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Ukraine : Kurswechsel des Transformationsprozesses? / von Andreas Wittkowsky. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1994. - 11 S. = 35 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1997

© Friedrich-Ebert-Stiftung



Nach den Wahlen vom Mai und dem Regierungswechsel sind vom neuen Präsidenten Kutschma kleine industriepolitische Schritte und der Versuch, die Währung zu stabilisieren, zu erwarten.

Der gewünschte Kurswechsel beinhaltet auch eine stärkere wirtschaftliche Integration auf GUS-Ebene. Eine Aufgabe von souveränen Politikbereichen nach weißrussischem Muster ist allerdings unwahrscheinlich.

Das vom Parlament im Juli durchgesetzte Privatisierungsmoratorium ist ein Indiz für den nurmehr verhaltenen wirtschaftlichen Transformationsprozeß in marktwirtschaftliche Richtung.

Die Abschaltung von Tschernobyl ist weiter aufgeschoben, ein allgemeiner Ausstieg der Ukraine aus der Atomernergie ist nicht mehr zu erwarten.

Zwei Ziele bestimmten die Politik des ersten ukrainischen Präsidenten Krawtschuk (1991-94): die Sicherung der persönlichen Macht und die Konsolidierung der politischen und wirtschaftlichen Chancen der alten Nomenklatur. In der innenpolitischen Auseinandersetzung brachte er Reformansätze und -politiker als Bauernopfer dar, so daß die wirtschaftliche Umbau kaum vorankam. Ende 1993 erfolgte unter Krawtschuks Federführung die Rückkehr zu alten planwirtschaftlichen Instrumenten. Nach den Parlamentswahlen war die Politik des ehemaligen KP-Sekretärs für Propaganda und Ideologie gekennzeichnet von völliger Perspektivlosigkeit.

Durch die Parlamentswahlen vom März/April 1994 wurde die Mehrzahl der neu entstandenen Parteien ins politische Abseits gedrängt. Reformorientierte Politiker konnten sich nur vereinzelt durchsetzen. Deutlicher Wahlsieger waren die organisierten Kommunisten, die im Osten des Landes ihre Hochburgen haben. Die Nationalisten errangen dagegen nur 11% der Sitze. Im Parlament gibt es deshalb auch keine Polarisierung zwischen Ost und West bzw. zwischen Nationalisten und Kommunisten. Unter der Führung von Sozialisten und Kommunisten hat die Parlamentsmehrheit begonnen, die Wirtschaftsreformen weiter zu behindern und den Präsidenten zu entmachten.

Mit Leonid Kutschma tritt ein Repräsentant der 'aufgeklärten Direktoren' das höchste Staatsamt an. Die wichtigsten Forderungen seines Wahlkampfs waren der Kampf gegen die Korruption und die Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen, da die industrielle Basis des Landes durch die bisherige Politik bedroht ist. Vom neuen Präsidenten sind kleine industriepolitische Schritte zu erwarten und der Versuch, die Währung zu stabilisieren. Der gewünschte Kurswechsel beinhaltet auch eine stärkere wirtschaftliche Integration auf GUS-Ebene. Eine Aufgabe von souveränen Politikbereichen nach weißrussischem Muster ist allerdings unwahrscheinlich.

Zu Beginn der parlamentarischen Sommerpause unterstellte sich Kutschma die Regierung und die regionalen Verwaltungschefs. Damit soll dem Präsidenten eine neue Exekutive zur Durchsetzung seiner Maßnahmen zur Verfügung stehen. Dies ist eine Herausforderung an das Parlament. Gelingt es ihm, diese zu bestehen, so ist mit einer Fortsetzung der in Gang gesetzten Dynamik zu rechnen. Radikale Reformen werden auch unter Kutschma nicht eingeleitet werden; wohl aber ist er bereit, die notwendige 'kritische Masse' für den weiteren Reformprozeß zu schaffen.

Die Ukraine unter Krawtschuk: Verfall ohne Perspektiven

Zwei Ziele bestimmten die Politik des ersten ukrainischen Präsidenten Krawtschuk (1991-94): die Sicherung der persönlichen Macht und die Konsolidierung der politischen und wirtschaftlichen Chancen der alten Nomenklatur. Als damaliger Vorsitzender der ukrainischen Obersten Rada (Sowjet/Rat/Parlament) betrieb er die Loslösung des Landes von der Sowjetunion genau von dem Zeitpunkt an, als der Janajew-Putsch gegen Gorbatschow (August 1991) gescheitert war. So konnte der als "schlauer Fuchs" bekannte ehemalige KP-Sekretär für Propaganda und Ideologie auf der Welle der oppositionellen Volksfrontbewegung reiten und die Präsidentschaftswahlen am 1.Dezember 1991 als Stifter der nationalen Souveränität gewinnen. In einem gleichzeitigen Referendum wurde die Unabhängigkeit von 90% der Bevölkerung bestätigt - und zwar auch im stärker russisch geprägten Südosten des Landes. Lediglich auf der Krim, der einzigen ukrainischen Region mit einer russischen Bevölkerungsmehrheit, fand die staatliche Eigenständigkeit in einigen Gebieten keine mehrheitliche Unterstützung.

Die allgemeine Zustimmung zur Unabhängigkeit war mit Wohlstandserwartungen verbunden, die von der weiteren Entwicklung enttäuscht wurden. Zwar wurde der Aufbau einer nationalen Ökonomie beschworen, doch eine Strategie hierzu war weder beim Präsidenten noch bei der Regierung zu erkennen. Auch die notwendige Rahmengesetzgebung der Obersten Rada blieb Flickwerk und war von Rückschlägen gezeichnet. Die - nunmehr parteilose - kommunistische Nomenklatur nutzte ihre Parlamentsmehrheit dazu, bereits verabschiedete Gesetze durch gegenläufige Entscheidungen zu konterkarieren, insbesondere, wenn negative Konsequenzen für Betriebe oder Branchen anstanden. So verabschiedete die Oberste Rada beispielsweise ein Konkursrecht, rettete stillstehende Betriebe aber gleichzeitig durch zusätzliche Zentralbankkredite. Auch die Landwirtschaft wurde zur Saat- und Erntezeit derart alimentiert.

Die von den Anhängern der nationalen Unabhängigkeit begrüßte Einführung der 'Übergangswährung' Karbowanez (oder Kupon) machte die Schwäche der ukrainischen Volkswirtschaft selbst im Vergleich zum russischen Nachbarn drastisch sichtbar. Der Kupon wertete von Anfang an auch gegenüber dem Rubel ab; die ukrainische Inflationsrate lag noch über der russischen. Dies beschleunigte den Niedergang der Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland. Insbesondere die stark industrialisierte Ostukraine mit ihren Strukturproblemen war von dieser Entwicklung betroffen. Ende 1992, als sich die Wirtschaft schon auf stetiger Talfahrt befand, berief Krawtschuk einen Vertreter der Industriellen des Ostens zum Premierminister: Leonid Kutschma. Um den industriellen Verfall des Landes zu stoppen, wollte dieser die Reformen stärker vorantreiben. Den Geldschöpfungsprozeß konnte allerdings auch er nicht aufhalten: so lag die monatliche Inflation im Jahr 1993 bei durchschnittlich 70%.

Unter der Führung des Parlamentspräsidenten Iwan Pljuschtsch stellte sich die Obersten Rada den Reformversuchen des neuen Regierungschefs entgegen. In der dadurch ausgelösten innenpolitischen Auseinandersetzung machte Krawtschuk im Laufe des Jahres 1993 beständig Zugeständnisse an die Bremser, die wichtigen Reformvertretern in der Regierung das Amt kosteten. Auch Kutschma trat im August 1993 zurück, als ihm die zur Fortführung seiner Politik benötigten Vollmachten verwehrt wurden. Rückblickend gestand Kutschma einen großen Fehler ein: den Posten überhaupt angenommen zu haben.

Zusammen mit Kutschmas Nachfolger Efim Zwjagilskij betrieb Krawtschuk die Rückkehr zu alten planwirtschaftlichen Instrumenten, wie z.B. den Staatsaufträgen und strenger Devisenbewirtschaftung. Die zaghaften Liberalisierungsschritte wurden rückgängig gemacht. Obwohl so ab Anfang 1994 die Inflationsrate gesenkt werden konnte, schritten wirtschaftlicher Verfall und der Verarmungsprozeß der Bevölkerung fort: Vier Fünftel der Bevölkerung leben nach neueren Schätzungen inzwischen unter der Armutsgrenze; die Durchschnittsrente liegt bei umgerechnet 10 US-Dollar.

Die ökonomische Bilanz der Präsidentschaft Krawtschuks trug wesentlich zur Verschärfung des wichtigsten innerukrainischen Territorialkonflikts bei. Auf der Krim, die erst 1954 als "Geschenk der Völkerfreundschaft" an die Ukraine kam, gewannen politische Kräfte zur Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit bzw. zur Rückkehr nach Rußland an Boden. Der Zufluß von Devisen aus mehr oder weniger dunklen Quellen, die man dem Zugriff Kiews entziehen wollte, trug hierzu nicht unwesentlich bei. In der Bevölkerung fanden diese Kräfte Unterstützung durch die konkret wahrnehmbare Fehlentwicklung der Ukraine. Russische Krim-Touristen verfügten über eine 'harte' Währung und genossen offensichtlich einen höheren Lebensstandard als Ukrainer. Auch die Ablehnung einer (tatsächlich kaum stattfindenden) Ukrainisierung des offiziellen Lebens verstärkte die anti-ukrainischen Tendenzen. Diese kulminierten in der Wahl des für den Anschluß an Rußland werbenden Kandidaten Jurij Meschkow zum (in der Verfassung der Autonomen Republik Krim nicht vorgesehenen) Präsidenten der Halbinsel am 30.Januar 1994.

Die zweite Dimension der Krise auf der Krim war der ukrainisch-russische Streit um die Schwarzmeerflotte mit Sitz in Sewastopol. Die immensen Schulden der Ukraine für Energielieferungen aus Rußland begünstigten einen Grundsatzbeschluß zur Aufteilung der Schwarzmeerflotte zwischen beiden Ländern gegen Verrechnung einer Teilschuld. Über den Sitz des bei Rußland verbleibenden Anteils der Flotte konnte bisher keine Einigung erzielt werden: die russische Seite beansprucht zumindest Sewastopol, wenn nicht gar weitere vier Krimhäfen. Dagegen befürchtet die ukrainische Seite bei einem Nachgeben in der Sewastopolfrage eine Signalfunktion für die Sezessionsbestrebungen der ganzen Krim und somit für die Desintegration der Ukraine.

In einer zweiten Frage des gemeinsamen militärischen Erbes der Sowjetunion war Krawtschuk erfolgreicher. Innenpolitisch konnte er sich gegen Positionen durchsetzen, die eine Nuklearmacht Ukraine befürworteten. Nach vielen erfolglosen Versuchen unterzeichnete die Oberste Rada im November 1993 das Start-I-Abkommen; allerdings mit einigen Einschränkungen. Die trilaterale Vereinbarung zwischen Jelzin, Krawtschuk und Clinton im Januar 1994 brachte den endgültigen Durchbruch und sicherte der Ukraine eine nicht unbeträchtliche Kompensation in Form von Brennmaterial für ihre Kernkraftwerke. Die bereits mehrmals verkündete Abschaltung von Tschernobyl wurde dagegen immer wieder aufgeschoben und von steigenden Forderungen nach internationaler Hilfe begleitet. Ein allgemeiner Ausstieg aus der Kernenergie ist in der Ukraine nicht mehr zu erwarten.

Das politische Profil des Ex-Präsidenten läßt sich also als janusköpfig beschreiben. Im Westen brachte ihm sein Umgang mit Themenbereichen, die im Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit standen, den Ruf eines Garanten ukrainischer Stabilität ein, - und im Gegenzug zu seinen Bemühungen sagte die internationale Staatengemeinschaft ihre finanzielle Hilfe zu. Die bisher gewährten Hilfen verwandte Krawtschuk aber ebenso wenig zur politisch-sozialen Absicherung der Transformation wie die mit Rußland ausgehandelten Schuldenerlässe. Das begrenzte Verhandlungs-Kapital der Ukraine wurde stattdessen zur perspektivlosen Aufrechterhaltung des status quo verschwendet. Im Bereich der Entwicklung und Umgestaltung des Landes muß Krawtschuks letztes Amtsjahr als verlorene Zeit verbucht werden.

Das Ende des 'Parteienfrühlings' und das Wiedererwachen der organisierten Kommunisten

Seit Anfang 1990 wurde in der Ukraine eine beträchtliche Zahl neuer Parteien gegründet. Mit der Registrierung der Kommunistischen Partei der Ukraine (Bolschewiki) im Juli 1994 erhielt dieser 'Parteienfrühling' seine 45.Blüte. In der Regel sind die neuen Parteien keine Volksparteien mit flächendeckenden Mitgliederstrukturen, sondern eher mitgliederschwache politische Lager, die sich um eine oder mehrere politische Persönlichkeiten herum gruppieren. Mehr als 5.000 Mitglieder haben wohl nur die aus der Volksfrontbewegung hervorgegangene Partei RUCH, die Sozialistische Partei der Ukraine (Nachfolgegründung der alten KP), und die am 5. Oktober 1993 wiedergegründete Kommunistische Partei der Ukraine.

Demgegenüber hat sich ein großer Teil der alten Nomenklatur (noch) nicht wieder in einer Partei organisiert. Nicht zuletzt, um der antikommunistischen Opposition weniger Angriffsfläche zu bieten, blieben diese Funktionäre als sogenannte "Partei der Macht" ohne formellen Zusammenschluß. In der alten Rada hatte diese Gruppe eine breite Mehrheit; das Interesse am politischen und wirtschaftlichen Machterhalt bildete ihr einendes Band. Die Unterstützung der Präsidentschaft Krawtschuks sollte die Durchsetzung dieses Ziels absichern. Innerhalb dieser "Partei der Macht" lassen sich drei große Interessengruppen verorten: erstens die Bürokraten im Präsidentenapparat, in der Staatsverwaltung und den alten Gewerkschaften; zu dieser Gruppe gehört auch Krawtschuk. Zweitens die Agrarier (Leiter der Kolchosen und Sowchosen), die im ehemaligen Parlamentspräsidenten Iwan Pljuschtsch einen mächtigen Fürsprecher hatten; und drittens die Industriellen der Staatsindustrie, zu denen auch Kutschma zählt.

An den politischen Auseinandersetzungen dieser drei Personen im Jahr 1993 wurde das Aufbrechen von Interessengegensätzen zwischen den von ihnen vertretenen Gruppen deutlich. Resultat dieser politischen Auseinandersetzungen war der Parlamentsbeschluß zu vorgezogenen Neuwahlen von Parlament und Präsident. In Hinsicht auf die zukünftige Zusammensetzung der Obersten Rada zog die "Partei der Macht" wieder an einem Strang, um die Erhöhung der eigenen Wahlchancen und die Behinderung von Kandidaten aus dem reformerischen bzw. national-demokratischen Lager zu erreichen. Die entsprechenden Möglichkeiten zur Ausgestaltung des Wahlgesetzes nutzte die Parlamentsmehrheit ausgiebig, insbesondere was die Frage des Wahlrechts und die Prozedur der Kandidatenaufstellung betraf.

Zum einen entschied sich die Oberste Rada für ein absolutes Mehrheitswahlrecht (mind. 50% Stimmenanteil) und eine Mindestwahlbeteiligung von ebenfalls 50% in jedem der 450 Wahlkreise. Zum anderen waren außer den Parteien auch die Arbeitskollektive und individuelle Wähler eines Wahlkreises berechtigt, Kandidaten vorzuschlagen. Nominierungen durch Arbeitskollektive erforderten die Unterschrift eines seiner Vertreter, Nominierungen durch Wähler die Unterschrift von 10 Wahlberechtigten. Dagegen mußten Parteikandidaten einen umfangreichen Nominierungsprozeß durchlaufen, so daß ihr Anteil an den insgesamt 5.833 Kandidaten des ersten Wahlganges nur 11% betrug. Der Einfachheit halber ließen sich allerdings auch Parteimitglieder als unabhängige Bewerber aufstellen.

Die Begrenzung der persönlichen Wahlkampffonds auf 100 Minimallöhne (6 Mio Karbowanez oder 300 DM) erlaubte kaum private Wahlkampfaktivitäten. Die in den staatlichen Medien zugestandene Wahlwerbung war begrenzt, und der Zugang zu den anderen, zumeist von staatlichen Subventionen abhängigen Medien blieb vielen Kandidaten verwehrt. Begünstigt wurden dadurch jene Bewerber, die bereits über einen hohen lokalen Bekanntheitsgrad verfügten und über die in ihrer Eigenschaft z.B. als Betriebs- oder Kolchosdirektor berichtet werden konnte. Neben diesen ungleichen Darstellungsmöglichkeiten beruhte der Erfolg dieser Lokalgrößen allerdings auch auf der Erwartung der Wählenden, daß nur diese in der Lage seien, auf nationaler Ebene die lokalen Interessen zu vertreten.

Mit dem Abschluß der Nachwahlen vom 7.August 1994 konnten nun 393 der 450 Parlamentsmandate besetzt werden. Den 207 unabhängigen Kandidaten (52,7%) stehen drei politische Lager gegenüber. 31% fallen auf die 'Organisierten Kommunisten' (Kommunisten, Sozialisten, Agrarier, Bürgerkongreß); 9,7% auf das nationale Lager (RUCH, Republikanische Partei, Kongreß der Nationalisten, Demokratische Partei, Konservativ-Republikanische Partei, Christlich-Demokratische Partei). Die Kandidaten des Zentrums (Partei der Demokratischen Wiedergeburt, Sozialdemokratische Partei, Arbeitspartei) blieben mit 2,3% weit abgeschlagen.

Die meisten unabhängigen Abgeordneten haben sich inzwischen in einer der neun neugebildeten Fraktionen organisiert. Dadurch verfügen die 'Organisierten Kommunisten' über 36,9 % der Stimmen. Weitere 22,4% gehen an die drei Fraktionen des unorganisierten Teils der alten Nomenklatur ("Partei der Macht"). National-Demokraten und Zentrum verfügen gemeinsam gerade über 20,1 % der Mandate. Obwohl die Stimmengewinne der Kommunisten im Südosten und der Nationalisten im Westen eine gespaltene politische Entwicklung des Landes fortsetzten, sind letztere zu schwach, um von einer Polarisierung des Parlaments reden zu können. Wenn es in der neuen Obersten Rada überhaupt zu Auseinandersetzungen kommt - und dies ist wahrscheinlich -, so werden diese zwischen den verschiedenen Lobbies der alten Kräfte ("Partei der Macht" und organisierte Kommunisten) stattfinden.

Zunächst hat das Bündnis der organisierten Kommunisten die Führung der parlamentarischen Mehrheit übernommen. Mit der Wahl des Sozialisten Aleksandr Moroz zum Sprecher des Parlaments konnten sie den wichtigsten Posten zur Gestaltung der parlamentarischen Debatten besetzen. Organisierte Kommunisten und die "Partei der Macht" gemeinsam verfügen über etwas weniger als die 2/3-Mehrheit, die für die geplante Verabschiedung einer neuen Verfassung entscheidend sein wird. Bereits jetzt hat das Parlament angefangen, die Machtbefugnisse des Präsidenten zu beschneiden. Nach dem neuen Gesetz über das Staatsbeamtentum darf der neue Präsident Regierungsmitglieder nur noch wegen Inkompetenz oder Stellenabbau entlassen. Durch ein weiteres Gesetz sind die Präsidentenvertreter als Verwaltungschefs der verschiedenen lokalen Ebenen abgeschafft worden. Diese Funktion üben jetzt die gewählten Vorsitzenden der Sowjets aus, deren Status nicht eindeutig definiert ist. Innerhalb des Parlaments gibt es starke Bestrebungen, den Präsidenten auf eine Repräsentativfunktion nach deutschem Muster zurechtzustutzen.

Noch kurz vor der Präsidentenwahl bestätigte das Parlament den von Krawtschuk vorgeschlagenen neuen Premierminister Masol. Auch hier war das Motiv des Ex-Präsidenten v.a. das Arrangement mit den neuen Machtverhältnissen. Masol trat an mit der These, daß die Planwirtschaft der Marktwirtschaft überlegen sei und paßte damit hervorragend in das Spektrum der 'Organisierten Kommunisten'. Im Juni verkündete Parlamentssprecher Moroz, daß der Produktionsfaktor Land nur langfristig verpachtet, nicht aber privatisiert werden soll. Und Ende Juli 1994 gelang es auf Betreiben der Kommunistischen Fraktion, ein Privatisierungsmoratorium durchzusetzen mit der Begründung, die bisherige Privatisierungspraxis widerspreche "den Interessen des Volkes". Die Schlüsselsektoren Transport, Energie und Telekommunikation sollen in Zukunft ganz von der Privatisierung ausgeschlossen werden. Diese bisherige Tätigkeit des Parlaments im Bereich der Wirtschaftsreformen verweist darauf, daß auch in Zukunft von ihm nichts Fortschrittliches zu erwarten ist.

Die Präsidentschaft Kutschmas - Chance für die Ukraine

Noch zur Zeit der Parlamentswahlen hatte der in Meinungsumfragen in einem absoluten Popularitätstief hängende Krawtschuk eine erneute Kandidatur zum obersten Staatsamt öffentlich ausgeschlossen; nicht ohne gleichzeitig die notwendige Unterschriftensammlung für diese Kandidatur einzuleiten. Umso emsiger betrieb der "schlaue Fuchs" nach Bekanntgabe seines Gesinnungswechsels den Wahlkampf. Die größtenteils staatsabhängigen Medien setzte er dabei ausgiebig für seine Zwecke ein. Nach dem ersten Wahlgang sah es so aus, als könne sich Krawtschuks spektakulärer Erfolg vom Dezember 1991 wiederholen, doch der zweite Wahlgang am 10.Juli zeigte, daß Krawtschuk Opfer seiner eigenen Erfolgsmeldungen geworden war - wie weiland Erich Honecker. Trotz der G7-Wahlhilfe durch die Bekanntgabe der neuesten Tschernobyl-Millionen am Vorwahltag konnte sich Kutschma mit 52% der Stimmen gegen Krawtschuk durchsetzen.

Während Krawtschuk die Stimmen der westukrainischen Nationalisten auf sich vereinigen konnte, errang Kutschma seine höchsten Stimmengewinne im Ostteil des Landes. Dies ist die Herkunftsregion des Vorsitzenden des Industriellenverbandes und ehemaligen Direktors der Raketenfabrik "Juschmasch". Das schon bei den Parlamentswahlen sichtbar gewordenen unterschiedliche Wählerverhalten im Westen und im Osten hat einige politische Beobachter innerhalb und außerhalb der Ukraine zu dem Schluß verleitet, nun sei auch noch die letzte Staatsgewalt in die Hände der Altkommunisten gefallen. Tatsächlich aber sind bei den beiden Wahlen ganz unterschiedliche politische Konzeptionen bestätigt worden - es gibt in der Ukraine kein politisch konsistentes Wählerverhalten.

Zwei Themen bestimmten Kutschmas Wahlkampf: die Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen und der Korruptionsbekämpfung. Die mit dem möglichen Präsidentenwechsel verbundene Hoffnung auf einen Ausweg aus der festgefahrenen Situation des Landes führte auch Intellektuelle aus den Reihen der demokratischen Opposition in sein Wahlkampfteam. Kutschmas wirtschaftspolitische Reformbereitschaft steht für die Einsicht der 'aufgeklärten Industriellen', daß der bisherige Weg der ukainischen Nationalstaatsbildung ihre eigene wirtschaftliche Grundlage gefährdet. Die Hyperinflation und die unklaren Rahmenbedingungen behindern die Entwicklung langfristiger ökonomischer Kalküle - und damit die Grundlage für Investitionen. Neue wirtschaftliche Aktivitäten entstehen in der Ukraine fast ausschließlich im Handel mit seinen kurzfristig zu realisierenden Gewinnen. Der Großteil davon spielt sich darüberhinaus in der Schattenwirtschaft ab und untergräbt die Steuerbasis des Staates.

Bezüglich der Reformpolitik sind Zweifel eher am Können als am Willen des neuen Präsidenten berechtigt. Allgemein leidet die Ukraine darunter, in der Sowjetunion nur Provinz gewesen zu sein. Im Gegensatz zu Moskau findet man in Kiew nur wenige kompetente Wirtschaftsfachleute. Dementsprechend verfügt Kutschma weder über ein konsistentes Reformprogramm, noch über eine entsprechende Mannschaft. Andererseits würden die politischen Kräfteverhältnisse die Durchführung eines konsistenten Programms nicht zulassen. Insofern ist zu erwarten, daß Kutschma wichtige Posten mit Reformern zu besetzen versuchen wird, um einen Teil der von ihm als notwendig erachteten Maßnahmen durchzusetzen und damit eine 'kritische Masse' der Reformen zu schaffen. Zu diesen Maßnahmen gehören die Reduzierung der Unternehmenssteuern, der Subventionsabbau für verlustbringende Betriebe und die stark defizitäre Landwirtschaft, die Stabilisierung der Währung, die Preisliberalisierung und zumindestens das Vorantreiben der Privatisierung kleinerer und mittlerer Unternehmenseinheiten. Gleichzeitig wird er alles daran setzen, die Deindustrialisierung des Landes zu vermeiden. Dies kann und wird zu Zielkonflikten führen.

Im Rahmen dieser Zielvorgabe ist auch die von Kutschma geforderte Annäherung an Rußland zu sehen. Bei den pragmatischen Industriellen wiegt der Kapitalbedarf der ukrainischen Industrie stärker als die Angst, in verstärkte ökonomische Abhängigkeit vom großen Bruder zu geraten. Diese besteht ganz offensichtlich sowieso und ist nur durch den Aufbau einer funktionsfähigen Volkswirtschaft zu minimieren. Die dazu angestrebte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Rußland wird jedoch nicht die Aufgabe von politischer Souveränität beinhalten, wie sie zur Zeit in Weißrußland betrieben wird. Zum einen würde dies in der Ukraine heftigen innenpolitischen Widerstand provozieren; zum anderen widerspräche dies aber auch dem Interesse der ukrainischen Industrie. Nur im Rahmen ukrainischer Souveränität kann sie sich der notwendigen staatlichen Unterstützung für ihre Umstrukturierung gewiß sein. Die größte potentielle Gefahr für die wirtschaftliche 'Souveränität' der Ukraine liegt deshalb in der schon unter Krawtschuk geschaffenen Möglichkeit russischer Investoren, Anteile an ukrainischen Unternehmen zu erwerben.

Der Umgang des neuen Präsidenten mit den Konflikten auf der Krim wird durchaus ähnlich sein. Er wird auf einen schnellen Verhandlungsabschluß zur Aufteilung und raschen Übertragung eines Großteils der Flotte an Rußland drängen. Angesichts der Tatsache, daß auf den ukrainischen Werften noch einige neue Schiffe für die ukrainische Marine auf Stapel liegen, ist dies nicht nur unter dem Gesichtspunkt des damit verbundenen Schuldenerlasses sinnvoll. Der Verzicht auf die teilweise sehr alten Schiffe der Schwarzmeerflotte wird auch zur Modernisierung der ukrainischen Marine und der Auslastung der nationalen Werften beitragen können. Die Gretchenfrage - "Wie hältst Du's mit Sewastopol?" - wird er sich allerdings neu zu stellen haben. Bisherige Stellungnahmen legen nahe, daß Kutschma eine langfristige Pachtlösung anstreben wird. Als Präsident ist aber auch ein Gesinnungswandel aufgrund realpolitischer Kalküle denkbar.

Den Autonomiebestrebungen auf der Krim wird Kutschma eher stärker als Krawtschuk entgegentreten. Immerhin konnte Kutschma hier bei den Präsidentenwahlen 90% der Stimmen erringen, so daß er sich auf die eindeutige Legitimierung der ukrainischen Präsidialmacht berufen kann. Angesichts der Tatsache, daß die innere Sicherheit der Halbinsel inzwischen auch den separatistischen Kräften entgleitet, nimmt auch bei ihnen die Bereitschaft zur Verständigung mit der Zentralmacht zu. So konnte Kutschma bereits erreichen, daß Kiew die Oberhoheit über die autonome Polizeitruppe der Halbinsel erhält. Im günstigsten Fall könnte der neue Präsident hier sogar die Rolle des nationalen Einigers übernehmen - gerade weil ihm seitens der russischsprachigen Bevölkerung keine übertrieben nationalistischen Ambitionen unterstellt werden können.

Ausblick

Die Unabhängigkeit der Ukraine ist von den alten politischen Kräften betrieben worden, um radikale Änderungen des Systems zu vermeiden. Reformer waren dagegen immer in der Minderheit. Die Voraussetzungen für eine radikale Reform waren in der Ukraine niemals gegeben, und an ihr gemessen wird auch die zukünftige Entwicklung des Landes enttäuschend sein. Ohne daß es vorher zu entscheidenden Fortschritten beim Umbau der Wirtschaft gekommen wäre, fügt sich das Ergebnis der Parlamentswahlen in den allgemeinen osteuropäischen Trend der Rückkehr der Altkommunisten ein.

Der Präsidentenwechsel verspricht nun, daß Bewegung in die festgefahrene Lage kommt. Die erfolgreiche Überwindung des Krawtschukschen Erbes ist jedoch an eine elementare Voraussetzung gebunden: Kutschma muß seine programmatischen Ankündigungen nicht nur durchsetzen wollen, sondern auch durchsetzen können. Angesichts der parlamentarischen Bestrebungen, das Präsidentenamt auf Repräsentativfunktionen zurechtzustutzen, gibt es auch in der Ukraine eine Machtfrage. Diese wird allerdings nicht annähernd so dramatische Dimensionen annehmen wie in der Russischen Föderation.

Im ersten Amtsmonat blieb es erstaunlich still um den neuen Präsidenten. Mit einem ersten Dekret zur Korruptionsbekämpfung und der Berufung des stellvertretenden Geheimdienstchefs Rodschenko - ehemals zuständig für Kriminalitäts- und Korruptionsbekämpfung - zum Innenminister ging er zunächst den weniger kontroversen Teil seines Wahlprogramms an. Im Parlament stieß er mit beiden Maßnahmen auf Zustimmung. Dagegen überraschte er seine eigene Klientel in Dnepropetrowsk mit der Ankündigung einer Durststrecke, anstatt ihr 'blühende Landschaften' zu versprechen: "Die Politik der Vergangenheit führte zu den starken inflationären und machtpolitischen Verwerfungen... Ich werde die Wahrheit sagen: uns erwartet ein schwerer Herbst und ein nicht weniger schwerer Winter." Ein billiger Populismus ist dem neuen Präsidenten also nicht vorzuwerfen.

Zu Beginn der parlamentarischen Sommerpause eröffnete Kutschma seinen Kampf um die Macht mit zwei aufsehenerregenden Dekreten. Mit dem ersten verschaffte sich der Präsident den Vorsitz über das Ministerkabinett und die Richtlinienkompetenz über die ukrainische Politik. Damit wird letztendlich der Zustand wiederhergestellt, der für den größten Teil der Amtszeit Krawtschuks galt. Das zweite Dekret unterstellt dem Präsidenten auch die vom Volk gewählten Vorsitzenden der lokalen und regionalen Räte, die laut Gesetz sowohl dem Präsidenten als auch dem Parlament untergeordnet sind. Da diese zugleich Verwaltungschefs der jeweiligen oblasty, rajony oder Städte sind, verfügt Kutschma damit über eine bis in die lokale Ebene herunterreichende Exekutive.

Bis jetzt ist noch kein Aufschrei der Empörung aus den Reihen der Abgeordneten zu vernehmen gewesen. Prinzipiell kann das Parlament diese Dekrete relativ einfach aushebeln: ein normales Gesetzgebungsverfahren reicht zu ihrer Entkräftung aus. Die normative Kraft des Faktischen spielt allerdings auch in der ukrainischen Politik eine wesentliche Rolle, da z.B. weiterhin ein Oberster Gerichtshof zur Regelung von Streitfragen fehlt. Da das Dekret über die lokalen und regionalen Räte von zustimmenden Erklärungen vieler Ratsvorsitzender aus allen Landesteilen begleitet war, könnte Kutschma bereits ein erster innenpolitische Erfolg gelungen sein.

Unabhängig davon ist eine Kraftprobe mit dem Parlament im Herbst unausweichlich. Wie in jedem Jahr werden auch 1994 die Kolchosdirektoren die Erntezeit dazu benutzen, zusätzliche inflationstreibende Subventionen für Treibstoff etc. zu fordern. Unterstützt werden sie in diesem Jahr durch eine sommerliche Dürre, die die schlechteste Ernte seit 20 Jahren erwarten läßt. Ist es Kutschma ernst mit seinen Bestrebungen, das ökonomische Kalkül in der Agrarwirtschaft zu fördern, so muß er der mächtigen Agrarlobby gleich zu Beginn seiner Amtszeit das Füllhorn staatlicher Subventionen entreißen. Die Konsequenz hiervon wäre jedoch eine Verschlechterung der Versorgungslage, die den angekündigten schweren Herbst zur Folge hätte.

Macht- und wirtschaftspolitisch ist jedoch nicht eine unzufriedene Bevölkerung das größte Problem, sondern die drohende Inflation. Sollte es Kutschma mißlingen, die geldpolitischen Voraussetzungen für seine wirtschaftspolitischen Ankündigungen zu schaffen, so wird ein weiterer Verfall der Wirtschaft nicht aufzuhalten sein. Die Rückkehr der Hyperinflation droht auf zwei Pfaden: Zum einen, wenn der Präsident auf der Suche nach politischem Rückhalt beginnt, die industrielle Klientel im Osten mit übermäßigen Subventionen zu bedienen. Zum anderern, wenn das Parlament den Präsidenten im Rahmen einer neuen Verfassung entmachtet und die parlamentarische Hoheit über die Zentralbank zu einer ungebremsten lobbyistischen Haushaltspolitik benutzt.

Und genau dann wird es auch wahrscheinlicher, daß eine Kopie des belorussischen Weges für die ratlose alte Nomenklatur an Attraktivität gewinnt. Der Versuch, die Kosten des eigenen politischen Mißmanagements an den 'Großen Bruder' zu delegieren, ist jedoch nur ein scheinbarer Ausweg: Nicht nur, daß er die Desintegration des Landes provoziert; außenpolitisch beruht er auf einer Fehleinschätzung. Man ist in Rußland vielleicht an einer politisch-ökonomischen Abhängigkeit der Ukraine interessiert. Andererseits kennt man ihre Strukturprobleme nur zu genau. Und wie die Debatten um die belorussische Währungsintegration zeigen, hat die Absicherung des eigenen wirtschaftlichen Transformationspfades Priorität vor der wirtschaftlichen Eingliederung von Problemstaaten.


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