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TEILDOKUMENT:




I. Mit unserem Staat ist kein Staat zu machen!



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1. Die Erfahrungen über die Grenzen staatlichen Handelns

In der sozialdemokratischen Strategie spielt der Staat eine zentrale Rolle. Er ist das Machtinstrument, das unbedingt benötigt wird, die "Naturwüchsigkeit" des kapitalistischen Entwicklungsprozesses zu korrigieren. Aus der Perspektive der 60er und frühen 70er Jahre stieg die Zuversicht in die Steuerbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Staat sollte eine allmählich steigende Quote des Bruttosozialprodukts für steigende Transferzahlungen, steigende Bildungsausgaben, mehr Förderung des technischen Fortschritts, wachsende Infrastrukturinvestitionen oder verstärkte regionale Strukturpolitik erhalten. Gestützt auf einen starken Staat sollte das kapitalistische System humanisiert und ein größeres Maß an Chancengleichheit und materieller Gleichheit erreicht werden. Als zentrale Voraussetzung galt ein stetiges Wachstum. Wachstum wurde zur Versöhnungsdroge, die den Sozialisten erlaubten allmählich ihren Frieden mit dem Kapitalismus zu schließen. Ohne Wachstum wäre die Umlenkung von Ressourcen vom privaten in den öffentlichen Sektor, die als unerläßlich galt, kaum als möglich erschienen.

Seit Mitte der 70er Jahre ist eine Strategie aktiver staatlicher Interventionen, eine Strategie der Globalsteuerung und ergänzender komplexer sektoraler Strategien aus mehreren Gründen in eine Glaubwürdigkeitskrise geraten, wie die folgenden Beispiele untermauern sollen:

-Die 70er und Wer Jahre lehrten, daß staatliche Steuerung weder Vollbeschäftigung noch Preisniveaustabilität garantieren konnte. [ Die Erfolge in Frankreich zeigen, daß eine sozialdemokratisch geführte Regierung auch in den 80er Jahren keine wirksamen Mittel gegen die strukturelle Arbeitslosigkeit gefunden hat. Der Abbau der Arbeitslosigkeit war in der Mitte der 80er Jahre in Großbritannien mit Thatcher - Methoden deutlich besser als in anderen europäischen Ländern. Allerdings schlug der durch rasche Konsumausgaben der Privathaushalte angeheizte Boom dann in eine neue Inflationskrise um, wie sie in Großbritannien seit 20 Jahren in regelmäßigen Abständen aufgetreten ist.] Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität bleiben abhängig von den wirtschaftlichen Verhaltensweisen der Unternehmen, der Haushalte, der Tarifpartner, anderer Interessengruppen und auch abhängig von den Verhaltensweisen der Gebietskörperschaften. Als Lektion mußten wir lernen, Nachfragemanagement stößt an Grenzen, wenn sich von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus eine höhere Staatsschuld aufbaut, wenn das Arbeitsangebot und auch die Investitionstätigkeit auf staatlich induzierte Nachfragesteigerungen nicht mehr elastisch reagieren. Globalsteuerung kann die regionalen Defizite an Unternehmerleistungen, die Defizite an Know-how, die fehlenden Marktkontakte und unzureichende Innovationsfähigkeit in bestimmten Sektoren und Regionen nicht kompensieren. Bis heute gelang es trotz intensiver politischer Unterstützung z.B. nicht, die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet deutlich unter 10 % zu drücken. Die staatlichen Unterstützungen von Neugründungen, von Technologietransfer, von Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen konnten die Defizite im privaten Sektor, die aus einer traditionellen sektoralen Struktur stammten, nicht ausreichend kompensieren. Damit wurden gleichzeitig Grenzen staatlichen Handelns in den selbst gesetzten Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik sichtbar und spürbar. Frühere Hoffnungen gegenüber solchen Staatsinterventionen haben sich als trügerisch erwiesen.

- Der Staat geriet aber auch in den großen Aufgabenbereichen - für die er mehr als anderswo direkt verantwortlich zeichnet - im Gesundheits- und Bildungssektor in eine Glaubwürdigkeitskrise. Hier kam es für lange Zeit zu einem überdurchschnittlichen Wachstum. Die gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungssteigerungen gingen zeitweise völlig auf das Beschäftigungswachstum in diesen beiden Sektoren zurück. Doch die quantitativen Ausweitungen brachten Vermassung, Quali-tätsprobleme und trotz mehrerer Kostendämpfungskonzepte kaum tragbare Kostensteigerungen.

- Die in bürokratischen Formen angebotenen Wohlfahrts- und Bildungsleistungen lassen ex post nicht das Glück und die ständige Emanzipation und Aufklärung entstehen, die ex ante erhofft wurde. Der Wohlfahrtsstaat hat auch eine "culture of dependency" begünstigt. Kreative Hilfen, die Autonomie stärken und Abhängigkeit gegenüber dem staatlichen Versorgungssystem abbauen, stehen nicht an der Spitze der Prioritätenskala der Sozialpolitik.

- Der Staat geht mit der Zeit der Jugendlichen und der Auszubildenden schlampig und verschwenderisch um. Deutsche Akademiker werden bis zu 30 Jahre alt, bevor sie auf eigenen Füßen stehen. Das Problem ist seit langem bekannt. Kein Kultusminister hat sich jedoch ernsthaft um Abhilfe bemüht.

- Die mit hohen Erwartungen ausgestattete Industriepolitik entpuppt sich in der Wirklichkeit überwiegend als eine Kette von Rückzugsgefechten zugunsten alter (Groß-) Industrien oder zugunsten problematischer Punktinnovationen, die zu wenig Ausstrahlung entfalten. Systematische Wirkungsverbesserungen bleiben nach wie vor wichtiger als populäre neue Förderprogramme mit zweifelhaften Ergebnissen. Seit Ende der 70er Jahre werden ganze Serien davon aufgelegt, um z. B. Unterbeschäftigung in Krisenregionen zu beseitigen. Jahr für Jahr werden Erfolgsmeldungen veröffentlicht. Wirkungsanalyse nach Wirkungsanalyse bescheinigt staatlichen Agenturen, wie erfolgreich sie unser Steuergeld für die Neugründung und Erweiterung von Unternehmen oder den Ausbau einer differenzierten Wirtschaftsstruktur einsetzen. Die Realität zeigt, daß Arbeitslosigkeit in der Praxis nur in ganz kleinen Schritten über lange Fristen verringert wird. Der Zwang, ständig Erfolge zu verkünden, wo es kaum Erfolge zu vermelden gab, bildete eine schwer überwindbare Barriere gegenüber politischen Innovationen. Es ist ziemlich unglaublich - doch die Parteien glauben ihren ständigen Erfolgsmeldungen und Realitätsverfälschungen; Selbstkritik wird im Konkurrenzkampf der Parteien ständig als Sand im Getriebe und nicht als Antrieb für politischen Fortschritt behandelt.

- Der EG gelang es, riesige Haushaltsmittel zur Subventionierung der Landwirtschaft zu mobilisieren. Gemessen daran waren die verkehrspolitischen Erfolge kümmerlich. Man stelle sich vor, der Ausbau eines Schnellbahnsystems in Europa wäre mit gleicher Energie vorangetrieben worden wie der Ausbau des Subventionssystems für die Landwirtschaft. Ohne nähere Analysen leuchtet unmittelbar ein, daß wir bei ähnlichen Anstrengungen schon längst schnell und bequem und mit geringerem Energieverbrauch zwischen europäischen Städten hin- und herpendeln könnten. Die mühsamen Fortschritte machen ein eklatantes Versagen staatlicher Prioritätensetzungen sichtbar.

Als Zeichen besonderen staatlichen Versagens können die Ergebnisse zahlreicher Agenturen und Fachverwaltungen gelten. Das Waldsterben wurde nicht von öffentlichen Behörden angeprangert. Illegaler und problematischer Waffenexport wird nicht von den zuständigen Ämtern aufgedeckt und unterbunden. Am eklatantesten war der Fehlschlag zur Ausweitung der Personalkapazitäten im Bundeskriminalamt. Die Terroristenfahndung liefert ständig Anschauung in besonders akutem Staatsversagen. Hier zeigt sich besonders ein typisches Fehlverhalten. Mangels Innovationen wird ein riesiger Ressourcenaufwand getrieben, dessen Erfolg ohne nähere Analyse als zweifelhaft angesehen werden kann.

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2. Die 80er Jahre brachten keine durchgreifenden Vereinfachungen oder ein Zurückdrängen des Staatssektors

Entgegen einer weit verbreiteten konservativen Ideologie wurde der Staat auch in den 80er Jahren größer und komplexer. Die oberflächliche Debatte über die Staatsquote und dem Gesamtumfang der Staatsleistungen hat wenig bewirkt. Unter der Decke dieser Diskussion haben sich staatliche Einflußbereiche ganz unvermeidbar und selbstverständlich ausgeweitet. Kaum irgendwo wurde Staatstätigkeit abgebaut, aber im Bereich der Umwelt oder im Bereich der Pflegeleistungen sind neue Aufgaben hinzugekommen. Natürlich bleibt die Frage, wieviel Steuern wir insgesamt tragen und wieviel Leistungen der Staat insgesamt erbringt, ein zentrales politisches Thema. Auch in Zukunft wird politisch heftig darüber gestritten werden, welcher Teil des Bruttosozialprodukts für Renten und Pensionen oder für Subventionen an Bauern und Bergarbeiter ausgegeben werden sollen.

Genauso wichtig wie diese globalen Transferthemen bleiben jedoch Fragen:

• Wie effektiv werden staatliche Leistungen erbracht?

• Wie wirksam sind politische Maßnahmen im Hinblick auf die intendierten Ziele?

• Welche Qualität erreichen öffentliche Leistungen gemessen an den Wünschen ihrer Adressaten?

Genau diese Diskussion wird immer nur punktuell und ad hoc oder als kurzfristige Reaktion auf akuten Ärger gebührt. Während der Wettbewerb im privaten Sektor Unternehmen ständig zu Qualitätsverbesserungen und Leistungssteigerungen zwingen, bleiben Qualitäts- und Leistungssteigerungen und Wirkungsverbesserungen oder eine bessere Kundenorientierung der Staatstätigkeit eher schwach und zufällig. Damit steht der Staatssektor und stehen Parteien, die sich sehr stark auf diesen Staatssektor abstützen wollen, ständig vor einer Glaubwürdigkeitslücke. Diese Glaubwürdigkeitslücke ist seit langem gestiegen. Die Erfahrung lehrte: Der Staat konnte weder Vollbeschäftigung noch Preisniveaustabilität garantieren. Umweltkrisen und gescheiterte Großprojekte signalisieren ein massives Versagen staatlich-bürokratischer Entscheidungsprozesse. Nach Gesundheits- und Bildungsreform bleibt die ernüchternde Erkenntnis. Die Bürger erhalten zu wenig Qualität und Effektivität.

Als Antwort auf solche Unzulänglichkeiten wird bisher leider zu wenig versucht, diese Mängel direkt anzugehen. Als Reaktion auf den Interventionsstaat der Gleichheit, der Transferleistungen, der angeblichen Entwicklungsförderung, ist eher eine Strategie der Zurückdrängung staatlicher Aktivitäten seit Beginn der 80er Jahre und eine Distanz gegenüber staatlicher Steuerung wieder populär geworden. Durch den Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismus in Osteuropa haben Staatstrategien nochmals an Rückenwind eingebüßt. Staat, das bedeutet heute kaum Rationalität, Effizienz, Verteilungsgerechtigkeit und klare Vorausschau, sondern eher Schwerfälligkeit, Schematismus, bürokratische Verschwendung, wirre Überregulierung, Fremdheit und Kälte.

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3. Ohne ständige Modernisierung keine ausreichende Qualität und Effizienz im Staatssektor

Diese lange Liste der Kritik wird von Repräsentanten des Staatssektors mit hoher Wahrscheinlichkeit als überzogen und unfair angesehen. Es ist zuzugeben, daß jede Großstadtkommune heute ein sehr heterogenes Bündel an Aufgaben und Leistungen bewältigt. Sie managen Friedhofsverwaltungen und Verkehrssysteme, organisieren Bauleitplanung oder betreiben Schulen und Standesämter. Kaum ein Privatbetrieb muß noch dazu unter extrem komplizierten rechtlichen Rahmenbedingungen eine solche komplexe Produktpalette bewältigen. Für die Manager des Staatsystems steht diese Komplexität und die riesige Gesamtaufgabe, deren Schwierigkeiten ständig zunimmt, im Vordergrund. Sie sehen die kaum überwindbaren Schwierigkeiten und die Leistungen, die tagtäglich erbracht werden. Diese Perspektive hat ihre Berechtigung. Der Staat ist eine komplexe Großorganisation, die Tag für Tag riesige Leistungen erbringt. Dennoch kann man sich auf solchen Leistungen nicht ausruhen. Auch im privaten Sektor haben technisch hochwertige Schiffbauunternehmen, Stahlwerke und hochproduktive Bauern und kleine Einzelhändler, die Subventions- und Schutzforderungen stellten, immer wieder die hohe Qualität und Effizienz ihrer Leistungen, den Stand ihrer Technik und die hohen Mühen und Anstrengungen in den Vordergrund gestellt. Ihre Position war jeweils aus ihrer eigenen Erfahrung begründet. Doch ihre Argumente waren nicht ausreichend. Der Wettbewerb demonstrierte jeweils: andere konnten Leistungen besser und billiger produzieren oder qualitativ hochwertigere Produkte herstellen. Die eigenen Anstrengungen und Mühen sind keine Garantie für ausreichende Qualität und Effektivität. Qualitäts- und Leistungssteigerung sowie höhere Wirksamkeit bleiben eine Daueranforderung. Jahr für Jahr und Tag für Tag müssen in kleinen Schritten Verbesserungen realisiert werden. Stillstand ist Rückschritt. Was für den privaten Sektor gilt, wo Wettbewerb ständig höhere Leistungen erzwingt, muß in anderer Form auch im öffentlichen Sektor erreicht werden. Leistung, Qualitätskontrolle, Qualitätssteigerung oder auch Effektivitätssteigerung politischer Maßnahmen: das sind die Ziele und Schlagworte, die in Zukunft stärker in den Vordergrund gestellt werden sollten. Nachdem die ideologischen Rechts-/Linksdebatten und die fruchtlosen Diskussionen über die Staatsquote allmählich abflauen, sollte gerade die SPD sich stärker um eine eindeutige inhaltliche Auseinandersetzung um die Qualität und Effektivität der Staatsleistungen bemühen. Die Sozialdemokraten stehen nämlich vor einem Dilemma. Ohne den Staat und einen leistungsfähigen Staatsapparat ist eine aktive Reformstrategie niemals möglich. Doch mit dem Staat, den wir haben, verkrüppeln Reformstrategien allzu leicht schon im Keim, überwuchern Nebenwirkungen die intendierten Hauptwirkungen, entstehen aus guten Motiven wegen weitverbreiteter technokratischer Ignoranz in der Politik konträre Wirkungen.

Die CDU tut sich da leichter. Sie kann in der öffentlichen Diskussion Punkte sammeln, indem sie verspricht, den Staatssektor klein zu halten. Dabei zeigt sich, daß selbst Thatcher-England unter Hinnahme enormer politischer Konflikte die Staatsquote nur um einige Prozentpunkte senken konnte. Staatsquoten-Debatten sind offensichtlich ein weitgehend irrelevantes Feld der Politik. Die relevante Frage, wie der Staat inhaltlich umgestaltet, effizienter, humaner und transparenter organisiert werden kann, wird demgegenüber kaum angegangen. Strukturreformen bedeuten Auseinandersetzung mit den Details staatlicher Steuerung, Lenkung und Finanzverwendung. Gerade auf eine solche Auseinandersetzung werden Politiker zu wenig geschult und kaum vorbereitet. Sie werden dafür auch nicht honoriert. Unser System der Auswahl von Politiker-Karrieren folgt anderen Gesetzen und anderen Wertungen. Als Folge von Modetrends schwappen immer wieder Antibürokratie- und Antistaatsattitüden in Wellen durch die öffentliche Diskussion. Dann werden vorübergehend Kommissionen mit hektischen Aktivitäten in die Welt gesetzt, mit dem Ergebnis, daß ohnehin schon stinkende Paragraphenleichen oder sieche Gesetze vereinfacht oder abgeschafft werden. In der Substanz ändert dies an den materiellen Funktionsschwächen des staatlichen Apparates wenig.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1998

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