SOZIALISTISCHE MITTEILUNGEN

News for German Socialists in England

This newsletter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

Nr. 44 - 1942

Anfang Dezember

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Tagung deutscher Sozialdemokraten in England

Am 7. und 8. November versammelten sich im Heim der oesterreichischen Sozialisten in London, im Austrian Labour Club House, zahlreiche deutsche Sozialdemokraten aus London und aus den verschiedenen Teilen der britischen Insel zu einer Wochenendtagung.

Es war die erste Tagung dieser Art der in England lebenden Sozialdemokraten.

Der gute Besuch der Tagung, der vor allem fuer die von auswaerts gekommenen Genossen und Genossinnen mit erheblichen Opfern und Unbequemlichkeiten verbunden war, bewies das grosse Interesse der Genossen an einer solchen gemeinsamen Aussprache ueber die politischen Probleme. Einige der auswaerts Wohnenden hatten ihr Interesse und ihre Verbundenheit durch die Sendung von Begruessungsschreiben und -telegrammen bekundet. Die Veranstaltung war ein grosser Erfolg.

Unsere beschraenkten Raumverhaeltnisse verbieten es uns, ueber die Veranstaltungen ausfuehrlich zu berichten. Da aber von verschiedenen Teilnehmern der Tagung und besonders auch von Genossen, die aus zeitlichen oder aus anderen technischen Gruenden nicht nach London kommen konnten, dringend eine ausfuehrlichere Berichterstattung, vor allem ueber die Hauptreferate, gewuenscht worden ist, werden wir diese Referate hier in grossen Zuegen wiedergeben.

Die Tagung wurde am Samstag, dem 7. November, nachmittags, durch einen Bericht des Vertrauensmannes der deutschen Sozialdemokraten in England, dem Genossen Wilhelm Sander, ueber die deutsche Emigration in England und in anderen europaeischen und aussereuropaeischen Laendern eingeleitet.

Der Redner gab an Hand von ausfuehrlichem Material

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eine Uebersicht ueber den zahlenmaessigen Umfang der sozialdemokratischen Emigration, ihre soziale Situation, ihren Einsatz in der Kriegsindustrie oder in anderen Institutionen und Formationen des Kriegseinsatzes, ihre organisatorische und politische Taetigkeit in England, und er ergaenzte dieses Bild durch eine knappe Uebersicht ueber Umfang und Taetigkeit der sozialdemokratischen Emigration in anderen europaeischen Laendern und in Uebersee.

Nach diesem Bericht sprach

Hans Vogel, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
ueber das

Thema "Die sozialistische Bewegung im Kriege und nach dem Kriege".

Genosse Hans Vogel entwickelte in seinem mit starkem Beifall aufgenommenen Referat im wesentlichen folgende Gedankengaenge:

An der Niederlage Hitlers und der Zerschlagung des Naziregimes kann kein Zweifel mehr bestehen. Die Frage ist nur, wie lange der Krieg noch dauern wird.

Das deutsche Kriegspotential ist heute ungleich staerker als am Ende des vorigen Krieges, aber inzwischen haben die Alliierten den Ruestungsvorsprung der Achse eingeholt, wenn nicht bereits ueberfluegelt.

Die Situation der Alliierten wird sich weiter verbessern, wenn es den Russen gelingt, weiterhin grosse deutsche Truppenkontingente an der russischen Front festzuhalten. Mit dem Ende des Krieges ist aber erst dann zu rechnen, wenn die Achse in Mittel- und Westeuropa entscheidend geschlagen ist.

Ueber den Heroismus des russischen Volkes und der Roten Armee sind wir alle voll Bewunderung, aber wir vergessen auch nicht den gewaltigen Beitrag, den England in diesem Krieg bereits geleistet hat.

England und Amerika werden auch die entscheidenden Faktoren sowohl bei der siegreichen Beendigung des Krieges als auch bei der Gestaltung des Friedens sein. Amerika vor allem wird die Versorgung des ausgebluteten und zerstoerten Europas, einschliesslich Russlands, zufallen. England und Amerika, neben einigen alliierten Laendern, verfuegen ueber den notwendigen Schiffsraum, um die dringendsten Lieferungen an Rohstoffen und Lebensmitteln an ihre Bestimmungsplaetze zu bringen.

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Bei der Gestaltung des Friedens wird diese Tatsache allein schon diesen Laendern eine entscheidende Position sichern.

Hans Vogel wandte sich dann der Frage zu,
welche Aufgaben sich nach dem Krieg ergeben werden. International sieht er die vordringlichste Aufgabe darin, die auf hoechsten Touren laufende Kriegsproduktion auf Friedensproduktion umzustellen.

Wird die Welt damit fertig werden, wenn sie wieder nur in Einflussphaeren oder in ein System von Buendnissen aufgeteilt wird, denen wieder mehr oder weniger militaer- oder machtpolitische Absichten zugrunde liegen und die von Anfang an den Keim neuer Kriege in sich tragen?

Eine allumfassende Wirtschaftsorganisation wird notwendig sein, und darueber hinaus werden Aufgaben zu loesen sein, die vielleicht besser von regionalen Foederationen geloest werden koennen.

Fuer eine solche Weltplanung spricht die gesamte Nahrungs- und Rohstoffwirtschaft, denn nur sie kann den Hungersnoeten, dem sozialen Chaos und den Problemen der Umstellung von der Kriegs- in die Friedensproduktion begegnen. Mit der Beendigung des Krieges wird eine solche Regelung ganz zwangslaeufig kommen muessen, aber aus diesem, aus der Not des Augenblicks geborenen Plan muss eine feste, dauernde, den ganzen Erdball umspannende Organisation gestaltet werden.

Hans Vogel verweist im einzelnen darauf, dass Europa nicht genug Brotgetreide und Futtermittel, Wolle und Haeute, Baumwolle und Kautschuk, Kupfer und Zinn und andere Metalle habe und dass auch die Kohle nicht reicht, wenn sie auch als Rohstoff fuer synthetische Produkte verwendet werden soll.

Es muss durch die neue Organisation auch Vorsorge getroffen werden, damit sich nicht wieder eine ueberdimensionierte Stahlindustrie, ganz gleich, von wem sie beherrscht wird, als treibende Kraft einer kuenftigen Kriegspartei entwickeln kann.

Die Elektrizitaetsversorgung hat heute bereits alle Laendergrenzen gesprengt und uebersprungen.

Ueberstaatliche, souveraene Organisationen fuer die Post, die Eisenbahnen, den Flugverkehr, die Binnenschiffahrt, die Treib[stoff]- und Elektrizitaetswirtschaft wuerden nicht nur deren aggressive Tendenzen aufheben, sondern auch grosse positive Vorteile fuer eine kuenftige intereuropaeische Entwicklung bieten.

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An den Aufbau eines europaeischen Arbeits- und Wanderungsamtes sollte man auch denken, das fuer die Umsiedlungs- und Niederlassungsfragen, fuer das Arbeitslosenproblem und fuer das in Mitteleuropa so wichtige Problem der Landflucht zustaendig sein sollte.

Allgemein gesagt, kommt es jetzt darauf an, einen der entscheidenden Irrtuemer der letzten zweihundert Jahre zu beseitigen, naemlich die Identifizierung [!] der wirtschaftlichen und der politischen Grenzen.

Grenzen duerfen nicht laenger Trennungsgraeben zwischen den Voelkern sein, ganz gleich, ob alte oder neue Grenzen.

Hans Vogel wandte sich dann der Frage zu, welche Aufgaben sich die internationale sozialistische Bewegung fuer die Zeit nach dem Krieg gestellt hat.
Darueber ist zur Zeit noch wenig zu sagen. Die Untergrundbewegungen in den verschiedenen Laendern Europas und grosse Teile der sozialistischen Emigration sind vorwiegend auf nationale Zielsetzungen ausgerichtet und nur ganz selten hoert man von sozialistischer Planung und Neugestaltung.

Zu dieser Feststellung kommt selbst der "Economist" in einem Artikel vom 15. August 1942. Der Artikel verweist darauf, dass in den verschiedenen Untergrundbewegungen Europas nicht die unbekannte Revolution vom Grund der sozialen Pyramide auferstanden ist. Heute kommt die Aufforderung zur Revolte von der anerkannten politischen Elite des Vorkriegseuropa mit der Zielrichtung, eine revolutionaere Methode fuer gemaessigte politische Ziele zu gebrauchen. Darin liegt die Gefahr eines Rueckfalls in einen ungesunden und gefaehrlichen Nationalismus ueber ganz Europa.

In dem Zeitalter von Tanks und Bombern aber hat die nationale Abgeschlossenheit noch lange nicht auch die nationale Sicherheit hergestellt. Die wirtschaftlichen Notwendigkeiten nach dem Krieg werden von selbst ueberkommene, veraltete Anschauungen beseitigen und gemeinsame Leiden und Noete werden zu einer Vereinigung der leidenden Nationen fuehren. - Zu diesen Auffassungen des "Economist" bemerkt Hans Vogel, dass es nur natuerlich ist, wenn auch Sozialisten fuer die Freiheit ihres eigenen Volkes eintreten und Sicherungen fordern, damit ihnen diese Freiheit nicht wieder von einem aggressiven Deutschland genommen wird.

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Politische Freiheit kann nur in einem politisch und wirtschaftlich wohlgeordneten Staatensystem gesichert werden, aus dem man auch das mit gleichen Pflichten und Rechten ausgestattete deutsche Volk auf die Dauer nicht ausschalten kann. dass Deutschland dabei bestimmte Garantien und Sicherungen uebernehmen muss, versteht sich ganz von selbst. Hass allein ist immer noch ein schlechtes Erziehungsmittel zur Demokratie.

Erfreulicherweise kommt diese Erkenntnis nicht nur in Erklaerungen verantwortlicher Staatsmaenner der Alliierten zum Ausdruck. Sie ist vor allem auch die Ueberzeugung der organisierten Arbeiter in den verschiedenen Laendern. Ich will hier nur auf zwei Beispiele der juengsten Zeit verweisen.

Die Londoner Gewerkschaften haben in einem Beschluss ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, mit den alliierten und deutschen Arbeitern auf der Basis der Gleichberechtigung fuer den Aufbau eines sozialistischen Europa zusammen zu arbeiten.

Die franzoesischen illegalen Sozialisten haben in einem Manifest, das der illegale "Populaire" am 15. Juni dieses Jahres veroeffentlichte, Rachemassnahmen gegen das deutsche Volk abgelehnt und die Eingliederung Deutschlands - wenn noetig mit Zwang - in ein System wirklichen Friedens und allgemeiner Abruestung gefordert.

Diesen Erklaerungen stehen allerdings auch solche weniger erfreulicher Natur von Einzelpersonen der verschiedensten Lager gegenueber, aber sie koennen uns nicht veranlassen, den Glauben an den Sozialismus und die internationale Zusammenarbeit aufzugeben.

Immer wieder wird davon gesprochen, dass das ganze deutsche Volk mit Hitler gleichzusetzen sei. Immer wieder wird von der schlechten Moral des deutschen Volkes und von seiner Passivitaet im Kampf gegen Hitler und sein Regime gesprochen.

Kann man diese Passivitaet wirklich nur den deutschen Arbeitern zum Vorwurf machen, oder arbeiten nicht auch Arbeiter anderer Laender fuer Hitlers Kriegsmaschine? Wir hueten uns vor leichtfertigen Verurteilungen der einen oder der anderen, denn wir kennen die Macht der Hitlerdiktatur. Fuer die Arbeiter in den ausserdeutschen Laendern ist die Stunde des aktiven Widerstandes zur Zeit ebenso wenig gekommen wie fuer die Arbeiter von Berlin, von Hamburg und den anderen deutschen Industriebezirken.

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Wenn aber bestimmte Propagandisten dem deutschen Volk ein halbes Jahrhundert Konzentrationslager ankuendigen, dann muss das im deutschen Volk nur Furcht und Grauen vor der Zukunft ausloesen. Man darf sich dann nicht wundern, wenn es zu der Ueberzeugung kommt, dass es nicht mehr fuer Hitler, sondern fuer seine eigene Existenz kaempft, sodass sich diese Furcht schliesslich in Widerstandskraft umsetzt. Diese Art Propaganda muss mit dem Blut aller am Krieg beteiligten Voelker bezahlt werden, und ihre militaerischen und politischen Folgen sind unuebersehbar. Die Nazis verstehen sehr gut, aus dieser Propaganda Kapital zu schlagen, wie die letzten Reden Hitlers Goerings und Goebbels sehr deutlich zeigten.[1] Das deutsche Volk kann von seinem Zwingvogt Hitler umso leichter getrennt werden, wenn die alliierte Politik es noch deutlicher als bisher von ihm trennt.

Hans Vogel behandelte sodann die
Aussichten und Erfolgsmoeglichkeiten des internationalen Sozialismus nach diesem Krieg.

Zwei unbekannte Groessen spielen dabei eine wichtige Rolle, Der Einfluss, den die amerikanische Arbeiterbeweg[ung] auf die Politik und Wirtschaft der westlichen Halbkugel spielen wird, und die Rolle, die Russland und die Komintern in Zukunft einzunehmen gedenken.

Gemessen an europaeischen Verhaeltnissen ist die politische Bewegung der amerikanischen Arbeiter von untergeordneter Bedeutung, und die gewerkschaftliche Bewegung ist immer noch in zwei Lager gespalten. Amerika ist auch das klassische Land der Ablehnung jeder Art von Kommunismus, und dementsprechend ist auch die Haltung grosser Teile der Arbeiterschaft.

Eine weitgehende Demokratisierung Russlands wuerde einer an sich nur wuenschenswerten Zusammenarbeit Amerikas und Russlands, sowie der amerikanischen und russischen Arbeiter nur dienlich sein.

Russlands Prestige wird nach dem Krieg infolge seiner militaerischen Leistungen sehr gestiegen sein, sodass es sehr wohl auf die Komintern als ein zusaetzliches Instrument seiner Aussenpolitik verzichten koennte. Wird Russland aber dazu bereit sein? Im allgemeinen pflegen siegreiche Kriege bestehende Systeme nicht zu schwaechen, sondern zu staerken.

Man muss daher damit rechnen, dass Russland, die Komin-

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tern und die ihr angeschlossenen Parteien trotz aller augenblicklichen Lippenbekenntnisse fuer die Demokratie an ihren alten Prinzipien und an der alten Praxis festhalten. Das beruehrt aber auch im hoechsten Mass die Stellung der deutschen Sozialdemokraten zu den Kommunisten.

Halten die deutschen Kommunisten an ihren alten Auffassungen und Methoden fest, so ist eine Verstaendigung mit ihnen nur dann moeglich, wenn die zukuenftige deutsche Arbeiterbewegung, wie immer sie sich nennen mag, auf jede selbstaendige Position verzichtet und sich den Weisungen und dem Kommando Russlands und der Kommunistischen Internationale unterwirft.

Unsere Stellung zu dieser Frage kann keine andere sein als die, die in dem bereits erwaehnten Manifest der franzoesischen Sozialisten zum Ausdruck kommt. In diesem Manifest wird die Hoffnung ausgesprochen, dass Sowjetrussland in Zukunft ein aufrichtiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft der demokratischen Voelker wird, die ihre Unabhaengigkeit zurueckgewonnen haben, und dass sich damit auch die Beziehungen der verschiedenen Sektionen der Kommunistischen Internationale zu den anderen Arbeiterparteien verbessern. Die franzoesischen Freunde sind davon ueberzeugt, "dass eine demokratische und sozial gesunde Politik bei uns (in Frankreich) unmoeglich sein wird, solange nicht eine unabhaengige franzoesische kommunistische Partei die Sowjetunion dazu bringt, im Interesse der europaeischen Arbeiterklasse und vor allem im Interesse der russischen und franzoesischen Arbeiter, Teil einer geeinten internationalen Gemeinschaft zu werden."

Hans Vogel lehnt fuer sich jede Art von Diktatur vor allem wegen ihres Barbarismus und ihrer Grausamkeit ab. Sie ist eine Versuendigung am Menschen.

Es muss unsere besondere Aufgabe sein, gerade dem deutschen Menschen nach dieser zehnjaehrigen Nazidiktatur das lebendige Bewusstsein und die immer gegenwaertige Ehrfurcht vor den grossen und ewigen geistigen Werten der Welt zurueckzugeben. Auf die Dauer kann nur die Gerechtigkeit bestehen, auch in der Sphaere der Politik. Hans Vogel schloss, dass seine Ausfuehrungen, im Ganzen gesehen, keinen Anlass zu besonderer Freude geben, ebensowenig aber auch zur Trauer, zu Kleinmut und Verzagtheit. Wir duerfen uns nur nicht selbst aufgeben und

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nicht den Glauben an die Bewegung und uns selbst verlieren. Ohne dogmatisch an jedem Buchstaben und jedem Fakt der Tradition zu haengen, muessen wir uns aufgeschlossen zeigen fuer alle Erfordernisse und Notwendigkeiten. Mehr denn je gelte fuer heute: Wer in schwankenden Zeiten schwankend gesinnt ist, vermehrt das Uebel, wer aber fest im Sinne beharrt, gestaltet die Welt sich.

Die Revolutionsfeier am Abend

vereinigte die Teilnehmer der Wochenendtagung mit einer grossen Anzahl der in London lebenden Genossen und Genossinnen und mit zahlreichen internationalen Gaesten. Der Saal war ueberfuellt, als Genosse Wilhelm Sander die Erschienenen begruesste und vor allem die internationalen Gaeste willkommen hiess. Unter den Erschienenen befanden sich englische, tschechische, sudetendeutsche, italienische, oesterreichische und russische Genossen. Neben unseren Parteigenossen nahmen auch Genossen der SAP und des ISK teil, die vom Vorsitzenden ebenfalls herzlich begruesst wurden.

In den Begruessungsworten gedachte Genosse Wilh. Sander der Opfer der deutschen Revolution, der Maenner und Frauen, die im Kampf um die Erhaltung der Weimarer Republik gegen den Nationalsozialismus fielen, der Opfer und Kaempfer der illegalen Bewegung unter dem Hitlerregime, der Freiheitskaempfer in den okkupierten Laendern und feierte in ergreifenden Worten das Heldentum der Tausende, die heute in allen Laendern Europas unter der Gewaltherrschaft der Hitlerdiktatur kaempfen und leiden, ohne Unterschied der Nation und der Rasse, aber einig in dem Willen zur Freiheit.

Mit einem Hinweis auf den Freiheitskampf der Voelker, der heute in allen Erdteilen von den Armeen der Alliierten gefuehrt wird, verband der Redner eine besondere Ehrung der Sowjetunnion und der Roten Armee, die am gleichen Tag das fuenfundzwanzigjaehrige Bestehen der Sowjetunion feiert.

Die Versammelten vereinigten sich in einer Kundgebung, deren Wortlaut dem russischen Botschafter in London uebermittelt wurde.

Der volle Wortlaut dieser Sympathie- und Begruessungskundgebung an die Voelker der Sowjetunion lautet:

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An die Voelker der Sowjetunion

"Wir deutschen Sozialdemokraten in England, versammelt in London am 7. November 1942 zu einer Erinnerungsfeier an die deutsche Revolution, richten an diesem Tag unseren Gruss an die Voelker der Sowjetunion.

Das russische Volk begeht den Tag des fuenfundzwanzigjaehrigen Bestehens der Sowjetunion im schwersten Kampf gegen die faschistischen Eindringlinge.

In der Geschichte des grossen Ringens der alliierten Nationen und der unterdrueckten Voelker gegen faschistische Tyrannei und Fremdherrschaft werden die Namen Moskau, Leningrad, Sewastopol und Stalingrad als leuchtende Beispiele der Entschlossenheit und des Heldenmutes von Millionen russischer Maenner und Frauen fuer immer fortleben.

Wir gedenken in Ehrfurcht der Opfer dieses Kampfes, und wir gruessen die Millionen russischer Maenner und Frauen, die an der Front und hinter der Front fuer den Sieg ueber den internationalen Faschismus kaempfen und arbeiten. Als deutsche Sozialdemokraten und Antifaschisten erneuern wir unser Geloebnis, in den Reihen der alliierten Nationen und der unterdrueckten Voelker mit allen unseren Kraeften nach in Zukunft mitzuhelfen, bis im Kampf fuer die Befreiung der Voelker von der Tyrannei der Hitler-Diktatur der Sieg errungen ist."

erhielt ein besonderes Gepraege durch die Ansprachen von zwei hervorragenden Vertretern der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung, dem Generalsekretaer der britischen Labour Party, dem Genossen J. Middleton, und dem frueheren Vorsitzenden der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, dem Genossen Louis de Brouckère. Beide wurden von der Versammlung stuermisch begruesst, und ihre Ansprachen fanden begeisterte Zustimmung.

Genosse J.S. Middleton

fuehrte aus: "Ich komme gerade von einer Feier auf [!] der russischen Botschaft. Dort wurde das fuenfundzwanzigjaehrige Bestehen der Sowjetunion festlich begangen. Wie immer wir politisch ueber die Grundlagen und Methoden des Bolschewismus denken, heute gratulieren wir mit der ganzen freien Welt Russland zum Erfolg seiner Revolution.

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Auch die Russische Revolution 1917 hat erfolglose Vorlaeufer gehabt. Ich erinnere mich heute daran, wie wir die Nachricht von der russischen Revolution in 1905 bekamen. Wir waren gerade zu einer der ersten Konferenzen der Labour Party versammelt.

Damals waren wir noch zahlenmaessig schwach, aber wir beschlossen eine Sammlung zur Unterstuetzung der russischen Revolutionaere. Wir brachten nur rund eintausend Pfund auf, eine kleine Summe gegenueber den Riesenbetraegen, die heute die britischen Arbeiterbewegung fuer den russischen Hilfsfonds aufbringt. Aber ueber diesen Betrag haben wir in unserem Archiv eine Quittung, die ein historisches Dokument ist. Sie kam von einem unbekannten politischen Fluechtling in der Schweiz an einen ebenfalls nicht sehr bekannten Journalisten in England. Die Quittung ist von Lenin unterschrieben, und sie war fuer MacDonald bestimmt.

Nur verhaeltnismaessig kurze Zeit spaeter spielten beide Maenner in ihren Laendern und in der internationalen Politik eine hervorragende Rolle, Lenin als der Fuehrer der Sowjetunion und MacDonald als Premierminister der ersten Arbeiterregierung des britischen Weltreiches.

Dieses Beispiel zeigt, dass auch erfolglose Revolutionen ihre bleibende Bedeutung haben, und es gibt uns die Berechtigung, auch der deutschen Revolution von 1918 zu gedenken. Als Mitglieder der Labour Party sind wir Sozialisten und Internationalisten, und wir gedenken heute auch der deutschen Genossen, die kaempften und eine Schlacht verloren. Mit meiner Anwesenheit auf dieser Feier moechte ich die Verbundenheit mit den deutschen Genossen zum Ausdruck bringen.

Es ist heute vielfach ueblich geworden, die deutsche Sozialdemokratie nur kritisch zu betrachten. Ich habe diese Anschauung nie geteilt, und meine Meinung ist auch durch den Krieg nicht geaendert worden. Ich erinnere mich, wie vor vielen Jahren Wilhelm Liebknecht in einer Versammlung der Labour Party in Bristol erklaerte: 'Es gibt zwei Deutschland, genau so wie es zwei England gibt.' Liebknecht sprach damals fuer das andere Deutschland, fuer die deutsche Arbeiterklasse.

Liebknechts Auffassung war damals wahr, und sie ist auch noch heute wahr. Es ist toericht, jetzt alle Deutschen mit Hitler gleichzusetzen und mit ihm eine ganze Nation zu verdammen.

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Der Glaube, der hundert Jahre hindurch die Sozialisten aller Laender in einer internationalen Gemeinschaft verbunden hat, kann weder durch einen Krieg noch durch eine Nazidiktatur zerstoert werden. Ich bin ueberzeugt, dass es in den Reihen der deutschen Soldaten und der deutschen Zivilbevoelkerung auch heute noch Maenner und Frauen gibt, die ebenso denken wie wir.

Ich denke an die vielen tausend Maenner und Frauen in deutschen Konzentrationslagern und Gefaengnissen, an ihre Angehoerigen, an die Angehoerigen von politischen Gefangenen, denen von den Nazis die Asche ihrer inhaftierten Angehoerigen gebracht wurde, alle diese Menschen sind bestimmt keine Nazis geworden. Ich bin ueberzeugt, dass es auch heute noch zwei Deutschland gibt und dass unsere Genossen in Deutschland auf den gegebenen Augenblick und auf das Zeichen warten, um aktiv am Kampf zur Ueberwindung der Hitlerdiktatur teilzunehmen."

Genosse Louis de Brouckère

fuehrte aus: "Der Versuch zu einer deutschen Revolution im Jahr 1918 war ebenso wie die russische Revolution mehr als nur ein nationales Ereignis. Sie war bedeutsam fuer die ganze Welt und von dem, was Ihr in der Revolution und in der Republik aufgebaut habt, wird einiges von Dauer sein.

Wir sind als Sozialisten Glieder einer grossen Familie. Es genuegt aber heute nicht mehr, dass wir von der internationalen Bruderschaft der Sozialisten sprechen.

Wir muessen uns bewusst sein, dass wir Kampfgefaehrten in den Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft sind. Wir brauchen in allen Laendern Menschen, die imstande sind, einen wahren und dauernden Frieden aufzubauen. Die erste Voraussetzung fuer die Erreichung dieses Zieles ist, dass wir die Schwierigkeiten erkennen, denen wir im Kampf fuer dieses Ziel gegenueber stehen.

Wir muessen uns klar machen, was es heisst, dass unsere Voelker gegeneinander Krieg fuehren und wir muessen gemeinsam versuchen, die sich aus dieser Sachlage ergebenden Probleme zu loesen.

Ich weiss, dass viele von Euch ebenso tapfer Widerstand geleistet haben wie die Sozialisten in anderen Laendern. Das deutsche Volk ist nicht grundsaetzlich verschieden von anderen Voelkern.

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Die Lehre, die das ganze deutsche Volk mit dem Hitlerismus gleichsetzt, ist nur das Gegenstueck in [!] der Rassentheorie des Hitlerismus.

Es ist aber eine Tatsache, dass Deutschland im letzten Jahrhundert wiederholt das Zentrum und der Ausgangspunkt kriegerischer Aggressionen war. Diese Tatsache hat historische Ursachen, und es ist notwendig, dass wir diese Ursachen klar stellen und sie zu beseitigen suchen. Das muss die Aufgabe Eurer neuen Revolution sein.

Diese deutsche Revolution ist eine Notwendigkeit, denn es waere verderblich, wenn die Nazis nur durch die Waffengewalt der Alliierten ueberwunden wuerden.

Der Nazismus und der Nationalismus koennen nur durch eine Revolution in Deutschland wirklich in ihren Wurzeln zerstoert werden. Diese restlose Zerstoerung aller alten Kraefte der Reaktion ist auch die Voraussetzung fuer einen dauernden Erfolg einer neuen deutschen Revolution. Der Beitrag der deutschen Sozialisten fuer den Aufbau eines dauernden und wirklichen Friedens in Europa ist daher die Durchfuehrung der wahren deutschen Revolution.

Es werden heute viele Sicherungsmassnahmen gegen eine deutsche Aggression in der Zukunft eroertert. Wir alle wuenschen eine wirkliche Sicherung des Friedens. Sie muss aber auf der Basis europaeischer und internationaler Massnahmen getroffen werden, wenn sie wirksam sein soll. Wenn man heute z.B. davon spricht, dass die deutsche Wirtschaft im Interesse der Sicherheit unter eine internationale Kontrolle gestellt werden muss, so stimme ich dem zu, wenn man diese Kontrolle einbaut in ein internationales Kontrollsystem fuer alle Staaten und fuer alle Angelegenheiten, die von internationaler Bedeutung sind.

Ich spreche heute seit langer Zeit zum ersten Mal wieder zu deutschen Genossen, und ich freue mich, dass sie meine kritischen Bemerkungen mit soviel Verstaendnis und Kameradschaftlichkeit angehoert haben."


Die Gedenkrede fuer die deutsche Revolution
hielt der Genosse Erich Ollenhauer, der vor allem auf die Aufgabe der deutschen Sozialdemokraten hinwies, aus den Erfahrungen der Revolution von 1918 und in der Republik von Weimar Konsequenzen fuer die Politik der deutschen Arbeiterbewegung in dem neuen Deutschland nach dem Sturz Hitlers zu ziehen.

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Genosse Erich Ollenhauer

fuehrte im wesentlichen folgendes aus: "Unsere Revolutions-Feier ist Rueckblick und Ausblick zugleich.

Die November-Revolution von 1918 war ein grosses geschichtliches Ereignis. Sie brachte das Ende der politischen Alleinherrschaft einer kleinen Oberschicht ueber das deutsche Volk. Das deutsche Volk unternahm den ersten Versuch einer demokratischen Selbstregierung, die deutsche Arbeiterschaft unter Fuehrung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften trat zum ersten Mal als mitbestimmender Faktor auf die politische Tribuene. Der Rat der Volksbeauftragten setzte politische und soziale Prinzipien in Kraft, die der Inhalt eines vierzigjaehrigen Kampfes gewesen waren: politische Demokratie, Versammlungs- und Pressefreiheit, Koalitionsrecht, Achtstundentag.

Die Weimarer Republik hat versucht, der neuen demokratischen und sozialen Ordnung eine sichere und dauernde Grundlage zu verschaffen. Sie hat Erfolge erzielt: Sozialpolitisch und kulturell entwickelte sich die Weimarer Republik zu einem der fortgeschrittensten Staaten in Europa.

So unblutig der Umsturz selbst war, so schwer war der Kampf um die Existenz und den sozialen Ausbau der Republik. Vierzehn Jahre lang fuehrte die Weimarer Republik einen Kampf aus Leben und Tod unter unguenstigen aussenpolitischen Umstaenden und gegen eine staendig wachsende nationalistische und soziale Reaktion im eigenen Land. Die Verlustlisten des Zweiten Weltkrieges, den die deutschen Nationalisten unter Hitlers Fuehrung herbeigefuehrt haben, beginnen nicht erst im September 1939, sondern 1919 und 1920, und an ihrer Spitze stehen die Namen tapferer deutscher Republikaner und Sozialisten, die im Kampf gegen die Reaktion ihr Leben liessen. Die Behauptung von der kampflosen Niederlage der deutschen Arbeiterschaft ist eine Legende.

Wir haben den Kampf verloren. Die deutsche Demokratie fiel als ihre staerkste Stuetze, die deutsche Arbeiterschaft, infolge der Massenarbeitslosigkeit der Wirtschaftskrise am schwaechsten war.

Sie unterlag dem Terror, der Gewalt und dem Verrat, und sie war das Opfer ihrer eigenen Fehler und Unzulaenglichkeiten.

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Die verhaengnisvollen internationalen Folgen dieser Niederlage liegen heute in erschreckender Klarheit vor uns. Heute weiss die ganze Welt, was die deutsche Demokratie, die freie deutsche Arbeiterbewegung fuer die Freiheit und den Frieden Europas bedeutet haben. Ein freies und friedliches Europa kann nur leben mit einer starken deutschen Demokratie und einer starken und freien deutschen Arbeiterbewegung in seiner Mitte. Unsere Hoffnung ist, dass die Verantwortlichen Europas und der Welt diese Erkenntnis im Bewusstsein halten, wenn sie nach dem Sieg der Alliierten ueber die Neuordnung Europas zu entscheiden haben.

Aber diese Erkenntnis verpflichtet vor allem und in erster Linie die deutsche Demokratie und uns deutsche Sozialdemokraten. Wir wissen heute nicht, wann der Tag der neuen deutschen Revolution kommen wird. Hitler ist noch maechtig, und Revolutionen gegen starke und erfolgreiche Diktaturen existieren nur in der Vorstellung bestimmter Propagandisten. Aber wir wissen, Hitler wird diesen Krieg verlieren, er wird an seinen eigenen Verbrechen zugrunde gehen. Wir sind ueberzeugt, dass die deutsche Arbeiterschaft ihren aktiven
Anteil an dem Zusammenbruch der Diktatur
leisten wird. Eine Sturmflut von Hass und Vergeltung wird die Traeger dieses Systems hinwegfegen, und bei diesem Umsturz werden alle die auf ihre Rechnung kommen, denen die Umwaelzung von 1918 zu unblutig war. Die Geschichte des Grauens dieser Diktatur wird in den Schrecken ihres Unterganges ihre schauerliche Kroenung finden.

Aber Vergeltung und Suehne sind nur das Vorspiel einer Revolution. Die Umwaelzung selbst braucht konkrete politische Ziele.

Was wollen unsere Freunde in Deutschland, die auf den neunten November warten und fuer ihn arbeiten?

Was ist die grosse geheime Sehnsucht von Millionen Menschen in Hitlerdeutschland?

Es ist das heisse Verlangen nach den elementaren Menschenrechten: persoenliche Freiheit, Rechtssicherheit, soziale Sicherheit und Frieden.

Es sind im Grunde jene grossen alten Ideale, die den Fortschritt der Menschheit seit je getragen haben, es sind jene sittlichen Forderungen, die der modernen Arbeiterbewegung die elementare Kraft gaben.

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Hitler hat diese Ideen nicht toeten koennen, er hat sie gegen seinen Willen mit neuem Leben erfuellt. Sie haben eine neue, revolutionaere Kraft gewonnen.

Und dennoch wird sich der November 1918 nicht wiederholen. Zwischen 1918 und heute liegt eine Welt von Erfahrungen und Erkenntnissen fuer uns alle. Es gibt kein Zurueck zum November 1918 und zur Republik von Weimar.

Heute wissen wir: Es ist wichtig fuer die Arbeiterklasse, die politische Macht zu erkaempfen, aber noch wichtiger ist es, sie zu behaupten und zielbewusst anzuwenden. Die neue deutsche Revolution muss
die politische Demokratie sichern
durch einschneidende Veraenderungen in der bestehenden wirtschaftlichen Ordnung. Die Hintermaenner Hitlers in der Schwerindustrie und im Grossgrundbesitz muessen mit Hitler stuerzen. Die Basis ihrer Macht, ihr wirtschaftlicher Besitz, muss ihnen genommen werden.

Wirtschaftspolitik im Interesse der Gesamtheit
muss vom neuen Staat bestimmt werden. An die Stelle der Kriegswirtschaft muss die Friedens- und Bedarfswirtschaft treten, die Hunger und Not ueberwindet und den arbeitenden Menschen den gerechten Anteil an dem Ertrag ihrer Arbeit sichert.

Auf politischem Gebiet muss der neue Staat die elementaren Menschenrechte wieder in Kraft setzen. Es gibt nur eine Alternative auf den totalitaeren Staat, es gibt fuer Sozialisten nur eine Alternative auf die Missachtung und die Schaendung des Menschentums, das ist die Anerkennung des Rechts und der Freiheit der Persoenlichkeit. Achtung der persoenlichen Freiheit, Rechtssicherheit und politische Mitbestimmung muessen daher die Grundlagen der neuen politischen Ordnung sein. Es wird die Demokratie freier Menschen sein.

Aus den Erfahrungen und Schwaechen der Vergangenheit
aber wird die neue deutsche Demokratie in ihrer praktischen Politik die Lehren zu ziehen haben. Die neue Demokratie wird eine kaempferische Demokratie sein muessen. Demokratische Rechte ja, aber nicht fuer die Feinde der Demokratie, die nur das Ziel verfolgen, mit den Mitteln der Demokratie die Demokratie zu vernichten.

Die neue Demokratie muss nicht nur stark in der Verteidigung, sie muss auch stark im Angriff sein. Wir muessen eine lebendige Demokratie schaffen.

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Dazu gehoert der Ausbau der Selbstverwaltung bis in die untersten Gliederungen der Gemeinschaft.

Dazu gehoert eine neue oeffentliche Erziehung auf der einzigen Grundlage demokratischer und sozialer Gesinnung. Die neue Demokratie muss eine engere Verbindung zwischen Waehlern und Gewaehlten herstellen, der Buerger der neuen Demokratie soll nicht Listen, sondern politische Persoenlichkeiten waehlen koennen.

Die neue Demokratie, die vor der grossen Aufgabe der Schaffung einer neuen sozialen Ordnung stehen wird, bedarf einer stabilen und starken Fuehrung.

Das Spiel der Regierungsstuerzerei bei unwesentlichen Fragen, das soviel zur Untergrabung des Ansehens des Parlamentarismus beigetragen hat, darf sich nicht wiederholen. Eine Regierung, die fuer die Verwirklichung ihres Programms die prinzipielle Zustimmung des Parlaments hat, muss die Chance zur planmaessigen Verwirklichung ihres Programms erhalten, unter Aufrechterhaltung der Grundrechte jeden freien Parlaments: Verantwortlichkeit der Regierung gegenueber dem Parlament, Beschlussrecht des Parlaments in allen prinzipiellen Fragen und Kontrollrecht des Parlaments.

Schliesslich muss die neue deutsche Demokratie eine klare, eindeutige Aussenpolitik fuehren.
Aus freiem Entschluss, als das Resultat ihres freien Willens, muss sie ihre Aussenpolitik auf dem Grundsatz basieren: Der Krieg ist kein Mittel ihrer Politik. Das Bekenntnis zu einer solchen Politik schliesst den klaren und vollstaendigen Verzicht auf die Mittel dieser Politik ein. Das heisst die radikale und bedingungslose Vernichtung des Militarismus in allen seinen Formen und Institutionen.

Der Aufbau der neuen ueberstaatlichen Ordnung, die nach unserer Ueberzeugung als notwendige und unvermeidliche Konsequenz aus den Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre resultiert, muss im eigenen Haus mit dem Verzicht auf Souveraenitaeten und nationale Hoheiten beginnen. Die neue deutsche Demokratie muss nach innen und aussen in voller Freiwilligkeit und mit aller Entschlossenheit ihren Willen unter Beweis stellen, dass sie unter keinen Umstaenden die Anwendung militaerischer oder anderer Machtmittel als ein Mittel ihrer Aussenpolitik betrachtet.

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Die Ideen der Voelkerverstaendigung und der europaeischen Zusammenarbeit muessen wir aus dem Reich der Propaganda und der Festveranstaltungen in den Bereich der praktischen Politik stellen. Vor allem muessen diese Ideen kompromisslos zur Grundlage der oeffentlichen Meinungsbildung und der oeffentlichen Erziehung gemacht werden.

Diese Ideen sind geboren aus unserer sozialistischen Ueberzeugung. So wie wir auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet in der neuen Republik den Weg von der politischen Demokratie zur sozialistischen Ordnung gehen muessen und wollen, so muessen wir auch den Schritt tun zur Eingliederung Deutschlands in die neue europaeische Ordnung. Nach dem furchtbaren Erbe, das Hitler dem deutschen Volk hinterlassen wird, wird diese Politik auch die einzige sein, die das deutsche Volk wieder als einen angesehenen und gleichberechtigten Partner in die europaeische Voelkerfamilie zurueckfuehren kann.

Alle diese Aufgaben sind ungeheuer schwer. Sie werden in Angriff genommen werden muessen unter den schwersten innen- und aussenpolitischen Bedingungen. Sie sind Aufgaben, die die groessten Anforderungen an die konstruktiven Faehigkeiten der Sozialisten stellen werden, Aufgaben, die nur mit praktischen und konstruktiven Vorstellungen geloest werden koennen.

Aber auf dem duesteren Hintergrund des Chaos, das Hitler hinterlassen wird und gegenueber der Last der zu loesenden Aufgabe steht die grosse Chance des Sozialismus. Die alte Welt ist tot. Die Sehnsucht nach einer wirklich neuen Ordnung im Leben der Voelker und der Beziehungen der Voelker untereinander greift heute weit hinaus ueber die Kreise der arbeitenden Menschen.

Unsere Ideen leben in den freien Voelkern, in den okkupierten Laendern und in Deutschland selbst. Der Faschismus wollte die Menschen zu Sklaven machen. In der harten Schule der Diktatur sind sie politisch muendig geworden. Die ihnen gemaesse Lebensform der Zukunft wird und kann daher nur die soziale Demokratie sein. Sie muss und wird daher das Ziel der neuen Umwaelzung in Deutschland und Europa sein, dessen erste Flammenzeichen heute die Nacht des Schreckens der Diktatur erhellen. Ihre Verwirklichung ist die groesste konstruktive Aufgabe. Wir werden sie loesen, wenn wir den Elan der alten Bewegung verbinden mit der Fuelle unserer Erfahrungen und Erkenntnisse, wenn wir radikal gegen das Alte und konstruktiv im Neuen sind."

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Die Revolutionsfeier war wirkungsvoll ausgestaltet durch Musik und Rezitationen. Dr. Friedrich Behrend, der sich durch sein kuenstlerisches Koennen auch in London schon viele neue Freunde erworben hat, fand auch diesmal wieder mit seinen Klaviervortraegen die Herzen seiner Zuhoerer. Dora Segall brachte gut ausgewaehlte Rezitationen und Vorlesungen empfindungsreich und mitreissend zum Vortrag. Den Schluss bildeten einige frisch gesungene Kampflieder der sozialistischen Jugendgruppe.

Als dann der gemeinsame Gesang der Internationale diese denkwuerdige Feier deutscher Sozialdemokraten in London zur Erinnerung an die deutsche Revolution abschloss, schieden alle Teilnehmer in dem Bewusstsein der unloesbaren Verbundenheit in der grossen Idee des demokratischen Sozialismus.

Alle auswaertigen Teilnehmer waren bei Londoner Parteigenossen in Privatquartieren untergebracht, und so gab es reichlich Gelegenheit, alte Freundschaften zu erneuern und in kleinem Kreis die alle bewegenden Fragen der Gegenwart und der Zukunft der deutschen Arbeiterbewegung zu eroertern.


Der Sonntagvormittag
war ausschliesslich der Aussprache gewidmet.

Vor Beginn ihrer Arbeit vereinigte sich die Konferenz jedoch zu einer herzlichen Ovation fuer die Genossin Elisabeth Eisner, die an diesem Tag ihren 75. Geburtstag im Kreise ihrer Parteigenossen feierte. Genosse Julius Lederer, der ebenfalls in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag feierte, brachte den Dank der beiden Geburtstagskinder fuer die Ehrung zum Ausdruck.

In der mehrstuendigen Aussprache beteiligte sich eine grosse Anzahl Genossen. Der Raummangel verbietet uns, im einzelnen auf die Aussprache einzugehen.

Alle Diskussionsredner beschaeftigten sich mit den vor uns liegenden Aufgaben, und einmuetig war der Wille, in kameradschaftlicher und sachlicher Zusammenarbeit die Mittel und Wege zu finden, die der deutschen Arbeiterschaft, dem deutschen Volke und Europa nach den Schrecken dieses Krieges soziale Sicherheit und dauernden Frieden [zu] geben vermoegen. - Der Vorsitzende der Tagung, Genosse Sander, konnte die Konferenz mit der Feststellung schliessen, dass diese erste gemeinsame Tagung deutscher Sozialdemokraten in England ein erfolgversprechender Beginn einer staendigen Zusammenarbeit und neuer Aktivitaet war.

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wurde durch die letzten militaerischen und politischen Ereignisse in vielen Faellen stark beeinflusst. Bisher erreichten uns nur wenige Originalberichte. Es ist jedoch anzunehmen, dass unter den mehreren tausend Fluechtlingen, die sich von Frankreich nach Spanien und der Schweiz noch rechtzeitig vor Hitlers Einmarsch in Suedfrankreich retten konnten, auch mehrere unserer Freunde und Genossen befinden. Ob die Mitglieder der Internationalen Brigade - unter denen sich auch einige unserer Genossen befinden - bereits in Nordafrika in Freiheit gesetzt worden sind, ist noch nicht sicher. Es ist aber anzunehmen, dass sich das Schicksal dieser Fluechtlinge durch das Eingreifen der Amerikaner wesentlich verbessern wird.[2] - Ausser den ca. 200 politischen Fluechtlingen, die im August von den Vichybehoerden an die Nazis ausgeliefert wurden, sind kurz vor Hitlers Einmarsch am 11. November weitere politische Fluechtlinge den deutschen Behoerden uebergeben worden. Eine Liste mit 24 Namen der Betroffenen befindet sich in unseren Haenden. Unser im vergangenen Jahre ausgelieferter Genosse Dr. Rudolf Breitscheid befindet sich im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg. In seiner Naehe befindet sich seit kurzer Zeit der ehemalige oesterreichische Bundeskanzler Schuschnigg.[3]-

Von dem Genossen Max Sievers fehlen jegliche neuere Nachrichten. Die letzten Mitteilungen von Freunden, die ihn in Suedbelgien sahen, sind viele Monate alt. Es scheint sicher zu sein, dass er in einem Augenblick einen Schlaganfall erlitten hat, in dem er einem Nazioffizier seinen Namen und seine sonstigen Personalien angeben musste. Er wurde auf einer Bahre fortgetragen, und niemand hat etwas weiteres von ihm erfahren.

Bei Redaktionsschluss erfahren wir, dass unser Gen. Franz Kuenstler[4], der langjaehrige Berliner Reichstagsabgeordnete und Bezirksvorsitzende, im Alter von 54 Jahren in Berlin verstorben ist. Er war einer der aktivsten Genossen, wurde von den Nazis wiederholt ins Konzentrationslager gesteckt. Alle Mitgefangenen bestaetigten, dass nichts Franz Kuenstler in seiner mutigen und aufrechten Haltung erschuettern konnte.

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im Dezember 1942
im Austrian Labour Club, 31, Broadhurst Gardens, N.W. 6


Freitag, den 4. Dezember 7.30 p.m.: Vortrag des Gen. Rawitzki "Was koennen wir aus der englischen Rechtsprechung und Verwaltung lernen?" Gaeste willkommen.


Freitag, den 18. Dezember 7.30 p.m.: Vortrag ueber "Westeuropa im Kampf gegen Hitler". Redner: Minister Pierre Krier[5] der luxemburgischen Regierung.




Union deutscher sozialistischer Organisationen in Grossbritannien.

Mitgliederversammlung, Sonntag, den 6. Dezember vorm[ittags] 10 Uhr, im Austrian Labour Club, N.W.6

Thema: "Moeglichkeiten und Aufgaben einer sozialistischen Einheitspartei".
Redner: E. Ollenhauer


Voranzeige:

Sonnabend, den 30. Januar 1943:Oeffentliche Kundgebung
"Zehn Jahre Hitler - Diktatur"

Lokal und sonstige Einzelheiten werden noch mitgeteilt.




Eine Weihnachtsfeier

mit buntem zwanglosem Programm
soll unsere Genossen und Genossinnen fuer einige Stunden zusammenbringen.

Sonnabend, den 26. Dezember, ab 4 Uhr
geselliges Beisammensein im neuen Heim unserer sudetendeutschen Genossen, 90, Fitz John's Avenue, London NW6.
Das Haus ist in wenigen Minuten von folgenden 3 U-Stat[ionen] zu erreichen:

Swiss Cottage, Finchley Road und
Hampstead (Morden-Edgware Line)

Die Ansprache haelt Genosse Wenzel Jaksch.

Unkostenbeitrag: sh 1/-
(Dafuer jedoch Kaffe und Weihnachtsgebaeck,
Tassen und Kaffeeloeffel bitte mitbringen)

Musikal[ische] Unterhaltung, Rezitationen, Tanzgelegenheit.




Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW7.






Editorische Anmerkungen


1 - Gemeint sind u. a. die Rede Hitlers am 8.11.1942 in München zur "Feier" des Marsches auf die Feldherrenhalle von 1923, die Rede Görings am 4. Oktober in Berlin und die Goebbels-Rede am 18. Oktober vor der Münchener Feldherrenhalle.

2 - Am 7. und 8. November 1942 war die alliierte Landung in Marokko und Algerien unter dem Oberbefehl Eisenhowers erfolgt (Operation Torch).

3 - Kurt Schuschnigg (1897 - 1977), österreichischer Politiker, Gründer und ab 1930 Führer der Ostmärkischen Sturmscharen, österreichischer Bundeskanzler 1934-1938, 1941-1945 im KZ.

4 - Franz Künstler (1888 - 1942), 1920-1933 MdR, ab März 1933 verhaftet, später KZ. An seiner Beisetzung (16.9.1942) sollen - nach Angaben von Augenzeugen - 12.000 Menschen teilgenommen haben.

5 - Pierre Krier (1885 - 1947), Luxemburger sozialistischer Politiker und Gewerkschafter, ab 1937 Arbeits- und Sozialminister (auch in der Londoner Exilregierung).



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