[Beilage 2 zu SM, Nr. 50, 1943] |
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VORSTELLUNGEN ÜBER DIE SOZIALE
DEMOKRATIE IN DEUTSCHLAND
NACH DEM STURZ DER HITLER-DIKTATUR
EINE SOZIALE STUDIE von ARNO UHLMANN[1]
Inhalt:
Einleitung | |
Aussenpolitik | |
Innenpolitik | |
1. Reichsreform 2. Gemeindereform 3. Reform des Buergerrechts 4. Reform des Verwaltungsrechts 5. Reform des Koalitionsrechts 6. Reform des Arbeits- und Sozialrechts | |
Wirtschaftspolitik | |
Die Stellung der Uebergangsregierung |
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Die vorliegende Arbeit ist ein Beitrag zu den Diskussionen in der deutschen sozialistischen Emigration ueber die Moeglichkeiten und Aufgaben der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung nach dem Sturz der Hitlerdiktatur.
Der Verfasser, Arno Uhlmann, ist seit vielen Jahren Mitglied und Funktionaer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In der Zeit der Weimarer Republik war er vor allem auf dem Gebiet der Sozialversicherung taetig. Darueber hinaus hat er am politischen und organisatorischen Leben der sozialistischen Arbeiterbewegung stets aktiven Anteil genommen.
In den ersten Jahren der Emigration hat Arno Uhlmann in einer wichtigen Funktion die Verbindung mit bedeutsamen Teilen der illegalen sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland unterhalten und dabei wertvolle Kenntnisse sowohl von den Ideen und Vorstellungen der illegal taetigen Sozialisten als auch von dem Wesen und den Arbeitsmethoden der Hitlerdiktatur gesammelt.
Die jetzt vorliegende Arbeit ist gleichermassen das Resultat der aus dieser frueheren politischen und sozialen Arbeit gewonnenen Erkenntnisse wie der in der Emigration getriebenen umfangreichen Studien.
Wir glauben, dass sie einen nuetzlichen Beitrag zu der in der deutschen und internationalen sozialistischen Emigration gefuehrten Diskussion ueber die zukuenftigen Aufgaben der sozialistischen Arbeiterbewegung darstellt, und wir moechten sie daher auf diesem Wege allen interessierten Genossen und Freunden zugaenglich machen.
Es ergibt sich aus dem Charakter der Veroeffentlichung als Diskussionsbeitrag, dass sie die persoenlichen Ansichten des Verfassers wiedergibt und dass sie nicht als eine Stellungnahme des Herausgebers gewertet werden kann.
London, im Juni 1943 |
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Wer zu einer richtigen Beurteilung der Gegenwart und damit zu einer realistischen Perspektive fuer die Zukunft gelangen will, kann auf eine kritische Untersuchung der juengsten Vergangenheit nicht verzichten. Da die Kaempfe der Nationen und Klassen immer mehr globale Dimensionen annehmen, ist es erforderlich, die grundlegenden Kaempfe der Nationen ebenso wie das damit unzertrennlich verbundene Feld der internationalen gesellschaftlichen Kaempfe nach Motiven, Interessen, vermeintlicher und tatsaechlicher Staerke zu untersuchen.
In diesem Rahmen gilt es, nicht nur die unmittelbaren Ursachen des Ersten Weltkriegs zu untersuchen, sondern in erster Linie [die] mittelbaren Ursachen zu finden, die zum Kriege fuehrten. Ist das militaerische Auf und Ab waehrend des Ersten Weltkrieges mit seinen nationalen und sozialen Reflexwirkungen kritisch verfolgt, so gilt es Wille und Vorstellungen der Siegerstaaten zu rekapitulieren und mit der realen Nachkriegsentwicklung zu vergleichen. Es gilt sowohl die Chancen aufzuzeigen, die sich den unteren sozialen Schichten boten als auch die Grenzen, die ihnen in staatspolitischer Hinsicht in den besiegten Staaten durch das Fortbestehen und die sich staendig vertiefenden internationalen Wechselbeziehungen der sozialen Oberschichten gezogen waren.
Die Entwicklung des Monopolkapitalismus ist im internationalen Rahmen zu beleuchten. Entstehung, Wachstum und Konsolidierung des Faschismus als Regierungssystem ist im Zusammenhang mit den allgemeinen gesellschaftlichen Wandlungen in der privatkapitalistischen Welt zu untersuchen und die Zwangslaeufigkeit des Kreislaufs vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg aufzuzeigen. Die technische Revolution, die den militaerischen Operationen des Zweiten Weltkrieges ihren Stempel aufgedrueckt hat, muss im Zusammenhang mit den politischen und sozialen Wandlungen und ihren weltweiten Konsequenzen betrachtet werden.
Inmitten des weltrevolutionaeren Gaerungsprozesses, in dem alte Begriffe und Vorstellungen sinnenleer geworden sind und ideologische Verwirrung zu einer Weltepidemie geworden ist, ist das Suchen nach neuen Ufern zu einer
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der wichtigsten Aufgaben fuer unsere Generation geworden. Es gilt zu erkennen, dass alle politischen Lager und alle Nationen an den sozialen Klassenkaempfen - mit mehr oder minder umfassenden Konsequenzen - beteiligt sind.
Es ist nur logisch, dass im Zeitalter des Monopolkapitalismus die Anhaenger der liberalen Weltanschauung vom weltrevolutionaeren Gaerungsprozess besonders stark erfasst werden. Die Verfechter der liberalen Geisteswelt aus allen sozialen Schichten stehen vor der Notwendigkeit, das aus der juengsten Vergangenheit gewonnene eigene Erfahrungsgut zu ueberpruefen und sich mit allen zeitgenoessischen politischen und geistigen Stroemungen auseinanderzusetzen, um an der geschichtlichen Neugestaltung aktiv konstruktiv mitwirken zu koennen. Das gilt auch fuer die demokratischen Sozialisten, gleichgueltig welcher Nation sie angehoeren.
Die demokratischen Sozialisten Deutschlands sind sich bei dieser Aufgabe der besonderen Schwierigkeiten ihrer Position voll bewusst, wo immer ihr gegenwaertiger Aufenthaltsort ist. Sie wissen, dass das Hitlerregime verantwortlich fuer das ganze deutsche Volk handelt und deshalb alle seine Verbrechen im Namen der Nation begangen werden. Sie wissen aber auch, dass die Eroberungen der Faschisten mit all ihren Konsequenzen bar jeden Rechtes sind und dass unter den gegebenen Umstaenden in erster Linie den Siegerstaaten Recht, Pflicht und Verantwortung fuer die europaeische Neugestaltung gebuehrt. Dennoch besteht fuer die demokratischen Sozialisten kein Grund, sich nicht zu dem Boden zu bekennen, auf dem sie aufgewachsen sind, oder die Nation zu verleugnen, der sie angehoeren.
Die deutschen demokratischen Sozialisten koennen jedoch von ihrem Standort aus, treu der historischen Wahrheit, die Vergangenheit kritisch untersuchen und sich theoretisch eine bildhafte Vorstellung zukuenftiger Betaetigungsmoeglichkeiten nach den gegebenen politischen und sozialen Bedingungen erarbeiten.
Dieser Aufgabe will auch die vorliegende "Soziale Studie" in bescheidener Weise dienen. Der Verfasser hat, gestuetzt auf das eigene Erfahrungsgut, das er als
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Funktionaer der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung in der Zeit von 1930 bis 1933, als Verbindungsfunktionaer zu einem Teil der illegalen politischen Opposition in der Zeit von 1933 bis 1939 und als politischer Emigrant erworben hat, den Versuch unternommen, die Gegenwart und die juengste Vergangenheit vom Standort eines deutschen sozialistischen Arbeiters aus zu analysieren. Die Motive, die ihn leiteten, waren: Bekenntnis zur eigenen Tradition, Selbstkritik bei gleichzeitiger Verfechtung der geleisteten positiven Arbeit, Auseinandersetzung mit den grundsaetzlichen und taktischen Fragen, die die Gegenwart stellt. Die Probleme, ueber die der Verfasser sich insbesondere Klarheit zu verschaffen suchte, waren: Charakter und Wesen der faschistischen Wirtschaft, die Bewegungsgesetze des deutschen Militaer- und Verwaltungsapparates, das Zusammenwirken von alliierter Strategie und innerem Zersetzungsprozess in Deutschland, politische Kriegfuehrung und internationaler Klassenkampf, das Verhaeltnis der demokratischen Sozialisten zur Sowjetunion und die politische Position des ausserrussischen europaeischen Kontinents zwischen Ost und West.
Die nachstehenden Darlegungen sind die aus dieser Analyse abgeleiteten Schlussfolgerungen. Sie sind als ein konstruktiver Beitrag fuer die Zukunft gedacht.
Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg keine Weltgrossmacht ersten Ranges mehr. Die unter der Fuehrung der deutschen sozialen Oberschichten durch das Instrument des Hitlerschen Militaer- und Verwaltungsapparates im Namen des deutschen Volkes begangenen Verbrechen haben zu diesem Ergebnis gefuehrt. Da auch die unteren sozialen Schichten des deutschen Volkes, Mittelstand und Proletariat, sich der Macht des deutschen Militaer- und Verwaltungsapparates unterworfen haben, besteht in diesem Rahmen ihre Mitschuld. Diese Mitschuld kann in Zukunft durch eigene konstruktive Leistungen auf
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oekonomischem und sozialem Gebiet abgetragen werden.
Der ausserrussische, europaeische Kontinent ist oekonomisch und sozial nicht einheitlich entwickelt. Dennoch hat das Hitlerregime durch die gewaltsame Sprengung der alten staatlichen Ordnung in Europa die Grundbasis geschaffen, die fuer die sozialen Oberschichten aller unterworfenen Laender eine gleichmaessige neue Ausgangsposition fuer den Klassenkampf im nationalen und internationalen Rahmen bildet. Den sozialen Oberschichten geht es in erster Linie um die Sicherung ihrer Privilegien in Staat und Gesellschaft, um die Sicherung der Kommando- und Verfuegungsgewalt ueber den jeweiligen Militaer- und Verwaltungsapparat und in Form einer neuen nationalen Einheit um die Anerkennung ihrer Fuehrung durch die unteren sozialen Schichten.
Die Regelung der neuen staatlichen Grenzziehungen wird gewiss mitbedingt werden von den Sicherheitsbeduerfnissen der kontinentalen Siegerstaaten und wird zur Revanche gegenueber den besiegten Staaten Gelegenheit gegeben; das alles wird sich jedoch unter anderen Aspekten abspielen als nach dem Ersten Weltkrieg.
Die oekonomisch-sozialen Bedingungen aller ausserrussischen Gebiete Europas weisen, trotz ihrer unterschiedlichen Entwicklungsstufe, mit Ruecksicht auf die anderswo vor sich gehenden bedeutenden Veraenderungen auf allen Gebieten des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens auf die Notwendigkeit, jenen europaeischen, ausserrussischen Kontinent als eine oekonomisch-soziale Einheit zu betrachten.
Der Kompromiss zwischen anglo-amerikanischem Block, gefuehrt von den sozialen Oberschichten einer kapitalistischen Welt, und der Sowjetunion, gefuehrt von einer Elite des Proletariats, ueber die Zusammenarbeit der Weltgrossmaechte und ihre Verankerung in der Nachkriegswelt, ist noch nicht gefunden. Die Aufgabe ist schwierig und kann nur in Etappen von laengerer Dauer, gehemmt von unvermeidlichen Rueckschlaegen, geloest werden. Sie stellt fuer Generationen das ueberragende Problem dar; alles Geschehen auf dem uebrigen Kontinent wird von diesen Bemuehungen abhaengig sein und bleiben.
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Eine einseitige, oekonomisch-soziale und kulturelle Orientierung durch die sozialen Oberschichten aus Klassenerwaegungen zugunsten des anglo-amerikanischen Blockes oder ebenfalls aus Klassenerwaegungen durch den linken Fluegel des Proletariats zu Gunsten der Sowjetunion, kann nicht im nationalen und oekonomischen Interesse der kontinentalen Staaten liegen. Die Kompromissbemuehungen beider Gruppierungen wuerden am zweckmaessigsten dadurch unterstuetzt, wenn die kontinentalen Staaten ihre historische Mission darin erblicken wollten, Bruecke zwischen den Begriffswelten von West und Ost zu sein; wenn sie alles tun wollten, was geeignet ist, die gemeinsamen Interessen des Kontinents zu foerdern. Eine solche Einstellung, die der Abtragung des Hasses und aller sonstigen Schranken, die Krieg und Liquidierungsprozess aufgerichtet haben, dienen wuerde, koennte das oekonomische, soziale und staatspolitische Erfahrungsgut von West und Ost sich zu eigen machen und verwerten.
Das britische Empire ist ein Beispiel dafuer, wie trotz der unterschiedlichen Stufen der Entwicklung und trotz der Verschiedenheit der Regime, verschiedene Laender, wenn auch unter inneren Kaempfen und kontinuierlicher Wandlung ihrer Struktur, dennoch den Zusammenhang einer grossen Voelkerfamilie immer wieder auf hoeherer Entwicklungsstufe zu wahren vermoegen. Die verschiedensten Rassen und Regime sehen in der Toleranz, welche die Bewegungsgesetze des englischen militaerischen und politischen Verwaltungsapparates im Gegensatz zum deutschen charakterisiert, die hoehere Regierungsform und damit trotz aller negativen Erscheinungen, den bindenden Wert dieser Voelkergemeinschaft. Die oekonomischen, sozialen und kulturellen Vorteile einer solchen Gemeinschaft sind lohnend. Nirgends wird der nationalen Philosophie mit jenen tyrannischen Methoden begegnet, die nationales Maertyrertum zur nationalen Revolution steigern. Toleranz ist mit Disziplin, Geduld mit Zielklarheit gepaart und so wird immer wieder der evolutionaere, der Verhandlungsweg offen gehalten. Die Seele des nationalen Eigenlebens, die der deutsche Apparatstiefel ueberall zu zertreten sucht, wird nicht zerstoert, Weltbuergertum hat im britischen Empire eine Heimstaette.
Die Sowjetunion andererseits ist ein Beispiel dafuer,
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wie durch Loesung der sozialen Frage die nationalen Reibungsflaechen beseitigt, durch Niederreissung der alten gesellschaftlichen Ordnung mit ihren Klassenprivilegien die Bahn fuer den Aufstieg von unten freigelegt und durch weitsichtige Planarbeit den Erfordernissen der Entwicklung in sozial ausgleichender Weise Rechnung getragen worden ist.
Die Sowjetunion zeigt aber auch Mittelschichten und Proletariat, dass ein Staatsapparat aufgebaut werden muss, dessen Dynamik nicht im Widerspruch zu dem Willen und den Interessen der grossen Volksmehrheit stehen, sondern in erster Linie dem Willen und den Interessen der Mehrheit des Volkes entsprechen.
Mit einer solchen Grundeinstellung kann die europaeische Zusammenarbeit der Schwerindustrie und ihres faschistischen Militaer- und Verwaltungsapparates abgeloest werden durch die europaeische Zusammenarbeit von Proletariat und Mittelschichten. Gesichert und gestuetzt durch die beiden europaeischen Weltgrossmaechte, England und die Sowjetunion, kann die Voelkervielfalt des Kontinents oekonomisch, sozial und geistig zur Voelkerfamilie reifen.
In der Aufgabe, die Ursachen und die Urheber des Zweiten Weltkrieges objektiv zu ermitteln, wird die staatspolitische Faehigkeit der Mittelschichten und des Proletariats des Kontinents ihren Pruefstein finden. Nicht nur die Mitschuldigen, die dem faschistischen Militaer- und Verwaltungsapparat tributpflichtig waren, sind zu ermitteln und zu bestrafen, sondern in erster Linie seine Beherrscher und deren Auftraggeber aus den sozialen Oberschichten.
Im europaeischen Voelkerleben muss ein neues Gleichgewicht herausgebildet werden. England und Sowjetunion vermoegen infolge ihrer europaeischen Verpflichtungen dabei als Helfer und Schiedsrichter [zu] wirken. Der Hauptanteil an den europaeischen Aufgaben faellt jedoch den Voelkern dieses Erdteils selbst zu. Die europaeische Gesundung ist nicht nur eine Aufgabe der Erziehung, die durch bessere Dosierung der verschiedenen Nationalismen geloest werden kann, sondern durch wirtschaftliche
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Planarbeit und Schaffung eines Staatsapparates, dessen Kommandohoehen von den unteren sozialen Schichten besetzt sind.
Die Weimarer Republik scheiterte, weil die tragenden, sozialen Schichten, Proletariat und Mittelschichten, ueber keine eigene, gemeinsame oekonomische und soziale Konzeption verfuegten. Sie scheiterte, weil ihre Traeger keinen beherrschenden Einfluss auf den Militaer- und Verwaltungsapparat zu gewinnen vermochten. So blieben die Eigengesetzlichkeiten des Kapitalismus und die Bewegungsgesetze des alten Militaer- und Verwaltungsapparates mit ihren internationalen Wechselwirkungen in Kraft. Die Siegerstaaten lehnten ab, die sozialen Traeger der Weimarer Republik als Fuehrer der deutschen Nation, selbst wenn sie Verstaendigungspolitik betrieben, anzuerkennen und vollendeten so die Voraussetzungen fuer den Kreislauf vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg.
Die kuenftige deutsche Innenpolitik muss deshalb von drei Leitmotiven getragen sein.
1. Herausarbeitung einer oekonomischen und sozialen Konzeption, die Karl Marx' gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisse zu beruecksichtigen sucht.
2. Radikale Umbildung des deutschen Staatsapparates in allen seinen Teilen, um mit dem alten Apparat auch seine politische und wirtschaftliche Dynamik zu beseitigen.
3. Die oekonomischen, sozialen und verwaltungstechnischen Reformen haben die Voraussetzungen dafuer zu schaffen, dass durch engere ueberstaatliche Zusammenarbeit der ausserrussischen europaeischen Staaten des Kontinents Verstaendigung nach West u n d Ost geschaffen wird.
Es gibt kein Zurueck zu Weimar, aber auch kein Zurueck zu Versailles. Ausgangspunkt aller deutschen Verwaltungsreformen sollte die Einstellung sein, dass Deutschland in seinen verbleibenden Grenzen eine staatliche Einheit, Kleinstaaterei ein historisch kurzlebiger Irrtum ist. Ausgangspunkt aller spezifisch oekonomisch-sozialen Reformen sollte sein, dass der ausserrussische europaeische
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Kontinent in seinen verbleibenden Grenzen ebenfalls eine Einheit mit unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen zur uebrigen Welt ist.
Der in der Praeambel zur Weimarer Verfassung auch fuer die Zukunft richtig zum Ausdruck gebrachte Wille der demokratischen Deutschen, erfordert zeitentsprechende Reformen auf allen Gebieten der deutschen Innenpolitik.
An die vom Hitlerregime durchgefuehrte Gaueinteilung des Reichsgebietes hat jede Nachkriegsordnung der inneren Gliederung des Reiches anzuknuepfen. Die Tendenz zum Einheitsstaat ist fortzuentwickeln. Die Verwaltungsmaschinerie ist zu vereinfachen. Unter Verzicht auf jede Laenderstruktur ist die bisherige mittlere Verwaltungsbehoerde, der Kreis, zum alleinigen Verwaltungstraeger zwischen Reich und Gemeinden zu machen. Der Kreis uebernimmt alle Funktionen der bisherigen unteren Verwaltungsbehoerden beziehungsweise der bezirksfreien Staedte als Aufsichtsorgan und wird unter Beseitigung der bisherigen Gau- resp. Laenderorgane der regionale Traeger der Verwaltungsaufgaben auf allen Gebieten [und] Sitz der Verwaltungsbehoerden fuer alle vom Reich uebertragenen innerpolitischen Aufgaben, soweit diese nicht reichszentrale Angelegenheiten sind.
Mit der Reichsreform wird dem verwaltungstechnischen Fortschritt gedient, der verkehrstechnischen Entwicklung Rechnung getragen, der besondere Charakter der Gebiete und der Bevoelkerung - unter Vermeidung partikularistischer Tendenzen der alten Laender - gewahrt und die Ueberorganisation der Verwaltung, ihr Leerlauf, entscheidend abgebaut.
Die Reichsreform, deren Unterbau die Gemeindereform zu bilden hat, ist in kurzen Etappen zu realisieren.
Eine Reichsgemeindeordnung hat Einheitlichkeit im Kommunalrecht herzustellen. Zu diesem Zwecke sind alle noch bestehenden Sonderrechte der Staedte zu beseitigen,
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soweit sie nicht als Grosstaedte die Funktion der Kreisinstanz auszuueben haben und deshalb unmittelbar der Reichszentralgewalt unterstellt werden.
Um nach dem System der gegenseitigen Hilfe und des Risikenausgleichs alle sozialen Lasten zwischen Stadt und Land gerechter zu verteilen, hat jedes Kreisgebiet einen Fuersorgeverband zu bilden, dem alle Gemeinden, einschliesslich der Kreisstaedte verpflichtet sind, beizutreten.
Die Staatsgewalt geht vom Volke aus, das sich seine Vertreter sowohl in die gesetzgebende und regierungsgebende zentrale Koerperschaft als auch in alle anderen oeffentlichen Koerperschaften nach demokratischen Grundsaetzen waehlt. Alle sozialen Privilegien werden beseitigt. Alle Buerger haben das gleiche Anrecht auf Erziehung, Arbeit, Aufstieg, sozialen und rechtlichen Schutz. Alle Buerger haben die gleichen sozialen und politischen Pflichten.
Die Uebergangsregierung, die fuer die Zeit der Durchfuehrung des grossen Reformwerkes gebildet wird, erlaesst unter gutachterlicher Mitwirkung aller geeigneten Fachkraefte souveraen alle erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen. Sie bildet im Rahmen der Friedensregelung die erforderlichen Ausfuehrungsorgane, die die Garanten der Neuordnung bilden, bis ihre Konsolidierung die etappenweise Liquidierung des Uebergangszustandes ermoeglicht und damit auch ihre Eingliederung in den allgemeinen Neuaufbau. Die Uebergangsregierung erlaesst bis zum Zeitpunkt ihrer Abloesung durch eine auf Grund des durchgefuehrten Reformwerkes gebildeten Reichsregierung alle gesetzlichen Bestimmungen sowie die zur Durchfuehrung der Friedensbestimmungen notwendigen Massnahmen. Sie fuehrt alle Massnahmen durch, die sie zur Herstellung einer dauerhaften Konsolidierung des grossen Reformwerkes und damit zur Beseitigung der sozialen Privilegien fuer erforderlich haelt. Diese Massnahmen schliessen die Suehne fuer begangene individuelle und staatsrechtliche Vergehen und Verbrechen ein.
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4. Reform des Verwaltungsrechts
Einer der entscheidenden Pfeiler der inneren Neugestaltung des Reiches muss die Reform des Verwaltungsrechtes sein. Der Dynamik des deutschen Staats - und Verwaltungsapparates muss eine grundsaetzlich andere Richtung gegeben werden. Die soziale Demokratie erfordert auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts eine modernisierte Anwendung der grossen Reformgedanken des Freiherrn von Stein[2].
Die Reste des Obrigkeitsstaates der kaiserlichen Vergangenheit muessen beseitigt und die Stuetzen der faschistischen Aristokratie aus der Verwaltung auf allen Gebieten restlos und ruecksichtslos entfernt werden, so wie es im Dritten Reich mit den demokratischen Elementen geschah.
Die Uebergangsregierung erlaesst die zur Durchfuehrung der Reinigungsaufgaben und zur Umbildung des gesamten Verwaltungsapparates erforderlichen Gesetze. Im Funktionsbereich des Dritten Reiches erworbene oder erhalten gebliebene Anspruchsrechte irgendwelcher Art sind als nichtig zu erklaeren. In der demokratischen Republik erworbene oder waehrend ihres Bestandes erlangte Ansprueche bestehen weder fort noch leben sie ohne weiteres nach dem alten Rechtszustand wieder auf. Das deutsche Beamtenrecht wird auf voellig neuer Grundlage entwickelt und die Uebergangsregierung erlaesst die erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen, ob und in welchem Umfange Verzahnungsbestimmungen mit den Rechtsverhaeltnissen der demokratischen Republik zu erlassen sind.
Die Reinigung und Umstellung der gesamten deutschen Verwaltung erfolgt in Etappen, deren letzte 3 Jahre nach der Machtuebernahme durch die Uebergangsregierung endet. Bis zu diesem Zeitpunkt muss sowohl die Reichs- als auch die Gemeindereform vollendet sein. In den Gemeinden erfolgen vor diesem Zeitpunkt Wahlen nach neuem Wahlrecht. Die Leitung der Gemeinden durch Berufsbeamte (Amtsbuergermeister) wird beseitigt. Die Selbstverwaltung wird zum Zwecke der Rueckbildung des alles beherrschenden Einflusses der Beamten ausgebaut und die entscheidende Mitwirkung des Laienelementes gesichert.
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Das gilt fuer alle Gebiete des Neuaufbaues, vor allem aber fuer die Gebiete der Erziehung, der Justiz und der Kommunalpolitik. Der deutsche Verwaltungsapparat muss seines bisherigen Charakters, Beherrscher des Volkes zu sein, entkleidet und zum Dienst am Volke erzogen werden. Dazu ist die Kontrolle der Reichszentralgewalt von oben und die Mitwirkung der demokratischen Elemente des Volkes von unten erforderlich.
5. Reform des Koalitionsrechts
Die oekonomisch-soziale Entwicklung in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen, mit dem stetig fortschreitenden Monopolisierungsprozess in der Wirtschaft, hat dem liberalen Koalitionsrecht ganz oder teilweise den Boden entzogen. Wenn in der demokratischen Republik voellig freies Koalitionsrecht existierte, das Dritte Reich hingegen nur Zwangsorganisationen kennt, ist der Neuaufbau gezwungen, eine Synthese zu suchen.
Da eine Rueckkehr in die privatkapitalistische Wirtschaft liberalen Gepraeges nicht mehr moeglich ist, sondern weitestgehende Planwirtschaft an ihre Stelle zu treten hat, muss auch das Koalitionsrecht seine entsprechenden grundsaetzlichen Wandlungen finden. Um deshalb bestimmten Organisationen neue Aufgabenbereiche zuweisen zu koennen, andere hingegen als dem Neuaufbau nicht dienlich in ihrer Wirksamkeit zu beschraenken, werden von der Uebergangsregierung auch fuer das Gebiet des Koalitionsrechts entsprechende Rahmenvorschriften erlassen. Was in der "Atlantic Charter" ueber das Koalitionsrecht gesagt ist, bildet den Ausgangspunkt.
Um die Zusammenarbeit zwischen Proletariat und Mittelschichten zu foerdern, wird ihnen durch die von der Uebergangsregierung erlassenen Rahmenvorschriften der Weg zur Koalierung auf den verschiedensten Taetigkeitsgebieten gewiesen.
Die Organisationen von Mittelschichten und Proletariat koennen fuer die staatspolitischen und gesellschaftlichen Aufgaben einer erheblichen Anzahl von Menschen die theoretischen und praktischen Erkenntnisse vermitteln und sie befaehigen, Dienst am Volke nach dem Grundsatz zu
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leisten, dass solche Organisationstaetigkeit zum Teil Gegenstand konstruktiver Kritik vom Standort der Interessen der Organisationsmitglieder, zum Teil Uebernahme staatspolitischer und sozialer Verantwortung bedeutet. Obwohl also im Prinzip die Grundrechte der Koalitionsfreiheit gewahrt bleiben, wird durch die Einfuehrung einer teilweisen Genehmigungspflicht der Zentralgewalt die Lenkung und Kontrolle der Organisationsbildung bis zur Konsolidierung des Neuaufbaues vorbehalten.
Durch diese Doppelfunktion der zugelassenen Organisationen wird ihnen jenes Mass von demokratischer Mitwirkung gesichert und jenes Mass an Selbstverantwortung auferlegt, das die Synthese zwischen Freiheit und Planung erfordert. Versagt die Selbstverantwortung, so greift die kontrollierende Staatsgewalt ein.
Religion, Kunst und Wissenschaft bleiben unangetastete, freie Betaetigungsgebiete.
6. Reform des Arbeits- und Sozialrechts
Von der Uebergangsregierung zu erlassene Rahmenvorschriften umgrenzen das Koalitionsrecht in Bezug auf die Bildung von Organisationen zur Wahrung wirtschaftlicher Interessen. Die ungezuegelte Taetigkeit wirtschaftlicher Organisationen darf den Neuaufbau nicht gefaehrden. Sie muss die uebergeordneten, allgemeinen gesellschaftlichen Interessen beachten. Die Verfechtung der besonderen Interessen durch Organisationen muss mit den Gesamtinteressen der Gesellschaft in vernuenftige Uebereinstimmung gebracht werden. Der Kampf fuer wirtschaftliche Sonderinteressen muss deshalb in eine obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit vor Instanzen mit oeffentlich-rechtlichen Charakter muenden, die in gesunder Abwaegung wirtschaftlicher Sonderinteressen und uebergeordneter gesamt-gesellschaftlicher Interessen im Streitfall entscheiden. Damit wird auch die Um- bezw. Rueckbildung des deutschen Beamtenrechts in entsprechende rechtliche Verzahnung gebracht.
Obwohl grundsaetzlich die Freizuegigkeit der Arbeitenden im reformierten Arbeitsrecht gewahrt bleibt, bringen einerseits die Friedens- und Waffenstillstandsbedingungen
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des verlorenen Krieges, andererseits die planwirtschaftlichen Erfordernisse nicht zu vermeidende Transferverpflichtungen zur Regelung des Arbeitsmarktes, die in beschraenktem Umfang Zwangsmassnahmen erfordern. Hierunter fallen besonders Bestimmungen fuer Arbeitspflichtleistungen fuer Jugendliche. Um groessere Bewegungsfreiheit in der amtlichen Arbeitsvermittlung mit dem Hoechstmass an Freizuegigkeit der Arbeitenden zu verbinden, werden bei den Kreisbehoerden fuer die einzelnen Kreise Arbeitsaemter in den allgemeinen Behoerdenaufbau eingegliedert.
Auf dem Gebiete des Sozialrechts ist ausserhalb Deutschlands, einschliesslich der Sowjetunion, keine grundlegende, fortschrittliche Aenderung eingetreten, die Anlass zu sein vermoechte, die bis zur Machtuebernahme des Hitlerregimes organisch gewachsene deutsche Sozialversicherung in der Richtung zu reformieren, dass das Reich zum alleinigen Traeger aller Sozialverpflichtungen wuerde. Aufgabe des oeffentlichen Arbeitgebers ist es, das Arbeitslosenproblem zu loesen. Es ist ferner Aufgabe des Reiches, die Lasten des Versorgungsgesetzes allein zu tragen. Darueber hinaus soll jedoch am Grundgedanken der deutschen Sozialversicherung unbedingt festgehalten werden.
Die kuenftige deutsche Sozialversicherung hat alle Buerger des Reiches zu erfassen. Der einheitliche Aufbau des Sozialbehoerdenapparates ist ein Teil der Reichs- und Gemeindereform. In einheitlichem Verfahrensrecht wird sowohl die Aufsicht und Kontrolle der Zentralinstanz festgelegt als auch die Grundlage des sozialen Rechts geschaffen, das dem einen Leistungsanspruch Erhebenden groesste Freiheit zur Verfechtung seines sozialen Rechtstitels bis in die hoechste Sozialrechtsinstanz mit geringstem Kostenaufwand sichert.
Das Kreditmonopol sichert dem Reich die Verfuegungsgewalt ueber die Ruecklagen der Reichsversicherung, sodass sie in zweckentsprechender Weise fuer den Produktionsprozess zur Verfuegung stehen.
Ein charakteristisches Kennzeichen der sozialen Demokratie bleibt in der Sozialverwaltung, dass einerseits die gesamte Reichsversicherung jeder privatkapitalistischen Geschaeftstaetigkeit entzogen [ist], waehrend sie andererseits
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demokratischer Mitwirkung und Selbstverantwortung ein grosses Betaetigungsfeld bietet. Die hoehere Aufgabe des Reiches liegt nicht in der universellen Uebernahme sozialer Leistungsverpflichtungen, sondern in der Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Reich, Kreise und Gemeinden als oeffentliche Arbeitgeber sind in Durchfuehrung dieser Aufgabe in der Lage, auf dem Gebiete des Bau- und Wohnungsmarktes ebenso wie auf dem der Volksgesundheit (Errichtung und Erhaltung von Kliniken aller Art, Krankenhaeuser, Genesungsheime, Forschungsstaetten, Kinderheime, Urlaubsheime usw.) den Versicherungstraegern die technischen Einrichtungen zu schaffen, die dem gesamten Volk als wertvollste Ergaenzung sozialer Leistungen zu dienen vermoegen.
Die Versicherungstraeger bleiben Koerperschaften oeffentlichen Rechts. In gesunder Dezentralisierung werden die Traeger der einzelnen Versicherungszweige in den allgemeinen Neuaufbau eingegliedert. Die Selbstverwaltung wird ausschliesslich den Versicherten uebertragen, im Verhaeltnis von 2/3 Vertretern des Proletariats und 1/3 Vertretern der uebrigen Volksschichten.
Fuer die gesamte Reichsversicherung wird ein Beitrag fuer Mindestleistungen erhoben, jedoch Rahmenvorschriften geschaffen, die Sonderbeitraege fuer Mehrleistungen von der Selbstverwaltung im Einzelfall zulassen.
Die freie Arztwahl bleibt gesichert. Innerhalb von Pauschalgrenzen haben die wirtschaftlichen Organisationen der Aerzte, Zahnaerzte, Dentisten usw. fuer Selbstkontrolle und Selbstverwaltung Sorge zu tragen. Wo sie nicht ausreicht oder versagt, greift auch auf diesem Gebiete die Aufsichtsbehoerde ordnend ein. Das Krankenhauswesen wird planmaessig ausgebaut.
Insgesamt soll die Reichsversicherung nicht ein Wettlauf um Leistungssteigerungen sein, sondern der Aufrechterhaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Hilfe auf der Grundlage des Rechtsanspruches unter weitestgehender Wahrung der Selbstverwaltung fuer die Versicherten dienen. Dem Reich sind angemessene Aufsichts- und Kontrollrechte einzuraeumen und eine angemessene Beteiligung an der Rentenlast aufzuerlegen. Die Kapitalreserven
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sind planmaessig der Produktion zuzufuehren. So dient der oeffentliche Arbeitgeber umgekehrt im Zuge der Arbeitsbeschaffung den Aufgaben der Volksgesundheit und dem sozialen Schutz in gleicher Weise.
Sowohl die Eigengesetzlichkeiten des kapitalistischen Systems als auch die neue nationale Ordnung, die aus der Friedensregelung unter den gebieterischen Einfluessen der Siegerstaaten hervorgehen wird, erfordern Lenkung und Kontrolle der Produktion und Konsumption. Die Synthese zwischen dem westlichen Kapitalismus und dem Staatssozialismus der Sowjetunion, die Kombination eines Hoechstmasses an individueller und kollektiver Freiheit mit umfassender Planung, sollen den veraenderten Wirtschaftsorganismus kennzeichnen. Die Ausweitung des Binnenmarktes erfordert eine bessere Verteilung des Nationaleinkommens und Kontinuitaet der Zirkulation. Dieses Ziel kann nicht auf dem alten Wege budgetaerer Politik und mit kurzfristigen Notstandsmassnahmen erreicht werden. Um ein reibungsloses Funktionieren des Wirtschaftsorganismus zu sichern, muss deshalb die Uebergangsregierung ueber alle erforderlichen Vollmachten und vor allen Dingen exekutive Gewalt verfuegen, um eine oekonomisch-soziale Konzeption auf weite Sicht planmaessig verwirklichen zu koennen.
Der Einfluss der Siegerstaaten unterbindet jede neue Expansion, erschwert Wettbewerbsfaehigkeit des deutschen Aussenhandels, macht die Fortfuehrung unlukrativer Ersatzstoffindustrien notwendig und engt die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit Deutschlands auf dem Kontinent besonders ein. Die Uebergangsregierung muss deshalb aus den mannigfachsten Gruenden der Reichszentralgewalt das Steuer-, Spar-, Kredit- und Aussenhandelsmonopol sichern. In einer Vermoegenskonfiskation ist der gesamten Grossindustrie und dem Grossgrundbesitz als Teilabloesung ihrer Schuld fuer Faschismus und Krieg der Boden jedes vorherrschenden Einflusses fuer immer zu entziehen.
Die Gemeinden und Kreise werden in entscheidender Weise an der Umgestaltung des Wirtschaftsorganismus beteiligt.
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Waehrend dem Reich die monopolistische Bewirtschaftung bestimmter Gebiete vorbehalten wird, erfolgt auf anderen Gebieten Gemischtwirtschaft unter Beteiligung von Reich, Kreis und Gemeinden, oder von Kreis und Gemeinden, oder auch Eigenwirtschaft des Kreises beziehungsweise der Gemeinde. Da das Reich ueber das Steuer-, Spar-, und Kreditmonopol verfuegt, kann die Zusammenarbeit planmaessig entwickelt werden durch Dezentralisation und zweckmaessige Aufteilung der Betaetigungsgebiete und Besitztitel zwischen den oeffentlichen Traegern von Produktionsstaetten.
Die deutschen Gemeinden, Bezirke und Laender verfuegen aus der Zeit der demokratischen Republik ueber einen Stamm von Menschen, die in ihrer ehrenamtlichen Taetigkeit als Gemeinde-, Bezirks- oder Laendervertreter sich auf den verschiedensten wirtschaftlichen Gebieten im oeffentlichen Interesse bewaehrt haben. Sie verfuegen auch ueber einen Stamm von Fachleuten der Kommunalwirtschaft, der in der Lage ist, die Bewirtschaftung von Grossindustrie und Grossgrundbesitz zu uebernehmen. Ein organisches Wachstum deutscher Kommunalwirtschaft in zweckmaessigster Proportionierung von Gemeinden, Kreis- und Reichsbeteiligung kann so gesichert werden. Organisch wird sich sowohl die zweckmaessigste Verteilung der Lasten als auch der unmittelbaren Bewirtschaftung entwickeln.
Die ersten gescheiterten Experimente der Sowjetunion und ebenso Fabrik- und Grossgrundbesitzbesetzungen, wie sie anderswo erfolgten, koennen vermieden, die spaeteren Erfahrungen der Sowjetunion sinnvoll genuetzt werden.
Konkrete Vorstellungen ueber solche Umwandlungen der Wirtschaft verhindern ideologische Verwirrungen, wie sie die Nachkriegszeit und die Periode des Faschismus sahen. Ein klarer, uebersichtlicher Gesamtaufbau ergibt sich. Der Eigengesetzlichkeit des kapitalistischen Systems wird Rechnung getragen. Die Enteignung vom Grossindustrie und Grossgrundbesitz, ihre Ueberfuehrung in oeffentlichen Besitz wird durchgefuehrt. Durch Beseitigung der sozialen Privilegien werden die Voraussetzungen geschaffen, die allen begabten Menschen aus dem Proletariat und den bisherigen Mittelschichten den Aufstieg zu neuen Betae-
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tigungsgebieten gewaehrleisten. Gemaess den Erfahrungen, die in der Sowjetunion zur NEP-Politik zwangen, bleibt individueller Initiative ein Betaetigungsfeld auf allen Gebieten gewahrt, Besitz privaten Eigentums in begrenztem Rahmen zulaessig. Die Grenze der Rechte des privaten Eigentums ist dort, wo das oeffentliche Interesse ueberwiegt oder wo das private Privileg sich als nachteilig fuer die Gemeinschaft erweist.
Demokratischer Entwicklung wird weitestgehend Rechnung getragen. Die Reichs- und die Gemeindereform schaffen die Voraussetzungen dafuer, dass alle Volkskraefte von unten auf in die Mitarbeit an der neuen staatlichen und sozialen Ordnung hineinwachsen koennen. Das neue Buerger-, Koalitions-, Beamten-, Arbeits- und Sozialrecht bringt neue Rechtsnormen, die einerseits den bisher alles ueberwuchernden Einfluss der Beamten zurueckbilden, auf der anderen Seite jedoch auf allen Gebieten ehrenamtlicher Laienaktivitaet und verantwortungsbewusster Fuehrung durch die unteren sozialen Schichten freie Bahn schaffen. Die soziale Demokratie kann sich entfalten.
Die in ihrer Struktur veraenderte Exekutive des Reiches, die dem Wandel der Gesellschaft folgt, gehoert in die verlaesslichen Haende befaehigter Menschen aus Proletariat und Mittelschichten, die sich fuer das Regierungshandwerk - im hier theoretisch entwickelten hoeheren Sinne - qualifizieren. Den bisherigen sozialen Oberschichten, die aus egoistischen Klasseninteressen, die vom Standort des Finanzkapitals, der Grossindustrie oder des Grossgrundbesitzes her, immer wieder die Macht in Staat und Gesellschaft und damit die Fuehrung der Nation fuer ihre imperialistische Politik an sich gerissen haben, wird die soziale Grundlage entzogen. Reich, Kreise und Gemeinden uebernehmen als Traeger wirtschaftlicher Grossbetriebe im oeffentlichen Interesse die Funktionen des Arbeitgebers. Obwohl ein wesentlicher Teil des Mechanismus des kapitalistischen Systems in Kraft bleibt, ist dem fortgesetzten Draengen des privaten Monopolisten zur Macht jede Betaetigungsmoeglichkeit geraubt.
Die neuen Traeger der Wirtschaft sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Die Arbeitslosigkeit kann gebannt und so stetig Mehrwert im gesamtgesellschaftlichen Interesse er-
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zeugt werden. Aus den Gemeinden und Kreisen, aus den Reichsbetrieben wird der oekonomische Generalstab wachsen, der im Zentralwirtschaftsamt seine Organisation finden soll. Das Zentralwirtschaftsamt vereinigt die Binnenmarkt- und Aussenhandelsexperten.
Auf der einen Seite waechst so, alle regionalen Interessen des Reiches von den unteren wirtschaftlichen Zellen der Gemeinden auf umschliessend, der innere Wirtschaftsorganismus zusammen, der fuer den Aussenhandel im Weltbereich unter Beruecksichtigung gleicher Motive und Ziele seine zweckentsprechende Uebertragung findet. Die Aussenpolitik ist weniger politisch-diplomatische Domaene als eine oekonomische und soziale Aufgabe, an der wiederum nach den gleichen Grundsaetzen wie im inneren Aufbau alle Volkskraefte von unten auf mitwirken koennen.
Unbeschadet aller trennenden Verhaeltnisse, innerpolitische[r] und oekonomisch-soziale[r] Gelegenheiten der uebrigen ausserrussischen kontinentalen Staaten und unbekuemmert [der] Spannungen, die die erste Nachkriegszeit ueberschatten werden, koennen in einem internationalen Wirtschaftsamt fuer den Kontinent die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen organisch auf weite Sicht entwickelt werden. Gemeinsame Interessen des Kontinents koennen in diesem internationalen Wirtschaftsamt ihren Ausgleich finden. Ueber die oekonomische Zentrale des Kontinents, die keineswegs in Deutschland ihren Sitz haben soll, koennen die verschiedensten Laenderinteressen mit gleichen oder aehnlichen Einrichtungen im uebrigen Weltbereich sich kombinieren.
Der in seiner Struktur grundlegend zu veraendernde Wirtschaftsorganismus erfordert auch die Modernisierung der liberalen Freiheitsrechte. Wenn auch im Gegensatz zur Sowjetunion, wo freier Betaetigung wirtschaftlicher Interessenorganisationen der Boden entzogen ist, diese Loesung wegen der damit verbundenen allgemeinen und nachteiligen politischen Konsequenzen bewusst unterbleibt, ist es dennoch notwendig, das Koalitionsrecht wesentlich - wie bereits dargelegt - zu veraendern.
Abgesehen von den Massnahmen, welche die Lenkung und Kontrolle der Gesamtproduktion und Konsumption erfordern,
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bleibt die soziale Position des Mittelstandes als Eigentuemer von Produktionsmitteln von gesetzlichen Eingriffen verschont. Gleich dem Proletariat wird jedoch auch fuer die bisherigen Mittelschichten eine soziale Sicherheit in Gestalt einer umfassenden Reichsversicherung geschaffen, die alle Buerger umschliesst. Der Proletarisierungsprozess, der trotz der gegen die Mittelschichten unterbleibenden Konfiskation - wenn auch in beschraenktem Umfange und gemindertem Tempo infolge der Strukturwandlungen des Gesamtwirtschaftsorganismus - fortdauert, findet so eine soziale Einrichtung, die Proletariat und Mittelschichten organisch staerker zusammenfuehrt. Die Synthese zwischen dem Staatssozialismus der Sowjetunion und dem Kapitalismus des Westens findet hierin ihren praegnantesten Ausdruck.
Das Proletariat braucht einerseits Organisationen zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen gegenueber Reich, Kreisen und Gemeinden als Arbeitgeber, andererseits gegenueber den Mittelschichten und Genossenschaftsbildungen, soweit sie als Besitzer von Produktionsmitteln auftreten. Die Mittelschichten brauchen ebenfalls Organisationen zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen, einerseits als Arbeitgeber gegenueber dem Proletariat, andererseits gegenueber Reich, Kreisen und Gemeinden gemeinsam mit dem Proletariat.
Es wird sich so ein Zustand herausbilden, in dem ein Teil der fuehrenden Menschen aus Proletariat und Mittelschichten in den verantwortlichen oekonomisch-sozialen Positionen von Reich, Kreisen und Gemeinden ehren- und hauptamtlich als Arbeitgeber taetig [ist], waehrend auf der anderen Seite ein anderer Teil der fuehrenden Menschen aus Proletariat und Mittelschichten die wirtschaftlichen Interessen ihrer Organisationsmitglieder vertr[itt]. Die Erkenntnis, dass die Geschichte das Ergebnis von Klassenkaempfen ist, wird gepaart mit der Einsicht, dass der initiative und ordnende Apparat des Staates nicht nur nicht zu entbehren ist, sondern waehrend der grossen revolutionaeren Umwaelzung der Gesellschaft erhoehte Bedeutung hat. Entscheidend bei dem Umformungsprozess ist jedoch, dass die Minoritaetsherrschaft der Oberschichten durch Beseitigung ihrer Privilegien und Entreissung ihrer Kommandogewalt ueber Heer und Verwaltung, auf der
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ihre Herrschaft beruht hat, gesprengt wird.
Was immer im privatkapitalistischen System des Westens an finanztechnischen Loesungen gesucht und gefunden wird, um das bereits akkumulierte Kapital, das krisenverschaerfend ruht, der Produktion auf irgendeine Weise wieder zuzufuehren und damit die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, die den Staat beherrschende Minoritaet der Oberschichten wird selbst im Falle des Gelingens dieses Vorhabens nicht zulassen, die wirtschaftlichen Organisationen des Proletariats und der Mittelschichten auf der alten liberalen Klassenkampfbasis in vollem Umfang wiederherzustellen. Die Minoritaet der Oberschichten wird in solchem Falle die Funktion des Staatsapparates entsprechend veraendern. Gelingt aber die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ueberhaupt nicht, so faellt allein durch das Vorhandensein der Arbeitslosenarmee von selbst eine wesentliche Voraussetzung zum erfolgreichen sozialen Kampf des Proletariats um hoeheren Lebensstandard mit Hilfe der alten Kampforganisationen.
Da weder diese Voraussetzungen des privatkapitalistischen Systems im Reich fortbestehen werden, noch das Reich als einziger Arbeitgeber funktioniert, ergibt sich klar die Stellung der deutschen Verhaeltnisse. Reich, Kreise und Gemeinden als Arbeitgeber haben das Arbeitslosenproblem unter massgebender Mitwirkung von Vertretern des Proletariats und der Mittelschichten zu loesen. Freilich beduerfen auch hier die Preis- und Lohnpolitik der Lenkung und Kontrolle durch die politische Zentralgewalt.
Der soziale Kampf der wirtschaftlichen Interessenorganisationen muss deshalb in eine Schiedsgerichtsbarkeit muenden, die oeffentlich-rechtlichen Charakter hat und deren Urteile verpflichtend fuer beide Parteien sind.
Da das Reich nicht als der einzige Unternehmer wie im russischen System wirkt, entfallen auch die wesentlichsten Voraussetzungen dafuer, das Reich zum alleinigen Traeger aller Sozialverpflichtungen zu machen.
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V. Die Stellung der Uebergangsregierung
Jede politische und oekonomisch-soziale Konzeption ist zunaechst nur Teil der Vorstellung. Da sie jedoch mehr oder weniger bereits konkrete Vorstellung ist, kann sie Plattform zur Sammlung solcher Kraefte werden, die einen neuen Ausgangspunkt fuer gemeinsames Handeln suchen. Kann der Beweis erbracht werden, dass die historischen Voraussetzungen, auf die die neuen Verhaeltnisse sich gemaess dem entwickelten Grundriss aufbauen sollen, in den wesentlichen Grundzuegen richtig erkannt worden sind, so waechst die Bereitwilligkeit der zur Sammlung draengenden Kraefte zum gemeinsamen Handeln.
Die moderne freie Arbeiterbewegung des Deutschland vor Hitler hat viele Fehler begangen, die die Nutzung ihres Erfahrungsgutes zur Pflicht werden lassen. Diese Erkenntnis darf uns jedoch gegenueber den positiven Leistungen nicht blind machen. Beides rueckschauend, objektiv nach den damaligen politischen und gesellschaftl[ichen] Bedingungen gewertet, wird die Kritik erheblich mildern, die oft an der Haltung der deutschen Demokratie und den demokratischen Sozialisten geuebt wird.
Fuer die Zukunft kann jedoch inmitten der alle alten Werte und Vorstellungen mit sich reissenden Stroemung das Suchen nach neuen Ufern nur zum Erfolg fuehren, wenn aufgeschlossene Sinne und konstruktives Wollen antreibende Faktoren sind. Wenn deshalb die Bruecke zur Vergangenheit als unwiederherstellbar abgebrochen betrachtet wird, so muss dies erst recht fuer die alten und neuen sozialen Oberschichten gelten. Sie muessen ihr aus Habgier und Herrschsucht betriebenes Spiel verlieren.
Das ist unzweifelhaft der zukuenftige Wille der Mehrheit des deutschen Volkes. Und der Machteinsatz der Siegerstaaten sollte ihn weder verfaelschen noch brechen. Nur gestuetzt auf die Macht der Siegerstaaten koennen sich die deutschen sozialen Oberschichten wiederum eine Macht schaffen. Sie werden deshalb nach der militaerischen Niederlage des Dritten Reiches ihr Schicksal zunaechst vertrauensvoll in die Haende der westlichen Siegerstaaten legen. Die Oberschichten hoffen, dass die Militaermaschinerie der grossen Siegerstaaten, durch den deutschen Militarismus und Faschismus einmal in Bewegung gesetzt, sich gegen die deutschen Mittelschichten und das Proletariat wenden wird.
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Ohne Zweifel werden die Siegerstaaten zunaechst die Garanten jeder Uebergangsregierung sein, gleichgueltig, welche Kraefte sie bilden. Wenn aber die Geschichte einen Sinn und die Verstaendigungsbemuehungen zwischen der Sowjetunion und den westlichen Grossmaechten Erfolg haben sollen, ist die Bildung und der Charakter der deutschen Uebergangsregierung eine der Kardinalfragen der Zukunft.
Die Uebergangsregierung muss stabil sein und die grundlegenden Reformen durchfuehren, bis die Neuordnung konsolidiert und von unten auf die Mitwirkung aller positiven Volkskraefte in Freiheit und sozialer Demokratie gesichert ist. Im deutschen Proletariat und den deutschen Mittelschichten sind die Kraefte lebendig, die diesen Weg entschlossen unter absolutem Bruch mit dem Imperialismus und den Halbheiten demokratischen Wollens und Nichtkoennens zu gehen vermoegen. Aus diesen Kreisen und nur aus ihnen, sind auch die einsatzfaehigen Menschen, die in der demokratischen Periode noch zu schwach und im Ausland infolge der internationalen Klassenerwaegungen nach dem Ersten Weltkrieg nicht genuegend anerkannt wurden, zur Verfuegung, der Dynamik Deutschlands eine andere Richtung zu geben. Es liegt deshalb an den Siegerstaaten in West und Ost, ob mit diesen Kraeften ein neues Europa geschaffen wird oder ob sie fuer ihre Zielsetzungen als Opposition ringen muessen.
Ist Wille und Ziel klar, dann kann auch die Technik der Machtueberleitung entwickelt werden, die beruecksichtigen muss, dass es unter dem deutschen gegenwaertigen Regime spontane Revolutionen nicht geben kann. Den deutschen Militarismus zu beseitigen, die Herrenvolkmentalitaet und das sogenannte Preussentum auszurotten, ist keine reine Erziehungsangelegenheit. Die gesellschaftlichen und oekonomischen Verhaeltnisse mit ihren Auswirkungen muessen geaendert werden, dann aendern sich mit ihnen auch die Menschen.
Was die unteren sozialen Schichten erstreben, ist nicht modifizierter Faschismus in entsprechend veraenderter nationaler Dosierung, sondern sinnvolle Realisierung der Prinzipien der "Atlantic Charter": Die soziale Demokratie.
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