Sept. 1st

1940, No. 17

Sozialistische Mitteilungen

News for German Socialists in England

This news-letter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

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Das erste Jahr des Krieges geht seinem Ende entgegen, und die haben Recht behalten, die einen langen und schweren Kampf vorausgesagt haben, der sich nicht auf einen Kriegsschauplatz beschränken, sondern ganz Europa und darüber hinaus die ganze Welt in Mitleidenschaft ziehen wird. Die haben Recht behalten, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt erkannten, dass der Weltkrieg zwischen Diktatur und Demokratie entbrannt ist und dass es um Sieg oder Vernichtung der einen oder der anderen geht.

Die ersten zwölf Monate haben den Diktaturen unleugbare Anfangserfolge gebracht. Während Stalin in Polen und im Balkan sich lediglich die von Hitler hingeworfenen Beuteteile einsteckte und bei dem Feldzug gegen Finnland nichts bewies als die Fragwürdigkeit der Roten Armee und die Verderblichkeit der Neutralitätspolitik kleiner Staaten, hat Hitler drei Feldzüge mit Erfolg überstanden: den gegen Polen im September 1939, den gegen Skandinavien im Frühling 1940 und den gegen Holland, Belgien und Frankreich im Sommer dieses Jahres. Er hat die Gefährlichkeit der Nazi-Armee und noch mehr die Gefahren der nazistischen Zersetzungspolitik bewiesen, er hat denen eine furchtbare Lektion erteilt, die seine Drohungen nicht ernst nahmen und die seinen Versprechungen geglaubt hatten, und er hat alles das wahrgemacht, was die Warner der Welt seit Jahren prophezeit hatten, und was nur zu verhindern gewesen wäre, wenn man auf sie gehört hätte.

Seit mehr als zwei Monaten führt das britische Weltreich allein den Kampf gegen die Weltgefahr, wehrt sich Grossbritannien mit heroischer Zähigkeit gegen den Ansturm der Nazi-Flieger und bereitet sich entschlossen auf die Möglichkeit eines Invasionsversuches vor, wäh-

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rend die britischen Kolonien in Afrika und im Vorderen Orient dem Angriff der Italiener ausgesetzt sind, denen es gelungen ist, in Britisch Somaliland einzudringen.

Der Sommer nähert sich dem Ende, und es wird mit jedem Tage unwahrscheinlicher, dass Hitler der entscheidende Schlag gegen England vor Einbruch der Herbststürme gelingen kann. Die erwarteten Konflikte auf dem Kontinent sind nicht ausgeblieben, und es wird Mühe kosten, die Unruhe auf dem Balkan, die sich besonders zugespitzt in den Feindseligkeiten zwischen Rumänien und Ungarn und in der Spannung zwischen Italien und Griechenland zeigt, in Kürze zu überwinden. Ob sich inzwischen nicht neue Konflikte im Fernen Osten anbahnen und ob nicht die Entwicklung in Amerika zu einer Aenderung der Gesamtsituation führen wird, das sind Fragen, die heute zwar gestellt, aber noch nicht beantwortet werden können.

Man darf vermuten, dass die Uebertragung der dem Panama-Kanal vorgelagerten Bermuda-Inseln, die britischer Besitz waren, an die Vereinigten Staaten ebenso ein Schritt zu engerer Zusammenarbeit des britischen Reiches mit Amerika war wie die Verhandlungen Kanadas mit [den] USA über gemeinsame Verteidigungsmassnahmen.[1]

Inzwischen erscheinen Tag für Tag die Nazi-Flieger mit Explosiv- und Brandbomben über den Städten Grossbritanniens, schiessen Kanonen von der französischen Küste her ihre Geschosse auf Dover, und zu gleicher Zeit dringen die britischen Flugzeuge jede Nacht tief in deutsches Gebiet ein, und die britischen Geschütze erwidern die Kanonade an der Kanalküste. Wir alle haben Gelegenheit, die Fassung und Entschlossenheit des britischen Volkes in dieser Zeit grösster Gefahr und schwersten Kampfes zu bewundern, und wenn in den ersten Tagen auch manche überstürzten Massnahmen ergriffen wurden, so sehen wir jetzt, wie der Sinn für Vernunft und Gerechtigkeit, der in diesem Lande lebendig ist, sich immer überzeugender dokumentiert und dass, je ernster der Kampf wird, umso grösser das Bewusstsein wird, dass hier für die Sache der Menschheit gekämpft wird.

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Am 22. August, in der letzten Sitzung des Unterhauses vor seiner vierzehntägigen Sommerpause, fand eine Parlamentsdebatte über die Internierung "feindlicher Ausländer" statt, in der sich eine Anzahl Abgeordneter, vor allem Josiah Wedgwood von der Labour Party, Major Cazalet[2] von den Konservativen und Sir Richard Acland von den Liberalen, lebhaft für die internierten Flüchtlinge einsetzten. Der Innenminister Sir John Anderson gab eine Erklärung ab, in der er zugab, dass infolge von "Dummheit, Missverständnissen und Unachtsamkeiten untergeordneter Beamter" unbeabsichtigte Härten entstanden seien, und er versprach, dass die Misstände, soweit sie noch immer bestehen, auf dem schnellsten Wege überwunden werden sollen. Entgegen der von den genannten Abgeordneten geübten Kritik hielt Sir John Anderson daran fest, dass die generelle Internierung "feindlicher Ausländer" eine zur Zeit der Nazi-Angriffe auf Holland und Belgien notwendig gewordene Massnahme gewesen sei, die auf Rat der Militärbehörden erfolgte und die, solange die Invasionsgefahr weiterbestehe, nicht aufgehoben, sondern nur gemildert werden könne. Auch Lord Winterton, der frühere Vorsitzende des Evian-Ausschusses, vertrat diesen Standpunkt, wobei er sich darauf berief, dass es selbst unter den Juden und Flüchtlingen Leute gebe, die zu den Internierungsmassnahmen geraten haben. Sir John Anderson kündigte ein neues Weissbuch über Freilassungsmöglichkeiten an, das die Bestimmungen des ersten Weissbuches mildern und erweitern werde. Unterstaatssekretär Peake gab eine zusätzliche Erklärung über die Verwaltung der Internierungslager ab, in der er eine Beschleunigung der Post, die Auflösung der Lager Sutton Park und Prees Heath, die zu Beschwerden Anlass gaben, und Beschäftigungsmöglichkeiten für die auf der Isle of Man Internierten in Aussicht stellte. Er gab der Hoffnung Ausdruck, dass infolge der Beschleunigung der Auswanderung nach Amerika (verursacht durch die Unmöglichkeit, aus Deutschland direkt auszuwandern)



[Hinweis]

Denkt an die Internierten!

Geldspenden nimmt entgegen: Room 62, Bloomsbury House, London WC1, International Solidarity Fund.



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und der Möglichkeit, dass Internierte sich zum Pionierkorps melden, "innerhalb der nächsten 12 Monate" die meisten Internierten die Lager verlassen haben werden.

Inzwischen ist das angekündigte neue Weissbuch veröffentlicht worden, das noch einmal die18 Kategorien des ersten Weissbuches in oft abgeänderter Form und eine neue Kategorie für politische Flüchtlinge enthält. Die Abänderung der ersten 18 Kategorien besteht zunächst darin, dass das Höchstalter für Internierte auf 65 Jahre herabgesetzt und das Mindestalter auf 18 Jahre heraufgesetzt ist, und weiter darin, dass für Internierte, die wichtige Stellungen in der Wirtschaft haben, nicht nur die frühere Beschäftigung, sondern auch die Möglichkeit, nach der Internierung eine neue Beschäftigung anzunehmen, in Betracht gezogen wird.

Der Wortlaut der neuen Kategorie 19 ist: "Jede Person (kann freigelassen werden), über die ein Tribunal, das zu diesem Zwecke vom Innenminister ernannt wird, berichtet, dass genug über seine Vergangenheit bekannt ist, um zu beweisen, dass sie durch ihre Schriften oder Reden oder politische oder amtliche Tätigkeit ständig, Jahre hindurch einen öffentlichen und hervorragenden Anteil an der Opposition gegen das Nazi-System genommen hat und der Sache der Alliierten aktiv freundlich gegenübersteht." (Ein Antrag auf Freilassung soll genügend Einzelheiten aus der Geschichte des Antragstellers angeben, um zu zeigen, dass er eine Person ist, die unter die Kategorie fällt. Der Antrag wird ans Tribunal weitergeleitet, welches, nach Studium aller verfügbaren Informationen, den Innenminister dahin beraten wird, ob der Antragsteller für die Freilassung in Frage kommt.) In seiner Erklärung im Unterhaus machte Sir John Anderson dazu zwei wichtige Feststellungen: Auf eine Anfrage erwiderte er, dass Verfechter der kommunistischen Weltrevolution nicht unter die Kategorie fallen und dass "führende Personen politischer Flüchtlingsgruppen" von dem Tribunal, wenn es das für angebracht hält, um Rat gefragt werden sollen.

Bisher ist über die Zusammensetzung des Tribunals und über den Zeitpunkt seines Zusammentretens noch nichts bekannt.

Das neue Weissbuch stellt weiter fest, dass auch "B"-Fälle, die den Vorschriften der Kategorien entspre-

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chen, freigelassen werden können, allerdings werden sie erst vom Advisory Committee geprüft und ihre Freilassung kann nur erfolgen, wenn sie vom Advisory Committee (das zur Zeit der Internierung der "B"-Fälle erst ein Viertel von ihnen nachgeprüft hat) als "C" klassifiziert werden. Sobald wie möglich sollen alle "B"-Fälle, auch wenn sie zunächst unter keine Kategorie der Freizulassenden fallen, vom Advisory Committee nachgeprüft werden, damit ihnen, wenn möglich, das "Stigma" der "B"-Klasse genommen wird.

Schliesslich wird im neuen Weissbuch noch verkündet, dass auch für die internierten Italiener ein Tribunal eingesetzt wird, das ihre Freilassung gemäss den Kategorien zu entscheiden hat. Den Vorsitz dieses Tribunals hat Sir Percy Loraine[3], der frühere britische Botschafter in Rom, übernommen.

Zur Ergänzung und Berichtigung der Information in der letzten Nummer unserer "Mitteilungen" stellen wir fest, dass die Adressen der Internierten, die nach Kanada oder Australien verschifft wurden, nach amtlicher Angabe wie folgt lauten:

Kanada: c.o. Director of Interment Operations,
Base Army Post Office, OTTAWA, Canada.

Australien: c.o. Prisoners of War Department,
MELBOURNE, Australia.

Inzwischen liegen in den meisten Fällen bereits Bestätigungen dafür vor, dass die nach Kanada verschifften Internierten dort eingetroffen sind. Der Transport Internierter nach Australien hat Mitte August Kapstadt passiert und dürfte in diesen Tagen in Australien eingetroffen sein.

Neue Ueberseetransporte Internierter haben nicht stattgefunden. Die australische Regierung hat die britische darauf aufmerksam gemacht, dass sich unter den nach Australien geschickten Internierten viele befinden, die früher die Einreise nach Australien beantragt hatten und deren Antrag von der australischen Regierung abgelehnt worden war. Im Unterhaus ist vom Innenminister zugesagt worden, dass auch für die nach Uebersee Verschifften die Freilassung unter den Kategorien ermöglicht werden soll.

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Ueber die Frage der Nachsendung von Frauen und Kindern ist noch immer keine Entscheidung erfolgt.

Aus dem neuen Weissbuch (das die Zeichen Cmd. 6223 trägt und für ld von H.M. Stationery Office, York House, Kingsway, London W2, zu beziehen ist) geht abermals hervor, dass in allen Fällen, in denen nicht der frühere oder künftige Arbeitgeber (in Fällen von Arbeitern in Flüchtlingsorganisationen das betreffende Komitee) den Antrag zu stellen hat, der Internierte selbst den Antrag stellen und an: The Under Secretary of State, Aliens Department, P.O. Box 100, Paddington District Office, London W2, richten soll. Im Parlament ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass eine Vielzahl verschiedener Anträge für ein und denselben Internierten nachteilig ist und dass davon abgesehen werden soll, Anträge für Internierte zu stellen, die unter keine der bisher verkündeten Kategorien fallen, da solche Anträge notwendig abgelehnt werden und die Arbeit des Home Office aufhalten. Eine Entlassung aus Gesundheitsgründen kann nur vom Lager-Arzt beantragt werden und erfolgt, wie die Erfahrung zeigt, meist innerhalb ganz weniger Tage.

In den letzten Tagen sind dauernd Freilassungen von Kranken und Personen über 65 Jahre aus den Internierungslagern erfolgt, während Freilassungen gemäss anderen Kategorien erfahrungsgemäss längere Zeit dauern.

In allen Anträgen auf Freilassung ist Name und Geburtsdaten des Internierten, seine Adresse vor der Internierung und die Adresse, nach der er, wenn er freigelassen wird, ziehen will, und, wenn möglich, seine Home Office Nummer anzugeben.

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Wo ist Dein Beitrag für die Internierten?





Issued by the London Representative of the German Social Demo-
cratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW 7.






Editorische Anmerkungen


1 - Die USA lieferten 1940 der britischen Flotte 50 amerikanische Zerstörer; Großbritannien verpflichtete sich im Gegenzug, den USA Flotten- und Flugzeugstützpunkt auf den Bermudas u.a. abzutreten.
Die Verhandlungen Roosevelts mit Kanada betrafen die "gemeinsame Verteidigung der westlichen Hemisphäre". Am 18.8.1940 wurde beschlossen, einen gemeinsamen Verteidigungsrat zu bilden.

2 - Victor Alexander Cazalet (1896 - 1943), konservatives MP seit 1924.

3 - Percy Lyham Loraine (1880 - 1961), als letzte seiner Auslandsmissionen von 1939 bis 1940 Botschafter in Italien, 1940-1945 Vorsitzender des Home Office Advisory Committee on Italian Internees.



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