No. 5 - 1940

March, 1st

Sozialistische Mitteilungen

News for German Socialists in England

This news-letter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

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Seit sechs Monaten liegt Europa im Krieg. Jene, die gemeint haben, dass Hitler durch seinen Pakt mit Stalin die Westmächte vom Eingreifen werde abhalten können und eine neue Eroberung eines kleinen Landes werde feiern können, haben ebenso geirrt wie andere, die sich einen raschen Zusammenbruch des Hitler-Regimes nach der Kriegserklärung der Westmächte vorstellten. Wer erkannte, welche wahre Bedeutung der Hitler-Stalin-Pakt hatte, wer sah, dass hier ein Bündnis zweier gewaltiger Diktaturen zur gemeinsamen Bekämpfung der Demokratie geschlossen wurde, der wusste, dass ein langer und schwerer Kampf bevorsteht, und er wusste auch, dass ein Entscheidungskampf begonnen hatte, der durch gelegentliche Friedensmanöver, erpresserische Drohungen und eine im Dienste der angreifenden Diktatoren stehende scheinpazifistische Propaganda nicht zum Abschluss gebracht werden konnte.

Europa befindet sich in jenem Krieg, den die Sozialdemokraten seit Hitlers Machtergreifung vorausgesehen haben.

Als Anfang September 1939 Hitler sein Bündnis mit Moskau schloss und in Polen einfiel, als er nach Oesterreich und der CSR das dritte Opfer überfiel, musste jedem klar sein, dass keine andere Wahl mehr blieb, als entweder die europäische Demokratie und Zivilisation Hitler auszuliefern oder sie mit dem äussersten Aufgebot zu verteidigen.

Es sind Fälscher, die von einem "imperialistischen" Krieg Englands und Frankreichs, getreu den Weisungen Goebbels'[1] und Molotows, erzählen, und es sind Toren, die ihnen glauben. Nach diesen ersten sechs Monaten des Krieges ist es sonnenklar, dass weder England noch Frankreich irgendein Land erobern wollen und dass die "Imperialisten" auf der anderen Seite stehen: Hitler, der nach der Annexion Oesterreichs und der CSR auch noch Polen überfiel, und Stalin, der nach dem heimtückischen Einfall in Ostpolen und der Teilung

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des Raubes mit Hitler auch noch Finnland angegriffen hat.

Und es wird auch von Tag zu Tag klarer, dass es sich in diesem Krieg nicht nur um eine Sache Englands und Frankreichs handelt, sondern um einen Kampf zur Vernichtung der Diktaturen, dem auf die Dauer kein Staat in Europa wird teilnahmslos zusehen können, ja, der seine Kreise auch über Europa hinauszieht.

Wenn wir die ersten sechs Monate dieses Krieges rückschauend überblicken, dann können wir feststellen, dass sie nicht so verlaufen sind, wie phantastische "Blitzkriegspropheten" sie unter dem Eindruck Hitlerscher Prahlereien vorausgesagt haben. Nur der polnische Feldzug, der vom Wetter und wohlvorbereiteter Zersetzungsarbeit begünstigt war und das angegriffene Land zwischen zwei Fronten brachte, hat einem "Blitzkrieg" ähnlich gesehen. Dann aber ist Hitler zu Friedensmanövern übergegangen, die erfolglos waren, und zu einem langwierigen und verlustreichen U-Boot- und Minen-Krieg, der aussichtslos ist. Und er weiss augenscheinlich noch immer nicht, zu welchem neuen Schlag er sich entschliessen soll.

Inzwischen ist statt seiner Stalin in Aktion getreten. Die Rote Armee hat mit 50facher Uebermacht Finnland angegriffen. Hundertausende russischer Soldaten sind geopfert, ganze Divisionen der Roten Armee in Eis und Schnee vernichtet worden. Während diese Zeilen geschrieben werden, ist es den Angreifern gelungen, die "Mannerheim-Linie", das finnische Verteidigungssystem zwischen Ladogasee und Finnischem Meerbusen, an der Südostflanke einzudrücken, aber immer noch nicht in Viborg einzudringen, das von Leningrad so weit entfernt ist wie Margate von London. Bedenkt man, dass die "Mannerheim-Linie" etwa halbwegs zwischen Leningrad und Viborg liegt, dann ermisst man, wie kläglich das Resultat des drei Monate währenden Angriffs der "stärksten Armee der Welt" ist und wie ungeheuer das Missverhältnis zwischen den riesigen Opfern, die sie brachte, den Brutalitäten, die ihre Flugwaffe verübte, und den militärischen Erfolgen, die sie aufzuweisen hat. Umso leuchtender erscheinen Opfermut und Heldentum der Finnen, und sie lehren, welcher Leistungen ein Volk fähig ist, das geeint für seine Freiheit kämpft: eine Lehre, die, wie wir fest glauben, im Lauf dieses Krieges von allen Völkern, die sich auf die Seite der Demokratie stellen werden, bestätigt werden wird.

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Es wäre eine Illusion zu glauben, dass der Krieg auf Finnland und die Nordsee beschränkt bleiben wird. dass mit Finnland die gesamte skandinavische Demokratie bedroht ist, dass die Sowjetregierung den Nazis Flottenstützpunkte an der arktischen Küste zur Verfügung stellte, dass Hitlers Flotte die norwegischen Küstengewässer als Durchschlupf missbraucht, dass ein dauernder Druck des Dritten Reiches auf den Balkan und besonders auf Rumänien ausgeübt wird, dass russische Aufmarschpläne gegen die Türkei gemeldet werden, dass britische Kriegsschiffe sich an Finnlands Küste sammeln und dass die australischen und neuseeländischen Hilfstruppen im Vorderen Orient stehen, das alles zeigt, dass sich das mögliche Schlachtfeld vom Eismeer bis zum Schwarzen Meer und zum Suezkanal erstreckt.

Erst kürzlich hat der Zwischenfall mit der "Altmark", dem Gefangenenschiff der Nazis, das in einem norwegischen Fjord von britischen Zerstörern gestellt und überwältigt wurde, den Schleier der "Neutralität" von den "friedlichen" nordischen Küsten gerissen.[2]

Erst kürzlich haben englische Flieger wieder ihre Erkundungsflüge bis Wien, Prag, Pilsen und Brünn ausgedehnt.

Es ist klar, dass wir uns in einem europäischen Krieg befinden, in dem das Schicksal und die Zukunft Europas, wenn nicht der ganzen Welt, entschieden werden.

Nach dem Verlauf der ersten sechs Monate zu urteilen, kann es ein langer Krieg werden, dessen weitere Stadien heute noch niemand übersehen kann.

Das Ziel aber, die Vernichtung des Hitlerismus, mit wem er sich auch verbinden möge, soll nie aus dem Auge verloren werden, und da es dasselbe Ziel ist, für das wir deutschen Sozialdemokraten immer gekämpft haben, solange es einen Hitlerismus gibt, ist es für uns keine Frage, wem wir den Sieg in diesem Kampf wünschen, auf wessen Seite wir stehen, und dass wir darauf hoffen und dafür arbeiten, dass auch jener Teil des deutschen Volkes, der nur widerwillig das Joch der Diktatur getragen hat, sich in die Reihe derer stellt, die für den Sturz der Tyrannen kämpfen.

Ministerpräsident Chamberlain erklärte in einer Rede, die er am 24. Februar in Birmingham hielt, dass die Ziele des Krieges in der Sicherung der kleinen Staaten, der Wiedergutmachung der Uebel, die Deutschland den unterdrückten Völkern zugefügt hat, in der Herstellung der individuellen

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Freiheit und der Beseitigung des Militarismus bestehen.

Als konkrete Friedensbedingungen nannte Chamberlain: die Sicherung der Unabhängigkeit der Polen und Tschechen und den greifbaren Beweis dafür, dass Versprechungen und Zusicherungen gehalten werden. "Unter der gegenwärtigen deutschen Regierung", sagte Chamberlain, "gibt es keine Sicherheit für die Zukunft. Die Elemente in Deutschland, die bereit sind, beim Neubau Europas mitzuarbeiten, werden brutal unterdrückt, die Nation ist von der Verbindung sogar mit der Meinung der Neutralen abgeschnitten, und ihre Herrscher haben wiederholt gezeigt, dass man ihnen nicht zutrauen kann, ihr Wort fremden Regierungen oder auch dem eigenen Volk [gegenüber] zu halten. Deshalb müsse Deutschland den ersten Schritt machen und uns überzeugend beweisen, dass es ein für allemal die These aufgegeben hat, dass Macht Recht ist."

Ueber Sowjetrussland sagte Chamberlain: "Obwohl der russische Lehrling vom deutschen Meister nichts über Brutalität zu lernen brauchte, beherrscht er doch nicht seine Kunst oder hat noch nicht seine Stärke erreicht, und alle Welt freut sich über den heroischen Widerstand des kleinen Finnland gegen seinen gigantischen Gegner."

Arthur Greenwood, der stellvertretende Führer der Labour Party, setzt in seinem Buch "Warum wir kämpfen" (Why we fight) die Stellung der britischen Sozialisten zum Krieg auseinander. In der Vorrede sagt er: "Ich weiss, dass die Dinge nicht sind, wie sie sein sollten, aber um sie in Ordnung zu bringen, müssen wir bewahren, war wir errungen haben ... . Weil die Arbeiterbewegung ihren Marsch in die Freiheit fortzusetzen gewillt ist, weiss sie, dass sie durch das Schattental des Todes hindurch muss."[3]

Greenwood weist auf die Gefahr hin, die der Arbeiterklasse in jedem Lande droht, in dem totalitäre Doktrinen nach der Macht streben. Ueber Stalin schreibt Greenwood: "Stalin zog den bequemen Profit der Perfidie der schweren Aufgabe vor, den Frieden zu verteidigen ... . Sowjetrussland, das sowohl den Frieden als auch die friedlichen Nationen geopfert hatte, um sich von dem Krieg fernzuhalten, sieht sich in einen imperialistischen Angriffskrieg gegen eine kleine, friedliche und demokratische Republik gestürzt."

G. betrachtet den Krieg als einen Kreuzzug für eine neue Weltordnung, die auf den Ideen der internationalen Gerechtigkeit und Freiheit gegründet werden muss.

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Der ehemalige Chefredakteur des in Berlin erschienenen Zentralorgans der deutschen Sozialdemokratie erklärte in einer Versammlung der Sozialdemokratischen Föderation in New York, dass die deutsche Demokratie nicht an den Fehlern der Sozialdemokratie, sondern an den Verbrechen der Kommunisten zugrunde gegangen sei. Die Verrohung des deutschen politischen Lebens war eine gemeinsame Leistung der Nazis und der Kommunisten. Stampfer erinnerte daran, dass er wenige Monate vor Hitlers Machtantritt versucht habe, Moskau zu einer Mahnung an die deutschen Kommunisten zu bewegen, im Interesse der gesamten Arbeiterbewegung und der Erhaltung der Demokratie und zur Verhinderung des Machtantritts Hitlers, dass sie mit den Sozialdemokraten bessere Beziehungen herstellen sollen.

Er erhielt die Antwort, in Moskau halte man es für richtiger, zunächst Hitler an die Macht kommen zu lassen, nach ihm werde Deutschland für den Bolschewismus reif sein. Deutschland, sagte Stampfer, ist von einer Gangsterbande erobert worden, und die Interpretation, dass das Hitler-Regime die "letzte Stufe des Kapitalismus" sei, lehne er ab. Stampfer wandte sich gegen die Behauptung, der Krieg gegen Hitler sei ein imperialistischer Krieg. Wie viele Menschen in Polen und in der Tschechoslowakei würden Gott heute auf den Knien danken, wenn sie plötzlich als von "England unterdrückte Inder oder Afrikaner" aufwachen könnten!

Chamberlain und Daladier seien gewiss unsere politischen Gegner, sie haben viel getan, weshalb wir sie bekämpft haben, aber sie sind Ehrenmänner und nicht Verbrecher wie Hitler.

Die deutschen Sozialdemokraten, die nicht Werkzeuge der Alliierten werden wollen und die Unabhängigkeit und Selbständigkeit ihrer Politik unter allen Umständen aufrecht erhalten, sind gegen eine Zerschlagung Deutschlands. Ihr Ziel ist ein freies Deutschland in einem freien Europa. Es komme aber weniger auf die Grenzen an als auf die Zustände in Europa. Wenn die drei grossen Mächte - England, Frankreich und Deutschland - sich auf einer freiheitlichen und demokratischen Grundlage vereinigen würden, wäre der Grundstein für die Vereinigten Staaten gelegt.

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Schon seit der Flucht der "Bremen"[4] nach Murmansk und von da durch norwegische Küstengewässer nach Deutschland liess sich die Rolle ahnen, die Sowjetrussland bei der Unterstützung der Versuche des Dritten Reiches spielt, den Wirkungen der englischen Blockade zu entgehen. Die Wacht, die jetzt englische Kriegsschiffe in der Nähe des von den Russen besetzten finnischen Eismeerhafens Petsamo halten, ist offenbar als Gegenmassnahme gegen diese Antiblockademassnahmen des russischen Verbündeten Hitlers gedacht. Wie sehr sich Sowjetrussland auf wirtschaftlichem Gebiete bemüht, Hitler zu helfen, geht aus einer vom amerikanischen Handelsdepartment angestellten Untersuchung über die Entwicklung des Aussenhandels des Dritten Reiches seit Kriegsausbruch hervor. Diese Untersuchung ergab, dass sich die amerikanische Ausfuhr nach den Nachbarstaaten Deutschlands in den ersten vier Kriegsmonaten um 17 Millionen Pfund Sterling erhöht hat; das bedeutet einen Monatsbetrag von mehr als vier Millionen. Während dieser Zeit hat sich die amerikanische Ausfuhr nach der Sowjetunion genau verdoppelt, sie ist von einer Million auf zwei Millionen Pfund monatlich gestiegen, und es besteht kein Zweifel, dass die zusätzliche Million Einkäufe für das Dritte Reich bedeutet. Weiter wurde festgestellt, dass die Sowjetunion grosse Transporte aus mexikanischen Häfen durchführt und dass sich zur gleichen Zeit die amerikanische Ausfuhr nach Mexiko monatlich von 1,5 auf 2,5 Mill. Pfund erhöht hat. Auch diese Transporte dürften dem Dritten Reich zugute kommen. Das Bild, das, so gesehen, die Wirkungen des Hitler-Stalin-Paktes bieten, wird "ideologisch" abgerundet durch die Nachricht, dass demnächst eine russische Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" im Moskauer Staatsverlag erscheinen soll.

Vor einigen Wochen ist in der Baseler "National-Zeitung" ein Bericht des früheren Warschauer Korrespondenten Dr. Werner Bretholz[5] erschienen, des ehemaligen Mitarbeiters des "Berliner Tageblattes"[6] und dann der "Prager Presse"[7], der wegen seiner Sympathien für die Sowjetunion bekannt war. Der Bericht behandelt die Zustände in dem von der Roten Armee "befreiten" ostpolnischen Gebiet. Es heisst darin: "In den ersten Wochen nach der Okkupation war immerhin einiges

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geschehen, um den Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung entgegenzukommen, und auf den Meetings, die damals fast täglich stattfanden, wurden diese Errungenschaften denn auch immer wieder gepriesen und hervorgehoben. So hatte man in Husiatyn ein Tonfilmkino eingerichtet, das fast täglich, selbstverständlich gratis, Sowjetfilme vorführte ... Eine weitere sensationelle Errungenschaft für diesen Ort, in dem es keine Strassenbeleuchtung und in den Häusern niemals etwas anderes als Petroleumlampen gegeben hatte, war die Einrichtung von elektrischer Beleuchtung in einzelnen militärisch wichtigen Gebäuden, die auch einigen öffentlichen Gebäuden zugute kam und sogar für die Anbringung einiger Strassenlaternen ausreichte. Aber Kino und elektrisches Licht verschwanden wieder, als nach etwa zwei Monaten der Grossteil der in Husiatyn stationierten Truppen zurückgezogen wurde. ...

Diesen Fortschritten stand eine ausserordentliche Verschlechterung vor allem der wirtschaftlichen Lage gegenüber, die in phantastischen Preissteigerungen und ernsten Versorgungsschwierigkeiten ihren Ausdruck fand ... Die Mitglieder der Okkupationsarmee, und zwar sowohl die einfachen Soldaten als auch die Offiziere, kauften in dem besetzten Gebiet auf, was überhaupt aufzukaufen war, und zwar zu jedem Preis, der von ihnen verlangt wurde ...Anfangs war diese Kauflust bis zu einem gewissen Grad noch damit zu erklären, dass den Russen, angesichts der Gleichsetzung von Rubel und Zloty, die Preise im besetzten Gebiet, verglichen mit denen in der Sowjetunion, lächerlich gering erscheinen mussten. Später aber, nachdem auch hier die Preise bei vielen Waren auf das Zehn- und Zwanzigfache gestiegen waren, gab es keine andere Erklärung als die, dass in der Sowjetunion Mangel herrsche, Mangel an all dem, was die Russen in Polen so fieberhaft aufkauften, und das heisst praktisch: Mangel an allem ...

Um einen Begriff von den Preissteigerungen zu geben, sei angeführt, dass ein Paar Schuhe, das vor dem Krieg in Polen 10 bis 15 Zloty kostete, schliesslich in dem von den Russen besetzten Gebiet 100 bis 150 Zloty bzw. Rubel kostete, ein Meter gewöhnlicher Baumwollstoff statt 1 Zloty 20 Zloty. Die Lebensmittelpreise stiegen im Durchschnitt auf das Zehn- bis Fünfzehnfache, und trotzdem war jeder froh, wenn er - oft nach vielstündigem Schlangestehen - überhaupt noch etwas zu kaufen be-

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kam. Am gesuchtesten waren natürlich, besonders in den grossen galizischen Städten, Devisen, und der Dollar, für den man vor dem Krieg 5,25 Zloty erhalten hatte, stieg auf 80, 100, zeitweise sogar auf 150 Zloty."

Nachdem schon Anfang des Monates die Nachwahl in dem proletarischen Londoner Bezirk Southwark einen glatten Sieg des Labour-Kandidaten und eine kläglicher Niederlage des als "Friedenskandidaten" getarnten kommunistischen Konkurrenten gebracht hatte, haben die Kommunisten in Gemeinschaft mit den britischen Faschisten am 22. Februar eine katastrophale Wahlniederlage in dem Schiffsarbeiterbezirk Silvertown im Eastend Londons erlitten. Dort hatten sie in Gestalt des Generalsekretärs der britischen KP, Harry Pollitt[8], einen Paradekandidaten aufgestellt, der im Wettbewerb mit dem faschistischen Kandidaten Moran[9] gegen die Wahl des Sozialisten Hollins[10] agitierte. Das Wahlergebnis war: Hollins 14.343 Stimmen, Politt 966, Moran 151 Stimmen. Die Labour Party hat also mehr als 93 Prozent der Stimmen auf sich vereint, während Kommunisten und Faschisten gemeinsam sich in den Rest teilen mussten.

Der "Daily Herald", das Blatt der Labour Party, brachte die Nachricht von dem Wahlsieg in Silvertown unter der bezeichnenden Ueberschrift: "14 zu 1 für die Vernichtung des Hitlerismus".


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Die Hilfe, die das Hitler-Regime in Deutschland durch Stalin und die Kommunisten Russlands erhält, öffnet auch manchen bisherigen Kommunisten die Augen, und wir hätten wiederholt Gelegenheit gehabt, Abschiedsworte an die KPD zu veröffentlichen. Bisher taten wir dies nicht, wollen aber diesmal einen Auszug aus den Abschiedsworten eines führenden Kommunisten bringen, der 5 Jahre die Geschäfte des Salda-Flüchtlingshilfskomitees[11] in Prag führte und einen tiefen Einblick in die Verhältnisse der kommunistischen Politik und Flüchtlingsfürsorge hatte.

Dieser ehemalige Sekretär des Salda-Komitees sagt: "Nach langer, reiflicher Überlegung habe ich mich von der Kommunistischen Partei getrennt. Ich habe bereits während der Evakuierungsperiode in Prag meine Funktion in der Landesleitung nach vielen Auseinandersetzungen niedergelegt.

Anlass hierzu war die skandalöse und leichtfertige Art, mit der hohe Funktionäre der Kommunisten die Frage der Evakuierung behandelten. Es ist bekannt, dass ca. 150 Kommunisten in die Hände der Gestapo gefallen oder ums Leben gekommen sind ... . Mit Zynismus erklärte bei dieser Frage auf Leben und Tod ein ehemaliger Reichstagsabgeordneter (Namen und verschiedene Einzelheiten wollen wir nicht bringen.) 'Den Rest schenken wir Hitler'. Solche keinesfalls vereinzelten Aeusserungen sind symptomatisch für den moralischen Zerfall der kommunistischen Organisationen." (Es werden dann Mitteilungen über die Auswahl der Personen für wichtige Funktionen und die Methoden der Denunzierung als "Agenten" gebracht, wenn Kommunisten nicht mehr die vorgeschriebene Gesinnung an den Tag legen.)

"Durch meine fünfjährige Tätigkeit als Sekretär des von Masaryks[12] Freund, Professor Salda, gegründeten Flüchtlingskomitees hatte ich Gelegenheit, die so zerstörenden Methoden der geistigen Gleichschaltung, kombiniert mit der politischen und persönlichen Diffamierung und materiellem Druck, zu beobachten. Wenn ich auch viele skrupellose Massnahmen des Apparats verhindern oder abschwächen konnte, so glaubte ich doch, die Kritik ausserhalb der Organisation zurückstellen zu müssen in dem Glauben, dass es sich um Zerfallserscheinungen der Emigration handele ...

Der Paktabschluss zwischen Stalin und Hitler, der Einmarsch in Polen, der Ueberfall auf Finnland u.a. haben in

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der kommunistischen Emigration zunächst grosse Verwirrung bewirkt. Jedoch schon nach kurzer Zeit haben die meisten Genossen - oft rückhaltlos - diese verhängnisvolle Politik Russlands verteidigt. Diese sklavische Haltung des blinden Glaubens an die Unfehlbarkeit Stalins und der Politik Russlands hat viele, ernstlich zu diskutierende Ursachen."

(Es wird dann vom Fehlen der innerparteilichen Demokratie der Kommunisten, der Parolenschusterei, der mangelnden Vertrauensgemeinschaft, dem Gesinnungsterror, der Furcht vor Moskauer Prozessen und dem Zustand der Resignation und geistigen Isolierung gesprochen.)

"Die auf Gedeih und Verderben an die jeweilige Politik der Sowjetunion gekoppelte Politik der Komintern ist zu einem gefährlichen Hemmnis im Kampf gegen den Faschismus und für den Sieg des Sozialismus geworden. Die Folgen zeigen sich besonders krass in Frankreich und in Skandinavien, wo die Hörigkeit der Kommunisten von der ganzen Arbeiterbewegung als verächtlich und gegen die Interessen des Landes gerichtet empfunden wird. So wie die heutige Politik der Sowjetunion Hitler nützt und den Antisowjetkrieg aus eigenem Verschulden vorzeitig provoziert, schwächt auch die Komintern mit ihrer Proklamierung der Parteien der II. Internationale als "Hauptfeind" weiter die Kraft der internationalen Arbeiterbewegung.

Die Komintern [hat] ebenso wie die Sowjetunion den ideologischen Kampf um die nichtkommunistischen Arbeiter aufgegeben und durch die Argumente der Bajonette der Roten Armee und der GPU[13] ersetzt.

Die schändliche Komödie der Einsetzung der Kuusinenregierung signalisiert die Gefahren, die der Revolution in Deutschland später drohen.

Die Komintern hat lange aufgehört, irgendwelche Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, sie desorganisiert und schädigt diese nur.

Auch auf die Gefahr böswilliger Missdeutungen hin muss gesagt werden, dass sie sterben muss, wenn die Arbeiterklasse siegen soll."

Der Schreiber dieses Briefs ist wie mancher andere der Kommunisten auch hier in England zu der Ueberzeugung gekommen, dass dazu auch die individuelle Loslösung von der Kommunistischen Partei gehört.

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Am 22. Februar legte Unterstaatssekretär Peake[14] dem Unterhaus den Antrag vor, der eine Unterstützung der Flüchtlingsorganisationen bis zur Höhe von 180.000 Pfund vorsieht. Peake erklärte, die freiwilligen Organisationen hätten seit 1933 5 Millionen Pfund aufgewandt und weitere 3 Millionen seien von Privatleuten für Hospitality aufgewandt worden. Die Regierung sei nun bereit, sich zur Hälfte an den Kosten zu beteiligen. Vom 1. Januar dieses Jahres an solle die Summe bis zu 27000 Pfund monatlich betragen. Diese Einrichtung solle bis Juni gelten. Auf die Frage des sozialistischen Abgeordneten Wedgwood[15], ob man den Flüchtlingen nicht sagen solle, dass sie auf dem Wege zur britischen Staatsbürgerschaft seien und dass sie sich in die Gemeinschaft einfügen sollten, erklärte Lord Winterton[16], der Vorsitzende des Evian-Komitees, er glaube nicht, dass es gut sei, die Flüchtlinge in Massen zu ermutigen, sich in England niederzulassen, und Mr. Peake wies darauf hin, dass viele der Flüchtlinge hier nur vorübergehend bleiben und weiter auswandern werden. Der Antrag wurde angenommen. - Auf eine Anfrage des liberalen Abgeordneten Mander[17] erklärte Sir John Anderson, es werden Beratungskomitees eingesetzt, um die Fälle von Flüchtlingen zu überprüfen, die von den Tribunalen als "B" klassifiziert wurden, d.h. nicht interniert, aber auch von den Restriktionen nicht befreit wurden. Diese Beratungskomitees werden bald zu arbeiten beginnen.

Schon in der letzten Ausgabe der SM haben wir gemeldet, dass sich Hunderte von Flüchtlingen bereits im britischen Pionierkorps befinden. Wir teilen ergänzend mit, dass für Deutsche und Oesterreicher nur das Pionierkorps in Frage kommt. Was die Frage der Tschechoslowaken anlangt, so hat kürzlich der Kriegsminister Stanley im Unterhaus erklärt, dass auf Grund einer Verordnung vom 28. September 1939 jeder Ausländer in irgendeine Abteilung eintreten oder aufgenommen werden kann. Jedoch werden tschechoslowakische Staatsangehörige, die in die Armee eintreten wollen, dazu ermutigt, sich zum Dienst in der Tschechoslowakischen Legion in Frankreich zu melden. Auf Anfrage stellte der Kriegsminister fest, dass

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es hierüber keine Verordnung gibt und der Eintritt in die Legion ganz freiwillig ist.

Der jüdische Weltverband "Makkabi"[18] bereitet die Auswanderung einer grösseren Anzahl von Flüchtlingen nach Bolivien vor.

General Trujillo[19], der frühere Präsident der Republik [Santo] Domingo, hat einen Vertrag unterzeichnet, nach dem 500 Familien aus verfolgten europäischen Minderheiten (vor allem aus Deutschland und Polen) in Domingo angesiedelt werden können. Dies soll der erste Schritt zu einer Massenansiedlung jüdischer und nichtjüdischer Flüchtlinge sein, die bis zu 100.000 Siedler umfassen soll.

Im Verlag Lincolns-Prager, London, ist eine deutsche Übersetzung des Berichts des früheren britischen Botschafters in Berlin, Sir Neville Henderson, über die Vorgeschichte des Krieges[20] und eine Übersetzung des Weissbuches über die deutschen Konzentrationslager erschienen. Preis 8 d.

Der gleiche Verlag kündigt eine Bücherreihe "Pulse of Time" an, in der u.a. ein Buch von Wenzel Jaksch "Federal Europe", ein Buch des norwegischen Sozialisten Bjarne Braatoy: "Labour after the War", ein Buch Walter Tschuppiks[21] über Hitler und ein Buch "Federal Germany" von Richard H. Samuel[22] erscheinen sollen. Preis eines jeden Bandes sh 1/-.[23]




Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW 7






Editorische Anmerkungen


1 - Joseph Goebbels (1897 - 1945), vor 1933 NSDAP-Gauleiter von Berlin-Brandenburg und NS-Reichspropagandaleiter, MdR seit 1928, nach der sog. Machtergreifung Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda.

2 - Das Marinetroßschiff "Altmark" hatte als Versorgungsschiff eines deutschen Panzerkreuzers 1939 im Atlantik operiert und war mit britischen Gefangenen an Bord auf dem Rückweg nach Deutschland in norwegischen Hoheitsgewässern aufgebracht worden.

3 - Arthur Greenwood: Why We Fight: Labour's Case, 1940.

4 - Die "Bremen", der Passagierdampfer des Norddeutschen Lloyd, war vom Kriegsausbruch im New Yorker Hafen überrascht worden. Er versuchte, über die Nordroute nach Deutschland zu gelangen.

5 - "Werner Bretholz": Wolfgang Bretholz (1904 - 1969), Journalist, 1933 Emigration in die CSR, 1933-1939 Mitarbeiter der Exilpresse, 1934 ausgebürgert, 1939 nach Polen und Rumänien, 1940 in die Türkei, seit 1948 in der Schweiz. Vgl. u. a. W. Bretholz: Ich sah sie stürzen. Bericht über die Ereignisse in Ost- und Südosteuropa in den Jahren 1944-48, München u. a. 1955.

6 - Das "Berliner Tageblatt" erschien von 1872-1939; bis 1933 bürgerlich-liberal.

7 - "Prager Presse"; deutschsprachige Tageszeitung in Prag von 1920-1938 o. 1939, bürgerlich-liberal.

8 - Harry Pollitt (1890 - 1960), Mitgründer der Kommunistischen Partei Großbritanniens (1920), 1929-1952 Generalsekretär der britischen KP. Vgl. H. Pollit: Serving My Time, London 1940. [Autobiographie]

9 - Tom Moran, seit 1933 Mitglied der British Union of Fascists, übernahm 1940 nach O. Mosleys (s. d.) Verhaftung dessen Funktion als Parteivorsitzender.

10 - James Henry Hollins (1877 - 1954), Labour-MP 1940 - 1945.

11 - Das Salda-Komitee war ein 1933 gegründetes "bürgerlich-parteiloses" Hilfskomitee für Emigranten, benannt nach seinem Mitbegründer, dem tschechischen Literaturkritiker Frantisek X. Salda (1867 - 1937). Nicht wenige der Komitee-Mitarbeiter waren Kommunisten.

12 - Thomas Garrigue Masaryk (1850 - 1937), Philosoph, Soziologe, Politiker, 1918-1935 (erster) Staatspräsident der CSR.

13 - GPU = Geheime Politische Staatspolizei; 1922 als Nachfolgerin der Tscheka gegründet. Hier mehr symbolisch genannt. Die GPU war schon 1934 in das NKWD umgewandelt worden.

14 - Osbert Peake (1897 - 1966), konservativer Politiker, 1929-1956 Unterhausabgeordeneter, 1939-1944 Unterstaatssekretär im Innenministerium.

15 - Josiah Clement Wedgwood (1872 - 1943), Labour-Politiker und Unterhausabgeordneter.

16 - Earl Edward Winterton (1883 - 1962), konservativer Politiker.

17 - Geoffrey Le Mesurier Mander (1882 - 1962), liberales MP 1929-1945.

18 - Makkabi = jüdische Weltsportorganisation, benannt nach Judas Makkabäus (o. Juda Makkabi), dem Führer eines jüdischen Aufstandes (166 v. Chr. ff.). In der Neuzeit Metapher für den jüdischen Selbstbehauptungswillen.

19 - Rafael Leonidas Trujillo (1891 - 1961), dominikanischer Diktator

20 - Englischer Titel: Final Report by Sir Neville Henderson on the circumstances leading to the termination of his mission to Berlin, London 1939.

21 - Walter Tschuppik (1899 - 1955), österreichischer Publizist, 1926-1933 Chefredakteur der "Süddeutschen Sonntagspost" (München), von März bis November 1933 als NS-Gegner inhaftiert, ab Ende 1933 im tschechischen, ab 1940 im englischen Exil. Nach dem Krieg Rückkehr über die CSR (bis zur kommunistischen Machtergreifung) und Deutschland nach Österreich.

22 - Richard Herbert Samuel (geb. 1900), deutscher Literaturwissenschaftler, ab 1934 im englischen Exil.

23 - Lincolns-Prager (London) veröffentlichte während der Kriegszeit auch außerhalb der oben angekündigten Serie ("Pulse of Time") Schriften von Exilanten.



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