den Unionsstaaten und den anderen europäischen Ländern sowie den angrenzenden asiatischen KSZE-Staaten genutzt werden. Freilich besteht die Gefahr, daß die KSZE durch ihre territoriale Ausdehnung insgesamt überdehnt und entwertet wird.

Die EG hat sich immer als eine offene Gemeinschaft verstanden, und sie muß daran festhalten, ihren Kreis um die beitrittswilligen demokratischen Staaten zu erweitern. Die Gemeinschaft benötigt überdies erhebliche Energien, um sich auf die gesamteuropäischen Herausforderungen vorzubereiten. Die Frage der Erweiterung wird die Europäische Union in den vor uns liegenden Monaten und Jahren noch intensiv beschäftigen. Die Existenz einer Europäischen Union von Lissabon bis Wladiwostok darf aber nicht die einzige Option für die künftige Entwicklung des Kontinents sein.


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