No. 19 - 1940

November 1st

Sozialistische Mitteilungen

News for German Socialists in England

This news-letter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

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Im Herbst wollte Hitler, wie seine Propagandisten in aller Welt verkündeten, England besiegt und besetzt und den Krieg erfolgreich beendet haben. Es ist anders gekommen. Die angekündigte Invasion der britischen Inseln ist durch Luftangriffe ersetzt worden, die Schaden anrichten, Menschen morden und Störungen im Leben Englands verursachen, aber dieses Land nicht bezwingen konnten. Im Gegenteil, der Geist des Widerstandes ist erhöht worden und die Hoffnungen aller Gegner Hitlers in der Welt, der unterworfenen und der noch freien, sind aufgelebt angesichts des britischen Widerstandes, und die Stimmung jener Massen in Deutschland, denen der Endsieg im Herbst und die Unverletzbarkeit der deutschen Städte vorgegaukelt worden war, ist durch die Entwicklung der Dinge und die Bombardierungen Berlins und deutscher Industriezentren nachdenklicher geworden.

Inzwischen hat sich die Strategie der "Achse" dazu entschliessen müssen, das Ziel, das sie direkt nicht erreichen konnte, durch Umgehungsmanöver in Angriff zu nehmen. Ribbentrop schmiedete ein Bündnis mit Japan, Hitler verhandelte mit Laval und Pétain und Franco, Nazi-Truppen marschierten in Rumänien ein, und die Italiener begannen den Angriff auf Griechenland.[1]

Der Plan hinter allen diesen Manövern ist klar: Weil England selbst sich als zu fest erwies, soll ein Stoss gegen das britische Weltreich im Nahen und im fernen Osten erfolgen, und weil die rasenden Eroberungen Hitlers im Westen chaotische Zustände schufen, soll eine Konsolidierung der eroberten Gebiete versucht werden und Westeuropa zur Plattform für eine anti-englische Blockade gemacht werden.

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Noch ist nicht bekannt, welches die Bedingungen für eine "deutsch-französische Zusammenarbeit" sind, auf die sich der greise Marschall Pétain mit dem Sieger Hitler "freiwillig" geeinigt haben soll, dass sie geheimgehalten werden, beweist nicht gerade, dass man Begeisterungsausbrüche des französischen Volkes und Freundschaftsgefühle bei den Amerikanern erwartet, nachdem Roosevelt an Pétain noch in letzter Stunde einen Verwarnungsbrief gesandt hatte.[2] Und ebensowenig ist bekanntgeworden, zu welchem Ergebnis die Unterredung zwischen Hitler und Franco geführt hat. Der Ton der Nazipresse liess nicht darauf schliessen, dass sie ein voller Erfolg für Hitler war, und Franco hat sicher Grund, darüber nachzudenken, was ihm eine italienische Vorherrschaft im Mittelmeer und eine deutsche Vorherrschaft in Westeuropa nützen könnte, selbst wenn Spanien Gibraltar und einige französische Kolonien angeboten erhalten sollte. Die Verhältnisse in Westeuropa sind viel zu verworren, um von Hitler "schlagartig" konsolidiert werden zu können, und die Seemacht Englands [ist] viel zu stark, um die Werbung von Blockade-Vasallen gegen England leicht zu machen.

Deshalb soll im Osten ein neues Kapitel des Krieges begonnen werden. Die Achse will festen Fuss auf dem Balkan fassen, und die deutsche Besetzung Rumäniens und die erhoffte Besetzung Griechenlands durch die Italiener soll Jugoslawien mattsetzen und die Türkei in tödliche Gefahr bringen. Und hinter der Türkei soll sich der Weg zu den Oelquellen des Irak auftun, und inzwischen sollen sich die Japaner im Fernen Osten Indien nähern.

Aber die Anfangserfolge der Italiener gegen Griechenland sind nicht grösser als ihre Erfolge gegen Aegypten waren, die Türkei zeigt kein Zeichen von Kapitulationsbereitschaft, und es bleibt abzuwarten, was Russland tun wird, wenn seine "Neutralität" zum Vordringen des Faschismus an den Bosporus zu führen droht.

Es ist zu früh, um Voraussagen über den Verlauf des neuen Feldzuges zu machen. Er leitet ein neues Kapitel dieses Weltkrieges ein, und es kann sein, dass auch die bevorstehende Präsidentenwahl in [den] USA den Beginn eines neuen Kapitels bedeuten wird.

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Anfang Oktober ist eine Rekonstruktion des britischen Kabinetts erfolgt, die durch das Ausscheiden Neville Chamberlains, des früheren Premierministers und späteren Lord-Präsidenten des Geheimen Rates, aus der Regierung veranlasst wurde. Die wichtigsten Veränderungen die Chamberlains Rücktritt zur Folge hatte, bestehen darin, dass Sir John Anderson ins Kriegskabinett als Nachfolger Chamberlains auf dem Posten des Lord-Präsidenten eintrat und dafür den Posten des Innenministers aufgab, dass Ernest Bevin, der Arbeitsminister, ins Kriegskabinett - unter Beibehaltung seines Postens als Arbeitsminister - aufgenommen wurde und dass Herbert Morrison, der bis dahin das Versorgungsministerium leitete, das Amt des Ministers des Innern und Ministers für innere Sicherheit als Nachfolger von Sir John Anderson übernahm. Im Namen der deutschen Sozialdemokraten hat der Londoner Repräsentant der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an den Genossen Herbert Morrison ein Glückwunschschreiben anlässlich seiner Ernennung zum Innenminister gerichtet, das durch ein Dankschreiben erwidert wurde.

In der zweiten Oktoberwoche fand der Jahreskongress der britischen Gewerkschaften in Southport statt, der zu einer grossen Kundgebung der einmütigen Unterstützung des britischen Widerstandes gegen Hitler durch die gewerkschaftlich organisierte britische Arbeiterschaft wurde. Eine Resolution gegen die Fortsetzung des Krieges, die von einer angeschlossenen Gewerkschaft eingebracht worden war, wurde zurückgezogen, noch ehe sie abgelehnt werden konnte. Der Labour-Führer R. C. Attlee, Lordsiegelbewahrer im Churchill-Kabinett, und der Gewerkschaftsführer Ernest Bevin, Arbeitsminister in der Churchill-Regierung, hielten Ansprachen, die mit Begeisterung aufgenommen wurden und an die britische Arbeiterschaft appellierten, alles aufzubieten, um durch Erhöhung der Produktion und Sicherung der Versorgung zum siegreichen Widerstand gegen Hitler beizutragen. Der Kongress fasste wichtige Beschlüsse über die Fortführung und Sicherung der Produktion unter den durch die Luftangriffe der Nazis geschaffenen Bedingungen und über die organisatorischen Aufgaben der Gewerkschaften in der Kriegsproduktion.

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Der belgische Ministerpräsident Pierlot[3] und der belgische Aussenminister Spaak[4] sind kürzlich in London eingetroffen, wo sich einige Mitglieder des belgischen Kabinetts schon seit dem Zusammenbruch Frankreichs befanden. Mit dem Erscheinen Pierlots und Spaaks in London sind alle Gerüchte über eine Spaltung innerhalb der belgischen Regierung hinfällig geworden, und der Charakter der belgischen Regierung als einer der mit der britischen verbündeten Regierung ist erneut dokumentiert worden.

sind seit dem Erscheinen der letzten "Mitteilungen" fortgesetzt worden. Obwohl das vom Home Office zur Prüfung der Freilassungsgesuche unter Kategorie 19 des Weissbuches (politische Kategorie) eingesetzte Tribunal erst seit Anfang Oktober arbeitet und noch keine Freilassungen unter dieser Kategorie erfolgt sind, sind bis jetzt bereits 20 Prozent der in England interniert gewesenen deutschen Sozialdemokraten freigelassen worden. Von den 44 Mitgliedern der "Sander-Gruppe" beim Czech Trust Fund, die interniert waren, sind bis jetzt 11 freigelassen worden, also ein Viertel. Und es ist zu hoffen, dass sich diese Zahlen im Laufe der nächsten Wochen, wenn die Prüfung der Anträge unter Kategorie 19 und der Anträge auf Aufnahme ins Pionierkorps zu Freilassungen führen wird, noch wesentlich erhöhen wird.

Inzwischen sind auf Empfehlung des unter Vorsitz von Mr. Asquith tagenden Beratungskomitees beim Home Office drei weitere Kategorien von Internierten, die Freilassung beantragen können, festgesetzt worden. Diese Kategorien lauten: 1) Personen von aussergewöhnlicher Bedeutung, die hervorragende Beiträge auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung oder der Literatur geleistet haben. 2) Studenten, die zur Zeit ihrer Internierung an einer Universität oder einer technischen Hochschule studierten, wenn der Vize-Kanzler der Universität oder der Leiter der Hochschule bestätigt, dass es wünschenswert ist, dass der Student seine Studien fortsetzt und dass die Umstände so sind, dass ein britischer Student in ähnlichen Umständen seine Studien fortsetzen dürfte. 3) Eine Person, über die ein vom

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Innenminister eingesetztes Tribunal berichtet, dass sie seit ihrer frühen Kindheit oder wenigstens seit 20 Jahren dauernd oder fast dauernd im Vereinigten Königreich gelebt hat, dass sie seit langem die Verbindungen zum Lande ihrer Nationalität aufgegeben hat und dass ihre Interessen und Beziehungen britisch sind und dass sie Britannien freundlich gegenübersteht.

Seit einigen Wochen tagt in Douglas, Isle of Man, das Advisory Committee, das die Aufgabe hat, die seinerzeit als "B"-Fälle klassifizierten Internierten nachzuprüfen. Es soll zunächst untersuchen, ob Internierte, die unter eine der Freilassungskategorien fallen, in "C"-Fälle verwandelt werden können, was die Voraussetzung für ihre Freilassung ist, und es soll später auch die anderen "B"-Fälle einer Nachprüfung unterziehen. Ueber die bisherigen Entscheidungen des Advisory Committee liegen nur vereinzelte Nachrichten vor.

für die internierten Sozialisten und Gewerkschafter wird fortgesetzt. Leider musste infolge geringerer Sammelergebnisse im Oktober die Summe, die an den einzelnen Internierten gesandt wurde, auf 5 sh pro Monat herabgesetzt werden. Bisher wurden bis Ende Oktober £ 134.3.2½ an Unterstützungen verausgabt, und zwar:

bis Juli an

 53 Internierte

£  8. 5.--

im Aug. an

107 Internierte

£ 51.11.10

im Sept. an

 97 Internierte

£ 50. 4. 8

und im Okt. an

 92 Internierte

£ 24. 1. 8½

Die Sammlung wird fortgesetzt! Sammellisten können in Room 62, Bloomsbury House, London WC1, angefordert werden.

Der britische Arbeitsminister Ernest Bevin hat den Plan gefasst, bei seinem Ministerium eine "International Labour Branch" einzurichten, deren Aufgabe es sein wird, die Dienste freundlich gesinnter Ausländer in der englischen Kriegswirtschaft nutzbar zu machen. Zu diesem Zwecke sollen zwei Beratungskomitees eingesetzt werden: Ein allgemeines, das aus Vertretern des Trade Unions Congress und der zuständigen Regierungsdepartements bestehen soll, und ein besonderes Komitee,

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das aus ausländischen Vertretern bestehen soll, die vom Trades Union Council bestimmt werden.

In einer Sitzung, an der österreichische, belgische, französische, deutsche, tschechoslowakische, polnische und spanische Gewerkschaftler teilnahmen, sprach Sir Walter Citrine, der Generalsekretär der britischen Gewerkschaften, über Bevins Plan, und Mr. T. T. Scott[5], der zusammen mit General Appleyard[6] mit der Durchführung des Planes beauftragt ist, erkärte, dass in den Internierungslagern ein Zensus der Internierten zur Ermittlung ihrer Qualifikationen und Erfahrungen durchgeführt werden wird. Die "International Labour Branch" hat bereits Fragebogen in die Internierungslager gesandt.

Das Beratungskomitee der ausländischen Gewerkschaftsvertreter besteht aus je einem belgischen, österreichischen, tschechoslowakischen, deutschen, polnischen, spanischen und sudetendeutschen Vertreter, und auch ein französischer Genosse soll eingeladen werden, bis zur Gründung einer französischen Gewerkschaftsvertretung an den Beratungen teilzunehmen.

"Die bequeme Auslegung, dass Hitler nur durch die Schwäche der deutschen Freiheitskräfte zum Zug gekommen ist, kann nicht länger bestehen. Das Versagen der europäischen Demokratie bei der Neuordnung Europas war Hitlers Sprungbrett zur Macht. Je mehr das Versagen von Akt zu Akt gesteigert wurde, desto höher ist er auf den Stufen des Triumphes emporgestiegen. Die deutschen Gegenspieler des Nazismus waren von Anfang an gezwungen, auf dem Boden einer aussenpolitischen Ordnung zu kämpfen, die sie selbst nicht geschaffen hatten und die von deren Schöpfern bereits innerlich preisgegeben war.

Nachdem die stolze Militärmacht Frankreichs durch die Wucht des nationalsozialistischen Ansturms innerhalb einiger Wochen vom Erdboden weggefegt wurde, wird man nicht länger über die sozialdemokratische Bewegung Deutschlands leichtfertig den Stab brechen können, die in einem halben Dutzend von Wahlschlachten prachtvoll standgehalten hat und die erst überwältigt werden konnte, als der Katholizismus kapituliert, Schleicher versagt und Hindenburg die Republik verraten hatte."[7]

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Diese Sätze sind der soeben im Lincolns-Prager-Verlag erschienenen 52 seitigen Broschüre von Wenzel Jaksch und Walter Kolarz[8] "Der Weg der letzten freien Deutschen"[9] entnommen, die einen interessanten und lehrreichen Ueberblick über die Politik und die Ereignisse in der CSR in der Zeit vor und nach dem Münchner Abkommen gibt.

Von einem in [den] USA lebenden Genossen erhielt der Herausgeber der SM einen Brief, in dem es heisst: "Ich lege Ihnen zwei Postanweisungen bei, eine für die 'Sozialistischen Mitteilungen', eine für die Internierten. Wir verfolgen mit brennendem Interesse alles, was bei Euch geschieht und getan wird. Die Leiden und Leistungen erregen den grössten Respekt, ich kann das nicht so im einzelnen schildern, aber für den, der geschichtlich denken kann, hat England eine ungeheure und bedeutungsvolle Aufgabe, und von der Persönlichkeit Churchills an, der übrigens die vornehmste und beste Propaganda Englands ist, bis zu sehr entlegenen Einzelheiten verdient alles Aufmerksamkeit. Dem Schicksal der Internierten steht die lebhafte Bemühung ganzer Teile der englischen Presse etwas mildernd gegenüber."

Wie schon berichtet, ist es einem Teil unserer Genossen mit Hilfe amerikanischer Visa gelungen, Frankreich zu verlassen und sich in ein neutrales Land zu begeben. Jetzt sind wir in der Lage mitzuteilen, dass der ehemalige Redakteur des "Vorwärts", Friedrich Stampfer, und der Herausgeber der "Deutschland-Berichte", [Erich] Rinner, in Amerika eingetroffen sind. Andere Mitglieder des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands befanden sich, als uns die letzten Nachrichten erreichten, noch in Portugal. Es besteht die Hoffnung, dass es einem Teil von ihnen möglich sein wird, nach England zu kommen.

Ueber die Lage der Flüchtlinge, die noch in Frankreich sind, lässt sich nichts Sicheres sagen. Es hat leider den Anschein, dass sich die Ausreiseschwierigkeiten aus Frankreich und auch die Durchreiseschwierig-

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keiten durch Spanien immer mehr verschärfen und dass insbesondere die Zustände in den südfranzösischen Internierungslagern, in denen sich ein grosser Teil der Flüchtlinge befindet, sehr bedenklich werden. Umso grössere Anerkennung verdient das Hilfswerk der amerikanischen Genossen von der German Labor Delegation und dem Jewish Labor Committee, die alles aufbieten, um die Flüchtlinge aus Frankreich zu retten.

Einige berühmte deutsche Schriftsteller, die sich aus Frankreich retten konnten, sind inzwischen in USA eingetroffen. Heinrich Mann[10], Franz Werfel[11] und Lion Feuchtwanger[12].

der bisherige Direktor des Czech Refugee Trust Fund, Sir Henry Bunbury[13], hat sein Amt vorige Woche niedergelegt. Als Gründe für den Rücktritt werden Unstimmigkeiten mit den Trustees angeführt. Ueber die Frage des Nachfolgers ist bisher noch nichts bekannt, auch nicht, ob Sir Henrys Rücktritt weitere Veränderungen im Personal des Trust Fund nach sich ziehen wird.

In einer der letzten Sitzungen haben die Trustees beschlossen, das wöchentliche Taschengeld für Internierte, die beim Czech Trust Fund registriert sind, von 1 sh auf 1/6 zu erhöhen.

Die Frage, ob der Trust Fund Kleidung für Internierte bewilligen kann, ist dahin entschieden worden, dass der Internierte sich zunächst an den Wohlfahrtsoffizier im Lager wenden muss. Erst wenn der Wohlfahrts-Offizier schriftlich erklärt, die benötigte Kleidung nicht beschaffen zu können und diese Erklärung dem Trust Fund eingesandt wird, kann eine Bewilligung vom Trust Fund erfolgen.




Freiwillige Beiträge für die "Sozialistischen Mitteilungen" leisteten:

Elisabeth E. -/6; Genosse im Pionier Corps 2/-; C.H.L. (USA) 14/10 (3 Dollar); R.R., London, 10/-; Sudetendeutscher Gen. 10/-; Dr. K., New York, 24/8 (5 Dollar); B. S. W.1, 7/-. Besten Dank allen Spendern!

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Die ehemaligen Abgeordneten Kögler[14], Zinner[15], Frau Kirpal[16] und Frau Blatny[17] und andere deutsche Sozialdemokraten aus der CSR haben ihren Austritt aus der sudetendeutschen Sozialdemokratischen Partei erklärt und sich unter dem alten Namen "Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik" zusammengeschlossen. Sie begründen ihren Schritt damit, dass die Partei ihren alten Namen willkürlich geändert, ihr altes Programm aufgegeben habe und einem gemässigten Nationalismus huldige. Sie werfen dem Parteivorsitzenden Wenzel Jaksch seine Beziehungen zu Otto Strasser und seine reservierte Haltung gegenüber dem Zusammenarbeiten mit den Tschechen vor. Der Vorstand der Sudetendeutschen Sozialdemokratischen Partei hat darauf mit einer langen Erklärung erwidert, in der gesagt wird, dass die Aenderung des Namens der Partei mit Zustimmung auch der Ausgetretenen erfolgte, dass der Vorwurf Nationalismus unbegründet ist, dass Otto Strasser ein fanatischer Gegner Hitlers sei und dass die Haltung der Partei in der tschechischen Frage, die zu Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Regierung und Dr. Benesch in London geführt hat, die noch nicht abgeschlossen seien, die Zustimmung auch der Generalsekretäre der Partei, Siegfried Taub[18] und Ernst Paul, die sich in Schweden befinden, gefunden habe. Der Schritt der Ausgetretenen wird in dem Antwortschreiben Wenzel Jaksch's mit dem Verhalten der Neu-Beginnen-Gruppe[19] bei den deutschen Sozialdemokraten und der Allina-Gruppe bei den österreichischen Sozialdemokraten verglichen und ihm der gleiche Misserfolg vorausgesagt.


[Hinweis]

Denkt


Unsere Sammelaktion wird fort-
gesetzt. Sammellisten können
im Room 62, Bloomsbury House,
London W.C.l, angefordert werden.


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Internierten!


"Endlich! Wir befinden uns seit gestern hier in Lissabon und atmen erleichtert auf. Noch ist nicht

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alles aufgeklärt, da wir die ersten sind, die die illegale Reise von Südfrankreich durch Spanien nach Portugal wagten.

Am 10. Mai mussten wir alle, ob Mann, ob Frau, in Paris ins Lager. Man hat uns schlecht behandelt. Wir Frauen wurden in einem grossen Winterstadion ohne Luft völlig eingesperrt.[20] Kranke Frauen, schwangere Frauen, es spielte keine Rolle. Nazis und Gegner, jung und alt, alles durcheinander. Die hygienischen Einrichtungen nicht zu beschreiben. So sassen oder lagen wir erst einmal 14 Tage herum, auf Stroh, mit unzureichender Nahrung. Wir hatten keinen Koffer, nur unsere Handtasche und ein Taschentuch, kein Geld für Zusatznahrung usw. Nach 14 Tagen wurden wir plötzlich "zu unserem eigenen Schutz" in das Euch sicher gut bekannte Spanienlager Gurs befördert. In Baracken, voll belegt, ohne die geringste Sitzgelegenheit, wurden wir wie die Heringe untergebracht. 8 Tage lang gab es nichts weiter als Hülsenfrüchte, in Wasser gekocht, ohne Fette, ohne Gewürze. Und dazu eine Hitze! Und nur in den Holzbaracken konnte man sich vor der stechenden Sonne schützen, da es weder Baum noch Strauch gab. Um die Baracken gab es Stacheldraht - und das werde ich nie vergessen.

Für uns drei Mädels war es noch nicht so schwer, da wir aneinander eine Hilfe hatten und Zeltlagerleben kannten. Aber alte und kranke Frauen, Frauen mit kleinen Kinder! Jetzt, da es überstanden ist, verblassen auch diese Eindrücke, und manches, was uns in Gurs unglaublich und furchtbar erschien, erscheint heute nicht mehr so schlimm.

Wir wurden schliesslich entlassen und kamen gerade rechtzeitig nach Paris, um vor Hitlers Einzug zu flüchten. Alles haben wir zurückgelassen, nur mit einem Rucksack haben wir uns auf den Fussmarsch begeben, im Freien übernachtet und unsere Irrfahrt durch Südfrankreich fortgesetzt."




Issued by the London Representative of the German Social Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW7.






Editorische Anmerkungen


1 - Am 27.9.1940 wurde der Dreimächtepakt zwischen Japan, Italien und Deutschland unterzeichnet, betreffend "Neuordnung" in Europa und im großasiatischen Raum.
Im Oktober hatte Hitler mit Pétain und Laval über einen engeren Anschluss Frankreichs an Deutschland verhandelt. Ebenfalls im Oktober hatte Hitler bei einem Treffen in Hendaye an der französisch-spanischen Grenze Franco (erfolglos) aufgefordert, an der Seite Deutschlands in den Krieg einzutreten.
Der deutsche Einmarsch in Rumänien begann am 13.10.1940, erfolgte angeblich auf Wunsch der rumänischen Regierung.
Am 28.10.1940 hatten italienische Truppen Griechenland angegriffen.

2 - Vgl. Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Zweiter Band: Englands größte Stunde. Zweites Buch: Allein, S. 233 ff., Stuttgart - Hamburg 1950.
Roosevelt hatte Pétain für den Fall der Auslieferung der französischen Flotte an die Deutschen "das Ende jeglicher amerikanischen Hilfe für das französische Volk" angekündigt.

3 - Hubert Pierlot (1883 - 1963), katholischer Politiker, 1939-1945 belgischer Ministerpräsident (davon 1940-1945 im Exil).

4 - Paul Henri Spaak (1899 - 1972), sozialistischer Politiker, Parlamentsabgeordneter, in den Jahren 1936-1939, 1939-1940, 1940-1944 (im Exil), 1944-1949, 1954-1957 und 1961-1966 belgischer Außenminister, 1938-1939, 1946, 1947-1949 (gleichzeitig) Ministerpräsident.

5 - Zu T. T. Scott konnten keine biographischen Angaben ermittelt werden.

6 - Kenelm Charles Appleyard (geb. 1894), britischer Ingenieur, seit den 30er Jahren auch im Militärdienst, 1940-1941 Berater des Arbeitsministeriums.

7 - General Kurt von Schleicher (1882 - 1934), war von Dezember 1932 bis Januar 1933 Reichskanzler. Hindenburg entzog ihm das Vertrauen und ernannte am 30.1.1933 A. Hitler zum Reichskanzler. Die Nationalsozialisten erschossen K. v. Schleicher und seine Frau.

8 - Walter Kolarz (1912 - 1962), sudetendeutscher Sozialdemokrat, Publizist und Rundfunkredakteur, seit 1940 Exil in Großbritannien.

9 - Wenzel Jaksch und Walter Kolarz: Der Weg der letzten freien Deutschen. Dokumente und Berichte, London 1940.

10 - Heinrich Mann (1871 - 1950), Schriftsteller, Bruder von Thomas Mann, ab 1933 Exil in Frankreich, 1933 ausgebürgert, ab 1940 in den USA.

11 - Franz Werfel (1890 - 1945). Der aus Prag stammende deutschsprachige Schriftsteller war seit 1938 im französischen, ab 1940 im US-amerikanischen Exil.

12 - Lion Feuchtwanger (1884 - 1958), ab 1933 im französischen Exil, 1933 ausgebürgert, ab 1940 in den USA.

13 - Henry Noel Bunbury (geb. 1876), britischer Verwaltungsbeamter, 1939-1940 Direktor des Czech Refugee Trust Fund (CRTF).

14 - Franz Kögler (1891 - 1983), ursprünglich DSAP-Sekretär in Bodenbach, seit 1939 im englischen Exil. Abgeordneter = CSR-Parlamentsabgeordneter.

15 - Josef Zinner (1894 - 1961), böhmischer Partei- und Gewerkschaftsfunktionär, um die Jahreswende 1938/1939 Emigration nach GB. 1946 Rückkehr in die CSR, nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 erneute Emigration nach Großbritannien.

16 - Irene Kirpal (1886 - 1977), DSAP-Funktionärin, seit 1938 im englischen Exil. 1947 Rückkehr in die CSR.

17 - Fanny Blatny, geb. Feldmann-Fischer (1873 - 1949), DSAP-Funktionärin, ab 1939 im Exil in Großbritannien.

18 - Siegfried Taub (1876 - 1946), langjähriger 1. Sekretär und 1920-1938 Parlaments-abgeordneter der DSAP, ab 1939 im schwedischen, ab 1941 im US-Exil.

19 - Gruppe Neu Beginnen (NB) = Oppositionelle sozialdemokratische/sozialistische Gruppe, die 1929 u. a. auf Initiative Walter Loewenheims (vorher KPD, ab 1929 SPD) unter dem Namen Leninistische Organisation (LO) in Berlin entstand.
Walter Loewenheim (1896 - 1977) war 1935 in die CSR und 1936 nach Großbritannien emigriert.
Im Exil strebte Neu Beginnen (so bezeichnete sich die Gruppe etwa ab 1933/1934; im folgenden findet sich auch die Schreibweise "Neubeginnen") eine linke Neuformierung der Arbeiterbewegung und der SPD an. Die Londoner Exilgruppe von Neu Beginnen soll 1939 ca. 20 Mitglieder umfasst haben.
Vgl. Werner Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, 2. Auflage, Bonn - Bad Godesberg 1973; vgl. ferner Bernd Stöver (Hrsg.): Berichte über die Lage in Deutschland. Die Lagemeldungen der Gruppe Neu Beginnen aus dem Dritten Reich 1933-1936, Bonn 1996 [Beiheft 17 zum "Archiv für Sozialgeschichte"].

20 - Gemeint ist das Vélodrome d' hiver.



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