SOZIALISTISCHE MITTEILUNGEN

News for German Socialists in England

This Newsletter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

Nr. 47 - 1943

Anfang Maerz

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Seitdem die Nazis gezwungen waren, die Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad zuzugeben, versuchten sie, den Eindruck zu erwecken, als ob Deutschland noch ueber betraechtliche Reserven verfuege.[1]

Zahlreiche Verordnungen sind erlassen worden mit dem Zweck, diese Reserven zu mobilisieren, obwohl Goebbels in seiner letzten Rede keinen Zweifel darueber liess, dass er in erster Linie die "totalste" politische Mobilisierung erzielen wollte.[2] Die Erfinder des Begriffs der Totalitaet sprechen nach 3,5 Jahren Krieg vom totalen Krieg im Superlativ, genau so wie sie vor einem Jahre ploetzlich entdeckten, dass "einfache Planung" in "totale Planung" verwandelt werden kann. Damals wie heute bedeuteten diese Massnahme nichts anderes als weitere Einschraenkungen im zivilen Verbrauch und in der zivilen Produktion.

Was steckt hinter dieser Verwirrung? Noch im Dezember des vergangenen Jahres waren die Nazis ueberzeugt, dass die Gebiete, die mit grossen Opfern in Russland erobert worden waren, fuer immer gehalten werden koennten. Deutschland erlebte von Ende August 1942 bis in den Dezember hinein ein wahres Gruendungsfieber. Die Zahl der "Ostgesellschaften" wuchs taeglich. Sie umfassten alle Zweige des Wirtschaftslebens, vom Bergbau und der Erzeugung von Elektrizitaet bis zur Produktion von Zigaretten und Dauerwuersten. Die "Gebietslandwirte" veroeffentlichten zur gleichen Zeit optimistische Berichte ueber die Herbstbestellung. Kurzum, alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass die Nazis die eroberten Gebiete mit allen Kraeften nutzbar machen wollten.

Der Hauptzweck war die Versorgung der Truppen an Ort und Stelle. Kohle und Erdoel sollten gewonnen werden

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fuer die Entlastung der Produktion in Deutschland. Fabriken wurden wieder hergestellt, um als Reparaturzentren fuer die Armeen zu dienen. Es ist klar, dass dieser Plan Zeit brauchte und vor allen Dingen stabile Fronten. Diese Hoffnungen sind nun voellig ueberraschend fuer die Nazis und endgueltig zerschellt.

Die wertvollsten Gebiete sind bereits wieder in russischer Hand oder wiederum Kampfgebiete geworden. Gleichzeitig muessen hunderttausende Soldaten und grosse Mengen Kriegsmaterial ersetzt werden, wenn die deutsche Armee wieder auf den Stand vom Fruehjahr 1942 gebracht werden soll.

Hier beginnt das eigentliche Problem. Der Jahrgang 1925, der wahrscheinlich im vergangenen Herbst eingezogen wurde, kann im guenstigsten Falle 500.000 ausgebildete Soldaten fuer das Fruehjahr bereit stellen. Mindestens die gleiche Anzahl ist notwendig, um die Gesamtverluste waehrend der russischen Offensive, die ja noch nicht beendet ist, zu decken. Die letzten Reserven sind aber ohne Zweifel die bisher unabkoemmlichen Ruestungsarbeiter und Beamten. Goebbels war gezwungen, diese unangenehme Wahrheit auszusprechen.

Glauben die Nazis wirklich dass die letzten qualifizierten Arbeiter aus der Ruestungsindustrie herausgezogen werden koennen, ohne die gesamte Produktion zu gefaehrden?

Darueber duerfte kein Zweifel sein, dass man diese Arbeiter rein zahlenmaessig durch Frauen ersetzen kann. Um eine moeglichst grosse Zahl von neuen Arbeitskraeften bereit zu stellen, erliess Dr. Funk die Verordnungen zur Schliessung von Einzelhandelsgeschaeften und Handwerksbetrieben, waehrend gleichzeitig die Produktion von Moebeln und anderen Gebrauchsgegenstaenden fuer zivilen Bedarf einfach eingestellt worden ist.

Das Gedaechtnis der Herr[e]n Speer, Schieber[3], Funk und Goebbels scheint sehr schwach geworden zu sein. Wenige Wochen vor Stalingrad wurde ausdruecklich versichert, dass keine Einzelhandelsgeschaefte mehr geschlossen werden sollten. Die Begruendung, dass weitere Schliessungen nur neue Schwierigkeiten in der Versorgung hervorrufen wuerden, entsprach durchaus den Tatsachen. Unter den Handwerkern sind schon seit langem keine ueberfluessigen Arbeitskraefte zu finden. Sie sind seit einem Jahre im wahrsten Sinn des Wortes voll mobilisiert, entweder fuer Kriegsarbeit oder fuer Reparaturarbeiten in den von Bom-

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ben zerstoerten Staedten. Die noch vorhandenen Arbeitsreserven unter den Frauen sind fast ausschliesslich verheiratete Frauen. Kurzum, Deutschland hat keine voll arbeitsfaehigen Reserven mehr. Wenn die Verluste in der Armee ersetzt werden, muss die Produktion die schon seit langer Zeit fast ausschliesslich Kriegsproduktion ist, leiden.

Die Aufgabe, die sich die Nazis nach der ersten grossen Niederlage gestellt haben, ist darauf gerichtet, die vorhandenen Kraefte neu zu gruppieren. Sie sind ohne Zweifel in der Lage, mehr Arbeitskraefte an den Brennpunkten der Produktion zu konzentrieren in der Hoffnung, dass zwei, drei oder mehr Arbeiter und Arbeiterinnen einen qualifizierten Arbeiter ersetzen koennen.

In der Wehrmacht werden ohne Frage die schon vom vergangenen Kriege bekannten "Mordkommissionen" an der Arbeit sein, um die gelichtete Reihen der Feldtruppen wieder aufzufuellen. Die Arbeits- und Wirtschaftsaemter und die militaerische Verwaltung arbeiten zur Zeit mit aeusserster Anstrengung, um die notwendige Umgruppierung so schnell wie moeglich zu beenden. Das Ergebnis wird eine allgemeine Verschlechterung der Produktion und der Leistungsfaehigkeit der Armee sein.

Auf finanziellem Gebiet ist bereits angekuendigt, dass die Steuern, insbesondere die Einkommensteuer, erhoeht werden. Die Boerse ist praktisch geschlossen, und weitere Massnahmen, die das gesamte Wirtschaftsleben vereinfachen sollen, stehen bevor. Diese geheimnisvolle Wendung wird nun seit mehr als 6 Jahren gebraucht, um die groebsten buerokratischen Auswuechse abzubauen mit dem Ergebnis, dass neue Aemter und neue Kommissare mit neuen Titeln und Aufgaben erscheinen.

Aus den besetzten und abhaengigen Laendern ist kaum groessere Hilfe zu erwarten, selbst wenn sich - wie im Fall der Tschechoslowakei - K. H. Frank, Moravic[4] und Hacha persoenlich an "ihre" Voelker wenden. Die Wirtschaftskraft dieser Laender ist ruecksichtslos ausgeschoepft worden. Die deutsche Wirtschaft selbst ist kaum noch in der Lage, auslaendische Arbeiter aufzunehmen. Das ist die Situation, der die Nazis nach 3,5 Jahren Krieg gegenueberstehen.

Vom rein wirtschaftlichen und militaerischen Standpunkt aus gesehen, muessen Deutschlands Kraefte hoff-

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nungslos geringer werden. Die Nazis sehen deshalb ihre einzige Rettung in der Politik. Sie versuchen mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfuegung stehen, die Koalition der Vereinigten Nationen zu sprengen oder wenigstens unwirksam zu machen. Das Mittel ist der Bolschewistenschreck und neuerdings wiederum die juedische Weltgefahr. Gleichzeitig hoffen sie, dass die naechsten zwei bis drei Monate ausreichen werden fuer die Neugruppierung der Kraefte, die ihnen noch verblieben sind. Im vergangenen Jahre waren sie erfolgreich, und der absolute Zwang, weiter kaempfen zu muessen, gibt ihnen die Hoffnung, dass es auch in diesem Jahre wieder gelingen wird.

Mit dieser Ueberschrift gibt der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschland, Sitz London, wieder einen kleinen Bericht heraus, der die ihm zugegangenen Informationen ueber die Lage in Deutschland und ueber die Entwickelung der allgemeinen Stimmung unter dem Eindruck der deutschen Niederlagen in Nordafrika[5] und in Russland enthaelt und eine wachsende Unruhe an der innerdeutschen Front erkennen laesst.

Die letzte Goebbelsrede laesst zwar klar erkennen, dass die innere Stimmung im Dritten Reich in den letzten Wochen eine weitere wesentliche Verschlechterung erfahren hat, trotzdem sind die Informationen, die die SPD in englischer Sprache herausgibt, fuer die Entwickelung des Stimmungszerfalls im Dritten Reich und fuer den Stand an der Jahreswende sehr interessant und wichtig. Von Muenchen und Hamburg wird von spontanen Demonstrationen berichtet, die in einem Falle den Charakter einer Friedensdemonstration angenommen hatte. Ueber Sabotagefaelle, langsameres Arbeiten und verschaerften Terror gegen Ruestungsarbeiter in Metallbetrieben wird berichtet, von Strafaktionen gegen Frontsoldaten, von zweifelnden Nazis und von der Angst vor den Folgen der Niederlage, insbesondere in buergerlichen und industriellen Kreisen. Es wird jedoch auch von der wachsenden Zuversicht in der sozialistischen Opposition berichtet und der Hoffnung auf das baldige Ende der Hitlerdiktatur, von einem "Wiedersehen im Jahre 1943" usw.

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Es ist von besonderer Bedeutung fuer die militaerische Leistung der Roten Armee - deren 25. Geburtstag in diesen Tagen begangen wurde - und fuer die materielle Widerstandskraft des Sowjetstaates in diesem Kriege, dass dem oekonomischen Aufbau der UdSSR von Anbeginn an starke wehrwirtschaftliche Zuege anhafteten.

Aussenpolitische Drohungen und Gefahren, die mitunter durch Propaganda dem Sowjetvolk in vergroesserten Dimensionen gezeigt wurden, begleiteten das neue Russland durch alle Phasen seiner Existenz hindurch. Fuenf Jahre dauerte allein die Liquidierung der Weissen Armeen und der auslaendischen Interventionen, die die Machtergreifung des Bolschewismus nach sich gezogen hatte, denn im Herbst 1922 erst erlangten die Sowjets die volle Kontrolle ueber Russlands fernoestliche Gebiete, die von Japan besetzt gehalten worden waren. Russland hatte somit schwerer und laenger durch die Ereignisse des letzten Weltkrieges gelitten als irgendein anderer europaeischer Staat: Die voellige Desorganisation des Verkehrs, der Rueckgang der russischen Metallproduktion auf das Niveau des 18. Jahrhunderts erforderte zunaechst die Wiederherstellung des oekonomischen Status quo von 1913 und was an ueberschuessigen Energien vorhanden war, das musste auch im Wirtschaftssektor der Staerkung der sowjetischen Wehrkraft und der Verhinderung neuer Interventionen zugewendet werden. Die Plan- und Aufbauperiode im Sowjetstaate kann erst 1928 beginnen.

Die erste Planperiode 1928-1932 steht noch unter dem Eindruck der Ereignisse nach 1917, aber auch schon im Zeichen neuer Gefahren, die bes[onders] im fernoestlichen Sektor aufsteigen, der zweite Fuenfjahr[es]plan 1933-1937 liegt in einer Zeit, in der sich die leitenden Persoenlichkeiten des Sowjetstaates wohl zu jeder Stunde der Moeglichkeit einer neuen Weltkatastrophe bewusst waren, und die dritte Planperiode, 1938-1942, reicht mitten in diese Katastrophe hinein. Wenn die Sowjetunion weit empfindlicher auf alle internationalen Spannungen reagierte als andere Grossmaechte, so liegt dies u.a. in der Tatsache, dass das Territorium der Sowjetunion mit den beiden potentiellen Krisenherden, dem europaeischen und dem fernoestlichen, in unmittelbarem Zusammenhang steht und bei-

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de aggressiven Imperialismen, der deutsche wie der japanische, ihren Blick auf Russland lenken.

Das Resultat der Planpolitik ist angesichts dieser aussenpolitischen Lage in allen drei Perioden: Erfuellung, ja sogar gelegentlich Ueberschreitung des der Schwerindustrie gesteckten Zieles, und ebenso regelmaessig die Nichterfuellung der "Kontrollziffern", die fuer die Verbrauchsgueterindustrie vorgeschrieben sind. Besondere Schmerzenskinder sind die Textil- sowie die Zuckerindustrie, deren Produktion nach dem ersten Planjahrfuenft nicht nur nicht gestiegen ist, sondern sogar unter dem Niveau des ersten Planjahres lag. Im zweiten Planjahrfuenft wurde der Warenhunger der Sowjetmassen hingegen immerhin soweit befriedigt, dass die Lebensmittelrationierung abgeschafft werden konnte. Dennoch bleibt die Erklaerung Molotows vom Maerz 1937 fuer den zweiten Fuenfjahr[es]plan kennzeichnend:

"Wir mussten ernste Korrekturen in unserm Industrieplan vornehmen. Ebenso wie waehrend des ersten Planjahrfuenfts hatten wir mit Ruecksicht auf die internationale Situation die Entwicklung unserer Verteidigungsindustrie zu beschleunigen. Diese Tatsache machte verstaerkte Entwicklung der schweren Industrie auf Kosten der leichten Industrie notwendig."

Was schliesslich den dritten Fuenfjahr[es]plan anbelangt, so zeigt schon ein Blick auf die Entwicklung des Sowjetbudgets, wie die Finanzmittel des Staates in wachsendem Masse in den Dienst der Roten Armee gestellt werden und wie infolgedessen alle anderen Plaene und Aufgaben des Staates zurueckgestellt werden mussten. Noch im Jahre 1938 war das Verhaeltnis der drei Hauptausgabeposten des Sowjetbudgets: volkswirtschaftliche Investition, Sozial- und Kulturausgaben und Verteidigungsausgaben wie 10:7:5. Die Verteidigungsausgaben waren noch an letzter Stelle, und dennoch waren sie schon gross genug, um vieles andere nicht mehr in Erfuellung zu bringen. 1939 hatten die Verteidigungsausgaben die Sozial- und Kulturausgaben des Budgets leicht ueberfluegelt, das Verhaeltnis zwischen den drei Posten war ungefaehr 3:2:2, und im Jahre 1940, dem letzten Friedensjahr der Sowjetunion, waren die Ausgaben fuer wirtschaftl[iche] Investition[en] und fuer die Staatsverteidigung fast gleich hoch gemaess Haushaltvoranschlag. In Wirklichkeit waren die Verteidigungsausgaben vermutl[ich]

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hoeher mit Ruecksicht auf den "Finnenmarsch" und die Besetzung der baltischen Staaten. Hierbei ist auch nicht beruecksicht[igt], dass der Posten "wirtschaftliche Investitionen" logischerweise indirekte Ruestungsausgaben enthalten muss. Die Unterstreichung des wehrwirtschaftlichen Charakters im Sowjetaufbau soll keineswegs an der Tatsache ruetteln, dass die Fuenfjahr[es]plaene nicht wenig schufen, was eine dauernde Bereicherung und Staerkung der UdSSR darstellt. Viele dieser stolzen Werke der Fuenfjahr[es]plaene sind von Hitlers Armeen in Truemmer und Asche verwandelt worden, aber diese grossen Bauten und ihre industrielle Ausruestung sind nur ein Teilergebnis der "Plaene", das andere Ergebnis ist der pflichteifrige, qualifizierte und verantwortungsbewusste Sowjetarbeiter, den der Nazismus nicht vernichten konnte.

Diesem Sowjetbuerger wenden sich heute die Sympathien der freien Welt zu: Moege er nicht nur die Stunden der Gefahr siegreich ueberwinden, sondern auch zu einer geistigen Klarheit gelangen, die ihn zum dauernden Freund der Voelker des Westens und der demokratischen Arbeiterbewegung macht.

Der in der letzten Nummer der SM zitierte Artikel Prof. Harold Laskis hat Aeusserungen internationaler Sozialisten zur Folge gehabt, von denen die ersten drei in der Febr[uar]-Nummer der "Left News" abgedruckt sind.

Alfred J. Dobbs, der Vorsitzende des Exekutiv-Komitees der Labour Party, schreibt u.a. "Die Zweite Internationale war vielleicht das erste Kriegsopfer: gegenwaertig befindet sie sich in einem Zustande vorlaeufiger Leblosigkeit. Ihre aktiven Mitglieder sind in der ganzen Welt verstreut und haben keine Aussicht, sich in absehbarer Zeit, wenn ueberhaupt, wieder zu treffen. Selbst wenn sie es taeten, waere es zweifelhaft, ob das einen Nutzen haette, angesichts der Leidenschaften, die der Krieg erzeugt hat. Da das so ist, muss eine neue Internationale errichtet werden. Um wirksam zu sein, muss sie aus Vertretern bestehen, die, wenn sie im Namen ihrer Laender sprechen, ein gemeinsames Ziel haben muessen und auch ueber die Massnahmen einig sein muessen, die zu diesem Ziel fuehren. Jenen, die Gelegenheit hatten, sozialistische Fluecht-

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linge waehrend des Krieges zu treffen, scheint das gemeinsame Ziel, das Laski fuer noetig erklaert, noch in weiter Ferne zu liegen. Ich glaube sagen zu koennen, dass eine Einigung zwischen Polen, Tschechen, Belgiern, Hollaendern und Norwegern ueber die einseitige Abruestung Deutschlands moeglich waere. Aber die Deutschen und Oesterreicher wuerden wahrscheinlich nicht zustimmen. Norwegen, Schweden und Daenemark, die vor dem Kriege bruederlich verbunden waren und Finnland als ihren naechsten Vetter betrachteten, stehen jetzt infolge der verschiedenartigen Aktionen, die ihre Laender unternommen haben, nicht mehr so eng zusammen, und es wird wohl einige Zeit vergehen, bis die Differenzen zwischen ihnen beigelegt sind. Dann wieder sind die Polen und Norweger sicherlich anti-deutsch, aber viele von ihnen sind auch anti-russisch. Ich erwaehne das nicht, um Laskis Vorschlaegen zu widersprechen, sondern um einige der Schwierigkeiten zu zeigen, die ihnen im Wege stehen." Dobbs sagt dann, es sei wahr, dass in der britischen Arbeiterbewegung Differenzen bestehen, bes[onders] in internationalen Fragen. Als Beispiel fuehrt er Laskis Forderung an, die Abruestung Deutschlands und die Zerstoerung der sozialen und oekonomischen Grundlagen des Militarismus zu fordern, aber die Auferlegung eines Rachefriedens zu verhindern. Da der erste Teil dieser Forderung auf eine Kontrolle der potentiellen Kriegsindustrie Deutschlands hinauslaeuft, wuerde er von vielen wahrscheinlich als Rachefrieden bezeichnet und verurteilt werden. "Die offizielle Haltung kann von der Arbeiterbewegung entschieden werden, aber ich bin nicht sicher, dass das Problem damit geloest waere." - Im Gegensatz zu Dobbs' skeptischer Haltung bringt der franzoesische sozialistische Abgeordnete

Félix Gouin seine und seiner Freunde vollste Zustimmung zu Laskis Forderungen zum Ausdruck.

"Ich stimme mit ganzem Herzen dem Programm der geeinten Arbeiterbewegung zu, die uns, wenn sie im Geiste bruederlicher Verstaendigung ueber die menschlichen Notwendigkeiten zustandekommt, ermoeglichen wuerde, mit kraeftiger und klarer Sprache zur Welt zu reden. Laski wuenscht, dass der Sozialismus leben soll. Unsere franzoesichen Genossen halten es fuer eine Ehre, die ersten zu sein, die zu ihm sagen: Auch wir wuenschen, dass der Sozialismus leben soll. Gouin schlaegt vor, dass die dazu qualifizierten Vertreter der verschiedenen nationalen Gruppen

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in London, die ein Mindestmass von Kontakt mit den Parteigenossen, die in ihren Laendern blieben, aufrechterhalten, zusammentreten sollten, um eine Studiengruppe zur Pruefung der von Laski aufgestellten Programmpunkte zu bilden. Die wichtigsten Fragen sind nach Gouins Ansicht folgende: 1. die Wiederherstellung der Einigkeit der europaeischen proletarischen Bewegungen, 2. der Kampf gegen eine Politik, die unter dem Vorwand militaerischer Notwendigkeiten den Faschismus in einer Reihe europaeischer Laender staerkt, 3. die Bedingungen fuer einen wirklichen Dauerfrieden, der mehr als nur eine Pause vor dem naechsten Krieg ist. Am Ende sagt Gouin: "Ich wuensche dringend, dass mit Hilfe und Unterstuetzung der Labourparty die kontinentalen sozialistischen Fluechtlinge in London ihre Bemuehungen fuer das gemeinsame Ziel vereinigen."

Hans Vogel, der Vorsitzende der SPD, weist auf zwei Probleme hin, die zur Erklaerung dafuer dienen koennen, dass die Internationale seit Kriegsausbruch gelaehmt ist. Das erste ist die Sonderstellung der aus den von Hitler besetzten Laendern emigrierten Sozialisten, die zunaechst fuer die Befreiung ihrer Laender kaempfen, waehrend sozialistische Ziele ihnen nicht als die wichtigsten erscheinen. Das zweite Problem ist die Haltung der Sozialisten der Vereinten Nationen gegenueber den sogenannten sozialistischen "feindlichen Auslaendern", vor allem den Deutschen. "Es ist Tatsache, dass auch die exilierten deutschen Sozialdemokraten in diesem Lande den Hass zu fuehlen bekommen, der sich wegen der Nazigreuel gegen Deutschland angesammelt hat, und dass dieser Hass sogar die Haltung von Sozialisten gegenueber ihren deutschen Genossen beeinflusst." Vogel untersucht dann die Frage, ob die Haltung der deutschen Arbeiter und die der deutschen Sozialdemokraten ein Hindernis fuer die Erneuerung der Aktivitaet der Internationale bedeutet. "Es gibt", sagt er, "keine Rechtfertigung dafuer, auf deutsche Sozialisten Hass und Verwuenschungen auszuschuetten, die fuer die Diktatur gedacht sind, die heute in Deutschland regiert. Wir deutschen Sozialisten hassen den Nationalismus nicht weniger als irgend jemand. Wir haben ihn unter schweren Opfern bekaempft, zu einer Zeit, als Sozialisten in vielen Laendern noch die Gefahr, die er fuer den Frieden bedeutete, ignorierten ..."

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Am Ende beruehrt Hans Vogel die Erklaerungen der SPD waehrend des Krieges, die ihren Kampfwillen gegen dem Nationalsozialismus klar zum Ausdruck bringen ...

Auf den Einwand, dass die deutschen Arbeiter sich passiv verhalten, erwidert Genosse Vogel: "Gilt das fuer die deutschen Arbeiter allein? Befinden sich nicht unter den sechs Millionen auslaendischen Arbeitern in Deutschland viele, die aus freiem Willen dorthin gingen und fuer Hitlers Kriegsmaschine arbeiten? Gilt es nicht ebenso fuer viele Millionen Arbeiter in den Ruestungsfabriken der von Hitler besetzten Laender? Wir halten unseren Tadel fuer sie vorsichtig zurueck. Die Stunde des Handelns ist fuer sie noch nicht gekommen, genau so wie sie fuer die Arbeiter in Berlin, Hamburg, dem Ruhrgebiet und allen anderen Teilen Deutschlands noch nicht gekommen ist ...

Wenn man die Verhaeltnisse in Deutschland richtig erkennt und die Haltung der exilierten Vertreter der SPD ohne Voreingenommenheit beurteilt, wird man keine Rechtfertigung fuer den Ausschluss der Vertretung der deutschen Arbeiter-Bewegung von einer erneuerten Internationale finden, und keine Tatsache wird sich ergeben, die eine erneuerte Taetigkeit einer Internationale verhindert, die auch Vertreter deutscher Sozialisten enthaelt ...

Tatsaechlich sind die Voraussetzungen fuer eine aktive und geeinte Politik der Sozialistischen Internationale in diesem Kriege besser als im letzten. Damals trat jede Partei fuer die Verteidigung ihres eigenen Landes ein, und so war die Internationale in zwei feindliche Lager gespalten. In diesem Krieg steht die gesamte Welt, insbesondere alle sozialistischen Parteien, einschliesslich der deutschen, in Opposition zu Hitler und dem deutschen Angriff. Die Parteien aller unterjochten Laender sind in London vertreten, und Konferenzen der Sozialistischen Internationale liessen sich leicht arrangieren."

Zum Schluss behandelt Genosse Vogel zwei der Laskischen Programmpunkte: die Verstaendigung mit den Kommunisten und die Organisation der kuenftigen Internationale.

Zum ersten Punkt erklaert er: "Die Aufgaben, denen sich die deutschen Arbeiter in der Nachkriegszeit gegenuebersehen werden, sind so ungeheuer und verantwortungsschwer, dass man einer Wiederkehr des inneren Bruderkampfes nur mit Entsetzen entgegensehen kann. Aber es ist klar, dass die internationale Einigkeit der Arbeiterbewe-

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gung, die die europaeischen ebenso wie die russischen Arbeiterklassen umfasst, nur zu erreichen ist, wenn die Komintern den Grundsatz der Zusammenarbeit mit den Arbeiterklassen der ganzen Welt akzeptiert ...

Es folgt ganz natuerlich, dass Verhandlungen zwischen Sozialisten und Kommunisten nicht Angelegenheit der Parteien der einzelnen Nationen sein koennen, sondern zwischen den Internationalen gefuehrt werden muessen. Solche Verhandlungen duerfen nicht bis nach dem Ende des Krieges aufgeschoben werden."

Zur inneren Organisation der neuen Internationale bemerkt Hans Vogel: "Selbstverstaendlich darf sie nicht bloss ein Buero sein, das Anweisungen und Befehle ausgibt. Andererseits darf sie sich nicht nur auf blosse Informationserteilung beschraenken. Genauso wie allgemein erkannt wird, dass der neue Voelkerbund oder jener internationale Apparat, der an seine Stelle treten wird, in der Lage sein muss, Beschluesse zu fassen, die fuer die Mitgliederstaaten bindend sind, so wird auch die Internationale und die ihr angeschlossenen Parteien von einer aehnlichen Notwendigkeit beherrscht sein."

Ueber die weitere Debatte in "Left News" ueber dies[es] Problem werden wir in der naechsten Nummer der SM wieder einen Bericht bringen.

in Gross-Britannien ist als gewerkschaftliche Landesgruppe im Internationalen Gewerkschaftsbund den anderen Landesgruppen voellig gleichberechtigt. Der Arbeitsausschuss und die Revisoren der deutschen Landesgruppe wurden kuerzlich in Urwahl neugewaehlt. Stimmen erhielten: Hans Gottfurcht 192, Anna Beyer[6] 190, H. Kamnitzer[7] 190, Herta Gotthelf 187, Wilh. Sander 186, Fr. Kramer[8] 176, Erw[in] Schoettle 157, Willi Eichler 143, Paul Walter[9] 137, Willy Derkow 118. Ausser diesen 10 Kollegen wurden zu Revisoren gewaehlt: Peter Schaeffer[10] mit 190 und Dora Segall mit 189 Stimmen. Fuer etwa 12 weitere Kollegen wurden weniger Stimmen abgegeben, z. B. fuer Krautter[11] 83, George[12] 45, Rauschenplat[13] 42, die anderen Stimmen waren zersplittert. Oertliche Gliederungen der Landesgruppe befinden sich jetzt auch in Manchester, Llangollen, Glasgow, Birmingham, Bristol und Leeds.

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_im Maerz 1943_
im Austrian Labour Club, 31 Broadhurst Gardens, N.W.6.


Freitag, d. 5. Maerz,7.30 p.m. Mitgliederversammlung mit Fortsetzung der Debatte.

Sonntag, d. 7. Maerz, nachm[ittags] 4 Uhr, im Heim 90 Fitz John's Avenue, London, N.W.6. (Hampstead)
Gesellige Veranstaltung mit Rezitationen, Musikvortraegen und Tanzgelegenheit. Dora Segall bringt lustige Tiergeschichten und heitere Gedichte zum Vortrag. Gaeste sind willkommen. Bitte Kaffeetassen mitbringen! Unkosten: 1/-.

Freitag, d. 19. Maerz, 7.30 p.m. Mitgliederversammlung mit Schluss der Debatte und den Schlussworten der Genossen Erich Ollenhauer und Victor Schiff.

Freitag, d. 2. April, 7.30 p.m. Mitgliederversammlung nur fuer registrierte SPD-Genossen. Neuwahl des Londoner Ausschusses der SPD.




Karl Marx, der Mann, der dem Sozialismus und der modernen internationalen Arbeiterbewegung zuerst eine wissenschaftliche Grundlage gegeben hat, ist als politischer Fluechtling am 14. Maerz 1883 in London gestorben. Wir deutschen sozialistischen Antinazi-Fluechtlinge wollen dem grossen Lehrmeister und Begruender des wissenschaftlichen Sozialismus an seinem 60. Todestag an seinem Grab in Highgate eine Blumenspende niederlegen. Wir treffen uns Sonntag, d. 14. Maerz, nachm[ittags] 3 Uhr, an der U-Bahn Station Highgate. Vom Treffpunkt gemeinsame Wanderung zum Friedhof. Freunde unserer Bewegung sind willkommen.




Freiwillige Beitraege fuer diese SM spendeten: H.S. 2/6; M.Schr. 2/-; J.u.E.H. 12/-; H.Kanada, £ 1.11.10; M-D., 2/-; Dy. 1/6; A.E., Bradf., 3/-; W.L.D. 5/-; Pts F.S. 5/-; E.W., York, 2/-; E.Schn. 7/-; K.F.Schn., Baltimore, 1 Dollar; A.Cil 5/-; W.F.G., N.o.T., 10/-; Dr.P. 10/-; Nurse R.F. 2/-; H.R. 7/-; H.G. 3/-; H.J. 10/-; Pte O.Sch. 1/-; Dr.R.W. 4/-; E.V., USA, 3/6; R.Gr. 2/-; P.H. 6/-; Ma. 1/-; K.Wa. 5/6; M.Schr. 2/-; J.L., Manch., 10/-; J.Gu. 2/-; E.Fr. 5/-; Marg. Sch. 10/-; E.Ra. 2/-; Vl.Kl. 10/-; A.K. 3/-; RSG 4/6; Fr.K. 3/-; Fr.H. 2/-; H.Go. 1/6; A.S. 8/-; G.Gl. 7/-; C.I. Do. 5/-; E.Br. 5/-; Fr.Sch. 4/-; W.Kr. 11/-; Br. 2/-.




Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW7.






Editorische Anmerkungen


1 - Der größte Teil der 6. Armee unter Generalfeldmarschall F. Paulus hatte am 31.1.1943 im Kessel von Stalingrad kapituliert. Von ursprünglich 250.000 Soldaten in diesem Kessel waren 34.000 ausgeflogen worden, 91.000 gingen in Gefangenschaft.

2 - Gemeint ist die Rede J. Goebbels im Berliner Sportpalast am 18.2.1943, in der er zum "totalen Krieg" aufforderte.

3 - Walther Schieber, Sonderbeauftragter im Reichsministerium für Bewaffnung und Munition, enger Mitarbeiter F. Sauckels.

4 - "Moravic": Emmanuel Moravec (1893 - 1945), 1942-1945 Propagandaminister in der von den Deutschen eingesetzten und kontrollierten Protektoratsregierung, Freitod.

5 - Eine letzte im Februar 1943 in Tunesien gestartete deutsche Offensive, die den Aufmarsch der Alliierten in Algerien stören sollte, war zusammengebrochen. Die "Heeresgruppe Afrika" kapitulierte endgültig Mitte Mai 1943.

6 - Anna Beyer (geb. 1909), 1923 SAJ-Mitglied, Übertritt zum ISK, ab 1933 illegale Tätigkeit, 1937 Emigration über Belgien, Frankreich nach Großbritannien, Mitglied der Landesgruppe deutscher Gewerkschaften in Großbritannien und tätig in der Union. 1945 Rückkehr nach Deutschland, 1946 unbesoldetes Mitglied des PV der SPD.

7 - Heinrich Kamnitzer (geb. 1917), Publizist, Exil in Großbritannien, zunächst parteiloser, dann KPD-Vertreter im Arbeitsausschuss der Landesgruppe. 1946 Rückkehr nach Deutschland (SBZ), Mitglied der SED, Historiker, ab 1955 freier Publizist.

8 - Fritz Kramer, Pseudonym für Hans Jahn (1885 - 1960), Gewerkschafter und Sozialdemokrat, illegale Tätigkeit für die ITF (Edo Fimmen) und Zusammenarbeit mit dem ISK, ab 1935 Exil in verschiedenen Ländern, zuletzt Großbritannien. 1945 Rückkehr nach Deutschland, 1949-1951 Vorsitzender der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands, ab 1949 SPD-MdB.

9 - Paul Walter (1897 - 1955), 1919 Mitglied der SPD, 1931 Übertritt zur SAP, 1933-1935 KZ Sachsenhausen, 1935 Exil in der CSR, 1938 Großbritannien, dort SAP-Vertreter, ab 1945 in Deutschland, Funktionär der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG).

10 - Peter Schäffer (geb. 1914), 1931 SAJ, ab 1933 Exil in Großbritannien, SAP-Mitglied.

11 - Erich Krautter (geb. 1900), Exil über die CSR nach Großbritannien, KPD-Vertreter im Arbeitsausschuss der Landesgruppe, 1943 ausgebürgert.

12 - Herbert George (geb. 1910), seit 1925 SPD-Mitglied, ab 1933 Exil in der CSR, Juni 1940 nach Großbritannien.

13 - "Rauschenplat": Fritz Eberhard (ursprünglich Hellmut von Rauschenplat) (1896 - 1982), Politiker, Hochschullehrer und Publizist, 1922-1925 Mitglied der SPD, dann des ISK, 1933 Haftbefehl und Illegalität, 1937 Flucht aus Deutschland über Zürich und Paris nach Großbritannien, Rundfunkarbeit und publizistische Tätigkeit, erst 1944 im Vorstand der Landesgruppe. Rückkehr nach Deutschland April 1945, Oktober 1945 SPD-Mitglied, 1947-1949 als Staatssekretär Leiter des Deutschen Büros für Friedensfragen, 1949-1958 Intendant des Süddeutschen Rundfunks, 1961-1968 Direktor des Instituts für Publizistik an der FU Berlin.




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