Nepal: Die Entwicklungen vor dem Bruch des Waffenstillstands


von Dr. Karl-Heinz Krämer,
Deutsch-Nepalische Gesellschaft e. V.

Am 27. August haben die Maoisten den Waffenstillstand aufgekündigt. Die nächsten Tage sahen gewalttätige Überfälle der Maoisten auf Soldaten, Politiker und Banken. Armee und Polizei reagierten mit massiven Sicherheitsvorkehrungen und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Die politische Situation Nepals verschlechterte sich rasant. Vor dem Bruch des Waffenstillstands hat Dr. Karl-Heinz Krämer die folgende Analyse der politischen Lage verfasst. Sie macht deutlich, dass der Friedensprozess schon schon vor dem Bruch des Waffenstillstands kaum noch Dynamik hatte.

Mitten im Monsun hat sich die Krise in Nepal wieder verschärft. Die zweite von König Gyanendra eingesetzte Regierung, diesmal mit Surya Bahadur Thapa als Premierminister findet genauso wenig Unterstützung durch andere Parteien (nicht einmal durch die eigene) wie die seines Vorgängers.

Seit dem erneuten Regierungswechsel stagniert der Friedensprozess, während Zusammenstöße zwischen Maoisten und Sicherheitskräften landesweit zunehmen, insbesondere im westlichen Bergland. Zwar haben nach einigem Gerangel Regierung und Maoisten ihre Bereitschaft zur Fortsetzung des Dialogs erklärt, doch ist eine Linie, die Fortschritte verspricht, nicht in Sicht. Auch amerikanische und indische Stellungnahmen gefährden eher den Friedensprozess anstatt ihn zu fördern, weil sie die Fortsetzung des Dialogs in Frage stellen. Ohne eine direkte Beteiligung der Parteien (die lieber auf den Straßen gegen die Machtergreifung des Königs demonstrieren als der Chance auf Frieden Vorrang vor allem anderen einzuräumen) und des Königs (der allen Erklärung zum Trotz keine Anstalten unternimmt, auf den Boden der Verfassung zurückzukehren) ist ein dauerhafter Friede nicht möglich.

Seit Ende Mai 2002, also schon weit über ein Jahr, ist die 1990/91 eingeführte Demokratie am Ende. Nur König Gyanendra, die von ihm eingesetzte Regierung und Befürworter eines direkten königlichen Systems sprechen von einem Fortbestand von Demokratie und konstitutioneller Monarchie. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Missbrauch der Verfassung, Vetternwirtschaft und Korruption durch die gewählten Parteipolitiker seit 1991; in vielen Gegenden des Landes seit Jahren keine staatliche Repräsentanz wegen des maoistischen Aufstands; keine gewählten Vertreter auf nationaler Ebene seit Mai 2002; keine lokalen Volksrepräsentanten seit Juli 2002; keine demokratisch gewählte und einem Parlament gegenüber verantwortliche Regierung seit Oktober 2002; exekutive Macht und Souveränität in den Händen des Königs seit Oktober 2002; keine Nationalversammlung (Oberhaus des Parlaments), seit im Mai 2003 turnusmäßige Nachwahlen von einem Drittel seiner Mitglieder wegen des aufgelösten Repräsentantenhauses und der fehlenden lokalen Gremien nicht mehr möglich waren; kein Anzeichen einer Rückkehr zur Demokratie in Sicht. Nepal, quo vadis?
 
Der Friedensprozess

Als König Gyanendra am 11. Oktober 2002 eine Regierung unter Premierminister Lokendra Bahadur Chand einsetzte, gab er ihr drei konkrete Aufgaben: Eine möglichst umfassende Beteiligung der politischen Parteien an der Regierung, die Einleitung eines Friedensprozesses mit den maoistischen Aufständischen und die Durchführung der auf unbestimmte Zeit verschobenen Parlamentswahlen. Hinsichtlich des ersten Punktes ist Chand kläglich gescheitert; alle Parteien verweigerten eine Kooperation mit der Chand-Regierung, die sie als illegitim ansahen. Selbst Chands eigene Partei, die Rastriya Prajatantra Party (RPP, National Democratic Party) verhielt sich äußerst distanziert. Das gleiche Negativurteil gilt für den Versuch einer Redemokratisierung mittels Parlamentswahlen. Es war eine Folge der völligen Blockade der Regierung durch die Parteien, dass die Chand-Regierung an Parlamentswahlen nicht einmal denken konnte.

Die einzige positive Maßnahme der Chand-Regierung blieb ein Friedensschluss mit den Maoisten, der am 29.01.2003 nach anderthalb Monate dauernden geheimen Gesprächen des Ministers für Raumordnung und öffentliche Arbeiten, Narayan Singh Pun, mit den Führern der Maoisten getroffen wurde. Hiermit fand das Land nach Jahren endlich wieder zu einer relativen Ordnung und Ruhe zurück. Die Erleichterung in der allgemeinen Öffentlichkeit war groß. Ein weiteres hoffnungsvolles Zeichen war, dass sich Regierung und Maoisten am 13. März auf einen 22 Punkte umfassenden Verhaltenskodex für die Zeit der geplanten Friedensverhandlungen einigten, der schriftlich fixiert wurde. Das Fehlen einer derartigen schriftlichen Vereinbarung war 2001 als einer der großen Mängel der damaligen erfolglosen Gespräche genannt worden.

In der Folgezeit wurden Verhandlungen mit dem Ziel eines dauerhaften Friedensschlusses vorbereitete. Die Maoisten nominierten bereits frühzeitig ein fünfköpfiges Verhandlungsteam unter Leitung ihres Chefideologen Dr. Baburam Bhattarai, das sich am 29.03.2003 erstmals in der Öffentlichkeit präsentierte. Die übrigen Mitglieder waren Ram Bahadur Thapa (alias Genosse Badal), Krishna Bahadur Mahara, Matrika Yadav und Dev Gurung. Positiv an der Zusammensetzung dieses Teams war die Einbindung von Thapa, dem militärischen Chef der Maoisten, der als Kopf ihres besonders radikalen Flügels gilt. Negativ fiel auf, dass einmal mehr auch bei den Maoisten die hohen Hindukasten dominierten; Frauen gehörten dem Team nicht an, obgleich der Anteil der Frauen in den Reihen der Maoisten sehr hoch sein soll.

Die Regierung ließ sich bis zum 16. April Zeit, ehe sie ihrerseits ein Verhandlungsteam benannte, das unter Leitung des stellvertretenden Premierministers Badri Prasad Mandal stand und dem neben dem Initiator des Dialogs, Narayan Singh Pun, noch die Minister Ramesh Nath Pandey, Dr. Upendra Devkota, Kamal Chaulagain und Frau Anuradha Koirala angehörten, abgesehen von Mandal und Pun allesamt Brahmanen.

Das erste formelle Treffen der beiden Teams fand am 27. April im Hotel Shankar in Kathmandu statt. Hierbei einigte man sich auf die Einbeziehung von vier Vermittlern, die für eine bessere Transparenz bei den Verhandlungen sorgen sollten. Padma Ratna Tuladhar und Daman Nath Dhungana, letzterer war 1991 nach den ersten Wahlen Parlamentssprecher, hatten schon bei den Verhandlungen von 2001 diese Funktion wahrgenommen und wurden nun erneut von den Maoisten vorgeschlagen. Zu ihnen gesellten sich auf Vorschlag der Regierung noch Karna Dhoj Adhikari und der frühere Außenminister Shailendra Kumar Upadhyaya.

Während die Regierung keine Vorschläge einbrachte, präsentierten die Maoisten ihre Agenda, in der die Anfang 1996 zu Beginn des Konflikts gestellten 40 Forderungen auf nunmehr 24 reduziert wurden. In den Mittelpunkt rückten sie dabei die Verfassung, die sie als quasi tot bezeichneten. Es müsse daher über eine neue Verfassung verhandelt werden, die durch eine gewählte verfassunggebende Versammlung entworfen werden sollte.

Eine weitere wichtige Forderung war die nach einer Roundtable-Konferenz, die eine Übergangsregierung unter Führung der Maoisten und eine Übergangsverfassung beschließen sollte. Letztere sollte die absolute Souveränität des Volkes zum Ausdruck bringen. Alle Teile dieser Übergangsverfassung sollten mit einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments oder durch ein Referendum veränderbar sein. Weitere wesentliche Forderungen betrafen strukturelle Veränderungen der Royal Nepalese Army, eine Integration der maoistischen Volksbefreiungsarmee in die nationale Armee, die Ersetzung des Hindu-Königreichs durch einen säkularen Staat (wobei die Frage nach der Zukunft der Monarchie bewusst offengelassen wurde), die Festlegung der Rechte auf Bildung, Gesundheit und Beschäftigung als Grundrechte und eine Änderung des Landbesitzrechts unter Aufwertung der Rechte der Bebauer des Landes. Mit Blick auf die zunehmende amerikanische Intervention forderten die Maoisten ferner einen sofortigen Stop ausländischer Militärpräsenz, -beratung und -hilfe. Auch Indien fand besondere Beachtung in der maoistischen Agenda. So forderte man eine Regulierung der offenen Grenze zwischen Indien und Nepal, eine Schließung der Rekrutierungszentren für Gurkha-Söldner und eine Beendigung ausländischen (d.h. hier indischen) Monopols im wirtschaftlichen Bereich sowie ein Ende der ausländischen Intervention im Namen von NGOs und INGOs.

Eine zweite Verhandlungsrunde zwischen Regierung und Maoisten fand am 8. Mai in Kathmandu statt. Die Regierung hatte zuvor eine klare Stellungnahme in Bezug auf die von den Maoisten vorgelegte Agenda angekündigt. Inwieweit dies tatsächlich erfolgte, wurde bei den anschließenden Pressekonferenzen nicht ganz deutlich. Die Vermittler Tuladhar und Dhungana äußerten sich pessimistisch auf die Frage nach erkennbaren Verhandlungsfortschritten. Offiziell hieß es lediglich, dass die Regierung um Zeitaufschub hinsichtlich ihrer Stellungnahme zu den maoistischen Forderungen gebeten habe. Außerdem sagte die Regierung die Freilassung einiger inhaftierter maoistischer Führer zu. Man bestätigte ferner, dass sich die Armee nur noch im Umkreis von fünf Kilometern von ihren Stützpunkten bewegen sollte. Dies war eine der wesentlichen Forderungen der Maoisten gewesen.
Die unbefriedigende Umsetzung des 22punktigen Verhaltenskodexes kam in der zweiten Verhandlungsrunde ebenfalls zur Sprache. Hier vereinbarten beide Seiten die Bildung eines 13köpfigen Beobachterteams unter Leitung eines Mitglieds der National Human Rights Commission (NHRC).

Die einschneidendste Kritik am Ergebnis der zweiten Verhandlungsrunde kam vom der Armee, deren Generäle offen erklärten, dass sie eine Bewegungsbeschränkung der Truppen nicht hinnehmen würden. Sie fanden dabei offensichtlich Unterstützung durch einige Mitglieder des Kabinetts, was den Beginn einer größeren Regierungskrise bedeutet. Die Maoisten nahmen die Kritik der Armeeführung ernst, betonten die enge Bindung zwischen Militär und Monarchie und sprachen gar von einer sich anbahnenden Militärherrschaft im Namen der Monarchie (Kathmandu Post, 13.05.2003). Sie forderten insbesondere den Ausschluss von Pandey aus dem Verhandlungsteam der Regierung, weil dieser öffentlich erklärt hatte, es habe keine Vereinbarung mit den Maoisten hinsichtlich der Bewegungsfreiheit der Armee gegeben (Kathmandu Post, 16.05.2003), was jedoch von Pun bestätigt wurde (Himalayan Times, 17.05.2003). Doch auch eine weitere Vereinbarung der zweiten Verhandlungsrunde, die Freilassung inhaftierter maoistischer Führer, verzögerte sich zum Unmut der Maoisten. Schließlich beschuldigte Dr. Baburam Bhattarai die Chand-Regierung offen der Selbstherrlichkeit und bekundete Sympathien für die seit Wochen auf den Straßen gegen die königliche Machtergreifung demonstrierenden Parteien, die ihrerseits eine ihnen von der Regierung wiederholt angebotene Beteiligung an den Friedensverhandlungen stets abgelehnt hatten.

Premierminister Chand war zunächst um Schadensbegrenzung bemüht und strebte angesichts der harschen Kritik des Militärs eine größere Regierungsumbildung an. Das Zögern hinsichtlich der Erfüllung der mit den Maoisten getroffenen Vereinbarungen lässt vermuten, dass er längst zwischen allen Stühlen saß. Der offene Widerstand der Generäle muss angesichts der traditionellen Loyalität der Armee gegenüber der Monarchie den Segen des Königs gehabt haben. Damit war Chand auch mit seinem letzten Auftrag des Königs gescheitert: Er konnte den Friedensprozess nicht fortführen. Die logische Konsequenz war sein Rücktritt vom Amt des Premierministers, der am 30.05.2003 erfolgte. Diese Entwicklung dürfte durch die sich abzeichnende Annäherung zwischen Maoisten und demonstrierenden Parteien noch forciert worden sein.

In den folgenden Tagen wiederholte sich das Schauspiel. das bereits der Nominierung Chands vorausgegangen war. Wieder forderte König Gyanendra die politischen Parteien auf, einen Kandidaten für die Nachfolge Chands vorzuschlagen. Anders als im Oktober 2002 traten diesmal die führenden Parteien geschlossen auf und empfahlen die Ernennung von Madhav Kumar Nepal, dem Generalsekretär der CPN-UML, zum Übergangspremierminister. Doch wieder missachtete der König den Vorschlag der Parteien und ernannte erneut einen bekannt konservativen Politiker zum Premierminister. Thapa ist quasi das Symbol der Panchayat-Zeit. Niemand sonst war länger Premierminister bzw. Vorsitzender des Ministerrats, wie das Amt bis Mitte der sechziger Jahre noch hieß.

Der neue Premierminister sah sich mit den gleichen Problemen konfrontiert wie sein Vorgänger. Auch jetzt verweigerten die politischen Parteien jegliche Kooperation; selbst aus der eigenen RPP kam Widerstand. Noch schwerwiegender dürfte das Urteil intellektueller Kreise, darunter zahlreicher führender Juristen, gewesen sein, welche die Nominierung Chands im Vorjahr zum Teil noch hingenommen hatten, die aber jetzt die Ernennung Thapas als illegitim bezeichneten.

Der Regierungswechsel bedeutete für den Friedensprozess mit den Maoisten eine weitere monatelange Verzögerung. Zum einen war die Thapa-Regierung wochenlang, wenn auch erfolglos, mit sich selbst beschäftigt. Sodann bedeutete der Wechsel auch, dass alle Verhandlungsführer der Regierung ausgetauscht werden würden. Markant war dabei, dass Thapa, anders als seinerzeit Chand, nicht vom König den besonderen Auftrag erhielt, den Friedensprozess fortzusetzen. Dennoch schrieb sich Thapa dies auf seine Fahnen und benannte bereits am 12. Juni die beiden Minister Dr. Prakash Chandra Lohani und Kamal Thapa als die neuen Unterhändler der Regierung.

Allerdings unternahm die neue Regierung ansonsten wenig, die Vereinbarungen der zweiten Verhandlungsrunde umzusetzen. Unterdessen häuften sich blutige Zusammenstöße zwischen Maoisten und Sicherheitskräften landesweit. Eine Eskalation drohte, nachdem am 17. Juli Sicherheitskräfte das Kontaktbüro der Maoisten in Kathmandu durchsuchten, den Büroleiter verhafteten und stundenlang verhörten (Kathmandu Post, 18.07.2003). Als Reaktion schlossen die Maoisten ihr Büro in Kathmandu. Sie erklärten, sie würden die Thapa-Regierung nur noch als Verhandlungsführer akzeptieren, wenn König Gyanendra selbige offiziell als seinen Vertreter bei den Verhandlungen benennen würde. Mit anderen Worten, die Maoisten wollten nur noch den König als Verhandlungspartner akzeptieren. Gleichzeit kritisierten sie mit deutlichen Worten die Armee, die sie eines provokativen Verhaltens bezichtigten und als „Royal American Army“ bezeichneten. Auch die politischen Parteien kamen unter maoistischen Beschuss, weil sie außer Straßenprotesten keine nennenswerten Vorschläge zur Behebung der jahrhundertealten Missstände unterbreiten würden. (Kathmandu Post, 24.07.2003)

Am 28. Juli erhöhten die Maoisten ihren Druck auf die Regierung und setzten ihr ein Ultimatum zur Erfüllung ihrer diversen Forderungen bis 31. Juli. Erst jetzt lenkte die Regierung ein und entließ einen Tag später einige der maoistischen Führer aus der Haft, die nach der Übereinkunft der zweiten Verhandlungsrunde eigentlich schon anderthalb Monate früher auf freiem Fuß hätten sein sollen.

Nach hartem Ringen einigte man sich schließlich auch auf eine dritte Verhandlungsrunde, die am 17. August in der Nähe von Nepalganj stattfand. Die Regierung ging in diese Gespräche mit dem Versprechen umfangreicher sozio-ökonomischer, aber auch konstitutioneller Änderungen, ging dabei jedoch kaum auf die klaren Forderungen der Maoisten ein. Wesentliche Merkmale der Regierungsagenda waren: Festhalten an der Vielparteiendemokratie, Entwicklung eines partizipatorischen politischen Systems, Chancengleichheit für alle, Beseitigung von gesellschaftlicher Ungleichheit und Ausbeutung, Souveränität des Volkes, konstitutionelle Monarchie als Symbol der Einheit in einem multiethnischen Land, verbessertes Wahlsystem, Stärkung des Regierungssystems, Nationalversammlung (Oberhaus des Parlaments) als proportionales Repräsentationsgremium aller Bevölkerungsgruppen, 25% Reservierungen für Frauen in allen politischen und öffentlichen Bereichen.

Nur wenige dieser Aussagen bedeuteten konkrete Schritte; das meiste war einmal mehr wenig aussagekräftig und sehr interpretationsbedürftig. Die Maoisten waren mit diesen schwammigen Vorschlägen nicht einverstanden und bestanden auf ihrer Grundforderung nach einer konstitutionellen Versammlung. Dr. Baburam Bhattarai erklärte, Gespräche bloß um der Gespräche willen machten keinen Sinn, wenn die Regierung von ihrer politischen Agenda nicht abweichen wolle (Kathmandu Post, 20.08.2003). Damit ist der Friedensprozess zwar noch nicht abgebrochen, er ist jedoch in einer ähnlichen Sackgasse angekommen wie der von 2001 nach der dritten Verhandlungsrunde.

Die Frage der Schuldzuweisung

Die politischen Parteien, die Maoisten und letztlich auch die Monarchie haben den modernen nepalischen Staat in seine größte Krise gesteuert. Die Zukunft des Landes und seiner Menschen steht auf dem Spiel, aber den Personen an den Schalthebeln geht es weiterhin nur um Macht und persönliche Interessen. Konsensfähigkeit, Verständnis für die zahlreichen sozialen und wirtschaftlichen Probleme und zukunftsorientierte Politik unter Einbeziehung und Wahrung der Interessen aller Bevölkerungsgruppen sind ihnen Fremdwörter.

Die teilweise widersprüchlichen Aussagen der Politiker erschweren oft eine ausgewogene Beurteilung der Vorgänge und Standpunkte. Seit dem 4. Oktober 2002 erfolgt ein Machtkampf zwischen drei politischen Playern (König/königliche Regierung, politische Parteien und Maoisten). Auf den ersten Blick erscheinen die politischen Parteien dabei als die großen Verlierer, doch gilt dies zunehmend auch für die Monarchie. Noch nie in der Geschichte Nepals ist die Institution der Monarchie auch nur annähernd derart offen kritisiert worden wie heute, und das nicht nur von politischen Gegnern sondern auch von der Stimme des Volkes. Die Zukunft Nepals liegt in den Händen von König, politischen Parteien, Maoisten und ziviler Gesellschaft. Nachfolgend soll das jüngste Verhalten dieser vier Institutionen daher kurz analysiert werden.#

König Gyanendra

Zunächst einige negative Fakten: Die Maßnahme König Gyanendras vom 4. Oktober 2002 ist nicht durch Artikel 127 der Verfassung gedeckt. Der König ist bei Anwendung dieses Artikels an die Empfehlungen des Premierministers gebunden. Eine Entlassung des letzteren wegen Unfähigkeit, wie von Gyanendra angeführt, sieht die Verfassung nicht vor. Das gleiche gilt für die Bildung einer Regierung aus Königs Gnaden: Die Chand-Regierung hatte ebenso wenig eine Legitimation wie die jetzige Regierung unter Surya Bahadur Thapa. Der König hat bei seinem Vorgehen keine wirkliche Kooperation mit den politischen Parteien gesucht.

Vor der Ernennung Lokendra Bahadur Chands zum Premierminister forderte er zwar die Parteien zu Vorschlägen über eine Regierungsbildung auf, entzog sich aber durch Reisen u.ä. einer Dialogmöglichkeit. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Parteien ihrerseits damals nicht auf eine gemeinsame Linie einigen konnten. Dabei argumentierte der König sehr gerne mit den Stellungnahmen kleiner und völlig unbedeutender Parteien, die bei Wahlen kaum Stimmen, geschweige denn Sitze errungen hatten, jetzt aber mit Forderungen auftraten, die von der Strategie der großen Parteien abwichen. Dieses Schauspiel wiederholte sich nach dem Rücktritt Chands wie bereits oben beschrieben.

Gyanendra bekennt sich zwar zur Wahrung der Demokratie und zur konstitutionellen Monarchie, doch passt sein Handeln nicht zu diesem verbalen Bekenntnis. Schon der Wortlaut seiner Erklärung vom 4. Oktober 2002 und die Art, wie er sich und andere Mitglieder der Königsfamilie seither in der Öffentlichkeit zelebrieren lässt, erinnern allzu sehr an die harte Phase der Panchayat-Zeit in den 60er und 70er Jahren. Allerspätestens seit der Bildung der Thapa-Regierung wird deutlich, dass der König ein aktiver Monarch sein möchte, wie er es bereits unmittelbar nach seiner Thronbesteigung im Juni 2001 ausgesprochen hat. Zunehmend wird klar, dass er darunter ein System versteht, das eine große Ähnlichkeit zum früheren Panchayat-System aufweist, zumindest was die Stellung und Machtfülle des Monarchen anbetrifft. Den Parteien, zu Panchayat-Zeiten verboten, scheint er keine besondere Rolle zuzudenken. Der Anschein trügt nämlich, Gyanendra greift nicht auf die konservative RPP zurück, sondern auf einzelne ihrer Politiker, die im Panchayat-System eine bedeutende Rolle gespielt haben und die später hauptverantwortlich für die Bildung der RPP waren, die aber heute nur noch eine untergeordnete Rolle innerhalb ihrer Partei spielen. Hierdurch werden die ohnehin vorhandenen parteiinternen Zwiste erneut an die Oberfläche gespielt.

Aber bei aller Kritik am Vorgehen Gyanendras muss man auch erwähnen, dass es nicht die Monarchie war, die Nepal in die heutige ausweglose politische Situation hineinmanövriert hat, sondern die politischen Parteien. Insbesondere Gyanendras Vorgänger Birendra hatte sich geradezu vorbildlich an die Verfassung von 1990 gehalten, nachdem sie einmal in Kraft getreten war. Die Verfassung ist in den vergangenen zwölf Jahren jedoch von den Parteipolitikern so oft gebrochen worden, dass sie quasi schon tot war, als der König im Oktober vergangenen Jahres einschritt.

Politische Parteien

Die großen Parteien tragen somit die Hauptschuld am Scheitern des demokratischen Systems von 1990. Sie haben heute keine tatsächliche Macht mehr und verweigern sich gleichzeitig jeder Kooperation. Es ist richtig, wenn sie das Vorgehen des Königs und die von ihm eingesetzten Regierungen als illegitim bezeichnen, aber sie verschweigen dabei ihre zahlreichen eigenen Verfassungsverstöße. Ich möchte nur an die staatspolitischen Richtlinien der Artikel 24-26 der Verfassung erinnern, an die sich keine Regierung gehalten hat, die aber eigentlich die Grundlage allen politischen Handelns sein sollten. Die begründete Kritik der politischen Parteien rechtfertigt nicht ihre Weigerung, sich am derzeitigen Friedensprozess zu beteiligen. Sollte dieser erneut scheitern, dann können sich die politischen Parteien bereits jetzt einen Großteil der Schuld zuschreiben.

Die seit Monaten auf den Straßen gegen die demokratiefeindliche Politik Gyanendras demonstrierenden Parteien (Nepali Congress, CPN-UML, People’s Front Nepal, Nepal Workers’ and Peasants’ Party und die von Ananda Devi angeführte Gruppe der Nepal Sadbhavana Party) haben sich in ihrer Agitation dahingehend gesteigert, dass sie in allerdings widersprüchlichen Stellungnahmen sogar von einer Abschaffung der Monarchie sprechen. Das große Problem der nepalischen Parteien ist, dass sie nicht zu einer Konsenspolitik im Sinne der Friedensschaffung und Zukunftssicherung des Landes in der Lage sind. Vielmehr haben sie sich die erwähnten Grundsätze des rajaniti angeeignet, um ihre Gegner (die anderen Parteien, die unliebsamen Konkurrenten in der eigenen Partei oder jetzt eben wieder den Monarchen) zu bekämpfen und ihre Stellung und Macht zu sichern. Die Übertragung dieses traditionellen Denksystems vom König auf die Parteien mag angesichts des laut Verfassung nur noch konstitutionell-monarchischen Systems plausibel erscheinen. Doch wie der König, so missachten auch die Parteipolitiker bei der Anwendung von rajaniti die gleichzeitige Anwendung der Vorschriften des rajadharma. Nur bei ausgewogener Beachtung beider Prinzipien hat das Land nach der traditionellen hindupolitischen Denkweise eine Zukunftschance. Insofern ist der heutige Zustand Nepals wohl eher als das zu bezeichnen, was man im Hinduismus mit kaliyuga, Endzeitalter, umschreibt.

Maoisten

Die Maoisten mögen durch die blutigen Auseinandersetzungen in der Zeit des Ausnahmezustands geschwächt worden sein, aber dies dürfte nicht der Anlass gewesen sein, dass sie sich jetzt wieder um eine friedliche Lösung des Konflikts bemühen. Die Gründe liegen wohl eher in der veränderten Volksmeinung. Die Menschen in Nepal sehnen sich nach Frieden; die maoistischen Parolen finden längst selbst in besonders benachteiligten Bevölkerungskreisen nicht mehr den Zuspruch, den sie noch Ende der 90er Jahre erfahren hatten.

Doch die Maoisten scheinen auch die veränderte Lage nach dem 4. Oktober 2002 als erste durchschaut und zu ihren Gunsten analysiert zu haben. Sie haben erkannt, dass die wirkliche Macht im Augenblick beim König liegt. Letzterer will nicht mit den politischen Parteien kooperieren und diese wiederum nicht mit ihm. Dies nutzen die Maoisten aus, indem sie nur mit dem tatsächlichen Machthaber verhandeln. Damit sind die Parteien völlig außen vor. Wenn in dem jetzigen Dialog über das zukünftige nepalische Staatssystem verhandelt wird, dann geht es dabei um die Machtverteilung und -beteiligung zwischen Monarchie und Volk. Die Vertreter des Volkes sind dabei angesichts der Verweigerung der Parteien nur noch die Maoisten.
Wegen der jüngsten Regierungskrise ist der Dialog mit den Maoisten stark in den Hintergrund gerückt. Statt Gesprächen gab es mehr Aktionen, insbesondere durch maoistisch orientierte Studenten, die den gesamten Bildungsbereich durch Streiks wochenlang mehr oder weniger lahm legten. Gleichzeitig hat sich die Zahl der militanten Aktivitäten, insbesondere im maoistischen Kerngebiet des westlichen Berglands, in den letzten Wochen deutlich erhöht. Positiv stimmt jedoch, dass die maoistischen Verhandlungsführer in Kathmandu weiterhin für eine friedliche Lösung des Konflikts eintreten.

Zivile Gesellschaft

Die Liberalisierung von Verfassung und Staatswesen nach 1990 hat die Wurzeln für Volkssouveränität, zivile Gesellschaft und Menschenrechte gelegt. Das Versagen der politischen Parteien und staatlichen Organe hat in der Folgezeit weiter dazu beigetragen, soziale Unzufriedenheit zu schüren und diese auf den Straßen zum Ausdruck zu bringen. Während die größte Armut und Rückständigkeit auf dem Land herrscht, sind die Träger von technischen und institutionellen Innovationen in erster Linie in den Städten und oft genug in der staatlichen Verwaltung zu suchen. Gleichzeitig aber stellt der Verwaltungsapparat eine oft unüberwindbare Barriere gegenüber Veränderungen dar, die die traditionelle Machtposition der Beamten gefährden könnten. So gesehen stagniert der Entwicklungsprozess oft zwischen den abstrakten und nur verbal artikulierten Neuerungsideen einzelner Mitglieder einerseits und den natürlichen Beharrungstendenzen einer mächtigen Staatselite andererseits.

Es bedarf daher eines Liberalisierungsprozesses, der über den Regierungsansatz hinausgeht und sich um materielle Produktion, Sozialisation und gesellschaftliche Integration bemüht. Seit der Demokratisierung des Landes zu Beginn der 1990er Jahre haben sich diesbezüglich allmählich an Gruppen orientierte Eliten außerhalb der traditionellen staatlichen Elite herausgebildet, die sich kulturell, gesellschaftlich, wirtschaftlich und zunehmend auch politisch für ihre Mitglieder erfolgreich einsetzen. Hierzu gehören z.B. ethnische Organisationen und Zusammenschlüsse wie der Nepal Federation of Nationalities (NEFEN), sprachlich orientierte Organisationen, die Interessenvertretungen der Dalits (Unberührbaren), Frauenorganisationen und Gewerkschaftsverbände.

Vielfach sind die Bemühungen dieser Organisationen noch auf lokale Bereiche beschränkt, doch zeichnen sich auch erste nationale Erfolge ab. Es wird von einer zivilen Gesellschaft erwartet, dass sie ein Symbol darstellt für Basisbemühungen um die Schaffung eines modernen, demokratischen und gerechten Staates, in welchem die Reichen und Mächtigen nicht länger über dem Gesetz stehen und in dem alle Menschen ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Selbstbestimmung führen können. Zum Teil hat der maoistische Konflikt diese Problematik verstärkt ins Bewusstsein gerückt, weil die Maoisten mit ihrer Argumentation genau hier ansetzten. Aber der von ihnen gewiesene Weg hat sich als Bumerang erwiesen, weil diejenigen, denen die Maoisten angeblich zu einem besseren Leben verhelfen wollten, die Hauptleidtragenden des Konflikts waren. Eines der Hauptprobleme ziviler Gesellschaft in Nepal ist dabei, dass ihre wohlbegründeten Argumente von den Maoisten für ihre eigenen Zwecke missbraucht wurden. Nicht selten wird daher zivilgesellschaftliche Kritik an der staatlichen Politik als eine maoistische Propaganda abgetan und verfolgt.

Bei der Lösung des maoistischen Konflikts kommt somit der zivilen Gesellschaft eine ganz besondere Rolle zu. Sie existiert und sie hat sich auch bereits in ausreichendem Maße organisiert. Was fehlt, ist das notwendige Gehör und die Beteiligung am Friedensprozess.

Perspektiven

Auf lange Sicht stimmen die Entwicklungen in Nepal nicht sonderlich hoffnungsvoll. Ansätze und Wille zu einer Rückkehr zur Demokratie sind weiterhin nicht erkennbar. Dies gilt für den König in gleicher Weise wie für die von ihm eingesetzte Regierung und die dazu in Opposition stehenden politischen Parteien. Bloße Lippenbekenntnisse zu Verfassung und Demokratie kann man schon fast nicht mehr hören. Über den Sinn und Unsinn von Parlamentswahlen während der Phase der Verhandlungen mit den Maoisten mag man ja noch diskutieren. Es wäre sicherlich besser, Neuwahlen erst dann durchzuführen, wenn die Friedensverhandlungen hoffentlich erfolgreich abgeschlossen sind und die Maoisten aktiv eingebunden werden können. Aber es gibt keine Erklärung, warum für die Übergangszeit nicht das im Mai 2002 aufgelöste Repräsentantenhaus wiedereingesetzt und von ihm eine Regierung legitimiert werden sollte. Verfassungsrechtler, die weder royalistisch noch parteipolitisch gebunden sind, interpretieren Artikel 53 (4) der Verfassung schon seit längerem dahingehend, dass eine Parlamentsauflösung automatisch aufgehoben wird, wenn nicht innerhalb von sechs Monaten Neuwahlen durchgeführt werden. Mit anderen Worten: Deubas Empfehlungen und die Aushebelung der Verfassung durch König Gyanendra wären völlig überflüssig gewesen.

So verhärtet sich der Eindruck, dass gewisse Kräfte die Demokratisierung zurückfahren wollen. Dies wird unterstrichen durch die Tatsache, dass in diesen Tagen mittels königlicher Verordnung auch der demokratielose Zustand auf lokaler Ebene um ein weiteres Jahr verlängert wurde. Man kann in diesem Zusammenhang nicht oft genug darauf hinweisen, dass Nepal nicht mehr mit kleinen kosmetischen Veränderungen geholfen werden kann. Auf lange Sicht ist der maoistische Konflikt nur ein Vorspiel für das, was dem Land bevorsteht, wenn es nicht endlich zu tiefgreifenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Reformen in der Lage ist. Eine vom Social Science Baha Ende April 2003 organisierte Tagung zur Einbeziehung (inclusion) der zahlreichen benachteiligten Gesellschaftsgruppen hat noch einmal besonders deutlich gemacht, wo die Veränderungen ansetzen müssen.
Im Mittelpunkt der notwendigen Veränderungen wird die Verfassung von 1990 stehen, deren Infragestellung zu den Kernforderungen der Maoisten gehört. Kritisch betrachtet ist kaum noch etwas übrig von den Grundlagen dieser Verfassung. Das Volk hat seine Souveränität verloren; das Parlament ist abgeschafft und es gibt keine Anzeichen, dass der König, der sich der exekutiven Gewalt bemächtigt hat, irgendwelche Interessen verfolgt, in absehbarer Zeit Neuwahlen durchzuführen; es gibt keine legitime Regierung, die sich gegenüber gewählten Vertretern des Volkes zu verantworten hat; es gibt nicht einmal die Möglichkeit einer Beteiligung und Kontrolle des Volkes auf lokaler Ebene. Daher ist es erlaubt zu fragen: Welche Demokratie gilt es denn eigentlich noch zu bewahren? Welche Verfassung muss geschützt werden? Die Verfassung von 1990 ist tot und kann, spätestens seit der König sie ihrer Grundlagen beraubt hat, nicht mehr belebt werden. Jede Rückkehr zur Verfassung von 1990 würde eine Sanktionierung des erfolgten Missbrauchs durch Politiker und König bedeuten. Nepal bedarf also einer neuen Verfassung, die einen derartigen Missbrauch oder gar Bruch in Zukunft unmöglich macht. Gleichzeitig muss die zukünftige Verfassung eine angemessene und gleichwertige Einbeziehung aller bisher so benachteiligter Bevölkerungsgruppen garantieren. Auf diese Weise würden zahlreiche Ursachen für die heutige Krise des Landes an ihren Wurzeln beseitigt. Dies alles bedeutet nicht, dass die neue Verfassung sich völlig von der vorherigen unterscheiden muss. Die Grundidee des demokratischen Nepal war nicht schlecht, auch wenn die Verfassung zahlreiche Mängel aufweist. Es war nicht die demokratische Struktur, die versagt hat, vielmehr haben sich die Probleme aus der Nutzung und Interpretation des Systems ergeben. (Stand: August 2003)
 

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