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TEILDOKUMENT:



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B: Zugang von Frauen zu den wirtschaftlichen Ressourcen



Dr. Petra Gärtner

Wenn im Folgenden unter der Überschrift „Zugang von Frauen zu den wirtschaftlichen Ressourcen", diskutiert werden soll, ist der Bezug zum vorliegenden Bericht der Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen eine Herausforderung zur kritisch-kontroversen Debatte um die Analyse und Bewertung der Stellung der Frauen im Erwerbsleben, insbesondere in Ostdeutschland. Dazu hat der „Runde Tisch Frauen und Erwerbsarbeit" in Sachsen erste Standpunkte erarbeitet, die im Folgenden grob umrissen werden sollen.

Ich möchte mit folgender These beginnen: Frauen wollen sich nach wie vor von einem dauerhaften, anerkannten und gleichberechtigten Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen nicht trennen lassen. Sie werden aber zunehmend daran gehindert, weil die Qualität der Zugangsmöglichkeiten abnimmt und das Terrain für die Verteilung dieser Ressourcen immer enger wird, und der Verdrängungswettbewerb, wie die Kommission selbst schreibt, wächst. Ein Höchstmaß an Flexibilität am Arbeitsmarkt, das ihnen bescheinigt wird, gereicht ihnen dabei offensichtlich nicht als Vorteil, sondern nach den Vorstellungen der Kommission, die es jetzt zu diskutieren gilt, offensichtlich eher zum Nachteil.

Der nun vorliegende Bericht der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Sachsen und Bayern bietet Anlaß, sich mit dieser Problematik näher zu befassen. Nicht zuletzt deshalb, weil er den bisherigen, aktuellen und künftigen Umgang mit der wichtigsten wirtschaftlichen Ressource, nämlich dem Humankapital, in Gestalt von Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit, thematisiert. Strukturiert wird dieser Bericht durch die drei Blöcke Entwicklung, Ursachen, Maßnahmen in drei Teile.

Nun ist die Beschäftigung mit dieser Thematik zunächst nichts Außergewöhnliches und in komprimierter Form höchst notwendig. Allerdings tun dies in den letzten Jahren zahlreiche Ökonomen und Sozialwissen-

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schaftler, die über die Perspektiven und Zukunft der Arbeitswelt debattieren. Interessant am Zukunftsbericht ist, daß die vorliegenden Ergebnisse nicht nur ein Beitrag in einer breiten öffentlichen Diskussion sind, sondern auch eine Plattform für die Umsetzung der Erkenntnisse und Schlußfolgerungen der Kommissionsmitglieder in der praktischen Politik. Die sächsische Landesregierung verweist bei verschiedenen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten in letzter Zeit immer wieder auf diese Ergebnisse. Eines der jüngsten Beispiele ist der Komplex „Mitarbeiterbeteiligung" - ein diskussionswürdiger Ansatz.

Es sind also Positionen gefragt, die dem demokratischen Grundverständnis nach Beteiligung am politischen Willensbildungsprozeß, der auch heute hier aus Frauensicht vehement eingeklagt wurde, zugrunde liegen. Wenngleich die von der Kommission vorgezeichnete Zukunftsvision vom künftigen Umgang mit dem gesellschaftlichen Arbeitsvermögen einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs erfordert, der weit über das hinausgeht, was die Geschlechterfrage anbelangt, soll im Folgenden die Geschlechterperspektive in den Mittelpunkt der Debatte gestellt werden.

Bemerkenswert ist, daß meines Wissens die vorliegenden Berichtsteile, sofern in der breiten Öffentlichkeit bekannt, nirgends in Sachsen so heftig diskutiert werden, wie unter Frauen.

Der „Landesweite Runde Tisch", ein Forum aus Vertreterinnen von Wirtschaft, Politik, Verbänden, Vereinen und Institutionen, aber auch von Privatpersonen im Arbeitsverhältnis und außerhalb von Arbeitsverhältnissen, die sich das Ringen um eine gleichberechtigte Teilhabe der Frauen an Wirtschaft und Arbeit in Sachsen auf die Fahnen geschrieben haben, hat in seiner Zusammenkunft im November 1997 in Dresden dazu eine erste offizielle Stellungnahme abgegeben. Zu diesem Zeitpunkt lagen nur die beiden ersten Berichtsteile vor. Nun liegt auch der dritte Teil zur Diskussion vor.

Der „Runde Tisch" hat es sich zum Anliegen gemacht, Frauen mit dem Inhalt dieses Positionspapiers vertraut zu machen, sie darüber zu informieren, mit ihnen gemeinsame Konsequenzen zu diskutieren und eine Debatte darüber zu führen, wie im konstruktiven Sinne andere

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alternative Lösungswege für die Perspektive der Erwerbsarbeit aufgezeigt werden können.

Warum erregt nun der Bericht bei Frauen solche Aufmerksamkeit? Offensichtlich liegt es an den Aussagen, den Bewertungen, den Schlußfolgerungen, die den Frauen einen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen scheinen, den sie offensichtlich nicht akzeptieren können.

Ausgangspunkt ist die Feststellung der Kommission, daß sich die Arbeitsgesellschaft in ihrem sich immer mehr reduzierenden Erwerbsarbeitsvolumen von der Arbeitsgesellschaft hin zu einer Wissensgesellschaft entwickelt und neben der Erwerbsarbeit andere Tätigkeitsformen an Bedeutung gewinnen. Dem ist zunächst so zuzustimmen.

In Kauf genommen werden soll aber aufgrund des geringeren Umfangs bezahlbarer Arbeit, so weiter im Bericht, die Reduzierung der Ansprüche und des Konsums. Es soll in Kauf genommen werden, daß die Schere zwischen Arm und Reich größer wird, von der Notwendigkeit, das Gesamtvolumen an verfügbarer, bezahlbarer Arbeit auf alle neu zu verteilen, wird hingegen kaum ausgegangen.

Das Prinzip einer am Gemeinwohl orientierten, solidarischen Gesellschaft wird damit für den Wirtschaftsstandort Deutschland ganz offenbar in Frage gestellt. Nicht alle Gruppen der Gesellschaft sollen gleichermaßen die Verantwortung und auch die Risiken für diese Entwicklung tragen. Sehr wohl wird hier unterschieden zwischen Frauen und Männern, zwischen Jungen und Alten, zwischen Gesunden und Kranken, nach Staatsbürgerzugehörigkeit, nach Qualifikation und nach Vermögen. Ich möchte mich hier im Folgenden auf die Fragen konzentrieren, die wiederspiegeln, wodurch die Debatte der sächsischen Frauen derzeit geprägt ist.

Eine erste Position: Der Ausgangspunkt der Betrachtungen der Kommission ist die Bewertung des vergleichsweise hohen Ausgangsniveaus der Erwerbsbeteiligung der ostdeutschen Bevölkerung insgesamt und der Frauen insbesondere, die einerseits aus dem Ausgleich der geringen Kapitalintensität der Wirtschaft, sprich der Arbeitsproduktivität in der

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DDR und andererseits der Wirksamkeit einer DDR-Ideologie, wonach Erwerbsarbeit ein hoher Rang eingeräumt wurde, erklärt wird. Weitere Gründe werden nicht genannt.

Nun hat die umfangreiche Transformationsforschung der letzten Jahre seit der Wende hinlänglich bewiesen, daß es materielle Gründe gab, die dazu führten, daß sich Frauen am Familieneinkommen beteiligt haben. Außerdem hat ein gerüttelt Maß an gewonnener Selbsterfahrung hinsichtlich einer Beteiligung an der Erwerbsarbeit dazu geführt, daß Frauen in Ostdeutschland Beschäftigung allmählich als einen selbstverständlichen Bestandteil ihres Lebens, ihrer Selbstverwirklichung, betrachtet haben. Eine gelebte Sozialisation verliert sich nicht von heute auf morgen, nur weil die äußeren Rahmenbedingungen sich von heute auf morgen verändert haben.

So verwundert es auch nicht, daß sich die Kommissionsmitglieder sehr unsicher in ihrer Aussage über die Entwicklung der Erwerbsneigung der Frauen in Ostdeutschland sind. Es wird im Bericht der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß diese Erwerbsneigung der Frauen sinken möge. In verschiedenen Publikationen der konservativen Wirtschaftspresse wird das sogar immer wieder zum Tatbestand erklärt. Das dort Gewünschte wird teilweise auch mit vermeintlichen Untersuchungen zu belegen versucht. Bezug nimmt man dabei insbesondere auf Frauen, die den Mut verloren haben, die Suche auf dem Arbeitsmarkt weiter fortzuführen oder die in Anbetracht der langen Suche inzwischen ein Alter erreicht haben, in dem man diese Suche dann auch aus biologischen Gründen aufgibt.

Tatsache ist jedoch, daß ein Rückgang der Erwerbsneigung der Frauen im erwerbsfähigen Alter in nennenswertem Umfang nicht eingetreten ist. Obwohl das Volumen an Erwerbsarbeit dramatisch abnahm, blieb die Erwerbsbeteiligung bzw. der anhaltende Wunsch nach Erwerbsbeteiligung ungebrochen hoch. So mußte die Kommission dann auch konstatieren, Zitat: „Die Erwerbsbeteiligung Ost steht vergleichsweise zur Erwerbsbeteiligung West in keinem realistischen Verhältnis zu den erkennbaren Beschäftigungsmöglichkeiten."

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Die Lösung für die Kommission ist: Befände sich der Erwerbsanteil der Frauen auf dem westdeutschen Niveau, wäre auch in Ostdeutschland - wie derzeit in Westdeutschland - der Arbeitslosenanteil von Männern und Frauen gleich. Mit anderen Worten heißt das: Wenn sich die Frauen hier zurückziehen, verringert sich das gesellschaftliche Problem der Arbeitslosigkeit auf das normale Maß. Das normale Maß ist der Maßstab westdeutscher Verhältnisse, die derzeit herrschen. Und damit wäre der Handlungsbedarf ein geringerer. Auch vor sich gehende Veränderungen im Erwerbsverhalten westdeutscher Frauen werden völlig unzureichend reflektiert.

Doch das Problem der gravierenden Arbeitslosigkeit ist weder ein Frauenproblem, noch ein ideologisches Problem, noch eine Altlast. Der Ausbruch der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland ab 1990 in einem schlagartig, weit über westdeutsche Verhältnisse hinaus weisendem Maß, ist das Ergebnis der verfehlten, überhasteten Wirtschaftspolitik im Zuge der Wiedervereinigung. Doch dem widmet der vorliegende Bericht keinen Raum. Mit seinen gravierenden gesellschaftlichen Umbrüchen hat dieser Prozeß in den letzten Jahren, potenziert natürlich durch die gravierenden Veränderungen, die in Technik und Technologie weltweit und auch in Europa vor sich gehen, zu einer gigantischen Umverteilung von Arbeit geführt, auf die durch die Kommission nicht ausführlich eingegangen wird. Ganze Wirtschaftszweige und deren Unternehmen wurden binnen weniger Monate und Jahre in einer aussichtslosen Konkurrenzsituation auf dem freien Markt vernichtet. Massenhaft wurden Arbeitsplätze freigesetzt, die enorme Aufwendungen für eine Abfederung nach sich zogen.

Position 2: Frauen wollen sich nicht als Verliererinnen der Wirtschafts- und Währungsunion in Ostdeutschland, die Chancen nicht zu nutzen gewußt haben, verstehen. Sie wollen dem Arbeitsmarkt nicht weichen. Sie haben zwar massenhaft ihren Arbeitsplatz verloren und sehen sich einem ungleichen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt. Sie bilden heute das Gros der Langzeitarbeitslosen bis hin zu einem Anteil von 77 Prozent. Ihr Anteil an den Arbeitslosen liegt je nach Region bei ca. 63 Prozent. Führungspositionen in der Wirtschaft sind heute die Ausnahme. Ganze, ehemals von Frauenarbeitsplätzen dominierte Zwei-

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ge, wie etwa der Einzelhandel, werden sukzessive von Männern erobert. So reduzierte sich der Frauenanteil in dieser Branche zwischen 1989 und 1996 von ca. 98 auf heute 70 Prozent, vom schwierigen Zugang zu typischen Männerdomänen ganz zu schweigen.

Die Rahmenbedingungen für eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben sich dramatisch verschlechtert. Sofern in Ostdeutschland Teilzeitarbeitsplätze bestehen, werden sie zu 88 Prozent von Frauen besetzt. In ähnlicher Weise stellt sich das Verhältnis in prekären Beschäftigungsverhältnissen dar. Und trotz allem ziehen sich die Frauen nicht vom Arbeitsmarkt zurück.

Daß diese Darstellungen von Frauen als Vorwurf verstanden werden müssen, äußert sich unter anderem im Bericht in der Feststellung, wonach insbesondere jüngere, qualifizierte Frauen für einen Verdrängungswettbewerb am Arbeitsmarkt sorgen. Trotz Erfahrung mit der Arbeitslosigkeit, mit den verschiedensten Modellen der Arbeitszeitgestaltung und der unterschiedlichsten Qualität von Arbeitsverhältnissen, halten Frauen ungebrochen daran fest, daß Erwerbstätigkeit, und dies sogar auf Vollzeitarbeitsplätzen, das Ziel ihrer Erwerbswünsche ist. Gegen Ende des Jahres 1995 hat eine Frauenbefragung des IAB, des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, zu den Erwerbswünschen von ostdeutschen Frauen erbracht, daß unter der angenommenen Voraussetzung der Sicherung des bestehenden Einkommens und der bestehenden Rentenansprüche nur 14 Prozent der Frauen verkürzt und nur ein Prozent gar nicht arbeiten wollen. 80 Prozent der derzeit nicht erwerbstätigen, also arbeitslosen Frauen in Fortbildung und Umschulung, Vorruheständlerinnen und Hausfrauen wünschen sich eine Erwerbsarbeit. Das zeugt davon, daß offensichtlich auch immaterielle Ambitionen zur Beteiligung an Erwerbsarbeit eine Rolle spielen, die jedoch bei der Kommission ignoriert werden.

Frauen haben sich notgedrungen in den letzten Jahren vielfach unvergleichlichen Veränderungen in den Arbeitsbezügen unterworfen. Zahlreiche öffentlich geförderte Beschäftigungsfelder wurden von ihnen neu besetzt. Die soziale und kulturelle Infrastruktur wäre heute ohne die zahlreichen Frauenprojekte kaum vorstellbar.

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Wohlwollend schätzt die Kommission diese Flexibilität der Frauen am Arbeitsmarkt und das Vermögen der Frauen, so das Zitat, „...tendenziell besser als Männer mit unsicheren Arbeitsverhältnissen und mit Arbeitslosigkeit zurechtzukommen...". Deshalb werden sie von der Zukunftskommission auch, so wieder ein Zitat, „...als die Pioniere einer zukünftigen Tätigkeitsgesellschaft..." bezeichnet. Diese Anerkennung ist mehr als berechtigt, dient allerdings hier offenkundig zugleich der Legitimation der Verdrängung von Frauen vom regulären Arbeitsmarkt, anstelle einer Debatte über eine gesamtgesellschaftliche Umverteilung von Arbeit.

Schließlich, so der Bericht, halten Männer am Ideal des Normalarbeitsplatzverhältnisses fest, weil es für sie bislang eher ungewohnt war, mit häufigen Unterbrechungen im Berufsleben zurechtzukommen. Also, so könnte geschlußfolgert werden, soll ihnen dies doch auch in Zukunft erspart bleiben. Weil die Frauen schon biologisch bedingt diese Flexibilität im Arbeitsleben an den Tag legen, sind sie, laut Zitat, „...bestens geeignet für das anstrebenswerte, optimale Mischverhältnis von Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit...". Dies ist eine andere Lesart für eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die nicht unwidersprochen bleiben kann.

Höchst problematisch ist zudem, daß im gleichen Atemzug deutlich von einer Einschränkung der sozialen Verantwortung des Staates gesprochen wird. Nach dem Motto: Die Kassen sind leer, private Initiative ist gefragt, soll jeder zum „Unternehmer der eigenen Arbeitskraft" werden. Hier seien Innovation und Kreativität in der Vermarktung keine Grenzen gesetzt.

Die Vision vom Ausleben der neu entstehenden Freiräume hat, so die Meinung der Frauen am „Landesweiten Runden Tisch", nur einen Haken: Wir leben in einer Marktwirtschaft - von unbezahlter, gemeinnütziger Arbeit kann keiner leben.

Wenn schon auf die vielfachen Erfahrungen von Frauen in den Frauenprojekten der sozialen und kulturellen Arbeit Bezug genommen

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wird, dann macht dies nur Sinn, wenn die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für diese Lebenssphären von allen getragen wird.

Ohne die bisher entstandenen Beratungsinfrastrukturen vieler Projekte in den Kommunen wäre beispielsweise Sozialarbeit heute kaum mehr denkbar. Nicht zuletzt dank der von der Zukunftskommission für die Zukunft vorausgesetzten, gewachsenen Einkommensdisparitäten wird der Handlungsbedarf für Sozialarbeit weiter steigen. Zugleich kann diese gemeinnützige Arbeit aber nicht auf Individualmotivation des Einzelnen basieren oder gar von unternehmerischem Geist geprägt sein.

Eine vierte Position:

Laut Kommission ist für die Mehrzahl der Frauen heute immer noch die Familie „...der wichtigste Orientierungspunkt für Lebensführung und Lebensplanung...". (Zitat) So liege es nahe, daß die gemeinwohlorientierte Familienarbeit, sprich Hausarbeit, bei ihnen zu belassen sei. Gleichzeitig werden Männer nach ihrer Position zu Familie und Kind oder zu einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf überhaupt nicht gefragt. Auch das ist eine Form von Ausgrenzung. 1996 meinten in Ostdeutschland jedoch nur 30 Prozent der nicht berufstätigen Frauen, daß es besser sei, wenn der Mann im Berufsleben stehe und die Frau sich um Haushalt und Kinder kümmern würde.

Das überkommene Rollenverständnis der Geschlechter wird, so die Diskussion unter den sächsischen Frauen, nicht angenommen. Familiäre Belastungen sollen gleichrangig getragen werden. Instabile Arbeitsverhältnisse können nicht der Ausweg für die Frauen sein.

Frauen tun heute sehr viel, um sich neue Erwerbschancen zu erarbeiten, von Fortbildung und Umschulung im zweiten und dritten Gang über Existenzgründungen, bis hin zu geförderten Tätigkeiten. Sogar in Bereichen schwerer körperlicher Arbeit wird heute ein umfangreiches Spektrum von ihnen abgedeckt. Wir sind heute hier in Leipzig. Im Norden und auch im Süden von Leipzig haben wir ehemalige Tagebauregionen. Dort ist heute Landschaftsumgestaltung angesagt. Die Tätigkeiten, die dort verrichtet werden, werden zu einem großen Teil von Frauen vollzogen. Dort fragt niemand danach, ob das so gewünscht ist oder nicht.

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Dort ist das die einzige Möglichkeit, mit dem Verlust des alten Industriearbeitsplatzes klarzukommen. Dort ist diese Flexibilität und Beteiligung gefragt, die uns aber ganz offensichtlich in anderen Zusammenhängen eher auf die Füße zu fallen scheint.

Die Lösung des Problems liegt aus der Sicht der Kommission nicht in Umverteilung von Arbeit, sondern im Verzicht ganzer Menschengruppen auf die Beteiligung an Erwerbsarbeit bzw. am Zurückzug der Gesellschaft aus der solidarischen Verantwortung für eine Teilhabe aller am Erwerbsleben. Weil soziale Sicherungssysteme auf Dauer zu teuer sind für den Wirtschaftsstandort Deutschland, müssen sie eingeschränkt werden. Nach dem Motto „Konkurrenz belebt das Geschäft", soll jeder sein eigenes Arrangement finden, um seinen Anspruch auf Erwerbstätigkeit umzusetzen oder sich zurückzuziehen. Das führt zu einer Unterbietungskonkurrenz, die keine Lösung bringt.

Unternehmen, so der Tenor des Berichts, brauchen mehr Freiheit und Kostenentlastung, um Investitionen zu schaffen, um Investitionen zu tätigen und Arbeitsplätze zu schaffen. Bekannt ist allerdings auch, daß die größten Unternehmen der Bundesrepublik derzeit in gigantischem Umfang Gewinne einfahren und trotzdem gleichzeitig bereit sind, ihr Personal einzuschränken.

Den wirtschaftspolitischen und wirtschaftstheoretischen Diskurs zu diesen Aussagen im Bericht der Zukunftskommission möchte ich Frau Dr. Baumgart überlassen. Ich denke, die wenigen hier aufgegriffenen und anhand von Zitaten untermauerten Positionen werden zeigen, daß die gewählte Herangehensweise der Kommission, die drei Jahre lang an diesem Bericht gearbeitet hat, keine akzeptable Grundlage sein kann, eine Erwerbsperspektive für Frauen in diesem Land zu suchen. Frauen sind gehalten, nicht nur in die Diskussion zu gehen und hier ihren Widerspruch anzumelden. Sie sollten alle Überlegungen, alle Kraft darauf richten, alternative Wege aufzuzeigen, wie das, was an Erwerbsarbeit oder an alternativen Erwerbsmöglichkeiten heute vorhanden ist, mit Blick auf die Zukunft zu gestalten ist.

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Auch sächsische Frauen wollen dauerhaft und gleichberechtigt am Erwerbsleben partizipieren, ohne sich in eine Ecke gedrängt zu sehen, die man vor vielen Jahren verlassen zu haben glaubte.

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Prof. Dr. Ulrich Blum

Sehr verehrte Frau Senatorin, sehr geehrte Abgeordnete, meine hochverehrten Damen,

da soll ich also über den Zugang von Frauen zu wirtschaftlichen Ressourcen reden.

Es ist von der Bewertung her eigentlich bereits alles vorweggenommen worden. So frage ich mich, was ich noch sagen kann. Ich werde also versuchen, mich hier in Demut zu äußeren. Ich wollte aber dennoch eine Sache herausarbeiten, einfach als Akt der Fairneß, damit man nicht Sachverhalte, die wir zu schildern versuchen, ständig als Bewertungen nimmt und sie dadurch in eine völlig falsche Richtung drückt.

Ich nehme ein Beispiel: Wenn 70 Prozent der Frauen eine bestimmte Meinung äußern, dann kann ich sagen, das gefällt mir nicht, es wundert mich eigentlich, daß es so ist. Aber wenn dieser Befund von einem ordentlichen soziologischen Institut stammt, dann muß ich ihn zunächst einmal anerkennen, auch wenn ich dagegen bin.

Wir haben in der Zukunftskommission versucht, die Teile Bestandsaufnahme, Ursachenanalyse und Maßnahmen zu trennen, was sicher immer eine große Schwierigkeit darstellt und sicher auch nicht immer geglückt ist.

Nachdem wir hier eine Senatorin im Haus haben, möchte ich einen weiteren Punkt vorab einschieben: Es ist eine absolute Unsachlichkeit, wie das Sozialversicherungs-Kombinat mit Herrn Norbert Blüm als „Kombinatsleiter in Bonn" verhindert, daß die relevanten Daten über Arbeitsmarktstrukturen überhaupt in die Öffentlichkeit gelangen. Jeder von Ihnen kann in der amtlichen Statistik nachlesen, wieviel Kohle ge-

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fördert wird und wieviel Autos gebaut werden, aber wenn Sie sich in den Erwerbsmarkt hineinbegeben, dann kriegen Sie keine Daten, schlechte Daten, nicht vergleichbare Daten oder von Herrn Norbert Blüm falsche Daten, weil er nicht wollte, daß wir Ergebnisse produzieren. Gnädige Frau, Sie sind hier die ranghöchste Politikerin, deshalb wende ich mich einfach an Sie, damit jemand „dazwischenhaut". Wir sind buchstäblich mit falschen bzw. unzulänglichen Daten beliefert worden, das haben wir danach herausbekommen. Und wenn Sie sich überlegen, daß es nicht bekannt ist, wieviel geringfügige Beschäftigungsverhältnisse es in Deutschland gibt, daß man sie zwischen 2,7 und 5,7 Millionen schätzt, dann ist das eine solche Unverschämtheit, die eigentlich zur Entlassung des Arbeitsministers führen müßte.

Ich möchte die Dreierstruktur dieses Kommissionsberichts kurz noch einmal darlegen, mit all ihren Schwierigkeiten, und möchte hinzufügen, daß Kommissionsarbeit natürlich auch einen Mehrheitsprozeß darstellte und nicht jeder seine Gedanken in absoluter Reinform durchbringen konnte. Trotzdem dürfen Sie mich zur Rechenschaft ziehen, weil ich sie natürlich rechtfertigen kann, auch wenn ich sie nicht immer teile.

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Die ökonomische Entwertung der Arbeit war der zentrale Ausgangspunkt unserer Arbeit und der Zerfall des Arbeitsmarktes ein Phänomen, das wir in allen westlichen Industriegesellschaften seit den 70er Jahren beobachten. Wer in die Geschichte geht, der weiß, daß immer, wenn es Umschichtungen zwischen den Sektoren gibt, der abgebende Sektor zunächst einmal seine Produktivität dramatisch erhöht. So hat es die Landwirtschaft in der Zeit der industriellen Revolution getan. Und damit konnte erst die Erwerbsarbeit in der Industrie stattfinden. Das ist auch in der letzten Phase der späten Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg so gewesen, diese ist durch eine dramatische Erhöhung der Produktivität, insbesondere auch durch den Input von Service in die Industrie, gegeben gewesen. Und heute fragen wir uns: Was kommt nach der tertiären Gesellschaft? Das ist der spannende Punkt.

Dieser Zerfall des Arbeitsmarktes hat bei uns in Deutschland - ich sage jetzt Deutschland insgesamt, aber vor 1990 West - zu großen Verwerfungen geführt. Diese hat man im Prinzip immer wieder durch politische Maßnahmen zu kompensieren versucht. Erst über das Steuersystem, dann über das Verschuldungssystem. Und heute ist man halt an der Grenze dessen angelangt, was machbar ist. Um Ihnen einfach ein paar Zahlen zu geben: Die unselbständige Arbeit hat eine Nettoerhöhung über die letzten 15 Jahre von nur noch real 3 Prozent erfahren. Nicht über alle Jahre, sondern 3 Prozent insgesamt. Wenn Sie das Brutto nehmen, dann sind das 27 Prozent bei den Vollzeitbeschäftigten gewesen und nur 13 Prozent über alle Arbeitnehmer. Irgendwas muß also passiert sein, daß im Durchschnitt nur die Hälfte von dem ankommt, was bei den Vollzeitarbeitsplätzen zu sehen ist. Gleichzeitig haben sich die Lohnnebenkosten in diesem Zeitraum um den Faktor 1,5 schneller entwickelt als die Direktlöhne.

Ursache und Folge, natürlich „inter-connected", waren, daß 1985 noch rund 85 Prozent der Arbeitnehmer in sogenannten Normarbeitsplätzen beschäftigt waren, also in Arbeitsplätzen, die sie oder ihn mit einer vollen sozialen Sicherheit ausstatten. Diese Quote liegt heute knapp über 60 Prozent, in Ostdeutschland etwas besser als im Westen – auch das ist wenig bekannt. Aber während der Zeit des Tals der Tränen war die Lage in Ostdeutschland schlechter.

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Die Partizipationsquoten in Ostdeutschland, wir haben das gesagt und auch als Befund gesagt, sind sehr unterschiedlich. In Ostdeutschland sind 25 Prozent mehr Frauen erwerbstätig als im Westen. Diese Aussage ist zunächst einfach analytisch richtig. Wenn wir gleiches Erwerbsverhalten in Ost und West hätten, dann lägen wir entweder im Westen bei Ostverhalten bei 17 Prozent Arbeitslosigkeit oder wir lägen umgekehrt hier im Osten bei einer Arbeitslosigkeit von etwa 12 Prozent. Der Kommissionsbericht, das muß ich feststellend sagen, enthält auch die Aussage, daß das Erwerbsverhalten Ost vermutlich für Westdeutschland Modell wird – es wäre fair gewesen, dies nicht zu unterschlagen.

Unser großes Problem ist, daß Lohnniveau und Arbeitsvolumen invers verknüpft sind. Je höher der Lohn liegt, desto geringer fällt die Arbeitsmenge aus und umgekehrt. In einem geschlossenen Arbeitsmarkt sind völlig unterschiedliche Partizipationsquoten und - bei gegebener Qualifikation - unterschiedliche Lohnniveaus nur unter Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten. Um die Schwierigkeiten, die wir in Gesamtdeutschland deshalb haben, wissen wir.

Unser Sozialprodukt und auch die Nachfrage nach Erwerbsarbeit ist in Deutschland sehr gleichmäßig verlaufen, und ein Großteil der Probleme, die uns plagen, ist eher aus Erwerbsbeteiligungsgesichtspunkten zu erklären und nicht allein aus der Tatsache, daß wir plötzlich alle Leute entlassen haben – wenngleich die Erwerbsbeteiligung gesunken ist. Das sind sehr kontinuierliche Prozesse. Wenn Sie ein paar kleine Schwankungen herausnehmen, verlief die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands sehr kontinuierlich. Das Phänomen ist, daß eigentlich ein Großteil unserer Probleme eher mit den demographischen und soziokulturellen Prozessen zu tun hat.

Was sind die Gründe für unsere Schwierigkeiten? Ich möchte nicht den ganzen Sermon aus dem 2. Teil wiederholen, weil wir ohnehin in der Zeit schon fortgeschritten sind, und wir müssen uns nachher noch ein bißchen streiten.

(1) Zunächst ist da die Globalisierung. Unsere Politiker denken, Globalisierung ist Internationalisierung. Das ist völliger Unsinn. Interna-

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tionalisiert waren wir vor dem 1. Weltkrieg weit stärker, als wir das heute sind. Um einfach einmal eine Zahl zu nennen: AEG besaß vor dem 1. Weltkrieg mehr Vermögen in Rußland als am Standort Deutschland. Globalisierung ist im Prinzip dadurch gekennzeichnet, daß die Informationskosten auf Null sinken und die Unternehmen - auch durch eine hohe Humankapitalbildung - überall in der Welt und natürlich auch in Osteuropa die Auswahl haben, ähnliche Firmen oder fast prototypische Firmen nach Belieben an alternativen Standorten aufzubauen. Das gleiche Werk wie bei Opel in Eisenach steht auch in Gleiwitz und bald auch in Rossario in Argentinien. Die Konsequenz ist unüberschaubar: Früher haben wir im Handel Getreide gegen Maschinen getauscht, heute tauschen wir Unos gegen Polos oder Unos gegen Corsas.

Ein völlig anderer Handel, der eine unendliche Empfindlichkeit enthält, weil nämlich kleinste Geschmacksänderungen dazu führen können, daß ganze Branchen wegbrechen. Unsere Regierung hat es angesichts der Triumphe im Außenhandel nicht geschafft, die Menschen darüber aufzuklären, daß unser Außenhandel in dem Sinne sehr prekär ist, daß bei kleineren Geschmacksveränderungen gleich ganze Branchen wegbrechen können und nicht nur Anteile von Branchen, wie es früher der Fall war. Sie können mal nach Thailand gehen und die Leute von Toyota und Nissan fragen, was mit ihnen los ist. Da sind über Nacht zwei Automobilfabriken geschlossen worden. Das hat es früher so drastisch nicht gegeben. Man mußte Anpassungen machen. Aber daß im Prinzip eine ganze Firma obsolet ist, das ist neu.

Wir wickeln heute 70 Prozent unseres Austauschs im sogenannten intraindustriellen Handel ab, also der Einfuhr und Ausfuhr von Gütern der gleichen Güterklasse, nicht mehr Wein gegen Tuch, wie im interindustriellen Handel bei Ricardo. Wir haben deshalb im Wettbewerb eine viel prekärere Situation, und das verspüren wir natürlich auch in den Märkten durch wachsenden Wettbewerbsdruck. Zusätzlich erwarten zur Zeit 1,5 Mrd. Menschen aus den ehemaligen kommunistischen Ländern eine Erneuerung ihres Kapitalstocks. Man muß sich also nicht wundern, daß Kapital knapp ist und Investoren eine sehr gute Position am Markt besitzen und letztlich ihre Vorstellung hinsichtlich Bedienung von Privilegien durch den Staat optimieren.

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(2) Wir haben in der Zukunftskommission über das fehlende Anpassungsverhalten gesprochen - es ist uns immer wieder gesagt worden, das hätten wir nicht tun sollen. Die Menschen haben sich nicht an die neuen Realitäten angepaßt, auch die Politiker nicht. Unsere Politiker sind die Politiker, die wir alle gewählt haben - sie sind nicht vom Mond gekommen. Wie wir also reagieren und wie wir versuchen, unseren Status quo aufrechtzuerhalten, das reflektiert sich natürlich auch in unserer Politik. Und es rückt eben keiner. Das war sowieso ein Blödsinn, das zu sagen: „Es muß ein Ruck durch Deutschland gehen". Kollektiv rückt in Deutschland keiner. Sie müssen Anreize für individuelles Rücken geben!

Es müssen also Anreize in unserer Gesellschaft erzeugt werden, damit wir uns bezogen auf die neuen Herausforderungen vernünftig benehmen und damit den Menschen auch Möglichkeiten gegeben werden, ihr Verhalten zu ändern. Sie verändern es nämlich nicht, wenn ihnen das zum individuellen Schaden gereicht. Wenn Sie nachher zum Uni-Hochhaus gehen und Bungie-Springen betreiben, suchen dann den Arzt wegen Rückenschmerzen auf und belasten danach die AOK, dann ist das eigentlich eine Sache, die die AOK nicht zu bezahlen hat. Wenn Sie sich bei mäßiger eigener Qualifikation in einen für sie unsinnigen Studiengang an der Universität einschreiben, dann können Sie die Kosten nicht anschließend auf das Arbeitsamt schieben. Wir haben uns angewöhnt, unsere Erfolge zu privatisieren und die Risiken auf die Gemeinschaft zu verlagern. Die Gemeinschaft kann sich nicht dagegen wehren.

Das halte ich für einen ganz entscheidenden Punkt. Unsere Probleme liegen einfach daran, daß sich die Rahmenbedingungen für rationales Handeln geändert haben. Und wir werden an dieser Stelle nicht weiterkommen, denn wir können diese Kosten des Ausnutzens des Gemeinwesens immer weniger dem Gemeinwesen in Rechnung stellen. Die Löhne zeigen dies deutlich, diese haben sich netto kaum noch verändert. Die Gewinne haben sich aber übrigens in diesem Zeitraum um 70 Prozent verbessert. Nur damit Sie das wissen.

(3) Meine Vorrednerin hat viele Sachen gesagt, die völlig richtig sind, und es stimmt, daß wir das so gesagt haben, als Analyse sowieso und als

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Bewertung kann man vielleicht auch noch einiges vertreten. Wir können nachher darüber streiten. Von der arbeitszentrierten Industriegesellschaft, die sozusagen im Gleichschritt marschiert, müssen wir zu einer unternehmerischen Wissensgesellschaft kommen, weil, und da widerspreche ich meiner Vorrednerin aber doch, eben ertragreiche Produktionsfaktoren zunehmend Kapital und Humankapital sind, nicht Erwerbsarbeit. Was heute gefordert ist, das mögen wir lieben oder nicht, ist die Spannbreite zwischen Bill Gates und Steffi Graf. An die beiden Faktoren Kapital und Wissen müssen wir einen Großteil der Gesellschaft anzubinden versuchen, möglichst viele, so daß für diejenigen, bei denen das nicht gelingt, noch der Rest an Solidarität übrig bleibt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Wir wollten bekanntlich kein Gefälligkeitsgutachten machen. Erneuerungsstrategie und Anpassungsstrategie stellten die beiden großen Bereiche dar, in die wir die Empfehlung eingeordnet haben. Erneuerungsstrategie als Strategie, die gesamte Gesellschaft wettbewerbsfähiger zu machen, heißt zunächst einmal, Qualifikationsanstrengungen auszuweiten, und da ist die gesamte Politik in Deutschland gefordert. Man kann nicht behaupten, das eine Bundesland versage hier mehr als das andere; auf gesamtdeutscher Ebene ist Humankapitalförderung über alle Koalitionen hinweg zur Zeit ein fiskalisch rotes Tuch.

(4) Viel Ärger hat uns der Vorschlag einer Regionalisierung im Fiskalbereich bereitet, weil sie völlig falsch verstanden worden ist. So haben wir einen Ostdeutschland-Paragraphen extra mit hineingenommen. Aber der wurde natürlich tunlichst unterschlagen. Sie müssen sich mal Folgendes überlegen, einfach um zwei westdeutsche Beispiele zu nehmen, damit wir hier nicht zu sehr eine Betroffenheit erzeugen: In Westdeutschland hat Bayern 30 Mrd. Mark an Zahlungen gekriegt an Finanzausgleich in der Zeit bis 1987, seitdem ist es auf der Geberseite - also 30 Mrd. Mark mit dem Kapitalmarktzins zum heutigen Wert. Von diesen 30 Mrd. Mark hat es bereits heute 15 Mrd. Mark verzinst zum heutigen Wert wieder zurückgezahlt. Es gibt ein anderes Bundesland, dessen Namen ich jetzt nicht nennen möchte, das hat es seit 30 Jahren nicht geschafft, mit den Mitteln des Finanzausgleichs seine Wirtschaft auf gesunde Beine zu stellen.

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Die Frage stellt sich, ob man das bis zum Gehtnichtmehr subventionieren soll. Es gibt ökonomische Gründe, abgesehen vom fiskalischen Alptraum, sollte beispielsweise Ostdeutschland auf Dauer am Tropf hängen: Möglicherweise erzeugt die Subvention genau das Problem, das sie eigentlich abschaffen will. Das möchte ich jetzt hier nicht weiter ausführen. Aber da gibt es eine ganze Menge guter Hinweise, die unter dem Stichwort „Transfereffekt" bekanntgeworden sind.

(5) Angesichts der hohen Komplexität des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems müssen wir unsere Regeln vereinfachen, weil wir mit diesem hochkomplexen System nicht mehr umgehen können. Die Einzelfallgerechtigkeit führt zur kollektiven Ungerechtigkeit. Das trifft im Sozialsystem zu, und wir wissen genau, daß wir die Menschen, die dieses wirklich benötigen, immer weniger erreichen. Das ist sicher ein Punkt, den ich in Ihrer Partei nicht noch zusätzlich vertiefen muß.

(6) Bei der Durchsetzung der Anpassungsstrategie wird es viele geben, die große Probleme bekommen. Wir haben auch auf einfache Dienste gesetzt, weil es besser ist, jemand mit einem einfachen Dienst zum Sozialprodukt beitragen zu lassen, ihm ein sinnvolles Leben zu geben und notfalls Differenzen zum existenzsichernden und menschenwürdigen Einkommen auszugleichen, als ihn über die Sozialkassen zu alimentieren und auszugrenzen. Das ist eine Wertentscheidung, das ist auch eine Maßnahmenentscheidung, und hinter dieser stehe ich. Für meine Begriffe haben wir gar keine andere Alternative.

Wir haben auch betont, daß Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger möglicherweise zur Arbeit für das sogenannte Gemeinwesen herangezogen werden. Da muß ich ganz ehrlich sagen, das heißt aber nur, wenn sie es können. Die alleinerziehende Mutter wird das nicht können. Aber es gibt eine ganze Menge Leute, die das können. Und ich meine, die sozialdemokratisch regierten Städte Leipzig und auch Lübeck haben das mit großem Erfolg vorexerziert. In Lübeck sind nach meiner Kenntnis so ein Drittel der Leute aus der Statistik verschwunden. Wir müssen für die Bedürftigen Geld übrig behalten, wenn wir insgesamt über weniger Geld verfügen.

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(7) Zur „Bürgerarbeit": Bürgerarbeit ist der Gedanke, einen Sozial-Entrepreneur zu fördern, das folgt einem sehr amerikanischen Bild, ich gebe das zu. Man wird belohnt und nicht entlohnt. Es ist durchaus interessant, bei Ulrich Beck, der wesentlichen Anteil an der Geburt dieser Idee hat - ein ökonomischer Teil an der Idee liegt auch bei mir - in einem seiner letzten Bücher nachzuschlagen, wo er zeigt, weshalb Leute in Amerika derartige Dinge tun. Vielleicht kann die Kommune Leistungen für die Allgemeinheit nicht organisieren, weil sie überfordert ist. Man schreibt also beispielsweise ein Programm, um Straßenkinder in Leipzig von der Straße zu kriegen, aus und sucht den Sozialentrepreneur zu gewinnen, der dies im Ehrenamt organisiert. Vielleicht sind ein paar Sozialhilfeempfänger allein schon deshalb an der Mitarbeit interessiert, weil sie dann einer qualifizierten Tätigkeit nachgehen und damit möglicherweise für das Erwerbsleben Funktionen aufrechterhalten.

(8) Letzter Punkt „Reduktion des Arbeitsvolumens", der ist ja auch kritisiert worden. Wenn wir das Arbeitsvolumen unfreiwillig reduzieren, dann stehen wir bald vor dem Problem, daß die Leute etwas ganz Anderes und Neues machen, um die freie Zeit unterzubringen, evtl. auch Einkommen auszugleichen. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Niedersachsen und das VW-Werk in Wolfsburg haben sicher ein bemerkenswertes und großflächiges Experiment unternommen. Sie haben nämlich den VW-Werkern auf Kosten der Sozialkassen erlaubt, 24 Stunden pro Woche zu arbeiten, die Konsequenzen sind haarsträubend. Weil die Leute nämlich mehr arbeiten wollen, haben sie mit solchen Teilen, die sie vom Werk billig kriegen, in der neu gewonnenen Freizeit ein Kfz-Reparaturgewerbe hochgezogen. Die Folge war, daß sie funktionsfähige Arbeitsplätze im Kfz-Handwerk vernichtet haben, das können Sie dann nicht verhindern.

Die zentrale Aussage lautet, Arbeitszeitreduzierungen haben keinen Zweck, wenn sie nicht freiwillig sind. Sie können sie nicht erzwingen, weil bei denjenigen, die über eine gute Qualifikation verfügen, das Grenzarbeitsangebotsproblem entsteht. Die brauchen nicht mehr die Vollkosten zu zahlen, sondern sie können gegen eine marginale

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Schwarzarbeitsentlohnung einen ganzen bisher gut funktionierenden Erwerbszweig wegdrücken.

(9) Ich habe von Ihnen ein Schreiben erhalten mit Stellungnahmen zur Erwerbssituation der Frauen in Ostdeutschland. Ich gebe meiner Verwunderung Ausdruck, daß man sich an uns in der Endphase wendet, sozusagen zwei Monate vor Abgabe und daß wir die Vorstellungen nicht im Kommissionsbericht verarbeitet hätten. Jeder, der mich kennt, weiß, daß ich für jede Diskussion zugänglich bin. Man muß das nur rechtzeitig machen. Ich möchte nicht Ihre Zitate aus dem Brief bringen, weil gerade die Frau Senatorin gesagt hatte, daß sie diese Analyse für ostdeutsche Frauen nicht teilt.

(10) Aber ich möchte auf einen Punkt hinweisen, in dem ich vollständig mit meiner Vorrednerin konform gehe. Wir stehen vor dem großen Problem, daß wir nicht eine Dreiklassen-Gesellschaft, sondern eine Dreiboote-Gesellschaft werden. Das erste sind die Träger von Wissen und Kapital auf einem wunderschönen Segelboot. Jeder Hafen, der schön ist, den können sie ansegeln. Man reißt sich weltweit um sie. Das zweite, das sind diejenigen, die rudern jedes Jahr 10 Prozent härter, damit sie noch genauso viel verdienen. Und die Dritten liegen in einem völlig kaputten Boot und hoffen, daß die Sozialhilfe kommt. Vielleicht ist sogar das Bild des ersten stolzen Segelboots in Analogie zu einem Leserbrief in der „Zeit" gar nicht mehr richtig, sondern das Bild des Kajakfahrers, jederzeit fähig zur Überschlagsrolle. Wenn dieses Bild insgesamt stimmt, und ich glaube, da ist tendenziell etwas Wahres dran, dann müssen wir uns überlegen, wie wir diesem Staat, auch diesem Gemeinwesen, etwas Gutes tun, wie wir beide stabilisieren. Es sind nicht nur Frauen, es sind auch Männer betroffen, und die Männer werden sich viel stärker wehren, zumal sie oft über die Machtposition verfügen. Nur hilft dies nicht, es vergrößert nur die Anpassungskosten.

Aber was können wir tun? Wir haben zwar heute gesagt, wir müssen unser Steuersystem drastisch umkrempeln, zum Beispiel viel mehr in Richtung auf Verbrauchssteuern, weil nur der Verbrauchssteuer können Sie annähernd nicht entgehen. Einkommensteuern zahlen Sie dort, wo sie produzieren wollen oder wo sie Ihren Einkommenssitz haben. Das ist

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aus Verteilungsgründen natürlich problematisch. Aber dann bitte spalten wir den Mehrwertsteuersatz, bevor wir anderes tun. Ich kann ohne weiteres mit einem Mehrwertsteuersatz von 30 Prozent auf ein Auto leben. Über die Ökosteuer gab es in der Kommission keine Einigkeit. Da gab es einige, die dafür waren und andere dagegen. Das lag nicht daran, daß Industrielle mit am Tisch saßen.

Das größte Problem ist, daß eine Ökosteuer, die effizient ist, ihre Bemessungsgrundlage verliert. Wenn alle Autos nur noch ein Drittel vom Bisherigen verbrauchen, dann müssen wir die Mineralölsteuer verdreifachen, weil das Auto ja nicht kleiner wird, es braucht trotzdem noch den Raum. Dann müssen Sie den Leuten erklären, daß das, was Sie zur Zeit in der Abfallwirtschaft erleben, daß sie immer weniger Müll produzieren und immer mehr Geld zahlen, jetzt auch auf diesem Gebiet kommt. Sie können mit mir gerne außerhalb der Zukunftskommission darüber reden, daß wir eine Ökosteuer einführen für die Entwicklungshilfe, um in Brasilien Wald aufzukaufen oder vernünftige Infrastrukturen in Indonesien zu initiieren, damit dort nicht alles heruntergebrannt wird.

Bitte hängen Sie unser Sozialsystem also nicht an einer Ökosteuer auf, von der Sie nicht wissen, wie erfolgreich sie ist. Sie könnte nämlich so erfolgreich sein, daß sie ständig nachsteuern müssen. Das frustriert die Bürger und ist nicht gut für die Politik.

(11) Wir sollten uns überlegen, was wir heute noch als Gemeinwohl bezeichnen können. Die Verwendung des Begriffs Gemeinwohl habe ich in der Kommission zu verhindern versucht, weil ich persönlich nicht weiß, was damit zu beschreiben ist – gelungen ist die nicht. Das ist ein Begriff, der vielleicht im 19. Jahrhundert vernünftig war. Wenn mir einer hier sagt, was Gemeinwohl ist, dann gehe ich glücklich von dieser Veranstaltung.

Was ist Gemeinwohl in einer individualistischen Gesellschaft? Der Politiker dient nicht dem Gemeinwohl, er will wiedergewählt werden. Der Unternehmer dient nicht dem Gemeinwohl, er muß für seine Firma Gewinn machen. Was wir tun müssen ist, Rahmenbedingungen zu

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schaffen, daß das in einem verträglichen Maße passiert. Ich sage es noch härter: Mir sind Leute, die vorgeben, das Gemeinwohl zu verfolgen, sehr verdächtig. Ideen haben bekanntlich mehr Menschen getötet als manche Technologie.

(12) Ein abschließender Punkt noch, der mir als wichtig erscheint, zum Thema Ausgrenzung aus dem Erwerbsleben. Es wird nur mit zunehmender Lohndifferenzierung gehen, diese zu verringern. Sie zuzulassen ist eine Wertentscheidung. Zur Zeit verhindern wir das Absacken des Lohnniveaus, wie wir es in Amerika, in Japan und England erlebt haben, einfach dadurch, daß wir Mindestlöhne qua Tarifvertrag beziehungsweise Sozialhilfestandard, beziehungsweise Arbeitslosengeld und -hilfe setzen. Dies führt aber dazu, daß indirekt - das Imperium schlägt bekanntlich zurück - über die Lohnkosten die Kosten zu tragen sind. Die Frage ist, wie lange Unternehmen bei diesem Lohnkostenniveau arbeiten können, bevor wir durch Abwanderung von Betrieben vor die gleiche Konsequenz gestellt werden wie die Amerikaner, diesen Verfall der Löhne im Prinzip nämlich nicht aufzuhalten. Aber bis dahin sind die Unternehmen erst einmal weg. Aber ein Unternehmen, das investiert hat, bleibt erst einmal 20 Jahre am Standort - so flott sind sie nicht. Wenn sie weg sind, dann sind sie auf Dauer weg. Insofern glaube ich, es ist durchaus moralisch vertretbar zu sagen, wir lassen die Löhne verfallen, es wird 20 Prozent Betroffene geben. Den übrigen 80 Prozent der Beschäftigten geht es viel zu gut, als daß diese vor einer solchen Bedrohung stünden, wir konstatieren doch im Maschinenbau in Westdeutschland 20 Prozent Löhne über dem Tarif, weil dies die qualifizierten Arbeitnehmer einfach heraushandeln können. Es werden 20 Prozent betroffen sein. Es ist aber besser, daß die arbeiten und es ist nicht Schlechtes daran, wenn es Friseure und auch Schuhputzer gibt. In Madrid ist das ein Mann, der die Nachrichtenbörse an der Plaza kontrolliert.

Ich glaube, wenn wir dem, bei dem es nicht zum Leben reicht, aufgrund des Eintretens für ein menschenwürdiges Leben dann etwas obendrauf geben, und er hat eine sinnvolle Stellung in der Gesellschaft, dann haben wir alle gewonnen.

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Dr. Inge Baumgart



Zu einigen Auswirkungen des neoliberalen wirtschafts- und sozialpolitischen Konzeptes der Kommission für Zukunftsfragen auf die Erwerbsmöglichkeiten und die soziale Situation der Frauen


In dem vorgelegten Bericht der Zukunftskommission werden die Forschungsergebnisse vorwiegend geschlechtsneutral dargestellt. Frauen werden im allgemeinen nur dann ausdrücklich genannt, wenn es um ihr Erwerbsverhalten geht. Doch von den sozialökonomischen Auswirkungen der vorgeschlagenen Erneuerungsstrategie, die im Mittelpunkt der „Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage" (Bericht, Teil III) steht, sind Frauen weit überproportional betroffen. In einer patriarchal geprägten Gesellschaft sind Frauen eindeutig durch ihr Geschlecht diskriminiert. Dadurch sind sie unter anderem in einer nach neoliberalen Grundsätzen organisierten Wirtschaft und Gesellschaft mehrheitlich nur eingeschränkt wettbewerbsfähig. Trotz gleicher Bildungs- und Berufsvoraussetzungen, Berufserfahrungen eingeschlossen, haben Frauen schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz. Ihnen wird eine gleiche Leistungsfähigkeit wie einem Mann weitgehend von vornherein abgesprochen, unabhängig von den persönlichen Lebensumständen. In den neuen Bundesländern erstreckt sich der Verdrängungswettbewerb über alle Wirtschaftsbereiche. Es reicht vom verarbeitenden Gewerbe bis zu den Dienstleistungen. Nicht nur bei Banken und Versicherungen haben Männer viele Frauen vom Arbeitsmarkt verdrängt, auch im Handel, hier sank der Frauenanteil von 71 auf 56 Prozent, und sogar im Reinigungsgewerbe setzt sich dieser Prozeß fort.

Die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik hatten bereits in den alten Bundesländern die Entstehung einer Zwei-Drittel-Gesellschaft, die immer mehr zu einer Halbe-Halbe-Gesellschaft wird, nicht verhindert. Der sukzessive Sozialabbau der letzten Jahre hat die soziale Differenzierung beschleunigt, zu einer Polarisierung von Reichtum und Armut geführt, wobei Frauen besonders von Armutsrisiken betroffen

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sind. Werden die Vorschläge der Zukunftskommission realisiert, ist dies das Ende des Sozialstaates.

Die Zukunftskommission stellt mit ihrem Bericht das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip zur Disposition. Anstelle der annähernd gleichmäßigen Förderung des Wohles aller Bürger, dazu zählen auch die Frauen, und der annähernd gleichmäßigen Verteilung der Lasten, wie es nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Sozialstaatsprinzip erfordert, wird als eine der Wirkungen der vorgeschlagenen Erneuerungsstrategie eine „wachsende materielle und immaterielle Ungleichheit" ausdrücklich hervorgehoben. (Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland, Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen, Bonn 1996, Teil III, S.23)

Es geht nicht nur um eine zunehmende Spreizung der Einkommen, die immer wieder als eine Voraussetzung für eine steigende Arbeitskräftenachfrage genannt wird, sondern es geht bei steigendem Einkommen einerseits um eine Absenkung des in Form der Sozialhilfe anerkannten Existenzminimums andererseits. Doch seit Jahren ist die Erhöhung der Sozialhilfesätze von der Entwicklung der Lebenshaltungskosten abgekoppelt und die Teilhabe der Sozialhilfeempfänger am soziokulturellen Leben der Gesellschaft nicht mehr über die Bedarfssätze abgedeckt. Wenn in dem Bericht wiederholt darauf hingewiesen wird, „daß kein Erwerbstätiger tiefer als das Sozialhilfeniveau zu fallen braucht" (Ebenda, S. 22), so muß im Kontext dazu gesehen werden, daß dieses Sozialhilfeniveau zugleich in Frage gestellt wird.

Das Sozialstaatsprinzip mit dem Ziel der gleichmäßigen Förderung des Wohles aller Bürger wurde aufgegeben. Wachsende soziale Ungleichheit wird nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sie wird als unabdingbar angesehen. Schon heute sind in Thüringen mehr als drei Viertel aller Sozialhilfeempfänger Frauen und Kinder. Nach den Vorstellungen der Zukunftskommission soll deren Lebensstandard weiter abgesenkt, sollen weitere Bürgerinnen und Bürger, d.h. in der Realität vor allem Frauen, in Nicht-Normalarbeitsverhältnisse gedrängt und

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damit in ihren Lebensbedingungen auf das abzusenkende Sozialhilfeniveau gedrückt werden.

Hinter dem geforderten Übergang von der „arbeitnehmerzentrierten Industriegesellschaft" „zur individuelleren unternehmerischen Wissensgesellschaft" (Ebenda, S. 35) verbirgt sich nichts anderes als eine Absage an das Sozialstaatsprinzip, wie es über die soziale Marktwirtschaft, wenn auch mit immer mehr Abstrichen, zu realisieren versucht wurde. Einzig die Marktbedingungen haben über den „Preis für Arbeit" (Ebenda, S. 17) zu entscheiden. Wörtlich heißt es: „Wo die Beschäftigung innerhalb kurzer Zeit verbessert werden soll, müssen die realen und oft sogar nominalen Arbeitseinkommen zum Teil deutlich verringert werden." (Ebenda) Da es in der Realität vor allem Frauen sind, die in Bereichen niedriger Produktivität arbeiten, in denen die Erwerbseinkommen schon jetzt unter dem Durchschnitt liegen, wären sie wiederum überdurchschnittlich von den avisierten Lohnkürzungen betroffen. Nach dem Mikrozensus erzielten 1995 in Thüringen 42 Prozent aller erwerbstätigen Frauen, aber lediglich 20 Prozent der erwerbstätigen Männer ein Nettoeinkommen unter 1.400 DM monatlich. Im Ergebnis der weiteren Deregulierung ist die Verantwortung für die Vermarktung seiner Arbeitskraft auf den Einzelnen zu verlagern, denn „das Leitbild der Zukunft ist das Individuum als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsfürsorge". (Ebenda, S. 35)

Der Bericht der Zukunftskommission betrachtet die Entwicklung des Arbeitsmarktes einseitig unter dem Aspekt, daß bei steigender Produktivität ein sinkendes Arbeitsvolumen zur Herstellung eines Bruttoinlandsproduktes gegebener Größe erforderlich ist. Die Tatsache, daß in Westdeutschland das Bruttoinlandprodukt, das pro Arbeitsstunde erzeugt wird, heute mehr als doppelt so hoch ist, wie zu Beginn der 70er Jahre (Ebenda, S. 85), und dieses Wachstum zugleich nur linear erfolgte, wird als eine entscheidende Ursache für die seit der zweiten Häfte der 70er Jahre steigende Arbeitslosigkeit gesehen. Dieser reproduktionstheoretische Ansatz faßt meines Erachtens zu kurz. Der Ersatz von Arbeit durch Sachkapital und Wissen ist stets eingebettet in bestehende soziale Strukturen, die bei den aus dem Produktivitätsfortschritt resultierenden

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Folgen, ihre Ambivalenz eingeschlossen, nicht außer Acht gelassen werden dürfen.

Es steht für mich die Frage: Was ist das Primäre – die Rendite des Kapitals oder der Bürger mit seinen Lebensbedingungen, die auch in den nächsten Jahren noch in enger Verbindung zur Erwerbsarbeit stehen werden?

Der von der Zukunftskommission vorgeschlagene Weg, Arbeitslosigkeit durch Ausweitung einfacher personenbezogener Dienste, verbunden mit einer Niedriglohnstrategie, durch die Stückelung von Erwerbsarbeit, die Ausdehnung geringfügiger Beschäftigung ausdrücklich einbezogen, sowie durch einen durchgängigen Sozialabbau zu reduzieren, würde dazu führen, daß für viele Arbeitnehmer, insbesondere für eine wachsende Zahl von Frauen, ein Bestreiten des Lebensunterhaltes durch Erwerbsarbeit nicht mehr möglich wäre. Diese Folge der Intensivierung des Wettbewerbs soll daher durch „die Verbreiterung der Vermögensgrundlage breiter Bevölkerungsschichten" (Ebenda, S. 13) als zweiter Säule der Erneuerungsstrategie ergänzt werden. Die Frage ist allerdings, wie bei sinkenden und häufig nicht mehr existenzsichernden Löhnen Kapitalvermögen in einer solchen Größenordnung erworben werden kann, daß aus den daraus resultierenden Erträgen das Erwerbseinkommen so aufgestockt wird, daß Frauen mehrheitlich am wachsenden Wohlstand der Gesellschaft beteiligt sind. Eine Lösung dieses Problems wird nicht versucht. Auch die Idee der „Bürgerarbeit" bietet hierfür keine Lösungsansätze.

Wird die von der Zukunftskommission vorgeschlagene Strategie umgesetzt, bedeutet dies, daß Frauen mehrheitlich nur noch in Niedriglohnbereichen Erwerbsarbeit finden und dieser Erwerbsarbeit vorwiegend keine Normarbeitsverhältnisse zugrunde liegen. Erwerbsarbeit ohne existenzsichernde Löhne bedeutet auch keine existenzsichernden Leistungen bei Arbeitslosigkeit, bei Krankheit und im Alter. Armut trotz Erwerbsarbeit sowie Altersarmut sind damit für viele Frauen vorprogrammiert.

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Daß schon heute viele Frauen ihrer Erwerbstätigkeit im Nicht-Normarbeitsverhältnis nachgehen, hat in den wenigsten Fällen etwas mit den Erwerbswünschen der Frauen zu tun. In Thüringen arbeiten von rund 480.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen rund 120.000, also ein Viertel, in Teilzeit. Zu den erwerbstätigen Frauen in Nicht-Normarbeitsverhältnissen gehören auch die Frauen, die zeitweilig in ABM und Strukturanpassungsmaßnahmen beschäftigt sind, die in befristeten Arbeitsverhältnissen auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sind sowie die geringfügig beschäftigten Frauen. Für Thüringen beläuft sich die Zahl letzterer auf ca. 70.000. Damit arbeitet schon jetzt etwa die Hälfte der erwerbstätigen Frauen in einem Nicht-Normarbeitsverhältnis. Aber rund 50 Prozent der Frauen, die einer Teilzeitarbeit nachgehen, würden lieber eine Vollzeitbeschäftigung ausüben. Der Anteil der Teilzeitarbeit suchenden Frauen betrug in Thüringen im Januar dieses Jahres 2,8 Prozent.

Teilzeit ist für viele Frauen in den neuen Bundesländern Zwangsteilzeit, d.h., die einzige Möglichkeit, einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen. Eine geringfügige Beschäftigung ist für Frauen im erwerbsfähigen Alter im allgemeinen der Arbeitsmarktsituation und nicht der eigenen freien Entscheidung geschuldet. Diese Frauen fühlen sich auch trotz einer geringfügigen Beschäftigung arbeitslos.

Folglich geht die Orientierung der Zukunftskommission, durch Ausdehnung von Teilzeitarbeit mit einer kleineren Stückelung der Erwerbsarbeit bis hin zur geringfügigen Beschäftigung Arbeitslosigkeit zu reduzieren, an der Realität und den Erwerbsvorstellungen von Frauen mehrheitlich vorbei. Das gilt selbst dann, wenn Frauen, weil sie keinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe haben und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt hoffnungslos sind, resignieren und sich nicht mehr beim Arbeitsamt registrieren lassen.

Die Strategie der Zukunftskommission zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit und zur Verbesserung der Beschäftigungslage ist nicht nur hinsichtlich der Sozialstaatlichkeit nicht grundgesetzkonform, sondern sie verstößt auch gegen das Gleichberechtigungsgebot von Frauen und Männern. Da Frauen aus objektiven und subjektiven Gründen im Wett-

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bewerb um das knappe Gut Arbeit benachteiligt sind, werden, wenn die Vorschläge der Zukunftskommission realisiert werden sollten, für Frauen noch ausgeprägter als bisher Nicht-Normarbeitsplätze mit den skizzierten Folgen dominieren. Die prognostizierte Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit ist immer mit der Aussage verbunden, daß unter solchen Bedingungen mit einem Rückgang der Erwerbsneigung von Frauen zu rechnen ist. Aber nach dem Mikrozensus für Thüringen beläuft sich die Erwerbsneigung der 30 bis 50jährigen Frauen auf 95 Prozent, für die zwischen 15 und 60 Jahren auf 80 Prozent. Dieses Ergebnis wie auch das tägliche Verhalten der Frauen auf dem Arbeitsmarkt veranlaßte Politiker in Thüringen dazu, von einer „ungesunden Erwerbsneigung" der Frauen zu sprechen. Wenn auch Veränderungen im Erwerbsverhalten von Frauen nicht auszuschließen und insbesondere bei jungen Frauen auch nachweisbar sind, ist mit einem schnellen Rückgang der Erwerbsneigung nicht zu rechnen.

Solche Hoffnungen liegen fern ab von den Lebensvorstellungen von Frauen hier und heute und auch morgen. Die Erwerbsvorstellungen der heranwachsenden jungen Mädchen und Frauen sind trotz verschlechterter Chancen in der Berufsausbildung stark durch das Erwerbsverhalten ihrer Mütter geprägt. Sie wollen einen Beruf erlernen und diesen auch ausüben. Vorschläge, wie sie von Seiten der Regierung Sachsens unterbreitet wurden und werden, Frauen über ein Erziehungsgehalt den Rückzug vom Arbeitsmarkt finanziell zu versüßen, werden mehrheitlich als staatlich initiierter Versuch verstanden, Frauen dauerhaft vom Arbeitsmarkt zu verdrängen. Sicher würden bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage auch junge Frauen nach diesem Strohhalm Erziehungsgehalt greifen, eine grundlegende Veränderung des Erwerbsverhaltens ist aber dadurch nicht zu erwarten.

Die erst nach jahrzehntelangem Ringen in das Grundgesetz, Artikel 3, aufgenommene Einfügung: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin", verbinden Frauen auch mit dem Anspruch einer gleichberechtigten Teilhabe am Erwerbsleben. Dem wird weder mit Nicht-Normarbeitsverhältnissen, noch mit einem Erziehungsgehalt Rechnung getragen. Die gleichberechtigte Teilhabe von

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Frauen am Erwerbsleben ist gegenwärtig und auch in der näheren Zukunft nur über vom Staat gesetzte Regulierungsmechanismen zu erreichen.

Ist das für die Existenz und Entwicklung der Bundesrepublik erforderliche Arbeitsvolumen aufgrund steigender Produktivität auch rückläufig, so resultiert aus den Reproduktionsbedingungen keinesfalls die Art und Weise der Verteilung dieses Arbeitsvolumens. Für die Mitglieder der Zukunftskommission ist nur die eine, von mir lediglich kurz skizzierte Variante denkbar. Nicht einmal modelltheoretisch werden andere Verteilungsmöglichkeiten in Betracht gezogen. Vielmehr heißt es ausdrücklich in Teil III, S. 143: „Die Kommission lehnt sowohl die pauschale Kürzung von Arbeitszeiten und Überstunden als auch eine generelle Verlängerung individueller Arbeitszeiten ab."

Der Arbeitslosenverband Deutschland e.V., seine Landesverbände und speziell die Arbeitsgruppe Frauenerwerbslosigkeit des Verbandes lehnen die Vorschläge der Zukunftskommission nachdrücklich ab.

Zu einigen Positionen unseres Verbandes zur Sicherung von Erwerbsmöglichkeiten und zur sozialen Situation von Frauen:

In den folgenden Ausführungen beschränke ich mich auf die Problemkreise zur Reduzierung von Arbeitslosigkeit, die besonders relevant für Frauen sind. Frauen können darüber hinaus generell an allen Maßnahmen zur Reduzierung von Arbeitslosigkeit und der Entstehung von neuen Arbeitsplätzen partizipieren, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür gesetzt sind, das sei angemerkt, aber nicht ausgeführt. Daher wird auf Probleme wie öffentliche Investitionen, Wirtschafts- und Strukturförderung, regionale Wirtschaftskreisläufe u.a. an dieser Stelle nicht eingegangen.

Nur soviel: Die Vergabe von Fördermitteln sollte grundsätzlich auch an die Schaffung von Arbeitsplätzen für Frauen gebunden werden.

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1. Neuverteilung von Arbeit

Ausgehend von der Prämisse einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern an der Erwerbsarbeit und der für die Existenz der Gesellschaft erforderlichen unbezahlten Reproduktionsarbeit, d.h. der familialen Arbeit im umfassenden Sinne, erachtet unser Verband vor allem eine radikale Reduzierung der tariflichen Arbeitszeit, sei es als Wochen-, Jahres- und/oder Lebensarbeitszeit, als einen entscheidenden Schritt, nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit, und zwar als bezahlte und unbezahlte Arbeit, neu zu verteilen. Bedingung ist, daß durch die Erwerbsarbeit ein existenzsicherndes Einkommen erzielt wird. Daß bei einer radikalen Verkürzung der tariflichen Arbeitszeit Erwerbsarbeit teilweise subventioniert werden muß, sei an dieser Stelle nur angemerkt, aber nicht ausgeführt. Im übrigen ist die Subventionierung von Arbeit durchaus tägliche Praxis in der Bundesrepublik. Erwerbsarbeit muß für alle Frauen und Männer, die es wünschen, realisierbar sein. Bei einer angenommenen wöchentlichen Arbeitszeit von zum Beispiel 25 oder 30 Stunden entfällt weitgehend die Notwendigkeit, einfache personenbezogene Dienste als Lohnarbeit anzubieten, was nicht bedeutet, daß es im personenbezogenen Dienstleistungsbereich nicht möglich wäre, das bisherige Leistungsspektrum auszudehnen.

Eine solche Verkürzung der tariflichen Arbeitszeit für beide Geschlechter würde es Frauen und Männern ermöglichen, auch die in der Familie einschließlich der Kindererziehung anfallende unbezahlte Arbeit in gleicher Weise zu verrichten. Unter der Voraussetzung dieser drastisch reduzierten tariflichen Arbeitszeit wäre auch die volle gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben faktisch für alle Frauen, die es wünschen, möglich. Schon heute arbeiten teilzeitbeschäftigte Frauen in den neuen Bundesländern mehrheitlich zwischen 25 und 30 Stunden. Teilzeit ist im Osten im Selbstverständnis der Frauen keine Halbtagsbeschäftigung. Gerade in diesen Tagen hat auch der DGB die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche erhoben. Damit dürfte eine neue Runde zur Durchsetzung von Arbeitszeitverkürzungen eingeleitet sein.

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2. Abbau von Überstunden

Die Entwicklung der tariflichen Arbeitszeit in der Bundesrepublik zeigt aber, daß schon deren geringfügige Verkürzung ein langwieriger und schwieriger Prozeß ist. Selbst eine Reduzierung von Überstunden auf einen aus betriebsorganisatorischen Gründen erforderlichen Umfang konnte bisher nicht durchgesetzt werden. Insbesondere für Frauen mit Kindern können ständig geforderte Überstunden bewirken, daß die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht mehr gegeben ist. Ein erster bescheidener Schritt für das Entstehen neuer oder den Erhalt bestehender Arbeitsplätze könnte im Abbau von Überstunden bestehen, der für Frauen, wie genannt, zugleich die allgemeinen Bedingungen für ihre Erwerbstätigkeit verbessern würde.

3. Erschließen neuer Felder der Erwerbsarbeit und öffentlich geförderter Beschäftigungssektor

Die Arbeitsmarktsituation gerade auch für Frauen läßt sich auch durch die Erschließung neuer Felder der Erwerbsarbeit verbessern, allerdings nicht auf dem von der Kommisssion angedachten Weg einfacher personenbezogener Dienste. In der Sozialarbeit im weitesten Sinne, in der Kultur, im ökologischen Bereich, in der Infrastruktur besteht ein hoher Bedarf an sehr unterschiedlicher, aber weitgehend qualifizierter Erwerbsarbeit. Sie wird nur begrenzt über den zweiten Arbeitsmarkt von ABM-Kräften und nach § 249h AfG Beschäftigten geleistet, weil sie für privates Unternehmertum nicht attraktiv, da nicht gewinnbringend ist. Ein öffentlich geförderter Beschäftigungsmarkt kann die Basis für die Erschließung dieser im Interesse der Gesellschaft insgesamt wie ihrer Bürger liegenden Erwerbsfelder bilden. Damit wäre ein wichtiger Schritt zur Reduzierung von Arbeitslosigkeit insgesamt und von Frauenarbeitslosigkeit im besonderen getan. Bisher arbeitslose Frauen könnten bei tariflicher Absicherung ihren Lebensunterhalt wieder selbst bestreiten. Statt der weit verbreiteten Perspektivlosigkeit ergäbe sich daraus für viele Frauen eine neue Lebensqualität.

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In Thüringen sind im Bereich der Schuldnerberatung und der Kinder- und Jugendarbeit erste Feststellen entstanden. Doch für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor müssen die Weichen auf Bundesebene gestellt werden.

4. Erhalt und Ausbau des zweiten Arbeitsmarktes, Korrektur der Arbeitsmarktpolitik

In der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation, in der immer noch mehr Arbeitsplätze wegbrechen als neue entstehen und Arbeitslosigkeit ein bisher in der Bundesrepublik einmaliges Ausmaß angenommen hat, sind aber auch Maßnahmen zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit erforderlich, die sofort greifen. Dazu gehört vor allem, wenn auch nicht allein, der Erhalt des sogenannten zweiten Arbeitsmarktes und seine Rückführung auf ein Niveau, das der katastrophalen Lage auf dem Arbeitsmarkt angemessen ist. In Thüringen ist die Zahl der ABM-Beschäftigten im Vergleich zum Vorjahr um fast 60 Prozent zurückgegangen. Ähnlich hoch ist auch der Rückgang bei den Teilnehmern beruflicher Bildung. In beiden Bereichen entsprach der Anteil der Frauen ihrem Anteil an den Arbeitslosen oder lag sogar leicht darüber. Folglich haben die Kürzungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik besonders Frauen betroffen, deren Hoffnung auf einen Arbeitsplatz sich nicht selten einzig durch eine ABM realisierte.

Zum Erhalt der beruflichen Qualifikation von Frauen ist nach spätestens einjähriger Arbeitslosigkeit ein Anspruch auf berufliche Weiterbildung mit einem hohen Praxisanteil zu garantieren. Dieser Anspruch muß sich immer wieder erneuern, bis die Frau einen regulären Arbeitsplatz gefunden hat. Um Frauen wieder in größerem Maße einen eigenständigen Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen zu ermöglichen, bedarf es einer Umkehr in der derzeitigen Arbeitsmarktpolitik.

In Thüringen waren im Januar dieses Jahres rund jeder fünfte Mann und jede vierte Frau als arbeitslos registriert, das ist mehr als eine viertel Million Menschen. Bei einem solchen Ausmaß von Arbeitslosigkeit, und das nicht nur in Thüringen, sondern in der gesamten Bundesrepublik

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mit rund 5 Millionen registrierten Arbeitslosen, ist es eine Illusion, daß Arbeitslosigkeit kurzfristig abzubauen ist. Daher ist als ein erster Schritt eine grundlegende Korrektur der Arbeitsmarktpolitik, wie sie mit dem SGB III seit dem Januar diesen Jahres festgeschrieben ist, erforderlich. Der vor ca. zwei Jahren von der SPD vorgelegte Entwurf eines Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes enthielt eine Vielzahl von Festlegungen, mit denen einer Ausgrenzung von Arbeitslosen aus dem Erwerbsleben für immer, wie es mit jedem Tag für mehr Arbeitslose Realität wird, entgegengewirkt werden könnte.

Die jetzige bundesdeutsche Arbeitsmarktpolitik ist kontraproduktiv. Nicht zuletzt entzieht sie immer mehr Frauen eine eigenständige durch Erwerbsarbeit gesicherte Existenzgrundlage und macht sie von öffentlichen Transferleistungen oder vom Lebenspartner, den Kindern oder Eltern abhängig.

Im Interesse der Lebensqualität von Frauen, die nicht unwesentlich von ihren Zugangsmöglichkeiten zu wirtschaftlichen Ressourcen bestimmt wird, braucht die Bundesrepublik eine andere Politik. Die jüngsten Aktionen von Arbeitslosen deuten an, daß auch Frauen gewillt sind, für eine solche Änderung einzutreten.

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Margrit Zauner

Ich stimme Herrn Prof. Blum zu, daß die auf der Arbeitskraft liegenden Kosten und speziell auch die Lohnnebenkosten zu hoch sind. Aber, warum ist das so? Liegt das an der einzelnen Arbeitskraft? Oder haben wir ein System, in dem die Lasten ungleich verteilt werden und es immer mehr Möglichkeiten gibt, sich aus der solidarischen Verantwortung auszuschließen? Wäre es nicht auch ein Weg, dieses darüber zu regeln, daß durch eine gleichmäßigere Verteilung der Lasten Kosten entzerrt werden? Ich nenne hierfür nur einige Stichworte:

Erstens: Sozialversicherung ausweiten, mehr Menschen in die Sozialversicherung einbeziehen, auch mit Beiträgen, und dafür zu sorgen, daß

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die sozialen Lasten, die die Gesellschaft treffen, auch von allen gleichermaßen bezahlt werden.

Zweitens: Wieso werfen Sie es Menschen vor, wenn sie den Erfolgskurs der Wirtschaft für sich privat umsetzen? Im Bereich der Unternehmen erleben wir das Erfolgsmodell „Risiken sozialisieren und Erfolge privatisieren" zur Zeit in sehr überreichem Maße. Im Zuge von sozialverträglichem Sozialabbau wird zum Beispiel dafür gesorgt, die ausscheidenden Mitarbeiter oder die Mitarbeiterinnen über das Arbeitsamt zu finanzieren. Unternehmenserfolge wirken dann eher in anderen Teilen der Unternehmensstrukturen.

Drittens: Wir sollten durchaus auch schauen, was in anderen Kulturen erfolgreich ist, können dieses aber nicht einfach übertragen, zum Beispiel sind amerikanische Modelle von Bürgerbeteiligung nicht einfach auf eine Kultur hier zu übertragen, und nenne hier nur das Problem, Westkultur auf Ostkultur zu übertragen. Da haben wir eine ganze Menge an Erfahrung, was alles nicht geht. Darum bin ich skeptisch, wenn mir etwas als das große Erfolgsmodell verkauft werden soll.

Wir dürfen nicht außer Acht lassen, unter welchen Rahmenbedingungen diese Modelle entwickelt wurden, was wir für unsere Verhältnisse hier daraus lernen können und wie wir andere Modelle der Teilhabe finden können. Wir haben in Europa ein anderes, durchaus auch an den ökonomischen Daten ablesbar, sehr erfolgreiches Modell, das mehr auf Partnerschaft der Beteiligten abzielt. Dieses Modell wird immer mehr unterwandert. Wir müssen einen neuen Gesellschaftsvertrag aushandeln, um wieder zu einer gleichberechtigten Teilhabe zu finden.

Die kritischen Bemerkungen, mit denen hier das VW-Modell kommentiert wurde, halte ich im übrigen für überzogen. Ich denke, daß wir bei VW ein unter spezifischen Rahmenbedingungen absolviertes erfolgreiches Modell haben, wie Arbeit gerecht unter Beschäftigten verteilt werden kann. Es gab die spannende Frage: Was macht der VW-Arbeiter am fünften Tag? Die Kolleginnen hatten dieses Problem nicht. Es müßte eher ein Männerlernprogramm eingeführt werden, um den Männern zu verdeutlichen, daß es nicht den Sinn des Lebens ausmacht, 60 Stunden

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die Woche zu arbeiten. Im übrigen hat auch die Handwerkskammer in Wolfsburg illegalen Arbeitsverhältnissen entgegengewirkt. Dafür hat unser Rechtssystem Mittel und Wege.

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Anna Damrat

Die Spannbreite zwischen Bill Gates und Steffi Graf finde ich erheiternd. Guckt man sich die letzten Winterspiele an, ich habe heute früh in der Zeitung gelesen „Deutsche Skifahrer eine Lachnummer", dann haben wir ja die allerbesten Aussichten.

Ich denke aber, daß das Ganze doch sehr ernsthaft ist. Ich meine, es handelt sich in der Tat um ein vom Grundsatz her neoliberales Wirtschaftsprogramm. Es schließt an diese Grenztheorien an, die schon oft zu Recht kritisiert worden sind. Bei der Frage der Minimierung von Lohn und der sich immer mehr verschlechternden Arbeitsverhältnisse haben wir gesehen, wohin das führt: In Großbritannien sind die Löhne unter der konservativen Regierung sehr wohl minimiert worden, aber dort hat das seltsamerweise kein besonderes Wirtschaftswachstum hervorgerufen. Alles das, was von der Thatcher-Regierung angekündigt worden ist, ist nicht eingetreten. Die Produktivität ist nicht gestiegen, sie ging weiter zurück und ist auch nicht in dem Maß vorhanden, wie in anderen europäischen Ländern. Die deutschen Lohnstückkosten liegen immer noch gut im Mittelfeld. Das wird von unterschiedlichsten Leuten bis hin zum industriell-eigenen Institut für Wirtschaftsforschung in Köln festgestellt. Nicht nur das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung bezieht diese Position.

Weiterhin ist es ein Fehler, die Globalisierung als Form der Gesellschaft zu definieren, in der die Informationskosten überall gleich seien und demzufolge überall Industrien aufgebaut werden könnten. Dies ist alles nicht mehr der Fall. Entsprechende Vorhaben sind auch deshalb immer wieder fehlgeschlagen, weil es die entsprechenden Märkte in diesen Ländern nicht gibt. Das ist nicht nur die Frage, ob denen unser Polo auf einmal nicht mehr gefallen hat oder der Fiat Uno. Diverse Unterschiede kommen über die Währungsrelation dazu und spielen da eine sehr große

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Rolle. Es geht hier also nicht nur um Elchtest und um schlechten oder guten Geschmack.

Sehr verärgert bin ich über die Darstellung der „Bürgerarbeit". Hier handelt es sich im großen Maße um Sozialarbeiten, die eigentlich bezahlt werden müssen, die auch von qualitativ hochwertiger Arbeit gefüllt werden müssen, damit sie ordentlich gemacht werden.

Auch das DIW hat das noch einmal hinterfragt und die Position bezogen, daß wir die Nachfrage nach „Bürgerarbeit" stärken müssen, hier aber nach richtig bezahlten öffentlichen Dienstleistungen, damit die Marktprozesse im Land selbst wieder stimuliert werden können.

Es geht um Mehrarbeit, um Stärken der Nachfrage und nicht um Schwächung der Arbeit. An die unternehmerische Wissensgesellschaft glaubt die Kommission offensichtlich selbst nicht so ganz. Ansonsten entfiele die Aussage, wir brauchen Vermögensbeteiligung, damit alle ein bißchen mehr vom Kuchen abbekommen, einmal ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, an die Kuchenvermehrungsstelle und an den Kuchen auf der Backstelle heranzukommen. Also ist es wohl doch eine Frage des Vermögens und nicht primär des Wissens.

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Dr. Christine Bergmann

Mich hat es nicht gewundert, daß der Kommissionsbericht hier in Sachsen stärker diskutiert wird. Das eine oder andere in der Richtung hat man hier immer schon in Politik umzusetzen versucht. In anderen Ländern ist das ein Bericht neben anderen, ein interessanter Bericht, der sicher auch diskussionswürdig ist, aber auch nicht mehr. Hier in Sachsen muß man das wahrscheinlich anders sehen. Ich habe einige Einzelfragen und dann komme ich noch einmal auf das Kernproblem.

Sie haben im Teil 3 gesagt, daß die Arbeit im Wert gesunken ist, und ziehen daraus Ihre Schlußfolgerungen. Aber wir haben in vielen Bereichen eine mächtige Produktivitätssteigerung, der die Löhne über-

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haupt nicht folgen. Die pauschale Schlußfolgerung, daß man über Lohnsenkung alles regeln kann, stimmt nicht.

Der nächste Punkt: Wir haben uns auch mit der Globalisierung auseinandergesetzt. Sie sprachen an, daß dieser Begriff in der Politik falsch verstanden wird, der Meinung bin ich auch. Im Moment hält die Globalisierung als politische Keule für die Rechtfertigung jeden Mißstands her.

Wo liegen eigentlich die politischen Versäumnisse der letzten Jahre. Was hätte man tun können? Inwieweit hat sich die Kommission mit der Frage nach den Ursachen der Massenarbeitslosigkeit auseinandergesetzt. Da geht es doch nicht nur um die Strukturprobleme. Es ist nichts passiert, das zum Abbau von Massenarbeitslosigkeit beitragen hätte. Es liegen Vorschläge auf dem Tisch: Wir haben auch in Berlin dazu beigetragen mit IAB, mit Konzepten, Strategien oder Strategiebündeln. Wir haben Nachbarländer, die uns in der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit einiges vorgemacht haben. Wir sollten das Thema etwas von der allgemeinen Globalisierung entkoppeln.

Das für mich wichtige Thema, ich sprach es schon an, ist die Arbeitszeitreduzierung. Sie sagen in Ihrem Bericht, daß die Einführung von mehr Teilzeitarbeit und geringfügiger Beschäftigung im Endeffekt mehr Beschäftigung bringe. In der Debatte um die geringfügige Beschäftigung haben wir festgestellt, wie derartige Beschäftigungsverhältnisse, einschließlich von Formen der Scheinselbständigkeit, die Sicherungssysteme belasten und damit Arbeit auch wieder verteuern. Das ist etwas, was die Unternehmer nicht hören mögen. Dabei sind sie selbst auch die Leidtragenden, wenn die Beitragssätze steigen, sie bezahlen diese ebenso wie die Arbeitnehmer mit.

Ein genereller Ansatz ist notwendig, der all das zusammenfaßt: Die Wunscharbeitszeit der Frauen liegt bei ungefähr 30 Stunden hieß es in der Diskussion, die der Männer um 10 Stunden darüber. Wir haben natürlich die tarifliche Arbeitszeit, die der Männerarbeitszeit entspricht. Das Thema ist in Ihrem Bericht nicht opportun. Sie sagen: Arbeitszeit-

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reduzierung nur, wenn sie alle unbedingt wollen. Aber ich denke, daß uns dieses Vorgehen nicht weiter bringt.

Ich komme zum Schluß. „Bürgerarbeit" halte ich auch nicht für ein Mittel zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit. Das Thema „Bürgerarbeit" ist wichtig, aber unter anderen Gesichtspunkten: Wir sagen immer, wir haben nur ein begrenztes Volumen bezahlbarer Arbeit. Aber wir wissen, daß wir darüber hinaus sehr viel Arbeit haben. Ich frage mich: Wie können wir sozialer Kälte entgegenwirken, und wie können wir die notwendig zu leistende soziale Arbeit auf die Menschen verteilen, die bereit sind, diese zu leisten? Warum gestalten wir den tertiären Arbeitsplatz nicht richtig aus? Es geht darum, wie wir diese Arbeit bezahlbar machen können. Zu sagen, damit ihr etwas zu tun bekommt, gibt es noch die „Bürgerarbeit", diskreditiert diese Arbeit. Das halte ich vom Ansatz her für falsch.

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Prof. Dr. Ulrich Blum

Aus meinem Herzen heraus stimme ich mit Ihnen in vielen Dingen überein. Nur es geht einfach nicht mehr. Die Welt hat sich außen geändert. Und wenn die internationale Forderung auf Zinsen ein gewisses Niveau hat, dann können die Leute nicht erzwingen, ihr Kapital hier in Deutschland zu investieren, wenn hier der Zins geringer ist. Das ist ein einfacher Punkt, das bitte ich zu beachten. Wir haben dadurch, daß der Stacheldraht weg ist, einen viel größeren Markt bekommen. 1,5 Mrd. Leute sind bereit, mit relativ geringen Investitionen eine hohe Kapitalproduktivität zu erzeugen. Diese sind nicht einfach wegzudiskutieren. Das heißt, die Lage hat sich wirklich verändert.

Lohnsenkungen auf Dauer führen außenwirtschaftlich zu einer Aufwertung der Währung und damit zu einem Sinken der Preise. Das ist eine Verzögerung, aber man kann nicht ständig eine völlige Lohnsenkungsstrategie erzeugen und die Preise am internationalen Absatzmarkt ständig senken, ohne daß es zu einer Aufwertungsstrategie der ganzen Währung kommt.

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Je mehr Arbeitnehmer sich um eine Stelle bemühen, desto mehr wird der Lohn sinken. Je mehr Videorecorder angeboten werden, desto günstiger ist der Preis des Videorecorders. Ersteres ist traurig, Zweites ist schön, aber beides ist eben so. Jahrelang verdienten Informatiker einen Monopollohn auf dem Arbeitsmarkt. Mit diesem Preis hätten wir nie den Fortschritt in der Wirtschaft erzielt. Inzwischen ist aber der Preis für Diplom-Informatiker am Arbeitsmarkt gefallen. Der Berufsanfänger erhält nicht 50 Prozent mehr als der Facharbeiter, sondern nur noch 10 Prozent mehr. Aber das ist auch ein Teil von Wettbewerb. Produkte müssen verkauft werden, und das regelt, was an Lohn gegeben werden kann. Sie entscheiden jeden Tage darüber, welcher Arbeitsplatz wo in der Welt erhalten wird. Darauf möchte ich einfach noch einmal hinweisen. Sie können niemanden zwingen, ein ganz bestimmtes Produkt zu kaufen.

Heute zu streiken, auf die Straße zu gehen - Sie können das tun - das ist ein Streik gegen sich selber. Sie können niemanden zwingen, Ihnen Arbeit zu geben. Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, daß ein Streik allenfalls dazu verhilft, eine Befindlichkeit loswerden, ich halte das auch manchmal für wichtig, daß man das tut, aber Sie können niemanden zwingen, Ihnen einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Und auch der Staat kann es nicht. Denn der Staat lebt von Steuereinnahmen, die irgendwo erzeugt werden sollen.

Zu den geringfügig Beschäftigten: Ich halte es für durchaus erwägenswert, die Sozialversicherungspflicht auszudehnen, darüber kann man reden. Das Problem ist nur, daß Sie dann für die Zeit in 30 oder in 20 Jahren neue Anspruchsvoraussetzungen begründen. Es gibt viele Leute, die von einer solchen Sache profitieren, weil sie sich nämlich als bisher privat Versicherte sehr günstig in der Sozialversicherung mitversichern können.

Die Kommission hat einen ganz radikalen Schritt gewagt und hat aus dem genannten Grund eine mehrwertsteuerfinanzierte Grundsicherung vorgeschlagen. Das hat uns überall Ärger eingebracht. Das vertritt übrigens Ministerpräsident Biedenkopf, Ministerpräsident Stoiber aber nicht und Herr Kohl ohnehin nicht.

Wir können auch nicht überall kontrollieren, ob die Leute, deren Arbeitszeit reduziert wurde, sich daran halten oder nebenher noch etwas anderes machen. Diese Strafen sind annähernd zwecklos, wenn Sie sich einmal anschauen, welche brachialen Strafen gegen Schwarzarbeit im Bau inzwischen in Berlin oder in Hessen angewendet werden. Das Risiko ist, bezogen auf die Strafhöhe, offensichtlich trotzdem immer noch lohnenswert.

Dr. Christine Bergmann

Weil wir keine Generalunternehmerhaftung haben. Wir haben natürlich das Problem, daß es weniger Anbieter gibt, weil die Haftungskosten zu hoch sind. Dann gehen natürlich die Preise nach oben. Es sollte jeder darüber nachdenken, wenn die Wohnungsbaupreise steigen, steigen auch irgendwann die Mieten. Das ist ein interdependentes System. Das ist nicht in den Griff zu bekommen.

Prof. Dr. Ulrich Blum

„Bürgerarbeit" ist kein Alleinheilmittel und keine Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger. Sie wird freiwillig von Leuten, die etwas tun wollen, verrichtet. Das ist ein vergleichsweise kleiner Teil. Aber man sollte auch damit einmal experimentieren.

Produktivitätssteigerung versus Lohnsteigerung: Die Durchschnittsproduktivität in Deutschland ist gestiegen, aber die Verteilung zugunsten der Arbeit hat abgenommen. Zu behaupten, das sei keine politische Entscheidung, sondern eine Entscheidung, die auf dem Weltmarkt fällt, das ist eine Glaubenssache. Ich würde Ihnen nicht empfehlen, wenn Sie die Wahl gewinnen wollen, damit zu experimentieren. Wenn Sie in der Öffentlichkeit erklären, daß Sie auf die Verteilungsquote zwischen Lohn und Kapital in Deutschland Einfluß nehmen wollen, dann graulen Sie die Investoren heraus. Das ist meine ganz persönliche Empfehlung, weil ich durchaus auch für politischen Wettbewerb bin.

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Sie haben gesagt: Globalisierung ist die Keule, sie ist nicht die Ursache. Paul Krugman hat das einmal für Amerika ausgerechnet und ist auf vielleicht 200.000 Arbeitsplätze, die in Amerika zusammengebrochen sind, gekommen. Viel schlimmer ist, daß wir ein Steuersystem besitzen, das unserem Land nicht gemäß ist. Wir hätten vor 20 bis 25 Jahren bereits anfangen müssen, unser Abgabensystem zu ändern.

Was Sie hier nun in Ostdeutschland haben, stellt eine Erblast aus dem Westen dar. Man war in den 70er und in den 80er Jahren nicht bereit, hier relevante Reformen anzugehen. Natürlich gibt es die Steuer-Scheunentore. Gehen Sie nach Dresden, wo ich herkomme, da sehen Sie ein Drittel Leerstand im Bürobau. Dahinter stehen sehr viele westdeutsche Anleger - das wird Geld kosten - auch in Berlin. Aber es hat einen irren Vorteil, wir haben die Städte in einer Zeit saniert, wo jeder glaubte, das funktioniert noch.

Irgendwann werden die Preise im gewerblichen Bereich so drastisch sinken, und dies wird zu einer solchen Kostenreduzierung auch im Angebot führen, daß es sich dann lohnt, diese Gebäude zu nutzen, und aus den Baracken und der Verwaltungsplatte herauszugehen. Ich behaupte, der Verlust dieser Strategie liegt eher beim Westen als beim Osten. Über Büroleerstand zu klagen wird in drei Jahren in Ostdeutschland kein Thema mehr sein, weil dann nämlich die Büros dann nicht mehr für 60 Mark, sondern für 20 Mark vermietet werden. Ich glaube, für die Steuerbasis in Westdeutschland ist das schwierig, für die Städte im Osten aber nicht schlecht.

Letzter Punkt: Volumen der bezahlbaren Arbeit. Wenn die Löhne sinken, können wir mehr Arbeit bezahlen. Die Frage ist nur: Wie machen wir das? Wenn ich hingegen alle Kosten auf die Löhne draufsattele, dann steigen die Reallöhne netto nicht mehr, brutto expandierten sie irrsinnig - in den letzten zehn Jahren um etwa 50 Punkte.

Einwurf: „Die Nettolöhne sind aber gesunken!"

Aber genau das interessiert den Unternehmer nicht. Der Unternehmer zahlt die Brutto-Lohnkosten. Wir werden uns Gedanken machen müs-

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sen, weil dieses Abgabensystem teilweise unter grundgesetzlichem Schutz wegen Art. 14 des Grundgesetzes steht. In Karlsruhe wurde in den 80er Jahren ein Urteil gefällt, demzufolge die Eigenleistungen an der Rentenversicherung Eigentumsqualität genießen. Damit verfügen wir über sehr wenig Änderungsmöglichkeiten im System. Wir müßten im Prinzip eine wirkliche Strukturänderung machen. Aber wir werden die Altansprüche nicht mehr los.

Das heißt also, je früher wir bei dieser Sache ein phase-in mit einem neuen System durchführen und die alten Ansprüche langsam auswachsen lassen, desto besser ist es für uns alle. Es wird immer schwierig sein, dies zu bezahlen, aber es wird nicht billiger.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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