SOZIALISTISCHE MITTEILUNGEN

News for German Socialists in England

This Newsletter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

Nr. 53/54 - 1943

September - Oktober

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Die Siegesmeldungen der letzten Wochen haben den unerschuetterlichen Glauben derer gerechtfertigt, die vom ersten Kriegstag an, durch alle dunklen Stunden dieser vier schweren Jahre hindurch, keinen Zweifel an der schliesslichen Niederlage der Hitler-Tyrannei und ihrer Armeen und Verbuendeten zuliessen.

Mit einer fast schwindelerregenden Schnelligkeit, die sich nur mit dem Tempo der Hitlerschen Anfangserfolge in diesem Krieg vergleichen laesst, ist Schlag auf Schlag gegen Hitlers europaeische Front gelungen. Kaum war Afrika von den Achsen-Heeren befreit, erfolgte der Stoss auf Sizilien, das in fuenf Wochen vom Feinde befreit wurde; und nach kuerzerer Atempause setzten Briten und Amerikaner nach dem italienischen Festland ueber und haben in vier Wochen Kalabrien und Apulien besetzt, ihre Landung suedlich Neapel gegen wilde feindliche Angriffe verteidigen koennen und eine Front stabilisiert, von der die Offensive auf Mittelitalien ihren Ausgang nehmen kann. Noch waehrend der Besetzung Sizilien stuerzte Mussolini: und die Regierung Badoglio, die mit unzulaenglichen Mitteln und Parolen die revolutionaere Lage zu "stabilisieren" versuchte, sah sich bald zur Kapitulation vor den Alliierten genoetigt.[1] Die italienische Flotte und ein Teil der Luftflotte ging zu den Alliierten ueber; die italienische Armee befindet sich im Zustand der Aufloesung und kaempft zum Teil gegen die Deutschen, waehrend der im letzten Augenblick von Hitlers Garden gerettete Mussolini verzweifelt bemueht ist, die Reste des Faschismus in Italien zu sammeln und noch einmal fuer Hitler einzusetzen.[2]

Inzwischen ist Sardinien kampflos den Alliierten ueberlassen worden, und in Korsika wurden die Reste der deutschen Besatzung von Franzosen und Italienern gemeinsam vertrieben. Suedfrankreich geraet in Gaerung und erwartet die Ankunft der Befreier, waehrend in [!] Balkan bereits offener Kriegszustand herrscht: Jugoslawen und Griechen haben sich in Massen gegen die Unterdruecker erhoben.

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Gleichzeitig mit diesen Ereignissen an Hitlers Suedfronten dringt an der Ostfront die Rote Armee unaufhaltsam vor. Hitlers Truppen mussten den Rest ihrer Kuban-Front nach dem Fall von Noworossisk aufgeben. An der Kueste des Asowschen Meeres wurden Taganrog und Marjupol von den Russen besetzt, die sich dem Zugang zur Krim naehern. Die gesamte Ukraine oestlich des Dnjepr wurde von der Roten Armee besetzt: das Donezbecken mit Stalino, das oestliche Industrierevier mit Charkow und Poltawa; und die Dnjepr-Linie selbst ist bei Dnjepropetrowsk und bei Kiew bedroht. An der Zentralfront haben die Russen nach Briansk Roslawl und Smolensk wiedererobert, die seit zwei Jahren ununterbrochen in deutscher Hand waren. Hier ist der Dnjepr von Sowjettruppen ueberschritten, die in Weissrussland eingedrungen sind und nur noch wenige hundert Kilometer von der polnischen Vorkriegsgrenze entfernt sind. Das bedeutet nicht - und Roosevelt hat es in seiner Kongressbotschaft genau so betont wie Churchill in seiner grossen Unterhausrede[3] - dass der Krieg schon gewonnen und vorueber ist. Aber es bedeutet, dass der Kampf in seine letzte Phase getreten ist, die allerdings seine schwerste werden kann.

Der Roten Armee drohen auf dem Wege zur deutschen Grenze noch blutige Massen-Schlachten. Den westlichen Verbuendeten steht der Kampf um die Alpen- und Balkan-Paesse und, wenn sie eine Landung an der europaeischen Westkueste durchfuehren, der Sturm auf den Atlantik-Wall und den Befestigungsguertel an der deutschen Westgrenze bevor.

Die schwersten Verluste stehen freilich der deutschen Armee bevor, die von einem Verbuendeten nach dem anderen verlassen wird und eine hoffnungslose Defensive gegen Zahl und Ausruestung immer ueberlegener werdender Angreifer fuehren will, und der deutschen Heimatfront, die, je enger der Ring sich um sie schliesst, um so haeufigere und schwerere Luftangriffe zu gewaertigen hat.

Fuer Hitler und die Seinen bleibt unter diesen Umstaenden kaum eine andere Hoffnung, als das deutsche Volk davon zu ueberzeugen, dass ihm keine andere Wahl bleibt, als bis zum letzten Blutstropfen durchzuhalten, - und die Hoffnung, dass die Alliierten, je laenger der Krieg sich hinzieht, untereinander uneins werden.

Es ist an dieser Stelle immer wiederholt worden, dass die Entscheidung in diesem Kriege, der um die Befreiung der Menschheit gefuehrt wird, nicht nur ein militaerisches, sondern auch ein politisches Problem ist. Wer daran zweifelte, dem muss der Zusammenbruch Italiens die Augen geoeffnet haben.

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Es waren die Massen des italienischen Volkes, die den Frieden verlangten, die alliierten Befreier in den Staedten Siziliens begruessten, und unter dem Druck dieser Massen stuerzte Mussolini und musste Badoglio kapitulieren. Der Eindruck dieser Ereignisse war so stark, dass noch waehrend die "unbedingte Kapitulation" verkuendet wurde, in England und Amerika eine Stimmung wuchs, die das italienische Volk eher als Verbuendeten denn als geschlagenen Feind betrachten moechte. Es ist sicher, dass die weiteren Erfolge der Alliierten in Europa in hohem Masse davon abhaengen werden, in welcher Richtung sich ihre Politik gegenueber den auf Befreiung hoffenden Voelkern bewegen wird. Ist diese Politik klar und ermutigend, dann muss Hitlers Hoffnung, das deutsche Volk zum Verzweiflungskampf aufzuputschen, in nichts zerfallen.

Seit Himmlers Ernennung zum Innenminister[4] kann niemand mehr im Zweifel ueber die wachsende Spannung in Deutschland selbst sein. Diese Ernennung, die an die Ernennung Scorzas[5] durch Mussolini erinnert, kuendigt die letzte Phase des Terrors zur Niederhaltung einer Opposition an, die allem Anschein nach immer weiter um sich greift, und es sind deutsche Zeitungen, die im Zusammenhang mit immer neuen Verhaftungen und Hinrichtungen von einem "Defaetismus" sprechen, der jetzt auch bei "Hochgestellten" zu finden ist.

Angesichts dieser Situation, die so in Deutschland erkennbar wird, ist es zu begruessen, dass die britische Arbeiterschaft beim Gewerkschaftskongress in Southport[6] fast einstimmig der Ansicht Ausdruck gab, dass nicht das deutsche Volk als ihr Feind zu betrachten ist, sondern das Naziregime und die Kriegsverbrecher, und ebenso ermutigend waren die Erklaerungen Roosevelts und Churchills, dass ihr Kriegsziel hinsichtlich Deutschlands die Beseitigung des Naziterrors und des preussischen Militarismus ist. Es mag daran erinnert werden, dass wir deutschen Sozialdemokraten immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen haben, im Interesse des Weltfriedens und auch des deutschen Volkes diese beiden Uebel zu vernichten samt den oekonomischen Grundlagen, auf die sie sich stuetzen und auf denen sie wuchsen.

Daraus erklaeren sich die Bedenken, die wir gegen die politisch und oekonomisch unklaren, mit Bismarck-Mythen und Generalsnamen verbraemten Manifeste des deutschen "Nationalkomitees" in Moskau haben, dessen Gruendung an sich ein Schritt zur Ermutigung der Opposition in Deutschland sein koennte. Hitlers Hoffnung auf Uneinigkeit zwischen den Alliierten sollte am allerwenigsten von deutschen Hitler-Gegnern gefoerdert werden; eine Warnung, die an die Verbreiter verlogener, Goebbels in die Haende spielender Hasspropaganda ebenso wie an die bedenkenlosen Versoehnungspolitiker neuester Art gerichtet werden muss. Auch hier gilt freilich die Wahrheit, dass das deutsche Problem nur ein Teil des europaeischen ist.

(Fortsetzung Seite 13)

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wird in einem Bulletin des "National Peace Council"[7] diskutiert, in dem die Forderung der "unbedingten Kapitulation" kritisch beleuchtet wird. "Es ist ganz grundlos", so wird gesagt, "anzunehmen, dass das deutsche Volk gegenwaertig einig ist oder jemals geeint war." Es wird auf die vielen Anzeichen hingewiesen, die sich in letzter Zeit fuer Unruhe und Unzufriedenheit in Deutschland zeigten, und es wird gesagt, dass, auch wenn man diese Berichte fuer unzuverlaessig haelt, man eine Tatsache anerkennen muss: "dass jeder Krieg in dem Augenblick endet, da eine genuegende Zahl von Kaempfern auf der Seite, die verliert, zu dem Schluss kommt, dass die Schrecken, die Schande und die Ungewissheit der Kapitulation besser sind als die Schrecken, Qualen und Unsicherheit eines weiteren, aber nutzlosen Widerstandes". Es ist, so wird hinzugefuegt, der Muehe wert, diesen Zeitpunkt zu beschleunigen. Dadurch werden Leben, Gesundheit, Vernunft und Glueck gerettet. "Je eher die Kapitulation, desto geringer die Kosten an Tod, Folter und Verzweiflung. Kein gewissenhafter Anhaenger des Krieges kann den Wunsch haben, ihn unnoetig auch nur um einen einzigen Tag zu verlaengern."

Deshalb, so heisst es weiter, ist es im Interesse der Menschlichkeit und auch im engeren Interesse der alliierten Sache, den Deutschen einen Ausweg zu eroeffnen. Und darin liegt der Nachteil der Forderung nach "unbedingter Übergabe": denn, falls sie woertlich aufgefasst wird, "bietet sie dem Feinde ein Maximum an Unsicherheit und ein Minimum an Anreiz".

Jedoch "koennen wir uns mit der voellig deutlichen Gewissheit troesten, dass unsere Fuehrer keine Absicht haben, in dieser Hinsicht woertlich verstanden zu werden". Es wird auf die Atlantic Charter hingewiesen, die beweist, dass "unbedingte Kapitulation nicht bedeutet, was sie besagt. Sie bedeutet unbedingte Kapitulation fuer die feindlichen Regierungen, aber fuer die feindlichen Nationen bedeutet sie Kapitulation unter der ausdruecklichen Voraussetzung, dass ihr Gebiet nicht gestohlen wird, ueber ihr Land nicht im Widerspruch zu ihrem frei ausgedrueckten Willen verfuegt wird; dass keine unerwuenschte Regierung ihnen aufgezwungen wird; dass sie von neuem wirtschaftlichen Wohlstand nicht ausgeschlossen werden und auch nicht von internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit sowie von der Freiheit der Meere und auch nicht, nach einer Uebergangszeit der einseitigen Entwaffnung, von der Gleichberechtigung in einem System der allgemeinen Sicherheit."

Allerdings, so wird gesagt, muss man bedenken, dass Goebbels viele Deutsche davon ueberzeugt hat, dass Deutschland 1918 von den 14 Punkten Wilsons[8] zur Kapitulation verlockt und hinterher von den Alliierten durch Nichterfuellung getaeuscht wurde.

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"Die Wahrheit ist etwas komplizierter und keine Seite war ganz schuldlos. Aber sicher wird sich jene Ueberzeugung nicht leicht ueberwinden lassen, und die Forderung nach unbedingter Kapitulation wird das Problem keinesfalls erleichtern".

Besonders bedenklich ist es, so wird gesagt, dass die alliierte Politik gegenueber dem deutschen Volke nicht einheitlich und konsequent ist. Es wird auf die Zweideutigkeit der nach Deutschland gerichteten Rundfunkpropaganda hingewiesen und gesagt, dass eine Reihe von Fragen und Antworten vorbildlich waeren, die dem deutschen Volke erklaeren, dass Hitler-Deutschland auf keinen Kompromissfrieden rechnen koenne, dass Hitlers Sturz Deutschland retten werde, dass die Vereinten Nationen sich nicht in die Innen-Politik anderer Nationen mischen wollen, weshalb keine Rede davon sein koenne, dass die Englaender Deutschland an den Bolschewismus ausliefern wollen, dass Hitlers Sturz weder Arbeitslosigkeit noch Inflation noch ein Ueber-Versailles zur Folge haben werden, sondern dass im Gegenteil diesmal die Fehler von Versailles (die Fernhaltung Amerikas und Russlands, die Nicht-Ausrottung der Wurzeln des Militarismus und der Mangel an Vorkehrungen gegen eine Wirtschaftskrise) unterbleiben sollen; dass eine Mitwirkung des deutschen Volkes beim Sturze des Naziregimes den Krieg verkuerzen wuerde und dass ein Frieden des Rechts und der Freiheit das deutsche Volk erwarten werde.

Es wird auf die Rede Churchills vom 30. Juni hingewiesen, in dem er sagte: "Unbedingte Kapitulation bedeutet nicht und kann niemals bedeuten, dass wir unsere siegreichen Waffen durch Unmenschlichkeit oder blosse Rachelust schaenden oder dass wir nicht eine Welt planen, in der alle Zweige der menschlichen Familie des entgegensehen koennen, was die amerikanische Verfassung so schoen Leben, Freiheit und Streben nach Glueck nennt."

Mit Beifall wird ein Satz aus dem "Observer" zitiert: "Bedingungslose Kapitulation muss im Zusammenhang mit der Atlantic Charter verstanden werden. Das eine ist eine Drohung an die Tyrannen. Die andere ist ein Versprechen an die Voelker." Auch wird eine Erklaerung des Friedens-Komitees der Quaeker zitiert, in dem es heisst: "Es ist unsere grosse Aufgabe, eine vernuenftige Garantie kuenftigen Friedens zu schaffen. Wir muessen jetzt damit beginnen, nicht indem wir unsere Feinde bis zur bedingungslosen Kapitulation schlagen, sondern indem wir sie beeinflussen, den Faschismus abzulehnen und sich uns in dem Streben nach Freiheit anzuschliessen."

Die Notwendigkeit einer solchen Politik fordert eine Beantwortung der Frage, ob es ein "anderes Deutschland" gibt. Die Frage ist in der grossen Deutschland-Debatte des Oberhauses vom 10. Maerz vom Bischof von Chichester und vielen anderen bejaht worden.

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Der Bischof bezog sich dabei auch auf eine Rede Stalins vom 6. November 1942, in der die Kriegsziele der Sowjetunion mit folgenden Worten angedeutet wurden: "Auf uns lastet nicht die Buerde, Deutschland zu vernichten, denn es ist ebenso unmoeglich Deutschland zu vernichten, wie es unmoeglich ist, Russland zu vernichten. Unser Ziel ist es nicht, alle bewaffneten Kraefte Deutschlands zu zerstoeren, denn jeder vernuenftige Mensch wird begreifen, dass dies im Falle Deutschlands ebenso unmoeglich ist wie im Falle Russlands." Der Bischof von Chichester erklaerte, das Problem Deutschlands werde nur im Rahmen des Problems Europa zu loesen sein und alle Deutschland einseitig und ohne Hinblick auf die Zukunft Europas auferlegten Beschraenkungen werden nur zur Vertiefung der Spaltungen, zur Verschaerfung des Nationalismus und zur Vorbereitung einer neuen Katastrophe fuehren. Sogar zwei in ihrer Beurteilung des deutschen Charakters so verschiedene Redner wie Lord Cecil und Lord Vansittart stimmten darin ueberein, dass die schliessliche Regeneration Deutschlands nur von innen kommen koenne; und es wird bedauert, dass Lord Simon[9] namens der Regierung am Ende der Debatte eine Erklaerung abgab, die an Klarheit zu wuenschen uebrig liess.

Am Ende wird scharfe Kritik an der (durch den Gewerkschaftskongress in Southport inzwischen umgestossenen) Entschliessung des Labour Parteitages zur deutschen Frage geuebt, und noch entschiedener gegen das Memorandum der reaktionaeren "Post-War-Policy-Group" unter Vorsitz Wardlaw-Milnes Stellung genommen, zu der gesagt wird: "Politische Dummheit und moralische Unreife koennen nicht weiter gehen; das Ergebnis waere unweigerlich der dritte Weltkrieg. Wenige nur werden solche Schlussfolgerungen ausdruecklich akzeptieren, aber die Tatsache wird leicht uebersehen, dass sie ganz logisch aus der Auffassung folgen, dass alle Deutschen gleichermassen schuldig seien. Tun wir unser Bestes, um unsere Koepfe von solcher unpraktischen und unhaltbaren Romantik freizuhalten!"

Kurt Heinig, der Vertreter des PV der SPD in Schweden, hat in seiner Information Nr. 5[10] einen Beitrag zum Problem der deutschen Kriegsverschuldung gebracht, den wir mit ganz geringen Kuerzungen nachstehend wiedergeben:

Beinahe merkwuerdig ist es, wie wenig von den Kriegskosten und ihren Konsequenzen, den Kriegsschulden, gesprochen wird. Das gilt im besonderen fuer Deutschland. Dabei sollte man nie vergessen, dass das Hauptproblem, mit dem sich jede Nachkriegsregierung zu beschaeftigen haben wird, die Kriegsfolgelasten sein werden. Das gilt natuerlich vor allem fuer die Verliererstaaten und hier vor allem fuer Deutschland.

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Bei der deutschen Kriegsfinanzierung meinten die einen, es sei Zauberei, die anderen, es sei Betrug. Es ist keines von beiden. Realitaet ist aber, dass man nicht die Schulden, die Deutschland bei Kriegsende haben wird, einfach "irgendwie" wegwischen kann. Warum nicht?

Die deutsche Reichsschuld hat Ende April 1943 die Zweihundert-Milliardengrenze (genau 200,85) ueberschritten. Die Schuld waechst monatlich weiter mit mindestens zehn sichtbaren Milliarden.

Wie hat Deutschland diese Schulden gemacht, ohne Kriegsanleihen auszugeben ? Wie jagt man die Hasen (das Geld) in die Kueche (in die Reichskasse)? Das ist das sogenannte grosse Geheimnis der geraeuschlosen Kriegsfinanzierung - wie man in nationalsozialistischen Kreisen immer geprotzt hat.

Geld hat es im Kriege schwer, es hat nur drei Moeglichkeiten, seinen Eigentuemern Freude zu machen: man kann ja mit ihm nicht mehr kaufen, als die Rationierung zulaesst. Es kann:

1. im Strumpf verschwinden (das ist aber riskant, ausserdem wird es bekaempft und ist offiziell verboten);

2. auf die Sparkasse gebracht werden (dies tut im besonderen der Mittelstand und der Arbeiter);

3. zur Bank gebracht werden (dies tut im besonderen die Geschaeftswelt).

Wir wissen, dass in Deutschland die Sparpropaganda ausserordentlich intensiv betrieben wird.

In normalen Zeiten verwenden die Sparkassen die zufliessenden Mittel im besonderen fuer den langfristigen Realkredit (Hypothekarkredit), also fuer die Hausbaufinanzierung usw. Die Banken geben die ihnen zustroemenden Mittel an die Geschaeftswelt weiter, entweder als kurzfristigen Betriebs- oder als mittelfristigen Anlagekredit (kurzfristig: Wechsel, mittelfristige und langfristige Beteiligungen usw.). Alles dies ist aber im Kriege unmoeglich. Der Staat hat den Kreditmarkt "geregelt", d.h., er beansprucht ihn fuer sich. Wohnungen werden nicht gebaut und die Kriegsindustrie wird von ihm selbst finanziert. So holt sich der Staat die staendig den Sparkassen und den Banken zustroemenden Mittel, er holt sie aber auch von den Versicherungsgesellschaften, von der Sozialversicherung, von der Arbeitsfront, von den Pensionskassen, ja sogar aus den Ueberschuessen der Unternehmungen.

Der Staat hat dabei zwei Kreditformen entwickelt: den fundierten Kredit, also langfristige Reichsanleihen, und den "schwebenden" Kredit, also kurzfristige Reichswechsel. Finanzwirtschaftlich und fuer das jaehrliche Budget ist das ein wesentlicher Unterschied. Auf 20, 30 und mehr Jahre geliehene Geld macht in der Gegenwart alljaehrlich nur Zinssorgen. So verlangen z.B. 200 Milliarden Kriegsanleihe bei 4% Verzinsung jaehrlich nur acht Milliarden Mark Ausgaben.

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Kurzfristige Schulden, vielleicht auf sechs Monate, auf 1, auf 2 oder 5 Jahre geliehen, verlangen neben der Verzinsung die Beschaffung und Bereitstellung der Rueckzahlungssumme (Kapitalsumme). Das sind bei 200 Milliarden, sagen wir bei fuenfjaehriger Laufzeit, jaehrlich 40 Milliarden - neben den Zinsen! Oder zweihundert Milliarden im fuenften Jahre auf einmal!

Deswegen ist eine alte Weisheit der Kriegsfinanzierung, dass die langfristige die beste ist. Moeglichst auf hundert Jahre verteilt, erdrueckt sie die lebenden Generationen nicht unter ihrer Last, Aber das kann keine Regierung allein bestimmen, das haengt von der wirtschaftlichen Struktur des Landes, von seinen politischen Verhaeltnissen und nicht zuletzt von dem Vertrauen ab, das die Regierung im Volke geniesst. Allerdings sind kurzfristige Kredite zumeist auch etwas billiger als langfristige.

Wie sieht nun das Verhaeltnis zwischen langfristigen und kurzfristigen Schulden in Deutschland und in England aus?

 

Deutschland

England

 

kurzfristig

langfrist[ig]

kurzfrist[ig]

langfristig

August

1939

26.6 %

73.4 %

-

-

Ende

1940

52.2 %

47.8 %

49.6 %

50.4 %

Ende

1941

56.8 %

43.2 %

34.2 %

65.4 %

Ende

1942

59.1 %

40.9 %

15.2 %

84.8 %


Zum Vergleich kann man noch Italien anfuehren, was jetzt besonders aktuell ist. Dessen Staatsschuld betrug Ende Juni 1943 ca. 440 Milliarden Lire, davon waren 275 Milliarden, also ca. 60 % konsolidiert (langfristig). In Deutschland waren Ende 1942 nur knapp 41% konsolidiert, und diese Zahl ist weiter im Sinken. In England sind dagegen 84.8 % langfristig konsolidiert.

Die "geraeuschlose Finanzierung" geht also in Deutschland so vor sich, dass man in die Banken moeglichst viele kurzfristige Reichswechsel hineinpresst und in die Sparkassen so weit als moeglich langfristige Anleihen. Ausserdem versucht man durch "eisernes Sparen" dem Lohnempfaenger beizubringen, dass er von seinem gesparten Geld nicht so bald wieder etwas abheben kann, und die Unternehmer lockt man mit Betriebsanlage- und Warenbeschaffungsguthaben (mit Steuerbeguenstigung) zu gleich langfristiger Bindung ihrer Bankmittel. Der Effekt ist also, dass, genau wie im vorigen Krieg, die gesamten Ersparnisse und Reserven des deutschen Volkes aufgebraucht werden, sie wandeln sich in Kriegsschulden, nur mit dem Unterschied, dass dieses Mal schon jetzt sechs Zehntel kurzfristig, also "schwebend" und deswegen hoechst inflationsgefaehrlich sind. (Zur Erinnerung: 1918 hatte das kaiserliche Deutschland etwa 150 Milliarden innere Kriegsschulden, von ihnen waren aber zwei Drittel langfristig, also in Kriegsanleihen umgewandelt).

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Schulden und Budget muss man sich nun fuer die Zeit nach dem Kriege vorstellen! Fuer 1942 sollen durch Steuern etwa 35 Milliarden Mark eingekommen sein, dazu etwa 14 Milliarden aus Okkupationstributen. Bis Ende 1943 werden die Kriegsschulden nicht weit von 260-275 Milliarden Mark liegen. Das bedeutet bei nur 4 % Verzinsung jaehrlich 10 - 11 Milliarden Zinsenlast, also rund ein Drittel aller Reichseinnahmen (da man ja nicht annehmen kann, dass es es gelingt, 35 Milliarden Steuern hereinzuholen). Aber an Ausgaben kommen auch die Kriegsopferlasten (Witwen, Waisen, Invaliden usw.) und der Wiederaufbau. Wir sprechen nicht von den Forderungen der jetzt okkupierten Laender und nicht von denen der Sieger, denn die kennen wir noch nicht. Aber nur rund 40 % der inneren deutschen Kriegsschulden sind konsolidiert! Das heisst, dass bei gleichem Prozentverhaeltnis jaehrlich mindestens Ansprueche in Hoehe von 50 Milliarden schweben.

Die nationalsozialistischen Finanzpraktiker haben das Rezept ueber die Nachkriegszeit schon fertig; es darf zwei Jahre lang von den Sparguthaben nichts abgehoben werden!

Kann man die Schulden "abschuetteln"? Sie sitzen als Forderungen ueberall im Volke, bei allen Sparern, sie sind die Reserven bei jedem Geschaeftsmann und bei allen Versicherungsgesellschaften, bei jeder Organisation und in allen Bankbuechern. Kommen schlechte Zeiten, so will jeder abheben, von seinen Reserven zehren. Kann er das nicht, so geht er bankrott oder muss hungern. Wir sehen, die "geraeuschlose Finanzierung" der Nationalsozialisten ist nichts anderes als gewissenlose Geldwirtschaft nach dem Prinzip: Nach uns die Sintflut!

Wer an das zukuenftige Deutschland denkt, darf also, wenn er Plaene ausarbeitet und sich Gedanken macht, die Steuern und die Schulden nicht vergessen.



[Spendenaufruf]


An unsere Leser!

Eine Forderung des Ministry of Supply zwingt uns zu einer erheblichen Reduzierung unseres Papierverbrauches. Verwendung leichteren Papieres und kleinerer Schreibmaschinentypen, Verringerung des Umfanges und der Auflage, Ausfall der regelmaessigen Beilage "SURVEY..." usw. werden die Forderungen erfuellen. Wir koennen deshalb unsere "SM" nicht mehr unentgeltlich abgeben. Wer an der weiteren Zustellung interessiert ist, mag uns dies mitteilen. Wir bitten unsere Freunde, gelesene "SM" an befreundete Kreise weiterzugeben. Mehrere Leser im gleichen Hause, Hostel oder Office, koennen in Zukunft nur ein Exemplar erhalten. Quittungen ueber freiwillige Beitraege und Versammlungsanzeigen werden nicht mehr erscheinen.

Freiwillige Beitraege erbeten an: W. Sander, 33, Fernside Ave., London N.W.7.

[Seite im Original:] - 10 -

Die "Union deutscher sozialistischer Organisationen in Gross-Britannien" hat am 10. September 1943 folgenden Aufruf beschlossen und der BBC und englischen Presse zugeleitet.

Deutsche Antifaschisten, Sozialisten und Gewerkschafter!

Mussolini ist gestuerzt. Italien hat kapituliert. Die Achse ist zerbrochen. Deutschland steht allein in einem aussichtslosen Kampf gegen die militaerische und wirtschaftliche Uebermacht der Vereinten Nationen.

Italien hat bewiesen, dass Diktaturen gestuerzt werden koennen. Mussolini und der Faschismus fielen unter den Schlaegen der militaerischen Uebermacht der Alliierten und unter dem Druck der Massen des italienischen Volkes, die Frieden und Freiheit forderten. Die Hitlerdiktatur hat das deutsche Volk und die ganze Welt in das Verbrechen dieses Krieges gestuerzt. Das Hitlersystem muss in der Katastrophe seiner Niederlage untergehen. Deutsche Antifaschisten koennen und sollten diesen Zusammenbruch mit allen Mitteln beschleunigen helfen.

Deutsche Antifaschisten! Zehn Jahre lang habt Ihr dem Terror der Hitlerdiktatur standgehalten. Ihr habt euch nicht gebeugt, weil Ihr wusstet, dass der Tag der Abrechnung und der Befreiung kommen wuerde. Jetzt beduerften Millionen verzweifelter und hoffnungsloser Menschen Eurer Fuehrung in ihrem Wunsch nach Freiheit und Frieden.

Dem deutschen Nationalsozialismus muss das Schicksal des italienischen Faschismus bereitet werden. Handelt nach Eurem Ermessen. Ihr allein koennt die Moeglichkeiten und Mittel des Kampfes abschaetzen. Millionen Freiheitskaempfer, Sozialisten und Gewerkschafter in der ganzen freien Welt blicken auf Euch. Ihr Feind ist Euer Feind: Die Hitlerdiktatur und die deutsche Kriegsmaschine. Ihr Ziel ist Euer Ziel: Frieden und Freiheit. Die Zukunft eines freien, demokratischen und sozial fortschrittlichen Deutschlands haengt entscheidend vom Einsatz deutscher Antifaschisten ab.



[Veranstaltungshinweis]


Im Austrian Labour Club, 31, Broadhurst Gardens, London N.W.6.

Sonntag, d. 10. Oktober 1943, vorm[ittags] 10.30 Uhr

Mitglieder-Versammlung der "Union". Ueber das Thema

"Die Arbeiterschaft Italiens im Kampf fuer Frieden und Freiheit"
spricht der Genosse Paolo Treves.

Nach dem Vortrag (in englischer Sprache) Diskussion. Gaeste, die durch Mitglieder der der "Union" angehoerenden Organisationen eingefuehrt werden, sind herzlich willkommen.

[Seite im Original:] - 11 -

Ein "Initiativ-Ausschuss fuer die Einheit der deutschen Emigration"[11] in London hat zur Gruendung einer Freien Deutschen Bewegung in Gross-Britannien aufgerufen. Die deutschen Sozialdemokraten in England sind dieser Bewegung nicht beigetreten. Die Gruende dieses Verhaltens sind aus folgendem Antwortschreiben an die Einberufer der Komiteegruendung ersichtlich.

THE LONDON REPRESENTATIVE
OF THE GERMAN
SOCIAL-DEMOCRATIC PARTY

Wilhelm Sander
33. Fernside Ave., London NW7
24. September 1943


Sehr geehrter Herr Dr. Kuczynski![12]


Ich danke Ihnen bestens fuer die Einladung zu der morgigen Veranstaltung, von deren Ziel meine Parteigenossen und ich mit grossen Interesse Kenntnis genommen haben. dass wir uns aber an der Versammlung und der beabsichtigten Komitee-Bildung nicht beteiligen, hat die folgenden Gruende.

Die Aktivierung moeglichst weiter Kreise im Kampf gegen Hitler ist seit dem Tage des Kriegsausbruchs ununterbrochen unser Bestreben gewesen. Wir sahen und sehen hierin nicht nur die Erfuellung unserer Kampfaufgaben im Kriege, sondern darueber hinaus auch die beste Gewaehr gegen eine abermalige Zersplitterung der fortschrittlichen und sozialistischen Kraefte im neuen Deutschland. Ohne die moegliche Bedeutung eines verantwortungsbewussten demokratischen Buergertums zu unterschaetzen, halten wir an dem Gesichtspunkt fest, dass die eigentlichen Traeger des Kampfes nur die Parteien und Organisationen der Arbeiterbewegung waren, sind und auch in Zukunft sein werden. Dabei verstehen wir "Arbeiterbewegung" im weitesten Sinne, ohne jede Beschraenkung und Begrenzung auf Berufe oder Klassen. jeder gehoert dazu, der an Fortschritt, Demokratie und sozialistische Ideale glaubt.


Wir alle wissen, dass die wesentlichste Voraussetzung fuer die Herstellung dieser einheitlichen Bewegung in der Ueberwindung der Spannungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten liegt. Dadurch, dass die offene Bekaempfung erfreulicherweise eingestellt wurde, sind die psychologischen Voraussetzungen fuer eine positive Zukunftsgestaltung angebahnt worden. Jedoch wird man sich unserem Gesichtspunkt nicht verschliessen koennen, dass jeder organisatorischen Zusammenfuehrung - oder zunaechst Zusammenarbeit - eine Klaerung gewisser Grundfragen vorauszugehen hat.

Wir sind ueberzeugt, dass die weitere Kriegsentwicklung dieser Klaerung dienlich sein kann, bis schliesslich - in einem freien

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demokratischen Deutschland - unter der Hauptverantwortlichkeit unserer daheim kaempfenden Illegalen die letzten Entscheidungen getroffen werden koennen. Im gegenwaertigen Augenblick ist nach unserer Auffassung die Klaerung der wichtigsten Grundfragen noch nicht gelungen.

Ihr Aufruf bezieht sich auch auf das Moskauer Komitee, von dem wir uns in zwei wichtigen Punkten zu distanzieren haben. Die deutsche Sozialdemokratie wird sich an keiner Gemeinsamkeit beteiligen, zu der auch die Generale jener Nazi-Armee gehoeren, die den deutschen Namen mit Schimpf und Schande bedeckt hat. Ferner wenden wir uns gegen die Formeln vom rechtmaessig erworbenen Eigentum. Wir sind uns der Moeglichkeit wohl bewusst, dass unser Kampf um ein sozialistisches Deutschland nicht sobald zum Erfolge fuehren mag. Wir halten es aber nicht fuer die Aufgabe der deutschen politischen Emigration, den Forderungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung Ausdruck zu verleihen.

Ich moechte mit einer offenen Bemerkung schliessen. Jede Komitee-Bildung in Gross-Britannien kann nur dann politisch sinnvoll sein, wenn sie, frueher oder spaeter, die Anerkennung der Regierung findet. Wir haben sicherlich alle einen Wunsch, naemlich, dass die drei Maechte Gross-Britannien, die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, sich zu einer einheitlichen Aussenpolitik, auch in der Frage der Behandlung des deutschen Problems, finden moegen. Wir hoffen, dass in aller Kuerze diese Probleme ihrer Loesung naeher gebracht worden sind, und wir werfen die Frage auf, ob Schritte wie die fuer morgen beabsichtigte Komitee-Bildung unter diesen Umstaenden nicht uebereilt sind?

Das sind die Gruende, die uns zur Abgabe dieser Erklaerung veranlasst haben, abgegeben in der Ueberzeugung, dass unsere Haltung schliesslich und letzten Endes der Einigkeit aller Kraefte des Fortschritts den groessten Dienst erwiesen haben wird.

Mit vorzueglicher Hochachtung

(gez.) Wilhelm Sander.



ist vom War Department, Prisoner of War Division offiziell in den Gefangenenlagern zugelassen worden und geht nun an eine neue Gruppe von Lesern in USA. Gerhart H. Seger, der Chefredakteur ist vom Verlag beurlaubt worden, um einen Regierungsauftrag auszufuehren. Die Redaktionsleitung hat nun Dr. Rudolf Katz uebernommen und Friedrich Stampfer ist als staendiger Mitarbeiter in die Redaktion der "Neuen Volks-Zeitung" eingetreten.

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[Fortsetzung von Seite 3]

Die Notwendigkeit, sich ueber die Behandlung befreiter Voelker, ueber ihre Selbstbestimmung und ihre Zusammenarbeit grundsaetzlich einig zu werden, wird mit jedem Tage groesser, der die Befreiung naeher bringt. Die Probleme, die durch den Bruderstreit der Jugoslawen, die Forderungen der griechischen Widerstandsbewegung an den Koenig von Griechenland, vor allem aber durch die wieder akut gewordenen Spannungen im franzoesischen Befreiungskomitee und die ungeloeste Frage der polnisch-russischen Beziehungen gestellt sind, stellen Schatten auf dem von Siegen ueberglaenzten Bild der Kriegs-Ereignisse dar.

Die Aussicht auf eine baldige Konferenz der Vertreter und politischen Fuehrer der drei Hauptmaechte im Kampfe gegen Hitler - der USA, der Sowjetunion und Gross-Britanniens - staerkt die Hoffnung auf eine Einigung, die Hitlers letzte Hoffnungen auf einen Riss in der Front seiner Gegner endgueltig zunichte macht.

Hans Gottfurcht hat uns als Teilnehmer am britischen Gewerkschaftskongress auf unsere Bitte folgenden Ueberblick ueber die Verhandlungen und Beschluesse zur Verfuegung gestellt:

Es besteht Uebereinstimmung darueber, dass die allgemeine grosse Bedeutung dieses Kongresses fuer die Gegenwart und Zukunft der britischen Arbeiterbewegung nicht ueberschaetzt werden kann. Aber auch fuer die Zukunft der internationalen Gewerkschafts-Bewegung hat der Kongress wichtige Entscheidungen getroffen.

753 Delegierte, die 6.024.411 Mitglieder aus 230 verschiedenen Unions vertraten, fuellten gemeinsam mit den Delegierten befreundeter Organisationen, den Mitgliedern der leitenden Koerperschaften und den Gaesten Saal und Tribuenen des Kongress-Hauses.

Bereits die Begruessungsrede von Anne Loughlin[13] war vom Geist der hohen Verantwortlichkeit, vom Bekenntnis zu den Idealen der Arbeiter-Bewegung und von der Forderung nach Gerechtigkeit getragen. Die wesentlichsten Abschnitte der "Presidential Address" beschaeftigten sich mit dem Weg zum Siege, den Problemen des Wiederaufbaus, der Ablehnung jedes Waffenstillstands mit faschistischen Ideen, der Notwendigkeit energischer Arbeiterpolitik, sozialer Kontrolle, der Sozialisierung gewisser Industrien und der Rolle der Frauen in der Nachkriegswelt. Eine anstaendige Behandlung des Problems der Beamten-Gewerkschaften wurde gefordert, die Erziehung zum Gewerkschaftsgedanken fand starke Betonung. Aus dem Schlussabsatz sei ein Satz woertlich zitiert: "Wir muessen dafuer kaempfen, einen Frieden zu schliessen, der die Sicherheit garantieren wird, ebenso wie die Verstaerkung internationa-

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ler Ordnung und menschlicher Rechte, ohne den Nachgeschmack erbitterten Hasses zwischen den Voelkern zu hinterlassen, der sicherlich wieder zu neuem Krieg fuehren wuerde."

Es war das erste Mal in der Geschichte der britischen Bewegung, dass eine Frau einen Kongress geleitet hat. Sie erwarb sich die Hochachtung aller.

Eine Anzahl von Gastdelegierten begruessten den Kongress. Ausser der Rede des Arbeits-Ministers Ernest Bevin hoerte der Kongress die Ansprachen zweier russischer Delegierter. N. M. Schwernik[14] und der Genossin Zhukova[15], zweier amerikanischer Delegierter, Isidore Nagler[16] und H. D. Ulrich[17], eines schwedischen Delegierten, sowie des Genossen Schevenels fuer den IGB. George Ridley brachte die Gruesse der Labour Party und J.H.H. Code die der Cooperative-Bewegung.

Die russischen Vertreter gaben eine ausfuehrliche Analyse ihres Standpunktes, sie schilderten die Kriegsentwicklung und die heroischen Taten von Sowjet-Volk und -Armee, sie verlangten mit Nachdruck die zweite Front, und schliesslich vertraten sie ihre bekannte Forderung, das englisch-russische Gewerkschaftskomitee auf Amerika und alle alliierten Laender auszudehnen. Der enthusiastische Beifall galt vor allen Dingen dem Heldenmut der Kaempfer in der Sowjetunion, er drueckte nicht - wie der weitere Verlauf des Kongresses zeigte - allgemeine politische Billigung aus. Die amerikanischen Redner zollten besonderen Tribut dem Kampf Gross-Britanniens in dem schicksalsschweren Jahr vor dem Eintritt Russlands in den Krieg, in dem Jahr, in dem Gross-Britannien voellig allein stand. Unmissverstaendlich war die Erklaerung der Amerikaner, dass sie sich an einem gemeinsamen Komitee mit den von ihnen als Staatsgewerkschaften angesehenen Sowjet-Verbaenden nicht beteiligen wuerden, die Existenz des englisch-russischen Komitees aber fuer ein wertvolles Bindeglied halten. Aus der Rede des Genossen Schevenels sei die besondere Betonung der Bewegung in all den kleineren Laendern erwaehnt und auch in den Laendern mit schwaecheren Bewegungen, die mit gleichem Heldenmut ihren Kampf gegen den gemeinsamen Gegner fuehren.

Eine Anzahl wichtiger Entschliessungen kam zur Debatte und Entscheidung. Eine umfassende Entschliessung zum Thema "Die Gewerkschaften und die Kriegslage" zollt Tribut zu allen denen, die im Kampfe stehen. Hierbei wird kein Unterschied gemacht zwischen Kaempfern in Uniform und im Arbeitskleid, in Gross-Britannien, in der Sowjetunion oder in irgend einem anderen Lande. Ein besonderer Abschnitt verlangt Anstrengungen, eine "zusaetzliche Front durch eine weitere Invasion des europaeischen Festlandes zu unternehmen an jedem Punkt, wo alliierte Kraefte mit guter Aussicht auf militaerischen Erfolg zuschlagen koennen".

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Der Kongress sieht hierin die Herbeifuehrung der dringend notwendigen Entlastung fuer Russland und die Beschleunigung der Niederlage des Feindes. Die gleiche Entschliessung verlangt auch, dass zur Wiederherstellung der internationalen Gewerkschaftsbewegung sobald wie moeglich vom TUC ein Weltkongress vorbereitet werden soll. Eine ausfuehrliche Diskussion fand statt, ein Ergaenzungsantrag, der die zweite Front forderte, wurde zurueckgezogen. Mit der Annahme der Entschliessung wurden auch die beiden oben erwaehnten Argumente der russischen Gast-Delegierten zur Erledigung gebracht.

Es gibt kaum einen Zweig wirtschaftlicher oder sozialer Probleme, zu denen keine Antraege angenommen wurden. Die wichtigsten beschaeftigen sich mit der Essential Work Order[18], dem Beveridge Report, Problemen der Erziehung, Demobilisation, des Organisations-Aufbaus, des Eigentums von Grund und Boden, der Kontrolle der Waffenindustrie, Pensionsforderungen etc. etc. ...

In Zukunft werden auch Kommunisten in die Trades Council delegiert werden koennen. Dies war viele Jahre lang verboten. Auch nach dem neuen Beschluss behaelt sich die Leitung des TUC das Recht vor, jede schaedliche Taetigkeit scharf zu ueberwachsen und, falls noetig, nach einem Jahr die Einfuehrung dieses oder eines anderen Bannes wieder zu empfehlen.

Eine umfangreiche Entschliessung verlangt eine freundschaftliche Annaeherung an das indische Problem, die Entlassung aller politischen Gefangenen in Indien, die Bildung einer indischen National-Regierung und die Zubilligung des vollen Dominion-Status.

In vertraulicher Sitzung wurde ein ausfuehrlicher Bericht ueber den Verlauf der Aktionen gegeben, die im Zusammenhang mit dem Wunsch der Beamten-Gewerkschaften stehen, sich dem TUC wieder anzuschliessen. In einer Sollsitzung sprach der Kongress einstimmig seine energische Opposition gegen die Einstellung der Regierung aus, weil diese es unterlassen hat, die bescheidenen Abaenderungsantraege zum Gewerkschaftsgesetz von 1927[19] zu akzeptieren.

Wichtige Entschliessungen verlangen die Anerkennung von Gewerkschaften in Zweigen, in denen noch Schwierigkeiten bestehen. Dies bezieht sich im wesentlichen auf kaufmaennische, gehobene technische und wissenschaftliche Arbeitskraefte. In einer anderen Entschliessung wird die Ueberpruefung der Struktur der englischen Gewerkschaftsbewegung verlangt.

Zum Abschluss dieses Berichtes moechten wir noch die fuer uns ausserordentlich wichtige Entscheidung ueber die "Behandlung Deutschlands nach dem Kriege" besprechen. Ebenso wie sich der Labour Party Congress Pfingsten dieses Jahres mit dem Problem zu beschaeftigen hatte, so geschah es auch auf diesem Gewerkschafts-Kongress in Southport, 6.-10. September.

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Die beiden Auffassungen, die wir kennen, standen sich scharf gegenueber. Die von den Delegierten der National Union of General & Municipal Workers (Dukes und Marshall) vertretene Auffassung von der Gesamtschuld des deutschen Volkes und von der Notwendigkeit der langfristigen Hinausschiebung selbst jeder Gewerkschafts-Selbstaendigkeit in Deutschland wurde aufs energischste bekaempft von Jim Haworth (Railway Clerks)[20] und Jack Tanner (A.E.U.), die auch Abaenderungs-Antraege vorgelegt hatten. Mit einer ueberwaeltigenden Mehrheit wurde die Entschliessung im Sinne der Antraege Haworth-Tanner angenommen und damit der Weg wieder geebnet fuer eine zukuenftige internationale Arbeit. Die nun angenommene Entschliessung lautet (in ungefaehrer deutscher Uebersetzung) wie folgt:

"Nach 4 Jahren des schrecklichsten Krieges, den die Welt je gesehen hat und in dem die Nazis unmenschliche Verbrechen gegen die Voelker in allen besetzten Laendern und besonders gegen die juedische Rasse begangen haben, verpflichtet sich dieser Kongress, den Kampf fortzusetzen, bis die vollstaendige und bedingungslose Unterwerfung Deutschlands, Italiens und Japans erreicht worden ist.

Der Kongress verlangt weiterhin, dass - wenn der Sieg erkaempft worden ist - alle diejenigen, die fuer die waehrend des Krieges begangenen Greueltaten verantwortlich sind, ohne Ruecksicht auf Amt und Stellung, vor einem alliierten Gerichtshof zur Verantwortung zu ziehen und gemaess ihrer Verantwortlichkeit fuer die begangenen Verbrechen zu bestrafen sind.

Der Kongress gelobt, dass es die erste Pflicht der internationalen Gewerkschafts-Bewegung sein wird, dafuer zu sorgen, dass den Gewerkschaften in den besetzten Laendern ihre volle Freiheit und Unabhaengigkeit wiedergegeben wird, ebenso wie den Gewerkschaften in den feindlichen Laendern, so dass die letzten Spuren von Nationalsozialismus und Faschismus schneller ausgetilgt und unverfaelschte demokratische Regierungsformen aufgerichtet werden koennen."

Unter diesem Titel gibt die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Gross-Britannien eine weitere Vervielfaeltigung heraus, die fuer unsere Freunde in Debatten mit englischen Freunden wertvolles Material vermittelt.[21] Es handelt sich um einen Vortrag, den Kollege Fritz Kramer kuerzlich in einer gut besuchten Mitgliederversammlung der Landesgruppe gehalten hat. Preis 9 d.




Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London N.W.7. Tel: MIL 3915






Editorische Anmerkungen


1 - Am 3.9.1943 wurde der Waffenstillstand zwischen den Alliierten und der Badoglio-Regierung geschlossen.

2 - Am 12.9.1943 hatten deutsche Fallschirmjäger und SS-Leute Mussolini aus seiner Gefangenschaft auf dem Gran Sasso entführt.

3 - Präsident Roosevelt richtete am 17.9. seine Botschaft an den Kongress, und Churchill sprach am 21.9.1943 vor dem Unterhaus.

4 - Am 24.8.1943.

5 - Im April 1943 war Carlo Scorza zum Sekretär der Faschistischen Partei ernannt worden. Er ging besonders gegen "kriegsmüde Elemente" in der Partei vor. Im Zusammenhang mit dem Sturz Mussolinis wurde er wie sein Vorgänger verhaftet und vor Gericht gestellt.

6 - Vom 6.bis10.September 1943.

7 - Befreundete Organisationen des National Peace Council waren in Deutschland bis 1933 die Deutsche Liga für Menschenrechte und die Deutsche Friedensgesellschaft. Allerdings verlor ab 1933 der "reine Pazifismus" im Council immer mehr an Boden. Das erwähnte Bulletin konnte bibliographisch nicht nachgewiesen werden.

8 - Im Januar 1918 hatte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856 - 1924) in seinen "Vierzehn Punkten" das US-Friedensprogramm formuliert. Das deutsche Ersuchen um Waffenstillstand (Oktober 1918) bezog sich ausdrücklich auf die 14 Punkte Wilsons, die u. a. das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Herabsetzung der Rüstung aller auf das niedrigste mit der inneren Sicherheit zu vereinbarende Maß vorsah.

9 - John Allsebrook Simon (1873 - 1954), britischer Politiker (Liberaler), MP 1906-1918 und 1922-1940, 1940-1945 Lord Chancellor.

10 - Kurt Heinig (1886 - 1956), Lithograph, ab 1906 SPD-Journalist und -Redner, Gewerkschafter, 1927-1933 SPD-MdR, Budget- und Wirtschaftssachverständiger der Reichstagsfraktion, 1933 Exil in Dänemark, 1940 Flucht nach Stockholm, Mitglied der Internationalen Gruppe demokratischer Sozialisten (Kleine Internationale), 1941 ausgebürgert. Nach dem Krieg SPD-PV-Vertreter für Schweden, Korrespondententätigkeit für deutsche Zeitungen. - Die von Heinig herausgegebenen "Informationen" erschienen 1943-1946 (maschinenschriftlich vervielfältigt) z. T. mit Titelvarianten und Parallelausgaben in schwedischer Sprache in Stockholm.

11 - Der Initiativausschuss für die Einheit der deutschen Emigration war im Juli/August 1943 ins Leben getreten und vorwiegend kommunistisch bestimmt.

12 - Jürgen Kuczynski (1904 - 1997), kommunistischer Nationalökonom, Finanzwissenschaftler und Historiker, 1936 über verschiedene Länder ins Exil nach Großbritannien, 1945 Präsident der Zentralverwaltung der Finanzen (SBZ), 1946-1969 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Siehe auch: Jürgen Kuczynski: Memoiren, Berlin 1975.

13 - Anne Loughlin (geb. 1894), englische Gewerkschafterin, ab 1929 im General Council des TUC.

14 - Nikolai Michailowitsch Schwernik (1888 - 1970), sowjetischer kommunistischer Politiker und Gewerkschafter, 1946-1953 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets, 1953-1956 des Allunionsrats der Gewerkschaften.

15 - "Zhukova": T. S. Schukowa, Vorsitzende der Textilarbeitergewerkschaft von Moskau.

16 - Isidore Nagler (geb. 1895), Funktionärin der Ladies' Garment Workers' Union (AFL).

17 - H. D. Ulrich, schwedischer AFL-Funktionär (Eisenbahnergewerkschaft). Weitere biographischen Angaben konnten nicht ermittelt werden.

18 - = Das Gesetz über Beschäftigung in kriegswichtigen Unternehmen, dessen Einhaltung das Ministry of Labour und der National Service kontrollierten.

19 - The Trades Disputes and Trade Unions Act von 1927 hatte u. a. Sympathiestreiks und Aussperrungen, die dazu gedacht waren, Druck auf die Regierung auszuüben, für illegal erklärt und der politischen Tätigkeit der Gewerkschaften Beschränkungen auferlegt.

20 - James Haworth (1896 - 1976), englischer Gewerkschafter und Labour-MP 1945-1950.

21 - Trade Union Centre for German Workers in Great Britain (Hrsg.): Forces of Resistance inside Germany. An Address given by Fritz Kramer at a Members' Meeting of the Trade Union Centre for German Workers in Great Britain, London 1943.




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