SOZIALISTISCHE MITTEILUNGEN

News for German Socialists in England

This newsletter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

Nr. 39 - 1942

1. Juli

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Das Bekanntwerden und die kürzliche Ratifizierung des britisch-russischen Bündnisvertrages[1] haben gezeigt, dass auf dem Weg zur Verständigung unter den gegen Hitler-Deutschland und seine Mitverschworenen kämpfenden Mächten ein grosser Schritt vorwärts geschehen ist.

Der Vertrag, der die Zustimmung der Vereinigten Staaten erhielt, stellt ein für allemal klar, dass die Lehren aus den Erfahrungen Münchner und Moskauer Paktpolitik gezogen sind: dass es kein Paktieren mit dem Hitler-Regime seitens einer britischen oder russischen Regierung mehr geben wird. Er stellt weiter klar, dass die Londoner und Moskauer Regierungen nicht nur bis zum Ende des Kampfes, sondern bis zur Stabilisierung des Friedens miteinander zusammenarbeiten werden.

Es ist angesichts des noch immer ungeklärten Verhältnisses der Sowjetunion gegenüber dem japanischen Angreifer (dem ersten und ältesten in der Serie der Angriffskriege, die in diesem Weltkriege gipfelte) nur von dem Kampf und dem Frieden in Europa die Rede; es ist auch über die Grenzziehung in Europa nichts gesagt. Aber wichtiger als die Frage, über welche Punkte noch kein Abkommen fixiert werden konnte, ist die Tatsache, dass über die wichtigsten Punkte Einigkeit herrscht: über den kompromisslosen Kampf bis zur Vernichtung des Hitler-Regimes und seiner Bundesgenossen und über die Grundsätze der Atlantic Charter, die den Verzicht auf territoriale Forderungen und auf Einmischung in die politischen Verhältnisse anderer Länder aussprechen. Ein Misstrauen, das noch immer bestand, ist damit ausgelöscht, eine Gewähr für Bündnistreue und konstruktive Zusammenarbeit gegeben.

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Wer der Ueberzeugung ist, dass dieser Krieg über die Zukunft der Menschheit entscheiden wird, dass er weit mehr als eine militärische Auseinandersetzung [ist] (und dass der Versuch Verständnisloser, ihn zum imperialistischen oder nationalistischen Krieg alten Musters zu stempeln, hoffnungslos verfehlt ist), der wird die Bedeutung jedes Schrittes zu würdigen wissen, der das politische Ziel des Kampfes und seinen zukunftweisenden Sinn klarer macht.

Bei den Londoner und Washingtoner Besprechungen mit Molotow[2] war von den Aufgaben, eine zweite Front in Europa zu schaffen, die Rede. Wer nicht blind ist, sieht, dass diese Aufgabe ebenso politische wie militärische Vorarbeit erfordert, und der britisch-russische Vertrag war ein wichtiges Stück dieser Vorarbeit.

Ein weiteres Stück ist bei den Konferenzen geleistet worden, die Roosevelt und Churchill in den letzten Tagen in Washington abhielten. [3]

Es ist für jeden verständnisvollen Beobachter klar zu sehen, dass es sich dabei um die weitere Koordinierung der Kriegsführung, der Kriegsproduktion, der militärischen und politischen Strategie handelt, um die Festigung und den Ausbau dessen, was hier vor Monaten schon als die "Weltfront" bezeichnet wurde.

Wer geglaubt hat, die Probleme, denen sich die Kämpfer gegen den Weltfaschismus gegenübersehen, seien mit billigen Schlagworten zu lösen und dieser Krieg um die Welt und die Zukunft der Menschheit sei mit kurzfristigen Parolen und schnellfertigen Abenteuern zu gewinnen, dem haben die Ereignisse der letzten Wochen abermals als ernste Lehre gedient. Es hat sich bewahrheitet, dass Hitlers diesjährige verspätete Offensive nichts mehr von dem "Blitzkrieg"-Charakter der Hitler-Offensiven im ersten und zweiten Kriegsjahr aufwies, aber es hat sich gezeigt, dass sie deshalb nicht leicht zu nehmen ist.

An der russischen und stärker noch an der nordafrikanischen Front haben Hitlers Armeen in schweren Kämpfen Gelände gewonnen, und wenn sie auch von ihren Zielen: dem Kaukasus und dem Suezkanal, noch erheblich entfernt sind, so ist doch sicher, dass es harter Kämpfe bedürfen wird, um sie zum Stehen und zum erneuten Rückzug zu bringen. Es wäre sinnlos, den Ernst von Ereignissen wie des Falles von Tobruk und Sollum oder der kritischen Lage auf der Krim zu verkleinern.[4]

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Es wäre gleichfalls verfehlt, die Gefahr zu verkennen, in der sich China befindet, nachdem Japan sich entschlossen zu haben scheint, unter vorläufigem Verzicht auf Angriffe gegen Australien und Indien die ganze Wucht ihrer Attacken auf China zu konzentrieren.

Aber ebenso töricht wäre es, aus Rückschlägen und Krisen übertrieben pessimistische Folgerungen zu ziehen und die hoffnungsvollen Ereignisse zu vergessen oder zu übersehen, die zu gleicher Zeit stattfanden. In den Schlachten im Korallenmeer und bei der Midway-Insel hat die japanische See- und Luftflotte schwere Verluste erlitten, die sie zum Rückzug und zur Kampfpause im Pazifik zwangen.[5]

Und dass die britische Luftflotte trotz kurzer Sommernächte zum dritten Male in vier Wochen einen Massenangriff von über tausend Bombern auf ein Ziel in Deutschland selbst konzentrieren konnte, beweist, welche Möglichkeiten sich für die nahe Zukunft eröffnen.

Vergessen wir in diesem Zusammenhange auch Hitlers heimische Front nicht. Je fürchterlicher und grauenhafter der Terror der SS und der Kriegsgerichte in Deutschland und den besetzten Gebieten wütet, umso deutlicher wird es, wieviel Opposition in Hitlers Herrschaftsbereich vorhanden ist - und wie stark die Kraft sein wird, die im entscheidenden Augenblick von innen her wirken wird, wenn der Stoss ins hitlerbeherrschte Europa von aussen her beginnt.

Wieviel Zeit bis dahin vergehen wird und wieviel Anstrengungen erforderlich sein werden, vermag niemand vorherzusagen. Je klarer denen, die gegen die Welt-Unterdrücker kämpfen, das Ziel ihres Kampfes ist, je grösser die Entschlossenheit, von Illusionen so wenig wie von Schwarzseherei und Verhetzung beirrt zu werden, desto sicherer der Sieg und desto gewisser der Untergang derer, für die Heydrichs Ende in Prag ein Vorbote eigenen Untergangs war.

Das Preisgefüge der deutschen Kriegswirtschaft gerät langsam ins Wanken. Dr. Fischboeck, der Beauftragte für die Preisbildung, und der Wirtschaftsminister Dr. Funk bemühen sich seit langem, das geschwundene Vertrauen in die Stabilität der Preise wieder herzustellen.

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Drei verschiedene Preissysteme
haben sich im Augenblick nach langen Irrungen und Wirrungen herausgebildet. Offiziell gilt noch immer der Stoppreis vom Oktober 1936 als die Regel. Daneben steht der Kalkulations-Preis. Das dritte Preis-System, das im Herbst des vergangenen Jahres eingeführt wurde, basiert auf dem sogenannten Fest-Preis für Rüstungen.

Eine grobe Uebersicht zeigt, dass die drei Preis-Systeme, die heute nebeneinander bestehen, verschiedene Perioden der Aufrüstung vor dem Krieg und der eigentlichen Kriegswirtschaft kennzeichnen.

Der Preis-Stopp entsprang der Auffassung, dass normale Preisveränderungen durch Marktregelungen ersetzt werden können. Der nationalsozialistische Staat, der die Grundlagen der Kriegsplanwirtschaft bereits aufgebaut hatte, erklärte damit nichts anderes als den Anspruch auf eine bürokratische Fixierung der Preise. Bereits vor dem Kriege stellte sich heraus, dass die Staatsorganisation, vertreten durch den Preis-Kommissar, nicht in der Lage war, Preisveränderungen zu verhindern. In der Produktions-Sphäre musste der Stopp-Preis aufgegeben werden. Er wurde ersetzt durch den sogenannten Kalkulationspreis. Von Ende 1938 bis in die ersten Kriegsmonate entwickelte sich auf der Basis der Richtlinien und Leitsätze für die Preisbildung ein ausserordentlich kompliziertes Kalkulations-System. Seine Basis war nichts anderes als eine Addition der "Produktionskosten" plus eines "angemessenen" Gewinnes. Es ist leicht zu erkennen, dass dieser Kalkulationspreis, der mit keinerlei Lohnveränderungen zu rechnen brauchte, ausserordentlich vorteilhaft für die Industrie war.

Der "angemessene" Gewinn ermöglichte gute Kriegsgewinne. Spekulation an der Börse folgte, und die Nazi-Regierung war gezwungen, ein System der Dividendenbeschränkung und der Gewinnabführung zu verordnen. Dividenden wurden allgemein auf 6% beschränkt.

Die Gewinnabführung war jedoch wesentlich schwieriger. Zunächst musste ein "angemessener" Gewinn festgesetzt werden mit Hilfe der sogenannten Gewinnrichtpunkte. Auf der Grundlage dieser Richtpunkte hatten die Unternehmer eine Gewinnerklärung abzugeben.

Die Bürokratie feierte einen Triumph, ohne eine Aenderung herbeizuführen. Die Unternehmer kalkulierten nach wie vor auf der Basis: Kosten plus Gewinn.

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Der eigentliche Zweck der Gewinnabführung,
die Senkung der Preise, wurde nicht erreicht. Von einem Preis-System konnte kaum noch geredet werden. Der gleiche Artikel wurde an die Behörden zu ganz verschiedenen Preisen verkauft, je nachdem die individuellen Kosten der einzelnen Unternehmungen verschieden waren.

Dieser Zustand wurde sogar für die Nazi-Kriegswirtschaft unerträglich.

Dr. Fischboeck erfand deshalb des System der Festpreise. Der ursprüngliche Plan bestand darin, für rund 30.000 verschiedene Artikel Festpreise zu erlassen.

Das Problem war aber, wer soll die Festpreise erlassen. Zu diesem Zweck wurden bei allen Behörden sogenannte Arbeitsstäbe eingerichtet, die unter Ausschluss der Unternehmer-Organisationen neue Preise errechneten.

Die Festpreise wurden so kalkuliert, dass die grossen Konzerne und modernen Betriebe begünstigt wurden. Die Unternehmer waren so erfreut über diese neue Einrichtung, dass sie von einer Rückkehr zur "freien Marktwirtschaft" zu reden begannen. Sie mussten aber gleichzeitig eine Gewinnsteuer nach dem Muster der britischen Excess Profit Tax[6] in Kauf nehmen.

Der Vorteil dieser Festpreise ist leicht einzusehen. Die schwierige und zeitraubende Arbeit der Kalkulation und Gewinnerklärung ist nicht mehr notwendig. Diese Arbeit ist vollständig auf die Reichsbehörden abgewälzt. Zur Zeit sind die Preise für rund 1.700 Artikel fixiert, deren Wert rund ein Drittel des gesamten Wertes der Waffen- und Munitions-Produktion ausmachen soll.

Steigerung der Lebenshaltungskosten
Was sich auf dem Rüstungs-Sektor abspielte, ist natürlich nicht ohne Einfluss auf alle anderen Gebiete geblieben. Die Preise für Lebensmittel und andere Waren für die Zivilbevölkerung sind gleichfalls gestiegen. Die deutsche Presse gibt ganz offen zu, dass der Index der Lebenshaltungskosten rein fiktiv geworden ist.

Die Preise für Textilwaren sind z.B. seit Beginn des Krieges um mehr als 50% gestiegen. Die nicht rationierten Lebensmittel, in erster Linie Gemüse, sind fast unerschwinglich für grosse Teile der Arbeiter. Die Mieten für möblierte Räume stiegen unaufhörlich weiter.

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Sorge um die "Flucht in die Sachwerte"
Es ist deshalb kein Wunder, dass Dr. Funk zu erklären versucht, dass in Kriegszeiten die Währung einen Teil ihres Wertes verlieren muss, während Dr. Fischboeck verzweifelte Anstrengungen macht, das Vertrauen in die Stabilität der Preise wieder herzustellen.

Das erste Mittel war die Einrichtung regionaler Preiskontrollbehörden, die mit grossen Vollmachten ausgestattet wurden. Gleichzeitig hielt Dr. Fischboeck daran fest, die Preise senken zu wollen.

Er dekretierte die Reduktion der Bierpreise, der Frühstückspreise in Restaurants und einiger industrieller Artikel, wie z. B. Glühlampen und Fensterscheiben. Er begnügte sich aber damit, das brennende Problem der Mieten vorläufig nur zu diskutieren. Es scheint, dass eine allgemeine Senkung der Mieten um 10% beabsichtigt ist. Dr. Fischboeck glaubt, dass auf diese Weise die Verzinsung von Hauseigentum auf rund 4% gesenkt werden kann. Die Hauseigentümer würden auf diese Weise gerade ein halb[es] % mehr verdienen als die Besitzer von Staatspapieren. Dr. Fischboeck ist nämlich besorgt um die "Flucht in die Sachwerte".

Aktienspekulation an den deutschen Börsen
Als die Gewinne noch völlig unbegrenzt waren, entstand die wilde Spekulation an den deutschen Börsen für Aktien. Seitdem die Aktienspekulation formell unterbunden ist, scheinen sich die Besitzer von Geldkapital auf die wirklichen Sachwerte zu stürzen. Dr. Fischböck erklärte in einer Rede, dass er die Absicht habe, den Erwerb von Sachwerten zu "vermiesen".

Die augenblickliche Preis-Situation kann aber keineswegs mit der Periode von 1919 bis 1923 verglichen werden. Damals fehlte jede wirksame Preiskontrolle, ganz abgesehen davon, dass die deutsche Währung an allen ausländischen Börsen frei gehandelt wurde. Heute ist die Kontrolle der Preise noch nicht völlig unwirksam geworden. Das Problem ist, die Vielzahl der bürokratisch fixierten Preise zu vereinheitlichen. Dr. F[ischboeck] glaubt, dass Preise gesenkt werden können, obwohl die Kriegswirtschaft mit ihrer unvermeidlichen Verschwendung und ihrer sinkenden Produktivität die Preise unaufhaltsam in die Höhe treibt.

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sind bisher als "Repressalie" für die Schüsse auf Heydrich gemeldet worden. Dieser verabscheuungswürdige, systematische Massenmord ist bisher nur durch die soeben von der polnischen Regierung veröffentlichten Ziffern über die Massenschlächterei der Nazis gegen die polnischen Juden übertroffen worden.

Unter den Prager Opfern der tschechischen Freiheitskämpfer befindet sich auch der unseren Genossen wohlbekannte Freund und Helfer der deutschen Emigration in der Tschechoslowakei, der Parteisekretär J. O. Berger.[7]

Rat und Tat stellte er uns von den ersten Tagen unserer Emigration nach der CSR zur Verfügung. In behördlichen, organisatorischen und politischen Fragen war Berger ein verständnisvoller Helfer und Vermittler. Gemeinsam mit Kapitän Voska, der jetzt in [den] USA ist, stellte er uns das Heim in Zbraslav zur Verfügung. Fleissige Arbeit unserer Genossen, materielle Hilfe tschechischer Gewerkschafts- und Genossenschaftsstellen, Mittel des PV und der GEC und laufende Unterhaltsbeträge der sudetendeutschen Sozialdemokraten schufen das "Schloss Zvraslav", eine mustergültige Wohnstätte für 70 sozialdemokratische Flüchtlinge, darunter Frauen und Kinder.

Den Genossen Klein, Weil, Kaufmann[8], Heeger[9] ist nun auch der Sekretär der tschechischen Bruderpartei als Opfer des faschistischen Terrors gefolgt. Auch ihm und seinen Genossen und Freunden hat die deutsche Arbeiterklasse in einem von Hitler und seinem Regime befreiten Europa ihre Dankesschuld abzutragen.

wurde diesmal am 24. und 25. Juni in London abgehalten. Probleme der Frau in der Industrie, Kinder- und Frauenschutz im Krieg, Erziehung, Lebensmittelverteilung, Sozialgesetzgebung und Nachkriegsplanung wurden mit Eifer und grosser Sachlichkeit diskutiert, sicher und selbstbewusst trat eine Frau nach der anderen vor das Mikrophon. Attlee sagte u.a. zu den Frauen: "... wir kämpfen auch darum, dass Frauen wie Ihr das Recht behalten sollen, frei ihre Meinung zu sagen und teilzunehmen am politischen Leben ihres Landes, etwas, was die Frauen in Italien und Deutschland nicht können..."

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L I D I C E


"... die männlichen Erwachsenen erschossen, die Frauen in ein KZ überführt, die Kinder einer geeigneten Erziehung zugeführt, die Gebäude des Ortes dem Erdboden gleichgemacht und den Namen der Gemeinde ausgelöscht." Diese Schreckensmeldung verbreitete der Prager Rundfunk in seiner Abendmeldung am 10. Juni 1942.

"Dieser Mord, diese neue Kulturschande der Hitler-Regierung muss gesühnt, muss wieder gut gemacht werden! Der Kampf der tschechoslowakischen Freiheitskämpfer ist auch unser Kampf! Lidice ist unsterblich!"

Dies Gelöbnis brachten deutsche und italienische Sozialdemokraten am 12. Juni in einer Londoner SPD-Versammlung zum Ausdruck, die der Ehrung Matteottis galt.

Alle Kundgebungen des Abendes, die einleitenden Worte des Versammlungsleiters, die Gedächtnisrede unseres italienischen Genossen Paolo Treves, aufrüttelnde Verse der Dichter Hans Sahl[10] und Ernst Toller[11] und der russische Revolutions-Sang "Unsterbliche Opfer"[12], von der sozialistischen Jugend und unseren österreichischen Freunden gemeinsam vorgetragen, galten nicht nur den italienischen und deutschen Opfern des Faschismus, sondern auch den französischen Geiselmorden, dem Verbrechen an den norwegischen Lehrern, den Kämpfern in Russland und Polen, in den serbischen Bergen, der belgisch-holländischen Ebene und den unsterblichen Helden des Freiheitskampfes in der tschechoslowakischen Republik!

Der grausame Rachefeld der Hitlerdiktatur, der in der unmenschlichen Vernichtungsaktion gegen das tschechische Dorf Lidice einen neuen Höhepunkt erreicht hat, veranlasst die unterzeichneten Vertreter der deutschen Emigration in England zu folgender Erklärung:

"Wir fühlen uns in dieser Stunde zuerst und zutiefst verbunden mit den tschechoslowakischen Freiheitskämpfern. Wir sehen in dem Freiheitskampf des tschechoslowakischen

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Volkes wie aller von Hitlerdeutschland unterdrückten Völker auch einen Appell an die Gegner des Nationalsozialismus in Deutschland selbst, ihre Solidarität mit den für ihre Befreiung kämpfenden Völkern aktiv zu bekunden.

Die Hitlerdiktatur, die die Arbeiter von Mannheim und die Arbeiter von Lidice mordet, ist der gemeinsame Feind. Diesem System, das die Völker Europas mit blutiger Gewalt unterdrückt, gilt unser gemeinsamer Kampf. Wir erneuern die Erklärung, mit allen unseren Kräften mitzuhelfen an der vollständigen Vernichtung der Hitlerdiktatur und der deutschen Kriegsmaschine.

Wir bekunden unsere Uebereinstimmung mit der Erklärung der alliierten Regierungen
vom 13. Januar 1942, dass man die Schuldigen an den Verbrechen, die im Namen der gegenwärtigen Machthaber Deutschlands verübt werden und verübt wurden, ihrer gerechten Strafe zuführt.

Wir erneuern unsere Solidaritätserklärung mit allen Kämpfern für die Freiheit in der festen Ueberzeugung, dass der Tag näherkommt, an dem die Gegner des Hitlerregimes in Deutschland selbst mithelfen werden, die Diktatur zu zerbrechen und an denen gerechte Vergeltung zu üben, die zuerst in Deutschland und dann in ganz Europa die Herrschaft des Schreckens und des Verbrechens errichteten."

(Der englische Text und die Unterzeichner stehen auf den Seiten 11 und 12. Die Erklärung wurde im Auszug in der Arbeitersendung des Londoner Rundfunks verbreitet.)

[seines] Volkes und seiner Regierung erkläre ich feierlich, dass wir für alles, was in diesen Tagen in unserer Heimat geschah, Hitler und, ausnahmslos, alle Mitglieder seiner Regierung persönlich verantwortlich machen.

Wir betrachten als persönlich verantwortlich alle Exponenten der Nazi-Partei und der Reichsregierung auf unserem Gebiet, mit von Neurath und Daluege einerseits, K. H. Frank[13] und Henlein andererseits und weiter alle Führer der Gestapo und SS-Formationen, auch Dr. Bertsch[14], alle Landräte und führende Vertreter der reichsdeutschen politischen, polizeilichen und militärischen Verwaltung in unserem Lande.

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Da wir uns mit Deutschland im Krieg befinden, werden wir diesen Personen gegenüber das Kriegsrecht anwenden, das für alle diese Taten [die] Todesstrafe vorsieht.

Am ersten Tage unseres Sieges werden wir diesen Beschluss von der zuständigen gesetzgebenden und politischen Körperschaft bestätigen lassen und mitleidlos mit allen Konsequenzen durchführen.

Wir werden unablässig Gerechtigkeit fordern, bis die erwähnten Verbrecher, die wir entweder in unserem Lande finden werden oder deren Auslieferung wir im Einvernehmen mit unseren Verbündeten nachdrücklichst fordern werden, ihre verdiente Strafe ereilt hat."

(Präsident E. Benes am 13. Juni im Londoner Radio)

"... Wir wissen, es wird auch in Deutschland gemordet ohne Unterlass. In Mannheim, in Essen, in Berlin starben aufrechte Arbeiter in den Händen der Gestapo-Würger.

Tausende meiner besten Kameraden im Sudetengebiet sind in den letzten drei Jahren in die Hölle von Dachau, Oranienburg und Buchenwald eingeliefert worden. Viele von ihnen wurden zu Tode gefoltert.

Aber an dem tschechischen Volke werden die schlimmsten Freveltaten der Gestapo-Henker verübt. Die Ruinen des Bergarbeiterdorfes Lidice sind ein Schandmal für alle Zeiten.

Das tschechische Volk wird wieder frei sein, und sein Spruch wird richten über alle, die an seiner Verfolgung teilhatten.

Zählen wird vor dem Spruch der Geschichte nur das Ausmass der praktischen Solidarität, welches im antifaschistischen Kampfe bewiesen wurde.

Praktische Solidarität in allen Kriegsbetrieben des Dritten Reiches, wo Arbeiter verschiedener Nationalitäten beisammen sind, muss daher die Antwort auf die Welle des Gestapo-Terrors sein, die sich erneut über den ganzen Kontinent ergiesst.

Die tschechischen Freiheitsopfer sterben auch für die Freiheit der deutschen Antifaschisten...."

(Wenzel Jaksch in einer Rundfunkrede, die am am 11. Juni in der Arbeitersendung des Londoner Rundfunks verbreitet wurde)

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the cruel war of vengeance which the Hitler regime is waging against Czechoslovakia, has culminated in the inhuman destruction of the Czech village Lidice. This unprecedented atrocity induces us to make the following
declaration:

"The Czechoslovak fight for freedom is our fight too. This fight of the Czechoslovak nation as well as that of all nations, enslaved by Hitlerite Germany, is an appeal to the enemies of National Socialism inside Germany to join forces, in active solidarity, with the peoples fighting for their liberation.

The dictator Hitler, who murdered the workers of Mannheim and the workers of Lidice, is our common foe. We are at war, united in a common front, against this murderous system of tyranny.

We renew our pledge to endeavour to help, to the best of our abilities, in crushing Hitler's dictatorship and in destroying the German war machine.

We assert our full agreement with the Declaration of the Allied Governments, of January, 1942, by which they announce their stern determination to inflict just punishment on all those who are responsible for the crimes that have been perpetrated and are being perpetrated in the name of the present rulers of Germany.

We renew our bond of solidarity with all fighters for freedom, in the firm belief that the day is not far off, on which the enemies of the Hitler regime in Germany will co-operate actively to overthrow the dictatorship and to avenge the crimes committed by those men who set up, first in Germany and then throughout Europe, this regime of bestial terror and unspeakable crime.

London, June 16th, 1942.

Union of German Socialist Organisations in Great Britain
(Union deutscher sozialistischer Organisationen in Grossbritannien)

Hans Vogel

Trade Union Centre for German Workers in Great Britain
(Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Grossbritannien)

Hans Gottfurcht

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Emergency Society for German Scholars in Exile
(Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland)

F. Demuth[15]

German Socialist Freedom League
(Freiheitsbund Deutscher Sozialisten)

Kurt Hiller[16]

Auslandsvertretung der D.F.P.

W. Westphal[17]

Deutsche Volkssozialisten

Hans Jaeger[18]

"Kameradschaft" Bündische Opposition
(Jungnationale, Jungkatholiken und freie Bünde)

Hans Ebeling[19]

USA-Blätter haben konstatiert, dass dieser Krieg vom amerikanischen Volke ohne Hass geführt wird. Schon die Haltung der Arbeiterorganisationen zu den Fragen der Rüstungsarbeit hat bewiesen, dass der Wille zum Siege tief in den Massen sitzt. Aber es gibt, was bei Kriegsausbruch schon in England und Frankreich zu sehen war, keinen Hass von Volk zu Volk.

Als [die] USA in den Ersten Weltkrieg eintrat[en], flogen in Yorkville - einem deutschen Viertel New Yorks - verschiedene deutsche Schaufenster in Trümmer, deutschsprechende Leute wurden auf den Strassen insultiert, deutsche Zeitungen konnten nicht mehr erscheinen. Die Abneigung gegen alles Deutsche erstreckte sich bis auf die bis dahin beliebten Frankfurter und Hamburger; sie wurden zwar weiterhin mit Appetit gegessen, mussten aber umgetauft werden.

Das ist diesmal anders. Keine Fenster mussten dran glauben, die deutsche Sprache ist nicht verfemt, deutsche Fressalien behielten ihren ehrlichen Namen, deutsche Blätter liegen öffentlich aus, in deutschen Kinos werden deutsche Filme gespielt. Der Durchschnittsamerikaner mag den "Japs" nicht leiden und bemitleidet das italienische Volk, während ihm das deutsche Volk ein trauriges, erschreckendes Rätsel bedeutet. Der Hass fehlt ... Man ersieht das deutlich an Presse und Propaganda. Entschiedener Wille zum Durchhalten, aber keinerlei Beschimpfungen gegnerischer Völker, wie es im Ersten Weltkriege auf allen Seiten im Schwange war.

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Selbst die Karikatur, die sich Verzerrungen am ehesten leisten darf, hält sich hierzulande zurück. Mag bei der Symbolisierung des Japaners noch am ehesten der herkömmliche "gelbe Affe" (wie ihn einst die deutsche Karikatur prägte) mit unterlaufen - der deutsche Feind wird nicht als Hunne gezeigt, sondern immer [sind] es das Regime, das Hakenkreuz, die Hitlervisage, die "hochgenommen" werden.

Wie ist diese Hasslosigkeit, diese noble Distanz zu erklären? Es ist nicht allein die seit dem Weltkrieg in allen demokratischen Völkern gewachsene Erkenntnis von der internationalen Verkettung aller Völkerschicksale, die greifbare Heranreifung übernationaler Auffassungen und weltbürgerlicher Denkart. Es ist das Wissen von der Stummheit, Stumpfheit und Apathie, mit der das italienische und deutsche Volk seine Soldaten marschieren liess. Und die Massen der deutschen Refugees in Amerika, die antifaschistische Propaganda der deutschsprachigen Blätter, demonstrieren den demokratischen Volksmassen das "zweierlei Deutschland" ... Der sogenannte gesunde Menschenverstand sträubt sich dagegen, eine ganze Nation, die sich einst zu den Kulturnationen rechnen durfte, mit der nazistischen Bestialität zu identifizieren. Der Glaube an das Menschliche im Menschen, ohne den die Masse Mensch nie wird auskommen können, wehrt sich gegen solche Identifikationen.

Etwas anderes sind die Fragen der Friedensbedingungen. Der "Mann der Strasse" weiss aus offiziösen Aeusserungen und denen der Presse, dass diese Bedingungen sehr hart sein werden.

Auch hier in Amerika ist die Furcht vor bolschewistischen Gefahren erheblich geringer als die Furcht und die Beklemmung vor den Folgen jener nihilistisch-barbarischen Erziehung, mit der der Hitlerismus die jüngeren deutschen Generationen verwirrte, verwüstete und zu entzivilisieren suchte. Die "öffentliche Meinung", soweit man sie hier aus der Presse und allgemeiner Stimmung erkennen kann, ist für energische Gegenmassnahmen, Wiedergutmachung und künftige Sicherungen. Das amerikanische Volk empfindet dies als bittere Notwendigkeit - ohne Hass, ohne Vergeltungswut, ohne Unterdrückungssucht. Wobei mitsprechen mag, dass es bisher von den Schrecken und der Grausamkeit des modernen Krieges wenig gespürt hat.

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Ueber dies[es] Thema sprach in einer Versammlung der Londoner SPD-Gruppe Louis Lévy, der als früheres Mitglied des französischen Parteivorstandes und Redakteur des "Populaire" hierzu besonders geeignet war. Die Versammlung zeichnete sich durch guten Besuch, durch die Anwesenheit mehrerer Gäste aus Bruderparteien und durch die Qualität des Referates aus. Der Redner begann seinen spannenden Vortrag mit einem mutigen Bekenntnis zur Solidarität der französischen mit den deutschen Genossen im Kampfe für die Niederringung Hitlers und für die Schaffung eines neuen Europa mit dem Fundament einer wirklichen sozialen Revolution.

Er untersuchte sodann die Ursachen des französischen Zusammenbruchs. Nicht der Soldat, nicht das Volk seien verantwortlich, sondern vor allem die Unfähigkeit des Generalstabes, der die Rolle der Tanks und der Flugwaffe im modernen Krieg trotz der Mahnungen von de Gaulle nicht begreifen wollte. Auch der Verrat durch die 5. Kolonne im Herzen des Landes und sogar der Regierung spielte dabei eine wichtige Rolle. Die Bourgeoisie wurde durch die 5. Kolonne, vor allem durch eine dem Grosskapitalismus ausgelieferte Presse vollständig zerrüttet, die sich aus Klassengegnerschaft zum Werkzeug des Faschismus machte. Ganz besonders unterstrich Lévy die verheerende Wirkung der Wochenzeitungen, die sich auch auf die Arbeiterklasse bemerkbar machte, auf die man systematisch mit pazifistischen Schlagworten einwirkte. Nur so sei die Preisgabe der Spanischen Republik und später der Tschechoslowakischen Demokratie zu begreifen, die sogar in den Kreisen der sozialistischen Jugend mit dem feigen Schlagwort begründet wurde: "Wir wollen leben!"

Louis Lévy ging auch auf die Ursachen der Nicht-Interventionspolitik während des Spanischen Bürgerkrieges ein und stellte fest, dass Léon Blum unter schwerstem innen- und aussenpolitischem Druck handelte und keine andere Wahl gehabt hätte als zurückzutreten.

Der Redner schilderte sodann die verhängnisvolle Rolle, die Pierre Laval in den kritischen Junitagen von 1940 in Bordeaux spielte, als er mit der Drohung, eine Gegenregierung auszurufen, den Präsidenten der Republik Lebrun[20] an der Uebersiedlung nach Nordafrika zwecks Fortsetzung des Krieges hinderte.

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Die Zustimmung vieler Sozialisten für die neue Verfassung in Vichy[21] einige Tage danach ist nur zu erklären durch die totale Geistesverwirrung, die der rapide militärische Zusammenbruch in weiten Kreisen des Volkes erzeugt hatte, aber auch durch die Versprechungen Lavals in zahlreichen Einzelgesprächen mit Abgeordneten der Linken, dass dies nur eine vorübergehende, erzwungene Konzession an die Sieger sei und dass er ein zuverlässiger Demokrat geblieben sei. Doch seien zur Ehre der französischen Partei manche ihrer prominenten Männer nicht auf diesen Schwindel hereingefallen und hätten gegen die Vollmachten für Pétain-Laval gestimmt, vor allem der inzwischen ermordete Marx-Dormoy und auch Léon Blum.

Inzwischen erhole sich das französische Volk allmählich vom ersten Schock des Zusammenbruches.

Vor allem die Arbeiterschaft sei die Trägerin des wachsenden Widerstandes gegen äussere und innere Tyrannei. Die Sozialistische Partei in Frankreich sei gereinigt und in der Illegalität wieder aufgebaut, mit Parteivorständen in den beiden Zonen, die miteinander in regelmässiger Verbindung ständen.

Das mutige Auftreten Léon Blums auf dem [!] Prozess in Riom[22] habe ungeheuren Eindruck auf die republikanischen Volksmassen gemacht.

Mit den Kommunisten, die vor allem im Pariser Gebiet stark, aktiv und mutig seien, hätten die Sozialisten einen förmlichen Nichtangriffspakt unterzeichnet, der bisher zwar beiderseits respektiert worden sei, aber weiter könne man angesichts ihrer früheren Haltung und Kampfmethoden einstweilen nicht gehen.

In Nord-Frankreich aber seien es die Sozialisten, die die führende Rolle im Kampfe der Arbeiterschaft spielten, übrigens im engen Einvernehmen mit ihren Nachbarn von der Belgischen Arbeiterpartei.

Genosse Lévy schloss seinen immer wieder von spontanem Beifall unterbrochenen Vortrag mit einem Bekenntnis zur gemeinsamen deutsch-französischen sozialen Revolution, ohne die es keine dauernde Freiheit und keinen dauernden Frieden geben könne.



France and Britain. Unter diesem Titel veröffentlicht das Anglo-French Committee der Fabian Society, 11 Dartmouth St., London SW1, eine Monatsschrift. (Preis 3 d)[23]

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Joseph E. Davies[24], der auf Wunsch Roosevelts 1936 als amerikanischer Botschafter nach Moskau ging, hat jetzt seine Tagebuch-Notizen und einen Teil seiner diplomatischen Berichte aus seiner Moskauer Botschafter-Zeit in Buchform der Oeffentlichkeit zugänglich gemacht.

("Mission to Moscow" ist in England soeben im Verlag Gollancz erschienen. Preis sh 15/-. Mitglieder des "Left Book Club" erhalten dies[es] Buch in zwei Monatsausgaben für Mai und Juni zum Preis von je sh 2/6. Anmeldungen bei Victor Gollancz Ltd., 14 Henrietta Street, London WC2)

Es ist interessant zu sehen, welchen Eindruck die Lebensverhältnisse, die Wirtschaftsentwicklung und die politischen Erscheinungen der Sowjetunion auf einen Mann machten, der als überzeugter Anhänger und Vertreter des Kapitalismus nach Russland ging, aber mit dem festen Vorsatz, die Dinge ohne Vorurteil zu betrachten.

Die wirtschaftliche, besonders die industrielle Entwicklung der Sowjetunion machte auf Davies den grössten Eindruck, sie erweckte seine Bewunderung, brachte ihn aber auch zu der Ueberzeugung, dass es sich hier um keine sozialistische Wirtschaft handelt.

Die Unterschiede in der Bezahlung qualifizierter und unqualifizierter Arbeit, mit Herausbildung einer leitenden Bürokratie mit viel höherem Lebensstandard als dem der Massen, nimmt Davies als Beweis dafür, dass die Natur des Menschen sich gegen die sozialistische Theorie durchgesetzt habe und der Drang nach Sonder-Vergünstigungen und Vorrechten die wirksamste Triebkraft zur Erzielung höherer Arbeitsleistung sei.

Die Wiedereinführung von Rangabzeichen und besonderen Offiziersuniformen in der Roten Armee fasst er im selben Sinne auf, und er kommt zu dem Schluss, dass in der Sowjetunion keine klassenlose Gesellschaft, sondern eine neue Klassengesellschaft im Werden ist. Auch die Entwicklung zum Nationalismus in der Sowjetunion stellt Davies mit Erstaunen - und nicht mit Genugtuung fest.

So fraglich es ist, ob die Interpretation, die Davies den beobachteten Tatsachen gibt, die einzig mögliche ist, so sicher scheint es dem Leser des Buches zu sein, dass er die Tatsachen selbst mit wirklicher Vorurteilslosigkeit und Aufmerksamkeit verzeichnet hat.

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Davies hat seinen Aufenthalt in Moskau benutzt, um sich möglichst genau zu informieren, und im Lichte der heutigen Ereignisse erweisen sich viele seiner Feststellungen als wohlbegründet und als höchst interessant und hilfreich zum Verständnis der Sowjetunion.

Davies war in Moskau während der "Trotzkisten"-Prozesse, denen er beiwohnte (ohne freilich Russisch zu verstehen)! Sein Eindruck war, dass die Angeklagten schuldig waren, eine Verschwörung geplant oder organisiert zu haben, - aber immer wieder betont er, wie sehr ein Rechtsstaat, in dem der Angeklagte die Möglichkeit hat, sich zu verteidigen, und in dem die Anklage die Pflicht hat, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, dem Rechts-System vorzuziehen ist, das in den Moskauer Prozessen erkenntlich wurde.

Wenn man heute die Bemerkungen liest, die Davies in seinem Tagebuch und in Berichten nach Washington über die Wirkung der Prozesse ausserhalb der Sowjetunion und auf die ausländischen Diplomaten in Moskau machte, dann wird einem erneut klar, wie ungeheuer sie dem Ansehen der Sowjetunion schadeten, ihren Kredit in Westeuropa und Amerika schwächten und damit zum Zerfall der europäischen Sicherheitspolitik beitrugen. Andererseits glaubt Davies allerdings, dass durch die rücksichtslosen "Reinigungen", die im Zusammenhange mit diesen Prozessen durchgeführt wurden, einer möglichen "Fünften Kolonne" in Russland der Garaus gemacht wurde.

Davies fasst sein Urteil über die Sowjetunion in einem im März 1937 geschriebenen Bericht wie folgt zusammen: "Viele gute Dinge sind unter dem jetzigen Regime verwirklicht worden. Viele edle Unternehmungen sind geplant, die Sympathie und Bewunderung erwecken. Aber kein Altruismus, keine humanitäre Bemühung, kein grosser und edler Vorsatz, kein Ausmass materieller Besserung durch Erzeugung von Dingen, die den Lebensstandard des Proletariats heben, kann jemals für das Fehlen von Freiheit und Recht des Individuums entschädigen.

Nach meiner Meinung gibt es zwei Möglichkeiten für dieses Regime. Entweder wird es sich selbst zerstören, infolge seines Versuchs, der menschlichen Natur zuwiderzuhandeln und infolge der Methoden, die es anwendet; oder die Regierung wird sich nach rechts entwickeln und eine demokratischere Form und einen weniger extremen Typ

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des Staatssozialismus annehmen. Es gibt Anzeichen dafür, dass ein Ruck nach rechts vor sich geht. Aber nichts kann Russlands Entwicklung aufhalten.

Ob dieses Regime an der Macht bleibt oder stürzt, - die Stellung Russlands wird nach meiner Meinung weiter an internationaler Bedeutung zunehmen, politisch wie wirtschaftlich. Enorme und verblüffende Fortschritte industrieller und wissenschaftlicher Entwickelung sind in den letzten acht Jahren geschehen. Und der Tiger hat Blut geleckt. Nichts, nicht einmal eine Revolution oder Regierungsänderung, kann die weitere Ausbeutung und Entwicklung der ungeheuren Quellen und Reichtümer des Landes aufhalten. Der Ehrgeiz der Landjugend ist entflammt worden. Bildungsmöglichkeiten sind geboten. Wissenschaftliche und andere Ausbildung ist grosszügig organisiert und universell geworden. Kasten- oder Klassenschranken, die individuellem Vorwärtskommen im Wege standen, sind niedergelegt. Die unvermeidliche Kraft einer jungen Nation und eines frisch vom Boden kommenden Volkes wird diese Entwicklung notwendig vorwärtstreiben.

Mir scheint, dass sich die jetzige wirtschaftliche und industrielle Lage des Landes auf einem Punkt befindet, an dem die USA vor etwa 60 Jahren standen."

Unter diesem Titel hat die Fabian Society soeben eine Broschüre (Preis 6 d) herausgegeben, in der Wright Miller eine anschauliche Schilderung der Lebensverhältnisse in der Sowjetunion gibt.[25] Er weist dabei auf die hauptsächlichen Fehlerquellen für die schiefe Beurteilung durch ausländische Beobachter hin: Der Kaufwert des russischen Rubels ist je nach der Art der Ware so verschieden von dem Kaufwert ausländischer Währungen, dass aus blossen Lohnstatistiken keine wirklichen Schlüsse auf die Lebenshaltung der Massen in der Sowjetunion gezogen werden können.

Wright Miller betont, dass die Menschen der Sowjetunion und ihre Lebensweise nicht wesentlich anders sind als die in der übrigen Welt, aber erkennt an, dass das System, welches ihr Leben regelt, und seine Ziele und Möglichkeiten weit über den Kapitalismus hinausgehen. Er kommt zu dem Schluss, dass wir Sozialisten das russische Beispiel nicht nachahmen können (und, was die Diktatur anbetrifft, auch nicht sollen), aber viel von ihm lernen können.

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in Gross-Britannien berichtet über folgende Ausschlüsse aus der Gewerkschaft: "Die 4 Mitglieder unserer Landesgruppe Fritz Bieligk, Dr. Carl Herz, Kurt Lorenz und B. Menne haben gemeinsam mit Dr. Curt Geyer und Walter Loeb[26], die nicht Mitglieder unserer Landesgruppe sind, am 2. M[är]z eine Erklärung veröffentlicht, zu der wir in unserem Rundschreiben vom 25. März unter der Ueberschrift 'In eigener Sache' Stellung genommen haben. In der erwähnten Erklärung vom 2. März und in mündlichen Aeusserungen der 4 Genannten sowie in einer Zuschrift von Fritz Bieligk an den Generalsekretär des IGB ist behauptet worden, dass die Landesgruppe ihre Politik im Sinne der Gewerkschaftsführung im März-April 1933, d.h. im Sinne der Gleichschaltung, führe. Der Landesgruppe wurde ferner unterstellt, dass sie die Arbeitsfront als die 'rohe Form' für die 'gewerkschaftliche Einheitsfront' anerkannt hätte. Es wurde weiter behauptet, dass die Arbeit der Landesgruppe nicht nach gewerkschaftlichen und demokratischen Grundsätzen erfolge und dass die Mitglieder keine Möglichkeit zur Stellungnahme hätten.

Am 6. Mai wurde in einer Sitzung des Arbeitsausschusses, die unter dem Vorsitz des Generalsekretärs des IGB stattfand, der Versuch gemacht, die 4 Genannten von der Haltlosigkeit ihrer Behauptungen zu überzeugen.

Obwohl die Aussprache eindeutig ergab, dass die Behauptungen gegenstandslos sind, lehnten die beiden Erschienenen sowohl in der Sitzung wie auch in einem hinterher mit dem Generalsekretär des IGB geführten Briefwechsel die Zurücknahme ihrer beleidigenden und denunziatorischen Unterstellungen ab. Ein Brief der Landesgruppe vom 19. Mai, der die 4 Genannten zur Rücknahme ihrer Erklärungen und zur Abgabe einer Gegenerklärung bis zum 30. Mai aufforderte, blieb unbeantwortet. Der Arbeitsausschuss der Landesgruppe hat auf Grund des vorliegenden schweren gewerkschaftlichen Disziplinbruchs in seiner Sitzung vom 9. Juni einstimmig den Ausschluss von Fritz Bieligk, Dr. Carl Herz, Kurt Lorenz und Bernhard Menne beschlossen.

Die erforderliche Zustimmung des Internationalen Gewerkschaftsbundes ist eingeholt und erteilt worden. Der Ausschluss ist den 4 Genannten mitgeteilt worden."

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im Juli 1942

Die Freitagabend-Veranstaltungen der Londoner SPD finden bis auf weiteres jeden zweiten Freitag, abends 7.30 Uhr im Club House, 31 Broadhurst Gardens, London, NW6, statt.

Freitag, den 3. Juli:

Geschlossene Mitgliederversammlung.
Berichte und Aussprache.

Freitag, den 17. Juli:

Die Themen und Referenten dieser
Versammlungen werden später
mitgeteilt werden.

Freitag, den 31. Juli:




Das "Fabian International Bureau"

macht alle internationalen Sozialisten auf seine 4 Veranstaltungen im Juli aufmerksam, zu denen unsere Genossen und Freunde eingeladen sind. Die "Lunchtime Meetings" finden montags mittags pünktlich 1.20 Uhr im Trade Union Club, 12, Gt. Newport Street, London, WC2 (Leicester Square Tube Station) statt. Die Eintrittsgebühr für Nichtmitglieder beträgt -/6 d. Themen und Redner sind:

July

6[th]

"Can Britain Aid Europe?"

A. A. Evans[27]

 

13[th]

"Political Warfare"

P. Gordon Walker

 

20[th]

"American Labour"

G. R. Strauss, M.P.



Coffee Meeting: Wednesday, 15th July, 1942, at 7 p.m.
Livingstone Hall, The Broadway, Westminster, SW1

Admission 1/-

Speaker: Professor D.W. Brogan[28]
(who is just back from America)

"AMERICA AND BRITAIN"




[Hinweis]

Room 64, Bloomsbury House geschlossen !

Zwingende Ersparnisgründe machen es notwendig, Room 64 im Bloombury House, London, WC1, nunmehr auch für das deutsche Dept. des ISF ab 1. Juli zu schliessen. Neue Adresse später !




Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW7.






Editorische Anmerkungen


1 - Mitte Juni 1942 hatte Außenminister Eden das britische Parlament davon in Kenntnis gesetzt, dass ein Bündnisvertrag zwischen Großbritannien und der Sowjetunion unterzeichnet worden war.

2 - Ende Mai / Anfang Juni 1942.

3 - Mitte Juni 1942.

4 - Am 21.6.1942 hatten die Engländer die Übergabe der Festung Tobruk (Libyen) angeboten. Am 26.6.1942 war die Festung Sollum (Ägypten) von den britischen Truppen aufgegeben worden. Am 1. Juli nahmen rumänische und deutsche Truppen die Festung Sewastopol auf der Krimhalbinsel ein.

5 - 4. - 8. Mai 1942 Seeschlacht zwischen Japanern und Amerikanern im Korallenmeer. 3. - 7. Juni 1942 Schlacht bei Midway.

6 - Die Steuer zur Gewinnabschöpfung (Excess Profit Tax) betrug in Großbritannien zu diesem Zeitpunkt 60%.

7 - Zu J. O. Berger konnten keine biographischen Angaben ermittelt werden.

8 - Zu Genossen Klein und Weil konnten keine biographischen Angaben ermittelt werden.
Franz Kaufmann (1876 - 1939), DSAP-Mitglied, Vorsitzender des Internationalen Metallarbeiter-Verbandes.

9 - Rudolf Heeger (1883 - 1939), sudetendeutscher Sozialdemokrat und Abgeordneter 1920-1938, nach Entlassung aus Gestapo-Haft gestorben.

10 - Hans Sahl (1902 - 1993), deutscher Schriftsteller, ab 1933 Exil in der CSR, 1934 Schweiz und Frankreich, 1941-1953 USA, dann Rückkehr nach Deutschland; später wieder USA.

11 - Ernst Toller (1893 - 1939), deutscher Schriftsteller, ab 1933 Exil in der Schweiz, im selben Jahr ausgebürgert, 1935 Frankreich und Großbritannien, 1936 USA, Freitod.

12 - Entstanden 1905.

13 - Karl Hermann Frank (1898 - 1946), sudetendeutscher Freikorpsführer, ab 1939 Staatssekretär beim Reichsprotektor, ab 1943 Staatsminister für Böhmen und Mähren, vom Internationalen Gerichtshof in Nürnberg als Kriegsverbrecher (u. a. wegen Lidice) zur Todesstrafe verurteilt und hingerichtet.

14 - Walter Bertsch (1900 - 1952), höherer SS-Führer, ab 1942 Minister für Wirtschaft und Arbeit in Prag.

15 - Fritz Demuth (1876 - 1965), Wirtschaftspolitiker und Ministerialbeamter, ab 1933 Exil in der Schweiz, 1936 Großbritannien, 1938 mit Ehefrau ausgebürgert, nicht nach Deutschland zurückgekehrt. Die von Demuth und anderen 1933 gegründete Notgemeinschaft hatte in erster Linie die Aufgabe, Forschungs- und Lehraufträge ausländischer Institute und Hochschulen zu vermitteln.

16 - Kurt Hiller (1885 - 1972), linker Schriftsteller und Pazifist, 1933/34 Haft und KZ, ab 1934 Exil in der CSR, 1935 ausgebürgert, 1938 Großbritannien, 1955 Rückkehr nach Deutschland. Der Freiheitsbund (FDS) ist eine Gründung Kurt Hillers; der Bund, der nur über wenige Anhänger verfügte, strebte einen elitären und aristokratischen Sozialismus an.

17 - Wilhelm Westphal = Hans Albert Kluthe (1904 - 1970), ursprünglich Deutsche Demokratische Partei bzw. Deutsche Staatspartei, 1936 Flucht wegen illegaler Tätigkeit nach Großbritannien, seit 1938 Kontakt mit der Deutschen Freiheitspartei (DFP), die 1936 als konspirativ arbeitender Zusammenschluss vorwiegend bürgerlich-demokratischer Emigranten entstanden war. 1947 kehrte Kluthe nach Deutschland zurück.

18 - Hans Jaeger (1899 - 1975), Publizist, in der Weimarer Republik Kommunist, ab 1933 Exil in der CSR, 1939 Großbritannien, später Mitglied der Labour Party. Die Deutsche Volkssozialistische Bewegung wurde 1936 unter maßgeblicher Beteiligung H. Jaegers in Prag gegründet. Die Organisation strebte die Zusammenarbeit mit anderen nationalrevolutionären Kräften (u. a. Otto Strasser) an. Sie machte während des Krieges ideologische Wandlungen durch.

19 - Hans Ebeling (1897 - 1968), Schriftsteller, aus der deutschen bündischen Jugend kommend, ab 1934 Exil in den Niederlanden, 1936 Belgien, 1938 Niederlande, 1939 Großbritannien, im selben Jahr ausgebürgert; 1950 nach Deutschland zurückgekehrt. Die von Ebeling geführte Bündische Opposition betonte die antitotalitäre Tradition der deutschen Jugendbewegung.

20 - Albert Lebrun (1871 - 1950), 1932-1940 letzter Präsident der III. Französischen Republik.

21 - Im Juli 1940 hatte das französische Parlament mit großer Mehrheit Pétain alle verfassungsgebenden und exekutiven Vollmachten übertragen. Pétain wurde zum Chef des "Etat Français" ernannt, die bisherige französische Verfassung war damit faktisch aufgehoben.

22 - Im Februar 1942 wurde in Riom (nördlich von Clermont-Ferrand) ein Prozess gegen die "Hauptverantwortlichen für die Niederlage" (u. a. Léon Blum) eröffnet. Dieser Prozess hatte - u. a. wegen des Auftretens der Angeklagten - nicht den gewünschten Effekt.

23 - "France and Britain", erschien 1940-1945 als Zeitschrift in London, in der Anfangszeit halbmonatlich, später monatlich.

24 - Joseph Edward Davies (1876 - 1958), amerikanischer Jurist und Diplomat, US-Botschafter in Moskau (1936-1938, 1945 Teilnehmer an der Potsdamer Konferenz. Joseph E. Davies: Mission to Moscow, London 1942. Erschien deutschsprachig in der Schweiz: Als USA-Botschafter in Moskau. Authentische und vertrauliche Berichte über die Sowjet-Union bis Oktober 1941, Zürich 1943.

25 - Wright Miller: How the Russians Live, London o. J.

26 - Walter Loeb (1895 - 1948), Bankier und Wirtschaftsexperte, seit 1919 SPD-Mitglied, 1922-1924 Präsident der Thüringischen Staatsbank (Weimar), 1928-1932 SPD-Stadtverordneter in Frankfurt a. M., 1933-1940 Exil in den Niederlanden (Amsterdam), 1938 ausgebürgert, ab 1940. Großbritannien (London), Vansittartist, 1942 Ausschluss aus der SPD.

27 - Albert A. Evans (geb. 1903), Labour-MP 1947-1970.

28 - Denis William Brogan (1900 - 1974), Politikwissenschaftler und Professor 1939-1968.



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