Die Philippinen nach Estradas Sturz:
Demokratie weiter im Notstand

Rudolf Traub-Merz, Friedrich-Ebert-Stiftung Philippinen 
Februar 2001

In einer bizarren Ereigniskette wechselten die Philippinen am 20. Januar 2001 ihren Präsidenten. Am EDSA-Schrein (Epifanio de los Santos Avenue) in Manila versammelte sich eine knappe Million Demonstranten, um Joseph Estrada zum Rücktritt zu zwingen. Wie 1986 an gleicher Stelle (EDSA I) gegen Marcos entschied auch dieses Mal das Militär. Der Generalstabschef verkündete unter dem Jubel der Regierungsgegner den Entzug der Loyalität zum Inhaber des höchsten Staatsamts. Als ein Ultimatum ergebnislos verstrich, marschierten 50.000, eskortiert von der Polizei, zum Sturm auf den Präsidentenpalast. Das größte Kontingent stellte die kommunistische Partei und deren Frontorganisationen. Währenddessen schlugen sich am EDSA-Schrein in letzter Minute immer neue Politiker auf die Seite des Massenprotestes. Das höchste Gericht intervenierte in der verworrenen Lage und erklärte das Präsidentenamt für vakant. Wenige Stunden später wurde Vizepräsidentin Gloria Macapagal-Arroyo als 14. Präsidentin vereidigt.

Amtsenthebung, Trapos und Verfassungskrise

Vorausgegangen war ein Amtsenthebungsverfahren, das das politische System einer Zerreißprobe aussetzte. Dass sich der Senat überhaupt zum Geschworenengericht konstituierte und gegen Estrada wegen Bestechlichkeit, Korruption und Verfassungsbruch verhandelte, galt zunächst als kleines Wunder. Frühere Präsidenten hatten Anklagen immer über Parlamentsmehrheiten bereits im Keim erstickt. Entsprechend groß war der Jubel, als das Unterhaus mit Mühe das erforderliche Drittelquorum erreichte und die Anklage im Oberhaus einreichte. 

Dennoch verspielte das Verfahren die historische Chance, der Legislative den Status einer legitimen Kontrollinstanz zu verschaffen. Es endete mit einer grotesken Abstimmung über die Zulässigkeit von Beweismitteln. Der Senat entschied, Estradas Geheimkonten nicht zur Kenntnis zu nehmen – und widersetzte sich damit auch seinem Verfassungsauftrag zur Prüfung der Vermögensverhältnisse. Die Ankläger des Unterhauses traten zurück. Unmittelbar daran setzte der Massenprotest ein, um den Rücktritt Estradas zu erzwingen.

Ein Blick auf die Herkunft der Parlamentarier legt Gründe für den Schulterschluss von Senatsmehrheit und Exekutive und das tiefe Misstrauen der Gesellschaft gegen seine eigenen Verfassungsorgane offen. 50 - 70% der Volksvertreter entstammen Familien, die  seit Jahrzehnten die politische Elite (Trapos – traditional politicians) stellen. Die Wahldemokratie hat es nicht geschafft, Vertreter anderer sozialer Klassen in bedeutender Zahl in politische Entscheidungsprozesse einzubinden. Eine Oligarchie monopolisiert politische Ämter.

EDSA II: 
Friedlicher Volksaufstand… 

Über den gesellschaftlichen und politischen Charakter von EDSA II wird wohl lange Zeit gestritten werden. Es war zweifelsohne ein Aufstand der Straße, von Protagonisten schon Monate zuvor angedroht und sich seit Mitte 1999 allmählich aufbauend. Im Mai 2000 verlor die Protestbewegung vorübergehend Momentum, als Estrada mit Bomben auf das muslimische Mindanao seine Popularität bei der katholischen Mehrheit nach oben trieb.

Die Phalanx der gesellschaftlichen Kräfte, die sich zu Estradas Sturz versammelten, spannte in einem weiten Bogen von der Geschäftswelt über Bischofskonferenz, Gewerkschaften und Bauernvereinigungen bis zur kommunistischen Linken. Angeführt wurden sie von den Zentralfiguren des öffentlich-moralischen Gewissens, Kardinal Sin und Ex-Präsidentin Cory Aquino – das organisatorische Gerüst stellten katholische Kirche und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen. 

So unterschiedlich die gesellschaftlichen Kräfte, so verschieden waren ihre Interessen. In dem Maße, wie die außerparlamentarische Opposition anwuchs, schlossen sich ihr Politiker an. Versuche, dem Protest eine Reformrichtung zu geben, scheiterten; kleinster gemeinsamer Nenner blieb der Personenwechsel in der Exekutive. 

…und gleichzeitig Staatsstreich

Panzer und Truppenaufmärsche, die Embleme eines Militärcoups, waren nicht sichtbar. Die neue Regierung ist eine Zivilverwaltung, keine Junta. Dennoch war EDSA II gleichermaßen ein Staatsstreich. Eine Neutralität der Sicherheitsapparate, ein bloßes Abwarten hätte den Massenprotest möglicherweise innerhalb einer Woche erschöpft. Generalstabschef Reyes und die Oberkommandierenden der drei Waffengattungen sahen sich zum Handeln gezwungen, weil mindestens zwei Gruppen eine Intervention vorbereiteten: Marinegeneral Espinosa, dem Estrada zuvor das Südkommando der Armee entzogen hatte, plante für den Folgetag den Marsch auf Manila, um sich auf die Seite der Regierungsgegner zu schlagen; eine Offiziersgruppe schien Truppen für einen kosmetischen Putsch (Save the King) zusammen zu ziehen. Die gemeinsame Aktion der ranghöchsten Generäle entzog den extremeren Eingriffsplänen den Boden und verhinderte die Spaltung der Sicherheitsapparate. Die solchermaßen isolierte Polizeiführung schloss sich mit mehrstündiger Verzögerung an. 

Der Staatsstreich war bei großen Teilen der Opposition nicht nur willkommen, sondern wurde von einigen ihrer Führer mitinszeniert. Ex-Präsident Fidel Ramos und mit ihm liierte pensionierte Generäle nutzten ihre Netzwerke, um aktive Offiziere zur Meuterei aufzufordern. Bischöfe, Wirtschaftsverbände und andere Protestgruppen hielten sich in der öffentlich geführten Debatte zwischen aktiven und pensionierten Generälen bezüglich des Verfassungsauftrags des Militärs zurück, akzeptierten aber implizit einen Staatsstreich. Peoples power with a military component - so fassen zivile Gruppen ihre Schwäche und die Bedeutung des Militärs zusammen. 

Militärisch-zivile Beziehungen: ein unkontrollierbares Interessengeflecht?

Seit der Politisierung des Militärs unter Marcos gelang es keiner Regierung mehr, die Sicherheitsapparate einer effektiven zivilen Kontrolle zu unterwerfen. Dass eine politisierte Armee auf Dauer kein einheitlich handelnder Apparat sein kann, spiegelte schon das Ende seiner autokratischen Herrschaft wider. Es war eine Spaltung innerhalb der Generalität, die 1986 (EDSA I) den Ausschlag zugunsten der Opposition gab. 

Gleich sieben Mal stürmten Armeegruppen zwischen 1987 – 1989 gegen die populäre Regierung Aquino, zwangen sie letztlich zur Aufgabe aller wichtigen Reformvorhaben. Erst Fidel Ramos gelang es, das Militär auf den Weg in die Kasernen zu schicken. Er nahm die Besetzung der Spratley-Inseln durch die Chinesen 1995 zum Anlass, dem Militär ein Modernisierungsprogramm zu verordnen. In den höheren Rängen bildete sich erstmals ein Professionalismus, der auf technischen Fähigkeiten der Verteidigung der Landesgrenzen beruhte. Durch die gleichzeitigen Friedensverhandlungen mit der muslimischen MNLF (Moro National Liberation Front) und der kommunistischen NPA (New People‘s Army) konnte die Feldpräsenz vieler Bataillone verringert und ein Einmischen der Kommandeure in die Lokalpolitik unterbunden werden. 

Es ist bis heute umstritten, warum Ramos, unter Marcos Chef der  Constabulary Forces, nicht die Armee säuberte. Ein Amnestiegesetz begnadigte die Putschisten, Menschenrechtsverletzungen blieben ungesühnt. 
Statt die Politik ins Militär brachte Ramos Militärs in die Politik. Seither wechseln demobilisierte Generäle in zivile Karrieren und befinden als Kabinettsangehörige oder Regierungsberater über die zivile Kontrolle der Sicherheitsapparate. Umgekehrt suchen Politiker die Kooptation in informelle Militärzirkel – selbst Gloria Macapagal-Arroyo ist adoptiertes Mitglied eines Ausbildungsjahrgangs der Militärakademie. 

Reformforderungen  versus  Handlungsspielräume

Die neue Präsidentin steckt in einem Dilemma. Das klassenübergreifende Bündnis der Protestbewegung eröffnet politischen Spielraum und verschafft ihr Autonomie gegenüber Partikularinteressen. Insbesondere hat sie keine Verpflichtungen gegenüber Wahlkampfsponsoren, die nach dem Urnengang mit Staatsaufträgen oder Ämtern bedient werden müssen. Kostenschätzungen über Estradas Wahlkampf belaufen sich auf US$ 100 Mio.

Gleichzeitig sind ihr die Hände in vielen Angelegenheiten gebunden, die die Interessen der Sicherheitskräfte betreffen. Diese sind nicht nur sicherheitspolitischer, sondern auch geschäftlicher Art: Schmuggel, Entführungen, Geldwäsche – kaum eine kriminelle Aktion ohne Beteiligung Uniformierter. Ihren Handlungsspielraum verdeutlichte die Präsidentin mit ihrem Antrittsbesuch bei den Militärs, bei dem sie sich für deren Teilnahme an EDSA II bedankte.

Die neue Regierung wird an der Erfüllung von drei Mindestforderungen gemessen werden: Korruptionsbekämpfung, Sozialpolitik und Friedensverhandlungen. Noch nie wurde in den Philippinen ein hochrangiger Politiker wegen Korruption verurteilt, selbst der Marcos-Klan konnte seinen Reichtum verstecken und ist längst wieder in politischen Ämtern zu finden. Das Angebot an Estrada, ins Exil zu gehen, hat Irritationen ausgelöst. Viele glauben schon nicht mehr an die Zerschlagung der  Interessengeflechte von Trapos, Unternehmern und Generälen. 

Es gehört zur Ironie der gegenwärtigen Lage, dass die Pro Poor – Rhetorik des gestürzten Präsidenten und sein Aufruf an die Mittellosen, Klassenkampf gegen Makatis (Finanzzentrum in Manila) Reiche zu führen, zur neuen Politikverpflichtung wird. Fast 40% der philippinischen Haushalte beziehen ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Dass Estrada Zehntausende zu seiner Verteidigung mobilisieren konnte, verdeutlicht nur, dass sie den Stab über ihm nicht brachen, weil sie von politischen Alternativen keinen Vorteil erwarteten. 

Tatsächlich verliert eine Wirtschaftselite in ihrer Kritik der Amtsführung Estradas moralische Rechtfertigung, wenn zahlreiche ihrer Angehörigen Nutznießer ebensolcher Praktiken in der Vergangenheit waren. Selbst aktuelle Listen von Steuerschuldnern lesen sich wie das Who is Who in Wirtschaft und Gesellschaft – ca. 40% der Steuerschuld werden nicht eingetrieben, Steuerhinterziehung kann geradezu als Sozialpakt zwischen Staat und Elite bezeichnet werden. Angesichts dieses Umfangs sollte sich nicht einmal das gegenwärtige Haushaltsdefizit als unüberwindbares Hindernis zur Finanzierung einer neuen Sozialpolitik auftürmen. Allerdings müssen die Steuern eingetrieben werden. 

Der Friedensschluss mit der NPA könnte in greifbare Nähe gerückt sein. Die kommunistischen Frontorganisationen Bayan und Bayan Muna operierten innerhalb der Protestbewegung nicht wie eine städtische Guerilla, die den Staat herausfordert. Bayan Muna meldete überdies ihre Teilnahme an den Mai-Wahlen 2001 an. Dies sind Signale, dass die kommunistische Partei ihren revolutionären Kampf aufgeben könnte, um sich als legale Opposition zu etablieren. 

Auch die MILF (Moro Islamic Liberation Front) sucht einen Waffenstillstand, Friedensverhandlungen sind hier jedoch schwieriger. Die Erweiterung des Autonomiegebietes und der Verwaltungsrechte stoßen auf den Widerstand christlicher Siedler in Mindanao. Eine föderale Lösung könnte für die muslimischen Separatisten akzeptierbar sein - wie sich eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung finden ließe, ist unklar. 

Wohin treibt die philippinische Demokratie?

Wenn starke Institutionen die Voraussetzung für good governance sind, gibt es keinen Grund zum Jubeln. Mit Ausnahme des Obersten Gerichts sind alle Verfassungsorgane angeschlagen. Wahlen werden den beiden Parlamentskammern zu keiner neuen Legitimität verhelfen, selbst wenn sie im Mai 2001 zur Auswechslung von Personen führen. Vor wenigen Wochen mit knapp 20% der Sitze im Unterhaus noch eine klägliche Opposition, führt die Parteienkoalition von Macapagal-Arroyo nun bereits eine Mehrheit an – von überall kommen Unterstützungserklärungen und Überläufer. Legitimität kann das Parlament nur durch Gesetzgebung und effektive Regierungskontrolle gewinnen. Letztere ist bereits jetzt Illusion. 

Seit die Präsidentin nach und nach ihr Kabinett vorstellt, kehrt Ernüchterung ein. Die neue Riege besteht überwiegend aus altbekannten Gesichtern, die bereits unter Aquino und Ramos Ämter oder Mandate innehatten. Schon macht das Wort vom Elitenrecycling die Runde, wird von einer Fortsetzung der Trapo-Herrschaft gesprochen. Die Berufung von Ex-General Abadia als Sicherheitsberater, gegen den ein Korruptionsverfahren läuft, und von Polizeichef Mendoza, dem kriminelle Verbindungen nachgesagt werden, werfen ihre Schatten auf die neue Verwaltung. Währenddessen fühlen sich zivilgesellschaftliche Kräfte, die die Anti-Estrada-Bewegung trugen, marginalisiert. Selbst Wirtschaftsvertreter warnen davor, die politische Linke auszugrenzen, fordern technokratische Kompetenz und soziale Ausgewogenheit als Rekrutierungskriterien.

Von einer Stärkung politischer Parteien ist keine Rede mehr. Die Reformkräfte, die auf eine Verfassungsreform zu Gunsten eines parlamentarischen Systems und erweiterten Listenwahlrechts setzten, sehen sich getäuscht. Eine Präsidentin, die auf eine neunjährige Amtszeit (Wahlen 2004) spekulieren kann, dürfte für solche Ideen nur schwer zu gewinnen sein.

Gloria Macapagal-Arroyo kam ins höchste Staatsamt aufgrund der konstitutionellen Nachfolgeregelung - sie ist nicht die Wahl der Estrada-Gegner. Noch vor wenigen Tagen hatte sie die schlechtesten Umfragewerte aller Politiker, war unpopulärer als ihr Vorgänger. Sie hat eine schwere, möglicherweise kurze Amtszeit vor sich.