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TEILDOKUMENT:




IV. DEN ARBEITSMARKT FUNKTIONSTÜCHTIGER MACHEN



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1. Wird Arbeit weniger knapp?

Die Lohnquote sank während der ganzen 80er Jahre stetig ab. Unterbrochen wurde diese Talfahrt nur durch den vorübergehenden Vereinigungsboom. Arbeit wird angesichts der riesigen Arbeitskraftreserven allein in den Ostblockländern auch in Zukunft weniger knapp sein. Internationaler Wettbewerb und Rationalisierungstechniken, die vor allem einfache Tätigkeiten ersetzen, wirken in die gleiche Richtung. Dennoch gilt, daß dieser Prozeß gleichzeitig die Quelle des Wohlstandes und die Ursache für sichere Arbeitsplätze bei mittlerer und hoher Qualifikation bleibt.

Nicht zuletzt als Folge der gestiegenen Arbeitslosigkeit haben die Ungleichheiten der Gesellschaft zugenommen. Dabei kam es allerdings, anders als in den USA und in Großbritannien, nicht zu einer dramatischen Lohnspreizung. Es ist wahrscheinlich, daß dies eine Expansion der Arbeitsplätze für niedrigqualifizierte Erwerbstätige behinderte. Die Beobachtung der Arbeitsmärkte zeigt, daß zu den üblicherweise geforderten Preisen keine ausreichende kaufkraftfähige Nachfrage besteht, Entlohnung und ihre Fähigkeiten passen nicht zusammen mit den möglichen Arbeitsfeldern. Ungetane Arbeit und ungesättigter Bedarf erzeugen nicht automatisch Arbeitsplätze. Arbeitsplätze entstehen durch innovative Arbeit, entstehen durch Investitionen und entstehen dadurch, daß Nachfrager vorhanden sind, die die auf diesen Arbeitsplätzen erzeugten Leistungen zu den angebotenen Preisen auch übernehmen.

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2. Das Ausmaß des Anpassungsbedarfs wird unterschätzt

Die seit Jahren über alle Konjunkturzyklen hinweg gestiegene Sockelarbeitslosigkeit bei gleichzeitig ganzen Serien von erfolglosen Programmen und Maßnahmen, die Arbeitsplätze schaffen sollten, zeigt, wie schwierig der Rückweg zur Vollbeschäftigung ist.

In der gegenwärtigen Diskussion dominiert die Hypothese, daß hohe Lohnkosten die Arbeitslosigkeit steigern, u.a. weil dadurch der Anreiz zunimmt, Arbeitsplätze durch Direktinvestitionen oder durch Verlagerung von Aufträgen ins Ausland zu exportieren. Hier sei daran erinnert, daß die Bundesrepublik auch in den 60er Jahren genauso Arbeitsplätze exportierte wie heute. Das Schrumpfen der Textilindustrie war Zeichen dieser Entwicklung. Der Unterschied zu den 90er Jahren besteht darin, daß Porsche und Siemens, Daimler oder VW, die heute von Wales bis Newcastle, von Krakau bis Alabama investieren, dort Arbeitsplätze schaffen, die dringend in Duisburg oder Leipzig gebraucht werden. Der Arbeitsplatzexport vergrößert ein unerträgliches Problem. Diese Entwicklung ist Zeichen eines tiefen Widerspruchs und einer fundamentalen Störung, denn bei hohem Investitionsmangel in der Bundesrepublik nehmen die Direktinvestitionen im Ausland seit einigen Jahren wieder zu. Die deutsche Konjunktur findet z. T. in Spanien und in Asien statt. Schließlich steht die Entwicklung der Arbeitsteilung mit Osteuropa erst am Anfang.

Diese Dimensionen der Veränderung erfordern mehr Anpassungen und Verhaltensänderungen als bisher praktiziert oder diskutiert. Natürlich bleiben Verteilungsthemen auf der Tagesordnung, doch wird es in Zukunft relativ irrelevant sein, ob ein Prozent mehr oder weniger in einer Tarifrunde erwirtschaftet wird. Viel wichtiger sind die Beiträge der Arbeitnehmer in jedem einzelnen Unternehmen, Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und produktivitätssteigernde Maßnahmen zu realisieren. Auch um den Preis, daß dabei weniger Arbeitsplätze bestehen bleiben als vorher.

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3. Mehr Wachstum für mehr Arbeitsplätze?

Die Frage 'Mehr Wachstum als Voraussetzung für Vollbeschäftigung?' hat nach wie vor eine zentrale Bedeutung, weil gleichzeitig die Befürchtung besteht, daß mehr Wachstum Umweltbelastungen hervorruft. Im Hinblick auf Mehrbeschäftigung oder gar Vollbeschäftigung bleibt festzuhalten: Jeder Weg zurück zur Vollbeschäftigung wird ein hohes Wirtschaftswachstum und einen raschen Strukturwandel hervorrufen. Beides muß organisiert und auch bewußt gewollt werden. Die immer wieder aufgestellte Behauptung, Wachstum führe nicht automatisch zu mehr Beschäftigung, zeigt ein tiefes Mißverständnis, denn es gilt: Eine wachsende Zahl von Arbeitsplätzen wird nur nach einem riesigen Investitionsprozeß möglich sein. Die erforderlichen Unternehmen oder ihre Expansionsentscheidungen werden nur entstehen, wenn günstige Investitionschancen auf der Basis von Innovationen und der Entwicklung neuer Märkte bestehen. Wer Vollbeschäftigung will, muß deshalb Wachstumshindernisse beseitigen und muß wirtschaftliches Wachstum wollen, wobei natürlich die zentralen ökologischen Ziele gleichzeitig erreicht werden müssen und auch erreicht werden können.

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4. Es gibt keinen Königsweg zurück zur Vollbeschäftigung



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4.1. Auf der Suche nach einer Vollbeschäftigungspolitik?

Sicher ist nach den Erfahrungen der 70er und frühen 90er Jahren nur, daß defizit-finanzierte Nachfrageprogramme, die gegen langfristige, strukturelle Arbeitslosigkeit eingesetzt werden, meist in Preissteigerungen enden und die sich akkumulierenden Defizite mit ihren Abgabenfolgen mittelfristig ihre eigenen Konjunkturfeuer wieder ersticken. Langfristige Vollbeschäftigungspolitik ist Angebotspolitik. Das Konzept einer beschäftigungsfördernden Angebotspolitik von links steht noch aus. Dabei ist allerdings zuzugeben, daß die Ökonomen die Bedingungen von Vollbeschäftigung nicht oder nur sehr grob angeben können. Sie befinden sich in der Rolle derer, die das Ziel beschreiben können, den Weg dahin aber nur als vage Richtungsanzeige. Dennoch lassen sich allgemeine Regeln formulieren, welche Maßnahmen wahrscheinlich beschäftigungssteigernde Effekte haben.

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4.2. Angleichung von Produktivität und Lohnstückkosten

Als Grundregel gilt, daß Lohnniveau und Lohnstrukturen dem Produktivitätsniveau und den Produktivitätsrelationen entsprechen müssen. Gravierende Abweichungen führen zu Unterbeschäftigungen. Besonders deutlich wird dies bei der großen Zahl unterqualifizierter Arbeitsloser und gleichzeitig hoher Bruttolohnkosten, durch die eine Lücke zwischen individueller Produktivität und Lohnkosten entsteht. Solange Arbeitslosigkeit besteht, ruft die Mehrbeschäftigung keine volkswirtschaftlichen Kosten hervor, wohl aber drastische private Kosten bei den nachfragenden Unternehmen. Diese Lücke zwischen volkswirtschaftlichen und privatwirtschaftlichen Kosten der Mehrbeschäftigung ist zu groß geworden.

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4.3. Arbeitslose sind auf expansive Unternehmen angewiesen

Arbeitslose sind in den seltensten Fällen in der Lage, ihre eigene Arbeitsplätze zu schaffen. Sie brauchen Unternehmen und Unternehmer, die neue Märkte erschließen und entwickeln. Arbeitslosigkeit geht auch auf Mangel an Unternehmerleistungen, auf zu geringe Gründungsbereitschaft und hohe Gründungshindernisse zurück. Mehr als alle anderen sind Arbeitslose auf Unternehmensgründungen oder expansive Unternehmen angewiesen. Gewerkschaften und Arbeitslose müssen in der ersten Reihe stehen, wenn Forderungen nach Gründungs- und Expansionserleichterungen von Unternehmen gestellt werden.

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4.4. Flexible, gewinnabhängige Löhne?

Durch stärker gewinnabhängige Lohnbestandteile könnten Löhne und Gehälter im Konjunkturzyklus stärker schwanken. Dies würde das Arbeitsplatzrisiko z. T. durch ein Einkommensrisiko ersetzen, gegen das sich der einzelne durch entsprechendes antizyklisches Sparen absichern könnte.

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4.5. Die Qualifizierung - die wichtigste Voraussetzung zum Abbau von Arbeitslosigkeit

Deshalb haben bessere Ausbildung und Qualifizierung die mit Abstand größte Bedeutung. Hier muß schon bei den Schulabschlüssen angesetzt werden. 20% Ausländerkinder ohne Hauptschulabschluß sind zu viel. Es entstehen Arbeitsplatzrisiken, wiederholte Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit von Sozialhilfe und Altersarmut. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Unterausbildung sind dramatisch. Ausbildungs- und Qualifizierungsinvestitionen zugunsten niedrig qualifizierter Arbeitskräfte erbringen nach Kalkulationen der Weltbank eine höhere volkswirtschaftliche Rendite als eine weitere Überakademisierung mit zu langen Studiengängen. Das zehnte bis zwölfte Semester ist weniger wichtig als ein zusätzliches Jahr für einen Hauptschulabschluß. Falls die privaten beruflichen Ausbildungsleistungen zu niedrig bleiben, wären notfalls Umlagesysteme zur Finanzierung erhöhter Berufsausbildung zu schaffen. Die Arbeitsverwaltung konzentriert sich zu sehr auf Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen für Dauerarbeitslose, um ihre Wiederbeschäftgungschancen zu erhöhen. Hierbei entsteht eine erhebliche Verschwendung. Wirksamer dürfte es wahrscheinlich sein, die inneren Arbeitsmärkte der Unternehmen besser zu entwickeln. Das heißt, motivierte, unterqualifizierte Beschäftigte in den einzelnen Betrieben so zu fördern, daß sie für höher qualifizierte Beschäftigung geeignet sind. Die freiwerdenden Arbeitsplätze könnten dann am Markt denen angeboten werden, die nur über niedrige Qualifikationen verfügen. Die Effizienz von Umschulung und Fortbildung Erde dadurch steigen. Voraussetzung wäre allerdings eine bewußte und systematische Förderung der Mitarbeiter durch alle Unternehmen.

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4.6. Zu wenig Berufsausbildung erzeugt die Arbeitslosigkeit von morgen

Die schrumpfenden Ausbildungsleistungen der letzten Jahre sind ein Alarmsignal. Allerdings hilft es wenig, die Unternehmen mit moralischen Vorwürfen zu überhäufen. Man muß zur Kenntnis nehmen, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen des Wettbewerbs Ausbildungsleistungen für die Unternehmen zu teuer geworden sind und ihre Rentabilität gesunken ist. Die Lösung kann nur lauten, die ökonomischen Bedingungen für Ausbildungsleistungen zu verbessern und damit auch den Lebensstandard und die Arbeitsplatzsicherheit für (hochqualifizierte) Arbeitnehmer in Deutschland zu erhöhen. Dies erfordert einmal, daß Ausbildungs- und Qualifikationsunterschiede zu größeren Einkommens- und Lohndifferenzen führen. Es kann auch bedeuten, daß die Einkommen der Auszubildenden relativ zu den Löhnen der Ausgebildeten abgesenkt werden. Es liegt auf der Hand, daß solche Veränderungen die Ausbildung wieder attraktiver machen würden, aber nur mit erheblichen Schwierigkeiten realisierbar sind. Falls eine solche Anpassung der Preisrelationen nicht möglich ist, bleibt nur der Weg der Belastung der Unternehmen, die keine oder zu wenig Ausbildungsleistungen erbringen, mit Abgaben, um daraus Zuschüsse für ausbildungswillige Unternehmen zu leisten.

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5. Bringen Humandienste ausreichendes Beschäftigungswachstum?



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5.1. Hohe Bruttolohnkosten erschweren Beschäftigungsexpansion bei einfachen Dienstleistungen

Eine einfache ökonomische Logik sagt, daß die Beschäftigung dort steigen wird, wo geringe Rationalisierungsmöglichkeiten bestehen und die Nachfrage mit wachsendem Einkommen steigt. Das sind einmal die "Humandienste", aber auch Bereiche der komplexen Steuerungsaufgabe von der Planung über das Marketing bis hin zu Werbung. Bei den hochwertigen Dienstleistungen muß man sich um die Beschäftigungsexpansion keine Sorgen machen. Probleme entstehen bei der Expansion von Dienstleistungen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen im No- und Low-Tech-Bereich. Hier behindern die wachsenden Sozialabgaben und damit die hohen Bruttolohnkosten eine Beschäftigungsexpansion, insbesondere dort, wo Nachfrager Dienstleistungen aus Nettoeinkommen kaufen müssen. Eine Expansion im Dienstleistungsbereich, insbesondere bei persönlichen Dienstleistungen, setzt ein relatives Absenken der Bruttolöhne voraus, damit die Nachfrager die Arbeitskosten tragen können.

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5.2. Globale Lohnkostensenkung wird in der Auswirkung überschätzt

Man darf die Wirkung eines im internationalen Vergleich relativen Rückgangs der Lohnkosten allerdings nicht überschätzen. Eine allgemeine Senkung der Lohnkosten verändert die Nachfragebedingungen auf den einzelnen Arbeitsmärkten nicht. Finanziert durch eine Erhöhung von Ressourcensteuern, hat sie auch zur Folge, daß die Arbeitnehmer in individuellen und kollektiven Lohnverhandlungen ihre neuentstandenen Lohnerhöhungsspielräume soweit wie möglich für Einkommenssteigerungen ausnutzen wollen. D. h., es kommt nur zu einem Teil zu Beschäftigungseffekten. Beschäftigungseffekte bleiben dort aus, wo das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften weitgehend starr und kurzfristig nicht vermehrbar ist. Deshalb werden die sinkenden Bruttolohnkosten zu einem Teil lediglich zu steigenden Arbeitseinkommen führen.

Gleichzeitig werden die Öko-Abgaben in verschiedenen Wirtschaftszweigen zu Kostensteigerungen, Preiserhöhungen und damit zu eher schrumpfenden Märkten mit entsprechender Beschäftigungsverringerung führen. Sollen dauerhafte Effekte entstehen, dann müssen die realen Preise der knappen Ressourcen Jahr für Jahr verteuert werden, um einen dauerhaften Strukturwandel anzuregen. Hier bleibt daran zu erinnern, daß Arbeitslosigkeit zu einem erheblichen Teil aus nicht bewältigtem Strukturwandel entstanden ist. Es ist völlig offen, in welchem Umfang eine politisch herbeigeführte, ständige relative Verteuerung von Ressourcen zu dauernden Beschäftigungseffekten führt. Der dadurch ausgelöste Strukturwandel kann genauso wie der Strukturwandel bei Bergbau, Kohle und Stahl auch zu Arbeitslosigkeit führen.

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5.3. Senkung der Bruttolohnkosten für untere Lohngruppen kann Beschäftigung steigern

Das Konzept einer pauschalen Absenkung aller Arbeitskosten geht z. T. an dem Problem vorbei, da die Arbeitslosigkeit auf bestimmte Segmente des Arbeitsmarktes konzentriert ist. Es erscheint wirksamer, Strategien zur Absenkung der Bruttolohnkosten in Bereichen der hohen Arbeitslosigkeit bei niedrigqualifizierten Arbeitskräften einzusetzen. Dauerarbeitslose sollten z. B. verpflichtet werden, entweder eine Umschulung vorzunehmen oder sehr niedrig bezahlte Arbeit anzunehmen. Um das Absinken des Einkommens unter ein Existenzminimum bzw. auf unzumutbare Niveaus zu vermeiden, könnten zusätzliche Transfers in einer Höhe gezahlt werden, die ein Einkommen oberhalb der Sozialhilfe erlauben. Dieser immer wieder vorgetragene Vorschlag hätte den Vorteil, daß die Bereiche mit hoher struktureller Arbeitslosigkeit gezielter angegangen würden. So könnte ein erheblicher Nettobeschäftigungseffekt entstehen.

Eine Erfolgsvoraussetzung für solche Maßnahmen wäre eine Strategie der Gewerkschaften, die darauf verzichtet, durch Sockelanhebungen in Tarifverhandlungen ein möglichst großes Maß an Gleichheit bei den Lohnbeziehern zu erreichen. Angesichts der immer weiter aufgefächerten Qualifikationsniveaus erfordert Vollbeschäftigung auch entsprechend aufgefächerte Lohnniveaus und damit ein höheres Maß an Ungleichheit. Eine Lohnstruktur, die zu erheblicher Mehrbeschäftigung führt, ruft wahrscheinlich eine gesellschaftspolitisch kaum tolerable Ungleichheit hervor. Angesichts dieses Zielkonflikts bzw. gesellschaftspolitischen Patts bleibt nur der Weg durch dauerhafte Transfers oder Entlastung der Bruttolohnkosten bei niedrigqualifizierten Arbeitskräften ein akzeptables Maß an Ungleichheit in den Nettoeinkommen herbeizuführen. Über den Lohnbildungsprozeß ist eine erwünschte Gleichheit in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr möglich - es sei denn, es gelingt, durch massive Qualifizierungsmaßnahmen Ungleichheit in der Produktivität zu vermeiden und durch eine expansive und innovative Wirtschaftspolitik auch eine entsprechende Zahl von Arbeitsplätzen für die höherqualifizierten Erwerbstätigen zu schaffen.

Bisher drücken sich Gewerkschaften und Politik an den Konsequenzen dieses gesellschaftlichen Patts vorbei. Die Märkte sind unter dem Druck der Verhältnisse unsozialer geworden. Dieser Realität kann man sich nicht verweigern, weil die wachsende Arbeitslosigkeit in jedem Fall schwerer zu ertragen ist als eine wachsende Ungleichheit bei den Bruttolohnkosten, die mit politischen Maßnahmen z. T. wieder kompensiert werden kann.

Unabhängig von dieser, vor allem auf den Dienstleistungssektor bezogene Argumentation, bleibt der richtige Satz "manufacturing matters", d. h.: Wirtschaftliche Entwicklung braucht im Kern einen leistungsfähigen, innovativen und, was die Wertschöpfung und die Märkte angeht, expansiven Industriesektor. Gerade für die Bundesrepublik als traditionellem Fertigungsland muß man eher sagen: "manufacturing matters more". Deshalb bleibt Voraussetzung einer befriedigenden Arbeitsmarktentwicklung eine Industriepolitik, die die klassischen Stärken der deutschen Wirtschaftsentwicklung fördert und pflegt. Von der Ausbildung über die steuerlichen Belastungen bis hin zu Fortbildung um Umschulung reichen die Maßnahmen. Sie gehen weit über eine bloße Arbeitsmarktpolitik hinaus.

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6. Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsmarkt - Können wir uns Arbeitszeitverkürzung leisten?

Hohe pauschale Arbeitszeitverkürzungen waren in den 60er Jahren ein Ergebnis wachsenden Wohlstands. Bei höherem Einkommen wollten die Erwerbstätigen ganz einfach mehr Zeit, um dieses Einkommen (zusammen mit der Familie) konsumieren zu können. Mit der Verlangsamung des Wachstums verringerte sich die Arbeitszeitverkürzung ganz konsequent. Aus Untennehmersicht hat mit steigender Kapitalintensität und mit schwieriger werdenden Produktionsprozessen die Bedeutung langer Maschinenlaufzeiten und/oder möglichst kontinuierlicher Produktionsprozesse ständig zugenommen. Starre Arbeitszeiten sind im Zeitablauf ständig teurer geworden. Dementsprechend nimmt die Forderung nach Flexibilisierung bei gleichzeitiger Verkürzung zu, wobei die allgemeine Arbeitszeitverkürzung ganz anders zu beurteilen ist als Flexibilisierung. Sie liegt auch im Interesse der Arbeitnehmer und der Volkswirtschaft insgesamt, weil eine bessere Kapitalstocknutzung Einkommens- und Wohlstandseffekte für die gesamte Gesellschaft erbringt. Hier ist zu berücksichtigen, daß auf Märkten für Hochqualifizierte schon heute eher ein Mangel besteht. Nach wie vor gilt: Arbeit entsteht aus innovativer Arbeit. In vielen Engpaßbereichen müssen und werden auch in Zukunft ständig Überstunden geleistet werden. Schließlich dürfte der Wert der Arbeit von den meisten unterschätzt werden, weil von 100 DM Bruttolohnkosten nur rd. 37 DM (Albach) als verfügbares Einkommen beim Arbeitnehmer verbleiben. Die Arbeitnehmer sehen vor allem den Nettolohn und vergleichen diesen mit ihrem Bedürfnis nach mehr Freizeit. Die Unternehmer sehen ihr Interesse nach Ausweitung der Maschinenlaufzeiten. Beide Tarifpartner übersehen wahrscheinlich, in welchem Umfang Arbeit mehr erwirtschaftet als Löhne. Arbeit erwirtschaftet Rentenansprüche, Beiträge zum Gesundheitssystem, Steuern und Abgaben zur Finanzierung öffentlicher Leistungen. Arbeitszeitverkürzung führt zu erhöhten Steuern und Abgaben, weil der Staat als Anbieter von Dienstleistungen in vielen Bereichen keinen arbeitssparenden technischen Fortschritt realisiert mit dem Ergebnis, daß dort die gleiche Arbeit bei Arbeitszeitverkürzung nur mit mehr Personen erbracht werden kamt. Es wäre fatal, wenn die Tarifpartner sich bei Entscheidungen über Arbeitszeitverkürzungen zu Lasten der Zukunft und der Allgemeinheit einigen würden.

Unabhängig davon führt Arbeitszeitverkürzung nur dort zur Mehrbeschäftigung, wo homogene Arbeit relativ einfach substituiert werden kann und wo Arbeitslosigkeit regional relativ gleichmäßig auftritt. Arbeitszeitverkürzung als Arbeitsrationienung ruft Vermeidungs- und Ausweichreaktionen hervor und ist deshalb keine visionäre Perspektive. Wie in vielen anderen Bereichen auch, werden guten Motiven allzu leicht gute Ergebnisse unterstellt. Arbeitszeitverkürzungen dürften in der wirtschaftspolitischen Diskussion in ihren Auswirkungen auf die Beschäftigung weithin überschätzt werden. Vor diesem Hintergrund dürften Arbeitszeitverkürzungen - bedenkt man die Folgelasten - auf absehbare Zeit zu teuer sein. Das Mehr an Freizeit wäre mit einem zu hohen Preis erkauft.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

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