Presse-Ausgabe - - AWo-Sondernummer

SOZIALISTISCHE MITTEILUNGEN

No. 90 / 1946

der London-Vertretung der SPD
33, Fernside Avenue, London N.W.7

Sept. 1946

[Seite im Original:] - 1 -

Die Not in Deutschland



Unter der Leitung der Genossin Lotte Lemke hat der Hauptausschuss fuer Arbeiterwohlfahrt eine lebhafte Taetigkeit entfaltet. In allen Bezirken, Staedten und groesseren Orten im Westen Deutschlands und in Berlin haben sich waehrend der letzten Monate AW-Ausschuesse gebildet und haben sich durch ihre sachliche und energische Arbeit als gleichberechtigte Partner neben dem Deutschen Roten Kreuz, dem Caritasverband und der Inneren Mission im Hilfswerk der Freien Wohlfahrtsverbaende Anerkennung verschafft. Alle Antraege einzelner Personen um Hilfe haben ueber anerkannte Wohlfahrtsstellen zu gehen, und so sind z.B. in Hannover und Hamburg ueber 50% der Einzelantraege ueber den oertlichen AWA gestellt worden. Dies ist ein Beweis dafuer, dass die Hilfesuchenden im AWA die Stelle ihres Vertrauens sehen.

Ueber die Not in Deutschland hat der Hauptausschuss der AW Berichte und Notstandsschilderungen zusammengestellt. Wir entnehmen dieser Zusammenstellung das folgende Material und bitten unsere Mitglieder und Freunde in allen Laendern um Weiterverbreitung. Bei Vervielfaeltigungen und bei der Verwendung in der Presse bitten wir, auf die Arbeiterwohlfahrt Bezug zu nehmen. Wir bitten weiter, in allen Laendern die Hilfstaetigkeit zugunsten der Arbeiterwohlfahrt in Deutschland zu steigern und deshalb mit den Hauptausschuss fuer Arbeiterwohlfahrt, Hannover, Friedrichstrasse 15, in Verbindung zu treten.

Wilh. Sander.

Londonvertretung der SPD.



Das taegliche Brot und das Dach ueberm Kopf.

Hamburg, Parkallee. Eine Strasse im leidlich unversehrten Viertel. Wohl hat die Bombe hie und da ein Loch in die Haeuserzeile gerissen. Das gleicht dann sofort einer haesslichen Zahnluecke in einem gepflegten Gebiss. Immerhin, die Strasse mit ihren weissen, schmucken Haeusern hat noch viel vom verblichenen Glanz des Hanseatischen und viel von jener idyllischen Unschuld, die dem nahen Innocentisplatz den Namen gab. "Zone A", nickt der Eingeweihte: es ist das Viertel, das fuer die englische Behoerde geraeumt werden muss. Hier stehen die huebschen Villen noch reihenweise, und reihenweise stehen die Muelleimer.


5 Uhr nachmittags. Da kommt die Frau in Schwarz, die - bis auf die ausgetretenen Schuhe - auffallend gut gekleidet ist und sich zu Tode schaemt, da sie angesprochen wird. Fluechtling? Nein, Hamburgerin! Sie will es nicht wahrhaben, dass sie die Muelleimer geoeffnet hat, fuenf Muelleimer, der Reihe nach. Ihre Haende sind schmutzig von Asche und Dreck, aber sie leugnet es ab, die Eimer durchwuehlt zu haben, weil sie etwa nach Essbarem suchte. "Ich sammle Holz", sagt sie und setzt die Worte fein und wie auswendig gelernt und tadelt sogar die Leute, die "so unverantwortlich sind und Holzstuecke in den Muell werfen". Sie sagt: "Es ist mir um das Holz zu tun. Ich habe Angst vor dem Winter." Dabei herrscht die Hochsommersonne an diesem Tage, und aus ihrem mit Papier verdeckten Einkaufsnetz schauen vertrocknete Kartoffelschalen heraus ...


Drei Minuten spaeter kommt der Einbeinige angehumpelt, der im Kriege Unteroffizier war und der Nacht fuer Nacht beim Einschlafen mit einem Fluch des "Fuehrers" gedenkt; denn Adolf Hitler, der ihm zehn harte Soldatenjahre lang befahl, befielt, so er tot ist, noch immer seinem Unteroffizier, Tag fuer Tag die Front der Muelleimer abzuschreiten. Wo schlaeft er? Dort, wo die Arbeiterviertel Hamburgs "total flach" liegen. In einem Kellerloch, "so dumpf und stickig, dass der Schuetzengraben ein Erholungsort dagegen war". Er traegt ein kleines Saeckchen an einer Schnur ueber der Schulter. "Da tue ich den Schiet, den man noch fressen kann, rein und ruehr es abends durcheinander und koch es auf

[Seite im Original:] - 2 -

und schling es runter." Ausgemergelt ist sein Gesicht, so ausgemergelt! Er sucht auch Blechstueckchen und haemmert daran herum in seinem Kellerloch und verkauft sie dann als Aschenbecher. "Heimarbeit", sagt er.


Es kommen viele zu den Muelleimern. Die einen mit zoegernden Schritten, wie angezogen und abgestossen zugleich, und verschwinden schnell, da sie sich beobachtet sehen; die andern schlendern gemaechlich naeher und sprechen sich leichthin aus, so dass man beim Zuhoeren unwillkuerlich miterroetet vor Scham: "Es ist ja nicht, dass das Lebensglueck davon abhaengt, aber man interessiert sich doch - nicht wahr? - was da so drin ist in den Eimern. Und ob sie's glauben oder nicht: Manche Leute schmeissen da Sachen rein, die noch ganz brauchbar waeren." Wie sie alle auf die Muelleimerinhaber schimpfen, falls sie, was selten ist, noch "ganz brauchbare Sachen" finden, wie Kartoffel- oder gar Apfelschalen! Wie sie Ausfluechte suchen in der Verlegenheit! Einer allerdings, ein Sechzigjaehriger, was sagt der? "Ich sage es frei heraus: das war noch nie in Deutschland oder in Hamburg so, dass anstaendige Leute in Muelleimern kramen mussten! Das war noch nie! Warum soll ich mich schaemen? Im Muell zu wuehlen, das ist eine schoene Tagesbeschaeftigung fuer einen Pensionierten, mein Herr; sie fuellt einen restlos aus. Was wollen Sie? Man holt noch mancherlei heraus. Oder wollen Sie von den Kalorien leben, die heutzutage nach den Karten auf weissen Tellern im Restaurant serviert werden?"


Sechs Uhr nachmittags. In der verflossenen Stunde sind 22 Menschen an die Muelleimer herangetreten. Und danach duerfte es nicht zuviel gerechnet sein, wenn man annimmt, dass jeder Muelleimer in Hamburg mindestens ein Halbes Dutzend mal taeglich durchsucht wird. Hoert es, ihr Bauern auf dem Lande! Hoert es, ihr Buerger, die ihr noch Besitz habt! Ein Freund aber, der in der Parkallee wohnt, hat spaet, als kein Mensch mehr auf der Strasse war, noch die Deckel der Muelleimer klappen gehoert. Ein Schatten bewegte sich drunten, ein geschmeidiger Schatten auf vier Beinen, und was sich da aufrichtete an den bleigrauen Saeulenstuempfen, den spitzen Kopf unter den Deckel schob und dann zum naechsten Eimer huschte, war nichts Besonderes, nur ein hungernder Schaeferhund auf der Spur der hungernden Menschen des Sommers 1946 ...


Lerchenstrasse 23. Ein einzelstehendes schmales Haus. Ringsum Steingeroell eines Bombentreffers. Die Baupolizei hat schon laengst herausbekommen, dass dieses Haus nahe daran ist, zusammenzukrachen. Die Familie K. - ueber eine schmale Treppe erreichbar - wohnt dort denn auf eigene Gefahr. Die Mutter lag 30 Wochen im Krankenhaus, der Sohn kam aus der Gefangenschaft und aus dem Lazarett. Er war erst 16 Jahre alt, als sie ihm die Milz wegoperierten. Er hat noch andere Narben. Ihn nackt zu sehen muss ein Jammer sein. So jung und schon ein halber Mensch! Mutter und Sohn - das ist nicht die vollstaendige Familie. Sie sind zu neun Personen, wenn sie beim Abendbrot zusammensitzen, und der Tisch ist nicht gross genug, diese Hamburger Familie daran Platz nehmen zu lassen, so dass die Stunde der Mahlzeit einem improvisierten Lagerleben gleicht. Aber darum keine Sorge. Die ganze Sorge gebuehrt dem Haus.


Der Krieg hoechstselbst sitzt noch in diesem Haus. Das ist wie eine Krankheit, wie ein geheimer Fluch. Nachts ein Rascheln und ein Knistern - da meldet sich der Krieg zu Wort, emporgetaucht aus der Vergangenheit. Die Risse in den Waenden, die Andenken der Bombennaechte, vertiefen und verbreitern sich. Sie haben die Risse schon mit Lehm verschmiert, Mutter und Sohn. Vergeblich. Sie haben die Loecher mit Tuchfetzen verstopft. Wenn der Wind erwacht, pfeift er ungebaerdig durch die Ritzen und macht sie breiter und schuettelt an den Waenden, bis einmal das Haus zusammenbrechen wird.


In solchen Windnaechten gleicht dieses Haus einem Verrueckten, in dessen Innerem all die Geschehnisse wieder wach werden, die einst zu seinem Wahnsinn fuehrten. Das Haus spielt noch einmal Bombenkrieg. Die Waende schwanken, Tueren springen auf und knallen zu, als sei der Luftdruck von Bombeneinschlaegen wiederum am Werke. Dann springen die Bewohner aus den improvisierten Betten, kleiden sich an, bereit, ueber die schwankende Treppe ins Freie, in die Sturm- und Regennacht zu stuerzen. In den Keller getrauen sie sich nicht. Dort sind die Ratten. Manchmal steigt aus dem Abflussbecken der Wasserleitung ein so widerlicher Moordunst hervor, suesslich dumpf, wie Leichengeruch, und verbindet sich mit dem wehenden Kalkstaub, so dass die Bewohner nasse Tuecher vor Nase und Mund halten muessen, als saessen sie aufs neue im Branddunst einer Bombennacht. Seit Wochen und Monaten ist die Familie bemueht, eine andere Unterkunft zu finden. Es war bisher nicht moeglich.


Gleichfalls in der Lerchenstrasse steht das Hinterhaus, das einem verfallenen Schuppen aehnelt. Zerborstene Waende. Nur eine halbe ausgezackte Mauer trennt den Wohnraum des alten Arbeiterehepaares von der dunklen dumpfen Ecke, in der ein mehr als 60 Jahre alter ehemaliger Schlaechtermeister haust, dem die Bombe Geschaeft und Wohnung wegschlug. Vorn kocht die Frau aus Gemueseabfaellen eine unsagbar uebelduftende Bruehe. Sie klagt, wie entsetzlich es an kuehlen Tagen in diesem Loch hier zieht aus allen Fugen, und dass sie zu Tode kommen, wenn sie noch einen Winter darin aushalten muessen.

[Seite im Original:] - 3 -

Drinnen, jenseits der Wand toent Stoehnen wie von einem Tier; dort rumort der Schlaechtermeister. Seine Haende sind geschwollene, weiche Pranken. Er hat zwei Feinde, und sie wachsen ihm ueber den Kopf: Herzbeschwerden und Hunger. Die Nachbarn jenseits der halben Wand helfen ihm, so gut sie es vermoegen, so gut, wie nur die Aermsten zu helfen wissen. dass jener einst reich war, sie haben es ihm vergessen, der heute nur noch stoehnen und mit den Zaehnen knirschen kann, wenn die Schmerzen ihm die Sinne nehmen.


In der Naehe des Karl-Muck-Platzes ist ein Kellergewoelbe, das der Luftschutzraum des Hauses war. Dort lebt eine Mutter mit neun Kindern. Die sind 19, 18, 16, 13, 11, 8, 7, 6 und 4 Jahre alt. Die Enge, die Not, wohl auch die lange Trennung in der Zeit, da er Soldat war, haben den Mann, den Vater nicht zurueckfinden lassen. Er wohnt anderswo, irgendwo. Die Mutter und ihre Kinder kaempfen einen verzweifelten Kampf gegen die Unordnung, gegen die Verzweiflung, gegen den Unrat. Der aelteste Junge hat sich daran gemacht, Zwischenwaende zu mauern. Man sieht es den Mauern an, dass nicht gerade ein Fachmann am Werke war. Aber die Mauern mussten sein: Es stehen so viele Betten aller Groessen, aller Stile herum, dass der dunkle Raum in seiner ganzen ungeteilten Groesse einer unterirdischen Kasernenstube glich, und dieses Bild hatte der aelteste Sohn, der schon Soldat war, lange genug gekostet, um seiner ueberdruessig zu werden. Sie haben die Waende geweisst und gestrichen. Es ist schon eine Art Manie der Toechter geworden, immerfort den Staub von den zusammengebettelten Moebeln zu putzen. Aber wie sollte sich das aendern lassen, dass kein Lichtstrahl des Tages in dieses Kellergewoelbe faellt? Auch kann niemals gelueftet werden. Vorlaeufig halten sich die Kleinen von morgens bis abends vor der Tuer, auf der Strasse auf. Sie klagen "nur" ueber Hunger, "nur" ...


Ich habe Kellerraeume gesehen, in denen schwangere Frauen "wohnten". Und der Anblick jener jungen Frau war unvergesslich, die mitten im Gespraech ploetzlich kopfueber auf den Tisch kippte, kalkbleich im Gesicht, und in Zuckungen verfiel und endlich in eine tiefe erloesende Ohnmacht sank. Vorzeitige Wehen? O nein, die Nachbarinnen wussten Bescheid: Es war nur der unter den armen Leuten uebliche "Anfall", ein Magenkrampf, hervorgerufen durch Unterernaehrung, ausgeloest dadurch, dass diese Frau einen mehr oder minder reifen Apfel, ein Geschenk von mildtaetiger Hand, zu sich genommen hatte. In Hamburger Krankenhaeusern kann man die Babys sehen, die unter solchen Umstaenden geboren werden: Sie sind ausgezehrt, noch ehe sie das Licht der Welt erblickt haben, sie haben Hunger schon im Mutterleib gelitten. Ihre Gesichter gleichen denen von boesen Greisen, die in einem langen Leben vieles, vieles erfahren haben, nur nichts Gutes."

(Auszug aus einem Bericht von Jan Molitor[1]
in "DIE ZEIT" vom 8. August 1946).

- . - . - . - . - . - . - . - . -

Saeuglingssterblichkeit: 1938

50 Sterbefaelle auf 1.000 Lebendgeburten.

Die Berechnung auf Lebendgeburten wuerden gegenwaertig ein falsches Bild geben, da die Fluechtlinge und Rueckkehrer viele Saeuglinge mit nach Hamburg gebracht haben. Daher Umstellung auf Berechnung nach jeweils lebenden Saeuglingen.

Danach:

1945

134,10

Sterbefaelle

auf

1.000

lebende

Saeuglinge

Kleinkindersterblichkeit:

1939

4,96

"

"

1.000

"

Kleinkinder

 

1945

10,65

"

"

1.000

"

"

Allgemeine Sterblichkeit:

1938

12,20

Sterbefaelle

"

1.000

   
 

1945

16,60

"

"

1.000

   

Hungererscheinungen

a)

Behandlung im Krankenhaus.

Zeitraum

Zugang

Bestand

Abgang durch Tod

15.5

bis

23.5.1946

105

669

4

 

23.5

"

29.5.1946

163

751

1

30.5

"

5.6.1946

181

808

8

6.6

"

12.6.1946

159

822

8

13.6

"

19.6.1946

162

848

19

20.6

"

26.6.1946

200

942

12

27.6

"

3.7.1946

223

1.010

17

4.7

"

10.7.1946

209

1.095

9

[Seite im Original:] - 4 -

Danach waren Anfang Juli 1946 mit 1.095 mit Hungeroedemkranken belegte Betten bei eine Gesamtbettenzahl von 14.091.


b) Ausserdem wird von allen Seiten, praktischen Aerzten wie Betrieben, ueber das starke Auftreten von Folgeerscheinungen der schlechten Ernaehrung geklagt, ohne dass es moeglich ist, diese Faelle statistisch zu erfassen. Nur die Allgemeine Ortskrankenkasse ist in der Lage, mit Zahlen zu dienen, aber auch nur ueber den Anteil der Oedemkranken an der Zahl ihrer arbeitsunfaehigen Mitglieder.


Fuer Maerz, April und Mai

27.037

Arbeitsunfaehigkeitsmeldungen

davon

695

= 2,57% Hungeroedeme.

Bemerkenswert ist weiter, dass die Krankheitsdauer dieser Faelle 40 Tage im Durchschnitt statt normal 29-30 Tage betraegt.



Ausbreitung der Tuberkulose in Zusammenhang mit Wohnung und Ernaehrung.

Neuzugaenge nicht ansteckender Tuberkulose-Erkrankungen in den
Tuberkulose-Fuersorgestellen 1 9 4 6:

Absolute Zahlen: Januar 365, Februar 451, Maerz 847, April 911, Mai 974

Neuzugaenge aktiver ansteckender Tuberkulose-Erkrankungen in den
Tuberkulose-Fuersorgestellen 1946:

Absolute Zahlen: Januar 135, Februar 115, Maerz 167, April 210, Mai 194.

Die von der Aerztekammer ueberprueften Lebensmittelatteste stiegen
von 1944 bis Mai 1945 fuer Tuberkulose an:

von 2.500 auf fast 8.000 im Vierteljahr,
Fuer alle uebrigen Erkrankungen von 22.000 auf 33.000.

Von 10.000 Einwohnern erkrankten an Tuberkulose:


Es starben an Tuberkulose:

1940

11,5

1940

5,6

1941

11,6

1941

5,9

1942

12,5

1942

7,5

1943

13,6

1943

9,0

1944

16,4

1944

8,3

1945

13,9

1945

9,9

 

1946
(1. Halbjahr)


10,1



 

An Turberkulose-Fuersorgefaellen wurden gezaehlt:

1944

9.358,

davon

ansteckend

3.191

Tuberkuloese

1945

12.013,

"

"

3.770

"




Heilstaettenantraege wurden gestellt

1944

im ganzen

896

-

1945

im ganzen

1132


Sofortige stationaere Behandlung war erforderlich

1944

bei 370 Tuberkuloesen

-

1945

bei 489 Tuberkuloesen


Die Wohnungsverhaeltnisse haben sich in den beiden letzten Jahren ebenfalls erheblich verschlechtert. Bei der Ueberpruefung von Tuberkuloesen-Wohnungen zeigten sich:

 

1944

7,65% als unhygienisch

-

1945

15,4% als unhygienisch.


Die Zahl der offenen Tuberkuloesen ohne eigenes Bett hat ebenfalls stark zugenommen, u[nd] zwar:

von 43 im Jahr 1944 auf 78 im Jahr 1945.




[Hinweis]

Freiwillige Beitraege, die die Herstellung und den Vertrieb weiterer
Mitteilungen ermoeglichen, erbeten an:
Wilhelm Sander, 33, Fernside Avenue, London, N.W.7.

[Seite im Original:] - 5 -

Auswirkungen der beengten Wohnverhaeltnisse in Kiel auf das
Gesundheitswesen und die Kriminalitaet:

Die Zusammendraengung vieler Menschen auf engem Raum, der dazu noch zwischen Truemmern liegt, birgt grosse Gefahren fuer Seuchen, besonders wenn ein Mangel an Medikamenten und Reinigungsmitteln hinzukommt, wie er zur Zeit bei uns besteht.

Durch strengste aerztliche Ueberwachung, insbesondere auch der meist um 50% ueberbelegten Fluechtlingslager, geschieht alles, um Seuchen zu verhindern. Es ist auch gelungen, die im Mai 1945 und vor kurzem erneut ausgebrochenen Fleckfieberepidemien, die aus dem Osten eingeschleppt sind, einzudaemmen, ehe sie zu einer Gefahr fuer die Gesamtbevoelkerung wurden.

Gegenueberstellung der wichtigsten Erkrankungs- und Todesfaelle
in 1938/39 zu 1945/46:

1.) Epidemische Krankheiten:

 

Absolute Zahlen

Rel. Zahl[en] pro 10.000 Einw.

Prozentuale
Steigerung

 

1938/39

1945/46

1938/39

1945/46

 

Diphterie-

Erkrankte

464

820

17.5

46.00

62%

[!]

"

Sterbefaelle

17

64

0.6

3.60

500%

 

Typhus-

Erkrankte

28

296

0.1

1.60

1500%

 

"

Sterbefaelle

--

5

--

-.28

   

Tuberkulose-

Erkrankte

617

746

2.3

4.10

78%

 

"

Sterbefaelle

123

173

4.6

9.60

104%

[!]



2.) Geschlechtskrankheiten:

 

1938

344 Erkrankte

1945

792 Erkrankte



Diese Zahlen ergeben unter Beruecksichtigung der Bevoelkerungsziffern eine Steigerung um 340%, die sich jedoch noch um die in Schleswig behandelten stationaeren Faelle Kieler Erkrankter erhoeht, so dass man nach Angabe des leitenden Arztes mit einer

Erkrankungssteigerung um das 4-5 fache rechnen muss.


3.) Hautkrankheiten:

die in staerkster Abhaengigkeit von primitiven Wohnverhaeltnissen sowie Mangel an Reinigungsmitteln stehen, haben ausserordentlich stark zugenommen. Ueber die Kraetze, die vor dem Kriege voellig unbedeutend war, liegen folgende Krankmeldungen vor:

Mai

1945

40

Erkrankte

Oktober

1945

361

Erkrankte

Juni

"

116

"

November

"

381

"

Juli

"

222

"

Dezember

"

413

"

August

"

315

"

Januar

1946

437

"

September

"

277

"

Februar

"

465

"



aus denen ersichtlich ist, dass wir es in der Zeit vom Mai 1945 bis Februar 1946 mit einer mehr als 1.000% Steigerung zu tun haben, die noch nicht zum Stillstand gebracht zu sein scheint.

Andere Hautkrankheiten, die nicht anmeldepflichtig sind und ueber die aus diesem Grunde keine Zahlenangaben vorliegen, sollen nach Aussage der Aerzte noch bedeutend verbreiteter sein.


Sterblichkeit:

Bedingt durch die vor-aufgefuehrten Entwicklungen haben wir zur Zeit eine um 50% hoehere Sterblichkeit als 1938/39, die sich voraussichtlich weiter [er]hoehen wird.

Die Saeuglingssterblichkeit ist jetzt schon von 6,1% 1938/39 auf 13,4%, das ist um 120% gestiegen.

Die auf allen Krankheitsgebieten starke Steigerung der Erkrankungen bis zu 1.500% in 1945/46 gegenueber 1938/39 sowie die Erhoehung der Todesfaelle um bis zu 500% [sind] zur Hauptsache die Auswirkung der unguenstigen Wohnverhaeltnisse, verstaerkt durch die Folgen unzureichender Ernaehrung, und [sind] ein Zeichen dafuer, dass die Seuchengefahr fuer die Stadt nicht ernst genug genommen werden kann.

[Seite im Original:] - 6 -

Die Kriminalitaet:

Es ist allgemein bekannt, dass die Moral eines jeden Volkes nach dem Kriege gesunken ist. Wenn aber noch voellige Besitzlosigkeit grosser Massen mit der Unmoeglichkeit, sich auch nur das Noetigste zu beschaffen, hinzukommt, so ist die Gefahr des Ansteigens der Straftaten besonders gross. Inwieweit dies fuer Kiel zutrifft, zeigen folgende Zahlen, die einen Vergleich der Straftaten in 8 Monaten des letzten Vorkriegsjahres mit 8 Monaten in 1945/46 bringen:

 

absolute Zahlen

umgerechnet auf
die Bevoelkerung
v. 1938/39

Steigerung
in %

1938/39

1945/46


Mord und
Totschlag


3


15


20



566 %

 

Raub und
Erpressung


5


29


38


660 %

 

Hehlerei

13

148

198

1400 %

 

Unterschlag.
u. Betrug


1000


501


668


67 %


[!]

schwerer
Diebstahl


534


2139


2838


431 %

 

einfacher
Diebstahl


1956


6321


8428


330 %

 


Der Vorkriegsbevoelkerung von 263.000 Einwohnern stehen jetzt 216.000 Einwohner, das sind [grob gerechnet] 80%, gegenueber.

voellig zerstoerte

Haeuser

7.466 = 37%

mit

36.000

Wohnungen

=

44%

schwer beschaedigte

"

2.627 = 12%

"

6.900

"

"

8%

leicht beschaedigte

"

3.146 = 16%

"

7.421

"

"

9%

bewohnbar

 

6.770 = 34%

"

32.717

"

"

39%



Dem hoechsten Wohnbestand von 83.083 [!] Wohnungen standen im Maerz 1946 rund 32.700 bewohnbare Wohnungen = 39% gegenueber.

In diesen Zahlen ist jedoch Wohnraum enthalten, der aus Sicherheitsgruenden nicht bewohnt werden duerfte. So hat die Baupolizei gerade jetzt die Raeumung von 698 Haeusern mit 2.254 Wohnungen und rund 12.000 Bewohnern verlangt, da bei Sturm Einsturzgefahr vorliegt.

In dem fast um ein Drittel gesunkenen Wohnraum leben 216.000 Menschen, d.h. rund 80% der 265.000 Einwohner zaehlenden Vorkriegsbevoelkerung, was einer Mehrbelegung des Wohnraumes auf 226% entspricht.

Die Zunahme der Tbc.

Die Zunahme der Tbc betraegt gegenueber dem normalen Vorkriegsstand etwa das 4fache. Der Mangel an Heilstaettenbetten dokumentiert sich beispielsweise durch die Zahl der noch nicht durchgefuehrten Kuren. Im Landkreis warten noch 97 Tbc-kranke Kinder und 111 Erwachsene auf den Antritt ihrer groesstenteils genehmigten Kuren. Ihre Zahl vergroessert sich laufend.

Das Tbc-Problem droht, sich zu einer kontinentalen Gefahr auszuwachsen, das in seiner nationaloekonomischen Bedeutung nicht ueberschaetzt werden kann und das keineswegs an den Grenzen der deutschen Besatzungszonen haltmachen wird. Rechtzeitige umfassende Bekaempfungsmassnahmen ohne Ruecksicht auf entstehende Kosten unter tatkraeftiger Mithilfe der Militaer-Regierung sind erforderlich.

Der Landkreis hat dem dringendsten Bettenbedarf durch Einrichtung einer Lungenheilstaette in der bisherigen Jugendherberge Oer mit etwa 90 Betten Rechnung getragen. Der Hauptbeitrag nach dieser Richtung hin waere eine baldige Verpflegungsrations-Erhoehung.


Der allgemeine Gesundheitszustand der Bevoelkerung steht augenfaellig unter den Auswirkungen der gekuerzten Verpflegungsrationen. Von der Aerzteschaft werden zunehmende organische Gesundheitsstoerungen durch chronische Unterernaehrung festgestellt. Vor kurzem angestellte Erhebungen ergaben etwa 200 Faelle von Hungeroedemen, die in den letzten Monaten zur Beobachtung kamen. Fuer die Behandlung dieser Faelle ist neuerdings ein besonderes Krankenhaus in Buer-Erle bestimmt worden. Das Gros dieser Faelle rekrutiert sich aus den Kreisen der Fluechtlinge und heimkehrenden Soldaten. Aber auch aus der bodenstaendigen Bevoelkerung sind bereits Faelle gemeldet worden.


Der Ernaehrungszustand unserer Schuljugend ist gleichfalls unzureichend. Etwa 73% der Schulkinder sind nachweisbar unterernaehrt, davon 21% so erheblich, dass man ihren Koerperzustand als schlecht bezeichnen muss. Die Fortsetzung der Schulspeisungen ist daher dringend angezeigt. Leider ist es im Verlauf der sogenannten Pazifikspeisungen[2] zu voruebergehenden leichten Stoerungen gekommen, die darauf zurueckzufuehren waren, dass die Nahrung fuer die entwoehnten kindlichen Maegen zu konzentriert war. Aehnliche Beobachtungen wurden ja schon bei den Quaekerspeisungen nach dem Ersten Weltkriege gemacht und ergaben sich auch in den Kinderheimen, die den Kindern eine gute Zusatzkost bieten, die jedoch nur unter vorsichtiger Steigerung der Nahrungsmengen bis zur vollen Hoehe aus-

[Seite im Original:] - 7 -

gegeben werden darf, wenn nicht leicht eintretende Rueckschlaege den Erfolg der Kur in Frage stellen sollten. Dringend erforderlich erscheint in diesem Zusammenhang auch eine Erhoehung der noch sehr beschraenkten Zahl der Kinderheime.

Auch die Vorschuljahrgaenge weisen unguenstige Ernaehrungsverhaeltnisse auf, so dass auch eine zusaetzliche Speisung der Kinder zwischen 2-3 und 6 Jahren ins Auge gefasst wird. Die praktische Durchfuehrung bietet jedoch durch die noch unzureichende Zahl der Kindergaerten vorerst gewisse Schwierigkeiten.


Die Saeuglingssterblichkeit hat dank den besonderen Bemuehungen der zustaendigen Stellen einen merklichen Rueckgang erfahren. Gegenueber dem Tiefstand von 14,8% aus dem Jahr 1945 ist die Zahl zur Zeit auf 7,8% gesunken. Sie hat sich damit dem Friedensstand von 5,8% etwas genaehert und gibt ein wesentlich guenstigeres Bild als in manchen anderen Industriekreisen, wo sie noch ueber 20% liegt.

Bedenklich ist jedoch die vielfach mangelnde Stillfaehigkeit der Muetter, die einerseits auf die allgemeinen Ernaehrungsverhaeltnisse, andererseits auf die Haeufung der Wochenbettinfektionen - vor allem der Brustdruesenentzuendungen - zurueckzufuehren ist. Letztere ist wiederum abhaengig von dem Mangel an Waesche, Reinigungs- und Desinfektionsmitteln in den Krankenanstalten und Haushaltungen. Diese Frage verdient auf die Dauer ebenfalls besondere Beachtung und ist wesentlich durch die Erhoehung der Seifen- (u.dgl.) Zuteilung zu bereinigen.


Die Versorgung mit Arzneimitteln ist noch unzureichend. Es mangelt z.Zt. vor allem an Verbandsmaterial. Sparsamste Haushaltung mit den vorhandenen Bestaenden ist daher erforderlich. Daneben stoesst die Beschaffung vieler Medikamente, vor allem durch die Behinderung des Interzonenverkehrs, auf Schwierigkeiten. Besonders unzulaenglich ist noch die Versorgung der Zuckerkranken mit den erforderlichen Insulinmengen, von dem auch in absehbarer Zukunft nur ein Drittel des Bedarfes gedeckt werden kann.

Arzneimittelmangel.

Es herrscht Mangel an vielen wichtigen Arzneien, ganz besonders an Herzmitteln, wehenerregenden Mitteln, Betaeubungsmitteln, Hormonen, Traubenzucker, Silbersalzen, Milch- und Essigsaeure. Auch Wismutsalze sind aeusserst knapp. Bei Zuckerkranken wurden tuberkuloese Fruehinfiltrate, offenbar infolge Mangels an Insulin, beobachtet. Die Apotheke des Krankenhauses Nordstadt gibt folgende Aufstellung, die im wesentlichen den uebrigen Mangelmeldungen entspricht.

Auch die Belieferung von tieraerztlichen Medikamenten hat sich weiter verschlechtert.


Der allgemeine Ernaehrungszustand der Bevoelkerung hat sich weiter verschlechtert und aeussert sich in vermehrter Muedigkeit, grossem Schlafbeduerfnis, Nachlassen der koerperlichen Leistungsfaehigkeit, der geistigen und seelischen Spannkraft. Die Krankenhaeuser berichten ueber nur mangelhafte Fettpolster und sogar Muskelschwund ihrer Kranken, verlaengerte Dauer und schwereren Verlauf der Krankheiten, insbesondere Widerstands-

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losigkeit gegen Infektionen, schlechteres Vertragen von Narkosen. Ausser der Zunahme von allen Formen der Tuberkulose ist jetzt auch eine Vermehrung und ein schwererer Verlauf der Rachitis zu bemerken, die bis in die letzten Jahre hinein kaum mehr, auch nicht in leichteren Formen, zu beachten war. Die veraenderte Koerperbeschaffenheit der Bevoelkerung zeigt sich auch daran, dass zu den Verbrennungen der Leichen jetzt durchschnittlich eine erheblich verlaengerte Zeit erforderlich ist.


An Hungeroedemkrankheiten wurden im Berichtsmonat 31 gemeldet. Die Hungersnot wird am besten durch die Beobachtung gekennzeichnet, dass Kinder sogar ihr Spielzeug gegen Brot eintauschen.


Erschreckende Zunahme der Tuberkulose.

Die in Hannover in den ersten vier Monaten dieses Jahres gemeldete Neuerkrankungen haben mit ueber 400 Faellen den gesamten Jahresanfall des vorletzten Kriegsjahres erreicht. Die Behandlungsfaelle sind von 271 im Januar auf 938 im April dieses Jahres gestiegen. Die Bekaempfung dieser weitverbreiteten Volksseuche wird durch das Fehlen von Tuberkulose-Heilanstalten wesentlich erschwert. Das Heidehaus reicht bei weitem nicht mehr aus. Die von der Landesversicherungsanstalt frueher belegten Heilanstalten befinden sich jetzt zum groessten Teil im russisch besetzten Gebiet.

Bericht ueber den Gesundheits- und Ernaehrungszustand
der Schulkinder im Luebeck im Winter 1945/46

"Im Laufe des Sommers und Herbstes 1945 wurden 276 Kinder im Schulalter im Gesundheitsamt untersucht, da eine Lebensmittelzulage fuer sie beantragt war. Die Diagnose lautete: Ueberwiegend Schwaeche und Unterernaehrung. Von diesen Kindern hatten 39 Eiweissmangelschaden, 103 Anaemie und Eiweissmangelschaden und 109 Anaemie ohne Eiweissmangelschaden, 28 Kinder waren ohne solchen Befund.

Daraufhin bestellten wir uns neun Kinder aus der Frauenschule, die neben der Marienschule die sozial schlechtgestellteste Bevoelkerung der Stadt aufnimmt. Wir nahmen eine Reihe von neun Kindern nach dem ABC geordnet, also nicht irgendwie ausgesuchte, aus der 4. Knabenschulklasse, die im Alter von 10-12 Jahren standen. Von diesen 9 Kindern fanden wir 5 anaemisch, d.h. sie haben unter 75% Haemoglobin, 4 hatten Eiweissmangelschaden (ein Kind davon beides). Ein Kind hatte keine solche Zeichen. Unter diesen Kindern befand sich nur ein Fluechtling.

Wir untersuchten daraufhin mit der Farbskala von Talquist die 4 unteren Jahrgaenge aus 3 Luebecker Volksschulen, und zwar den Innenstadtschulen Dom-, Frankeschule und der Aussenstadtschule Klosterhof. Insgesamt 1917 Kinder, und zwar etwa gleichmaessig verteilt Knaben und Maedchen. Wir fanden dabei, dass 1361 Kinder weniger als 75% roten Blutfarbstoff haben, 357 hatten 60% und weniger. Nur 199 Kinder haben 75% Haemoglobin und mehr. Da diese Farbskalamethode nur angenaeherte Werte ergibt, koennen diese Zahlen keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit geben, die Abweichungen duerften aber nach oben wie nach unten nahezu gleich gross sein.

Zieht man nun hierzu die vorher gegebene Aufstellung der 9 Kinder in Betracht, so finden wir, dass auch unter den Kindern, die nicht anaemisch waren, solche mit Eiweissmangelschaden und auch solche mit weniger ausgepraegten Ernaehrungsschaeden zu finden sind, so dass die Zahl der nichtgeschaedigten Kinder ausserordentlich gering sein muss und vielleicht 10% ausmacht. Zu diesen untersuchten Kindern gehoerten auch die 9 bereits frueher begutachteten. Wir sahen, dass zwei Kinder, die damals Eiweissmangelschaden aufwiesen und Anaemie hatten, inzwischen 28% Haemoglobin weniger hatten. Ein anaemisches Kind hatte 11% weniger Haemoglobin. Die Werte der uebrigen Kinder waren gleich geblieben und differierten um 1-7% nach oben und nach unten, hielten sich also in den Grenzen der ueblichen Fehlerquellen. Am 15.3.1946, also ein halbes Jahr nach der ersten Untersuchung unserer 9 Kinder, die am 13.9.1945 stattfand, liessen wir bei den angegebenen Schulen und der Kahlhorstschule, die im Aussenbezirk gelegen ist, Groesse und Gewichte saemtlicher eingeschulter Kinder bestimmen. Dabei fanden wir, dass bei unseren 9 Vergleichskindern die Groessenzunahme in dieser Zeit regelrecht war. Sie war etwa 3 cm durchschnittlich. Ebenso die Gewichtszunahme, die fuer diese Zeit etwa 1,5 kg betraegt, obwohl diese Reihe zu klein ist, um eine derartige Zahl genau errechnen zu koennen. Die Kinder sind aber alle groesser und schwerer geworden, teils mehr als gefordert, teils weniger.

Wir haben dann die Durchschnittswerte der Gewichte und Groessen nach dem Alter berechnet, und zwar fuer jeden Monat gesondert, und diese dann graphisch dargestellt, jedoch ohne mathematische, statistische Begradigung der Kurve. Zum Vergleich zogen wir die fuer norddeutsche Kinder massgebenden Werte von Adam, die aus dem Jahre 1932 stammen, heran. Es handelt sich hier um 2.054 Kinder. Bei den Maedchen finden sich keine wesentlichen Abweichungen in der Groesse und im Gewicht. Die Knaben sind bis zu achteinhalb Jahren groesser, bis zu elfdreiviertel Jahren ungefaehr den normalen Werten entsprechend und von da bis 13 Jahren 8 Monaten kleiner. Weitere Normalvergleichswerte fehlen. Das Gewicht ist anfangs aber unter der Norm bis zu 10 Jahren. Bis zu elfeinhalb Jahren entspricht es den Adamschen Werten. Von da bis

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zu 13 Jahren sinken die Werte wieder unter die Regel und der Rest gleicht wieder der Norm.

Hierzu ist zu sagen, dass ein grosser Teil der Kinder, etwa 50-75% im Februar, Zeichen des Mehlnaehrschadens zeigten. Sie waren blass und haloniert, hatten aber trotzdem volle Wangen. Das Gewebe war aber mehr oder weniger pastoes, so dass die inzwischen erfolgte Gewichtszunahme, die man bei den Kindern gemeinhin beobachtete, zu einem guten Teil durch Wasseransatz und nicht durch reale Zunahme bedingt war. Es ist dabei zu bedenken, dass die untersuchten Jahrgaenge eine betraechtliche Zeit keine Vollmilch bekamen, sondern nur die verhaeltnismaessig geringe Magermilch-Zuteilung der Erwachsenen, so dass die in diesem Wachstumsalter besonders wichtige Eiweisszufuhr noch beschraenkter als sonst war. Es waere zu erwarten gewesen, dass unter normalen Bedingungen Groesse und Gewicht der Kinder gegenueber den Regelzahlen erhoeht gewesen waeren, wie das in den vergangenen Jahren laufend beobachtet wurde. Es ist nun aber fuer die Maedchen ein Stillstand und fuer die Knaben, nach Steigerung des Wachstums ueber die Norm bei gleichzeitigem Zurueckbleiben im Gewicht, in den hoeheren Jahrgaengen ein Abfall der Groessenzunahme unter die Norm festzustellen, wobei das Gewicht anfangs auch gesenkt ist, spaeter aber sogar zur Norm steigt. Das ist wahrscheinlich durch die grosse Labilitaet der Knaben gegenueber aeusseren Einfluessen zu erklaeren. Diese Darstellung gibt dasselbe Bild wie der allgemeine Eindruck, dass die Kinder bis zu 11 Jahren mehr oder weniger stark geschaedigt sind, waehrend die aelteren Jahrgaenge von dieser Schaedigung viel weniger stark betroffen sind und zu einem groesseren Teil als die juengeren Kinder als gesund anzusehen sind, denn trotz des geringen Groessenwachstums haben die aelteren Knaben ein der Norm entsprechendes Gewicht.

Die Kleidung im Winter war duerftig, aber doch hinlaenglich warm. Sie war sehr geflickt und zum Teil wegen Mangel an Naehmitteln und Flicken zerrissen, im ganzen aber verhaeltnismaessig sauber. Das Schuhzeug ist sehr unzulaenglich. Die Kinder versaeumen nicht selten wegen Mangel an Schuhzeug die Schule.

Sterbefaelle:

Jahr

Bevoelkerung in 1.000

Alter

absolut

ehelich

unehel.

auf 100
Geburten



1938

150

 

-

1

171

149

22

5,44

   

1

-

5

35

     
   

5

-

15

25

     

1945

250

 

-

1

953

706

247

24,26

   

1

-

5

399

     
   

5

-

15

143

     

Die Untersuchungen wurden von der Schulaerztin Dr. Gieselberg vom Gesundheitsamt durchgefuehrt."




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Kinderelend in Hamburg.

Die von der Gesundheitsverwaltung in Hamburg durchgefuehrten, laufenden Untersuchungen der Saeuglinge ergaben hochgradige Ernaehrungsstoerungen. Es wurden Untergewichte festgestellt mit dem erschreckenden Ergebnis, dass 3 und 6 Monate alte Saeuglinge nicht einmal das normale Geburtsgewicht hatten.

Die Sterblichkeit im Hamburger Gebiet hat erschreckend zugenommen. 1938 trafen auf 10.000 52 Todesfaelle, 1945 schon 137, 1946 aber 183.

Die in Hamburg bisher durchgefuehrten aerztlichen Untersuchungen der Schulkinder erhaerten die mangelhafte Ernaehrung durch die Tatsache, dass Untergewichte bis zu 8 kg zu verzeichnen sind. Von den Hamburger Schulkindern muessen 63,6 v. Hundert als schlecht, 20,5 v. Hundert als mittel und nur 15,9 v.H. als gut genaehrt bezeichnet werden. Die Erkrankungszahl der Schulkinder betraegt 20,3 v. H. gegenueber einem normalen Zustand von 3-4 v. Hundert.

Schulkinder ohne Fruehstueck. (Duesseldorf)

Feststellungen an einer Duesseldorfer Volksschule hatten ein erschuetterndes Ergebnis. Von 486 beteiligten Schuelern fehlten 93 wegen Krankheit und Unterernaehrung. Der Durchschnitt der taeglich fehlenden Schueler liegt bei 19%. Von den anwesenden Kindern waren 28,5% ohne Vaeter. Viele Witwen koennen das Geld fuer die Schulspeisungen nicht mehr aufbringen. Waehrend anfaenglich 4% der Kinder die Schulspeisungen nicht bezahlen konnten, sind es jetzt schon 25%. Von 393 Kindern haben 219 keinen Mantel, 339 kein warmes Unterzeug, 341 keine Schuhe, 68 wohnen im Bunker und 265 in Truemmern, Kellern oder ueberbevoelkerten Quartieren. 75% kommen nuechtern zur Schule, 50% haben kein Fruehstuecksbrot mit und 58% erhalten kein warmes Mittagbrot.




[Hinweis]

Hilfsaktionen fuer die AWo in Deutschland:
Die Not in der Heimat ist gross, Hilfe muss schnell geleistet werden. Gerechte Verteilung ist nur zentral durchzufuehren. Tretet wegen aller Auslandshilfe mit der Zentrale fuer Arbeiterwohlfahrt, (10) Hannover, Friedrichstrasse 15, in Verbindung.

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51% aller Dortmunder Schulkinder
haben kein eigenes Bett.

Eine Erhebung in den Dortmunder Schulen ergibt folgendes Bild:

von

44.604

Schulkindern

haben

11.248

keine eigenen Schuhe,

 

15.602

keine wetterfesten Schuhe,

 

6.931

haben ihre Schuhe in Reparatur und koennen deshalb die Schule nicht besuchen,

 

16.072

haben keinen Wintermantel,

 

22.779

haben kein eigenes Bett,

 

5.647

leben mit mehr als 3 Personen in einem Zimmer.




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Schuluntersuchungen in Muenchen.

Die Resultate einer aerztlichen Untersuchung zeigen, dass 55% der Schuljugend von 6-14 Jahren unterernaehrt sind. Nur 20% der Kinder koennen als ganz gesund betrachtet werden, die uebrigen 25% leiden an sonstigen Krankheiten, wie Tuberkulose, Bronchitis und Hautkrankheiten. 65% der Kinder kommen ohne Fruehstueck zur Schule.

Ergebnis der im Stadtbezirk Recklinghausen
durchgefuehrten Schulkinder-Untersuchungen.

Von den insgesamt 11.458 untersuchten Schulkindern erreichten 7.849 (68.5%) das Sollgewicht. Die in den letzten Monaten in den Schulen ausgegebenen Speisungen werden zur Besserung des Allgemeinzustandes erheblich beitragen.

Die zahnaerztliche Betreuung der Schulkinder wurde durch einen hauptamtlich beschaeftigten Schulzahnarzt durchgefuehrt. Er stellte bei rund 40% aller Kinder eine Anfaelligkeit fuer Zahnfaeulnis fest. Die erhoehte Anfaelligkeit der bleibenden Zaehne ist zurueckzufuehren auf:

1. Mangel an natuerlicher derber Kost waehrend der Kriegsjahre,
2. ungenuegende Zahnpflege, da Zahnbuersten noch nicht kaeuflich sind.

Folgende andere Krankheiten wurden festgestellt:


Impetigo contagiosa
(ansteckende Hautkrankheit)


401


Kinder


3,5 %

Rachitische Knochenveraenderungen
(Mangel an Vitamin D)


824


"


7,2 %

Fussanomalien

779

"

6,8 %




--. -- . --

Gesundheitszustand der Kinder in Bad Brahmstedt
(aus einem Schreiben an die Arbeiterwohlfahrt Kiel)


Nach Ruecksprache mit dem hiesigen Fluechtlingsarzt bezueglich des Gesundheitszustandes der hiesigen und Fluechtlingskinder geben wir Ihnen folgende Aufstellungen:


a) hiesige Kinder: Der Gesundheitszustand dieser Kinder ist als normal zu bezeichnen. Da der groesste Teil der Kinder den Selbstversorger- und Teilselbstversorger-Kreisen angehoert, sind Gewichtsabweichungen, Abweichungen vom Allgemein-Gesundheitszustand und normaler Kindersterblichkeit nicht zu verzeichnen. Einwirkungen des Krieges haben sich nicht wesentlich bemerkbar gemacht bezw. sind zum groessten Teile in der letzten Zeit wieder verwischt worden. Tuberkuloese Erkrankungen sind nicht aufgetreten.


b) Fluechtlingskinder: Die Unterernaehrung dieser Kinder ist einwandfrei festgestellt. Die Rueckwirkungen der Vertreibungen aus den Ostgebieten und die verheerenden Wirkungen der Bombennaechte fuer Hamburg und Kiel haben sich auf die Fluechtlingskinder und auf die Kinder der Evakuierten aus Hamburg und Kiel ganz besonders scharf ausgewirkt. Nervoese Stoerungen, Gewichtsverminderungen, Erkrankungen aller Art mit dem Symptom der Unterernaehrung machen sich fast bei allen Kindern stark bemerkbar. Viel zu den Krankheitserscheinungen hat die mangelhafte Bekleidung an Unterwaesche und Schuhzeug beigetragen.


c) Wohnungsverhaeltnisse: Durch die Beschaedigung an Haeusern anlaesslich einer Munitionsexplosion mussten verschiedene Wohnungen anderweitig besetzt werden. Dadurch litt die Unterbringung der Fluechtlinge erheblich. Untergebracht haben wir rund 2.300 Fluechtlinge, teils in eigenen Raeumen, teils in Notraeumen

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und Baracken. Fuer 300 Personen mussten wir Notquartiere in Turnhallen besorgen. Betten stehen uns nicht zur Verfuegung, sondern diese armen Menschen schlafen auf Stroh ohne eine gute Zudeckung. Es fehlt in erster Linie an Baracken, um eine raeumlich bessere Unterkunft der Familien zu ermoeglichen; ferner fehlt es dringend an Stroh, Strohsaecken, Bettstellen und Betten. Dringend ist auch die Beschaffung von Wolldecken in ausreichender Zahl. Viele Erkrankungen koennten behoben werden, wenn genuegendes Schuhzeug und ausreichende Bekleidung zur Verfuegung staende.


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Die Auswirkungen der Ernaehrungs- und Wirtschaftslage
auf das Fahrpersonal der elektrischen Schwebebahn Wuppertal.

Taeglich laufen von allen Betriebshoefen Meldungen ein, dass Dienstversaeumnisse damit entschuldigt werden, dass es einmal an den notwendigen Bekleidungsstuecken und zum anderenmal an dem Schuhwerk fehle. Durch die notwendigen Reparaturen fehlen dann Schaffner und Fahrer mehrere Tage. Vielfach wird auch Fernbleiben vom Dienst mit der Begruendung entschuldigt, dass man seit drei oder mehr Tagen nichts mehr zu essen gehabt habe und sich etwas habe "besorgen" muessen, womit Hamsterfahrten, nach Kartoffeln und Gemuese, aufs Land gemeint sind.

Ebenfalls wird berichtet, dass eine starke Ermuedung, bedingt durch die sehr starke Inanspruchnahme des Fahrpersonals, nach kurzer Dienstzeit schon eintritt, wodurch natuerlich die Betriebssicherheit gefaehrdet wird. dass Schaffner und Fahrer waehrend des Dienstes ohnmaechtig werden, ist eine alltaegliche Erscheinung.


Die nachstehenden Aufzeichnungen erhaerten diese Angaben:


a.)

Arbeitsunfall:



Am

31.5.1946

Betriebshof Schoenebeck: 1 Mann fehlt wegen Lebensmittelbeschaffung.

"

31.5.1946

Betriebshof Meckinghausen: 3 Mann fehlen wegen Lebensmittelbeschaffung. 2 Schaffnerinnen fehlen wegen Mangels an Schuhen.

"

31.5.1946

Betriebshof Schwarzbach. 3 Mann fehlen unentschuldigt, 5 Mann fehlen wegen Lebensmittelbeschaffung, 1 Mann krank wegen Unterernaehrung (Held). Es wird im allgemeinen ueber Bekleidungs- und Schuhmangel geklagt.

"

31.5.1946

Betriebshof Mirke: 7 Mann fehlen unentschuldigt, 3 Mann unentschuldigt wegen Lebensmittelbeschaffung, 1 Mann hat keine Schuhe. Schaffner Gruen fehlt seit mehreren Tagen wegen Unterernaehrung.

"

31.4.1946

Betriebshof Groneberg: 2 Mann krank wegen Unterernaehrung.

"

31.5.1946

Betriebshof Neviges: 3 Mann fehlen wegen Unterernaehrung, 1 Mann fehlt unentschuldigt, 2 Mann fehlen entschuldigt, 10 Mann Urlaub wegen Lebensmittelbeschaffung, 6 Mann haben keine Schuhe. 12 Mann haben keine Uniform.

"

31.5.1946

Betriebshof Westende: 8 Mann fehlen, haben keine Schuhe, 3 Mann fehlen wegen Unterernaehrung, 10 Mann fehlen wegen Lebensmittelbeschaffung.

"

31.5.1946

Betriebshof Bergbahn: 3 Mann fehlen wegen Lebensmittelbeschaffung, drei sind krank wegen Unterernaehrung, 2 Mann fehlen wegen Kleidungsstuecken.


b.)

Arbeitsunterbrechungen durch ploetzliche Erkrankungen:



Am 21.5.1946

musste der Schaffner Hollmann, Nr. 227, Betriebshof Oberbarmen, abgeloest werden, weil ihm schlecht vor Hunger geworden ist.

Am 22.5.1946

brach der Schaffner Freitag, Betriebshof Bergbahn, auf dem Weg zur Arbeitsstaette wegen Hunger zusammen.

Am 23.5.1946

wurde der Schaffner Meyer II, Betriebshof Bergbahn, wegen Hunger krank.

Am 23.5.1946

brach der Schaffner Wilhelm Vorlaender, Betriebshof Heckinghausen, waehrend seines Dienstes wegen Hunger zusammen und hat auch an den nachfolgenden Tagen seinen Dienst nicht aufgenommen.

Am 23.5.1946

musste der Schaffner Metzger, Betriebshof Oberbarmen, wegen Uebelseins durch schlechte Ernaehrung abgeloest werden.

Am 24.5.1946

erschien die Schaffnerin, Frl. Kupfer, Betriebshof Vohwinkel, nicht zum Dienst, weil sie keine Schuhe hatte. Bei der Revision ergab sich, dass sie zu Hause war und Pantoffel trug.

Am 25.5.1946

musste der Fahrer Schmittat vom Betriebshof Kapellen von dem Verkehrsoberaufseher Kaiser abgeloest werden, da er waehrend seines Dienstes wegen Hunger zusammenbrach.

Am 25.5.1946

versaeumten die Schaffner Roehl und Alfred Kokowski, Betriebshof Schwelm, ihren Dienst, weil beide ihre Schuhe in Reparatur hatten.

Am 25.5.1946

musste der Schaffner Kuchazyk um 19.45 Uhr abgeloest werden, weil er wegen Mangel an Nahrungsmitteln zusammenbrach. K. ist im Betriebshof Oberbarmen beschaeftigt.

Am 26.5.1946

erschien der Schaffner Mellinghaus, Betriebshof Oberbarmen, wegen Nahrungsmittelknappheit nicht zum Dienst.


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Am 25.5.1946

meldete sich der Schaffner Machinek, Betriebshof Oberbarmen, wegen Koerperschwaeche, hervorgerufen durch schlechte Ernaehrung, krank.

Am 31.5.1946

brach der Schaffner Karl Walter, Betriebshof Oberbarmen, waehrend seines Dienstes vor Hunger ohnmaechtig zusammen und musste abgeloest werden.

Am 31.5.1946

brach der Schaffner Dorfmueller, Betriebshof Bergbahn, wegen Unterernaehrung zusammen.

Am 19.5.1946

wurde auf der Fahrt von Elberfeld nach Velbert um 19.10 Uhr ab Bahnhof die Schaffnerin Csezinski von Velbert ohnmaechtig und wurde in Neviges aus dem Wagen getragen. Es dauerte ueber eine halbe Stunde, dass sie wieder zu sich kam. Sie gab an, durch den starken Verkehr und die schlechte Ernaehrung nicht mehr ihren Dienst verrichten zu koennen.

Am 7.5.1946

wurde es dem Fahrer Jenniches bei der Fahrt 15.05 ab Hasslinghausen Kirche mit Motorwagen 248 an der Weiche Drei Grenzen uebel. Der Wagen wurde von Jenniches stillgesetzt. Nachdem er sich ca. 10 Minuten ausgeruht und erholt hatte, konnte J. die Fahrt langsam zur Mett.-Post fortsetzen. Hier wurde der Fahrer Jenniches von dem Fahrer Tepel, der gerade zur Stelle war, abgeloest. Jenniches gab als Grund fuer das ploetzliche Auftreten des Uebelseins die mangelhafte Ernaehrung an. Die Verspaetung wurde durch die Wendezeit ausgeglichen.

Am 15.5.1946

fehlten in Neviges folgende Schaffner: Langenkamp, Siegel und die beiden Schaffnerinnen Nuerrenberg I und II. Saemtliche gaben an, wegen Nahrungssorgen keinen Dienst machen zu koennen. Die beiden Schaffnerinnen Nuerrenberg haben sich auch fuer morgen abgemeldet, weil sie, wie sie angeben, sich erst etwas zu essen holen muessen. Die betreffenden Schaffnerinnen sind sonst sehr puenktlich im Dienst, ebenfalls die beiden Schaffner. Aus diesem Grunde wurden zwischen Neviges und Hattingen zwei Beiwagen abgehangen; einer konnte um 16.48 Uhr wieder angehangen werden, weil ein Schaffner vom Fruehdienst diese Stunden gefahren ist.



"Die Bevoelkerungsentwicklung in Berlin, ueber die waehrend des Katastrophenjahres 1945 nur Schaetzungen und Geruechte umgingen, wird neuerdings wieder durch regelmaessige Mitteilungen des Statistischen Amtes der Stadt Berlin offen dargelegt. Danach hatte sich die Einwohnerzahl, die nach frueheren Angaben im Sommer 1945 auf 2,78 Mill. gesunken sein soll, bis Anfang Maerz 1946 wieder auf 3,1 Mill. erhoeht. (Vor dem Kriege lebten in Berlin 4,34 Mill. Menschen.) Um die Jahreswende 1945/46 war ein allmaehliches, seit November nicht mehr unterbrochenes Ansteigen zu verzeichnen. Dieser Anstieg ist das Resultat aus zwei entgegengesetzten Bewegungen. Auf der einen Seite kehren trotz der grundsaetzlichen Zuzugssperre laufend Kriegsgefangene und Evakuierte nach Berlin zurueck. Im Januar kamen z.B. 16.000 entlassene Soldaten und 7.000 ehemals evakuierte Zivilisten, im Februar 11.000 und 6.000. Dem steht ein staendiger Abgang gegenueber, der sich aus dem Zusammenwirken einer ungemein hohen Sterblichkeit mit einer ebenso ungemein niedrigen Geburtenrate ergibt.

So wurden im Dezember 1945 in Berlin nur 1.736 Kinder geboren, waehrend gleichzeitig 12.600 Menschen starben; es trat also ein Abgang um 10.864 ein. Im Januar 1946 starben 10.861 Berliner und es wurden 1.322 Kinder geboren; das Geburtenfehl betrug also 9.539. Im Februar standen 8.457 Todesfaelle 1.242 Geburten gegenueber, so dass ein Defizit von 7.215 zu verzeichnen war. So bedrueckend diese 'Auszehrung' der Millionenstadt auch ist, so laesst sich doch immerhin aus der Abnahme des Defizits die Hoffnung schoepfen, dass die anormalen Verhaeltnisse des Schreckensjahres 1945 im Abklingen sind und nunmehr einer neuen 'Normallage' Platz machen werden. Der Sterbeueberschuss hat in Berlin im Dezember 42, im Januar 37 und im Februar 31 auf tausend Einwohner betragen. Die Bevoelkerung Berlins hat sich also, wenn man die Rueckwanderung beiseite laesst und nur die biologische Entwicklung ins Auge fasst, im Dezember um 4,2 v.H., im Januar um weitere 3,7 v.H. und im Februar noch einmal um 3,1 v.H. verringert.

Berlin ist heute zweifellos ein Sonderfall. Aber es ist doch nicht zu leugnen, dass die Umstaende, die zu der verhaengnisvollen Entwicklung gefuehrt haben, auch im uebrigen Deutschland gegeben sind: Hunger, jaemmerliche Wohnverhaeltnisse, Mangel an allen Bedarfsgegenstaenden, insbesondere schlechte Versorgung mit Medikamenten. Hinzu kommt die Dezimierung der heiratsfaehigen Jahrgaenge der Maenner, die eine hohe Geburtenrate auch dann nicht zulassen wuerde, wenn die allgemeinen Lebensbedingungen wesentlich guenstiger waeren. Fuer 1945 haben Statistiker den Sterbeueberschuss des deutschen Volkes mit 10 auf tausend Einwohner, also 1 v.H. oder rund 700.000 Menschen, berechnet, nachdem schon seit 1942 ein - von den damaligen amtlichen Veroeffentlichungen verschwiegener - Sterbeueberschuss auf Grund der Kriegsverluste vorhanden war. Fuer die kommenden Jahre ist ein Weiterschreiten auf diesem Wege wohl unausweichlich ..."

- Ende -






Editorische Anmerkungen


1 - Jan Molitor = Pseudonym für Josef Müller-Marein (1907 - 1982), 1946 ff. Journalist bei der "Zeit", 1956-1968 Chefredakteur dieser 1946 in Hamburg gegründeten Wochenzeitschrift.

2 - Verballhornung des englischen Wortes to pacify (Hunger, Durst stillen)?




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