Krokodilstränen um die Buddhas
–oder: Empörung ohne Erklärung

Almut Wieland-Karimi, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
März 2001

In den letzten Wochen gab es keinen Tag, an dem es in den Medien nicht etwas über Afghanistan zu lesen, zu hören oder zu sehen gab. Freilich nichts Positives, sondern vielmehr die Nachricht, dass ein Teil des Weltkulturerbes scheinbar sinnlos in Schutt und Asche gelegt wurde. Positiv zu vermerken ist, dass in diesem Zuge auch über die humanitäre Katastrophe und permanenten Menschenrechtsverletzungen in dem Land berichtet wurde - zumindest am Rande. Auf der Strecke geblieben ist allerdings die Frage, warum es überhaupt so weit kommen konnte? Wie kann es sein, dass wirklich niemand auch nur einen Funken an Einfluss auf die faktischen Machthaber in Afghanistan, die Taliban, hat - weder der UN-Generalsekretär noch Islamgelehrte aus anderen Ländern?

Vielleicht hat sich die internationale Politik in diesem Fall selbst ein Bein gestellt: Niemand konnte das Schreckliche verhindern, weil spätestens die UN-Sanktionen jeglicher Dialogmöglichkeit mit den Taliban den Boden entzogen haben. Man stelle sich vor, Buddha-Statuen aus dem 2. und 5. Jahrhundert, Prunkstücke der frühen buddhistischen Kunst, werden wie menschliche Feinde mit einfacher Kriegsmaschinerie in Grund und Boden geschossen. Nur sind in diesem Fall nicht Märtyrer zu beklagen, sondern Teile des Weltkulturerbes. Ein Aufschrei erfolgt in den Medien und in den Gremien internationaler Politik. Alle sind sich einig: Die Taliban sind ignorant, tumb und taub, und ihr Vorgehen ist auf das Schärfste zu verurteilen. Der Aufschrei verhallt schnell, das Feindbild der bösen islamischen Fanatiker ist gefestigt und es folgt: der Übergang zur Tagesordnung. 

An der Tagesordnung in Afghanistan aber sind: blaue Kinder. Blau vor Kälte, erfroren und verhungert in den Armen ihrer Mütter und Väter, die nichts tun konnten als zuzusehen. Ein sehr unbequemes Bild, das wir nur zu gerne wegschieben möchten. Und weil es so unbequem ist, schafft es auch nicht den Weg auf die Titelseiten. Also: Kein Aufschrei in den Medien. Auch für den Tod tausender Menschen sind die Taliban verantwortlich. Sie haben sich als diejenigen, die faktisch an der Macht sind, nicht um diejenigen, die sie beherrschen, gekümmert, obwohl die humanitäre Katastrophe nach der verheerenden Dürre des letzten Jahres absehbar war. 

Aber hat nicht auch die internationale Gemeinschaft versagt – sowohl bei der humanitären als auch bei der kulturellen Katastrophe? In den 80er Jahren, der heißesten Phase des Kalten Krieges, tobte in Afghanistan ein Stellvertreterkrieg zwischen den sowjetischen und afghanischen Truppen auf der einen Seite und dem mit westlichen Waffen, Logistik und Geld ausgerüsteten afghanischen Widerstand auf der anderen. Zurückgeblieben ist ein Scherbenhaufen, um den sich keiner mehr kümmern will, kurzum: ein vergessenes Land. Die internationale Politik gegenüber Afghanistan in der jüngsten Vergangenheit bestand darin, Sanktionen gegen die Taliban wegen ihrer Asylgewährung für den weltweit bekannten Bösewicht Osama Ben Laden zu verhängen. Die Sanktionen wurden auf Druck der USA und Russlands beschlossen, ein innenpolitisch für diese beiden Länder sicherlich wichtiger Schachzug. 

UN-Generalsekretär Kofi Annan hingegen ist überzeugt, dass dieser Schritt keine Politik gegenüber einem Land sein kann, das sowieso schon zu den Verlierern auf der ganzen Linie gehört: Annan hat den Sicherheitsrat öffentlich für diesen Beschluss getadelt, da er letztlich die Zivilbevölkerung noch mehr zu Opfern mache und die UN-Bemühungen,  Frieden zu vermitteln, aufs Spiel setze. Es scheint, als habe der Sicherheitsrat auch aus anderen Konflikten nichts gelernt – am wenigsten aus Afghanistan selbst. Die UN haben ihre Glaubwürdigkeit für die Afghanen verloren und Verhandlungen mit den Taliban sind nicht mehr möglich. Im Klartext: Es geht den maßgeblichen internationalen Akteuren nicht um ein Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen in Afghanistan, sondern lediglich um die Auslieferung des aus Saudi-Arabien stammenden Multimillionärs. 

Aus der Sicht der wenigen in Afghanistan noch tätigen UN-Organisationen und internationalen NGOs sind diese Sanktionen ein Desaster. Ein Spendenaufruf an die UN-Mitgliedsstaaten zur Bekämpfung der humanitären Katastrophe in diesem Winter hat weniger als 10 Prozent der benötigten Summe eingebracht. Da die Taliban zudem haben verlauten lassen, dass sie für die Sicherheit der in der humanitären Hilfe tätigen Personen nicht mehr garantieren können, ist das Hilfspersonal -  Flüchtlingsströme, eisige Kälte und existentieller Mangel der Menschen vor Augen - zu großen Teilen abgezogen worden. 

Tatsächlich hat sich die internationale Politik mit den Taliban und ihrem saudi-arabischen Gast einen weiteren unberechenbaren Faktor in der Weltgemeinschaft geschaffen. Die „Religionsstudenten“ treten die Menschenrechte – insbesondere die Rechte der Frauen - mit Füßen, sie sind mitverantwortlich für Drogenproduktion und internationalen Terrorismus. Ausgebildet wurden sie in den 80er Jahren mit westlichen Geldern als Widerstandskämpfer gegen den Kommunismus, Anfang der 90er Jahre entstand dann das Phänomen Taliban auf dem Reißbrett der Pakistani, zunächst mit maßgeblicher amerikanischer Unterstützung. Eine internationale Anerkennung (außer von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten) bleibt den Religionsschülern bis jetzt verweigert, obwohl sie seit fast fünf Jahren etwa 90 Prozent des afghanischen Territoriums kontrollieren. Ist dies sinnvoll? Sind ihre Vorgänger um Rabbani, die von dem letzten kommunistischen Statthalter im Jahr 1993 die Macht übernahmen, aber nicht wegen genau derselben Vergehen zu verurteilen? Hier stellt sich die Gretchenfrage: Was ist schlimmer, Pest oder Cholera? Und die heutige Nordallianz (frühere Rabbani-Regierung) wird weiterhin international anerkannt, mit einem Sitz bei den UN und Botschaften in fast allen westlichen Ländern. 

Traurig ist, dass die Chancen für einen Frieden sowohl auf afghanischer Seite als auch von den internationalen Akteuren mehrmals vertan wurden. 1989, nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, und 1993, als mit Najibullah der letzte sowjetische Statthalter abgetreten war, hätte die internationale Gemeinschaft die rivalisierenden Gruppierungen an einen Tisch drängen können. Stattdessen wurde das Feld den Anrainerstaaten überlassen, die bis heute ihre individuellen Interessen in Afghanistan verfolgen, so dass de facto der Stellvertreterkrieg mit anderen Marionettenspielern weitergeht. Alle Nachbarn verfolgen in Afghanistan Partikularinteressen, es sei nur Pakistan als Beispiel erwähnt, das vom Opiumanbau und Drogenhandel profitiert, sich das Primat über den Zugang nach Zentralasien und den dortigen Ressourcen sichern will und ein Interesse an einem schwachen Nachbarn hat, der ihm nicht gefährlich werden kann. 

Die United Nations’ Special Mission for Afghanistan (UNSMA) kann sich also bei diesen Rahmenbedingungen die Beine verrenken und wird ohne entsprechende internationale Unterstützung nie auf einen grünen Zweig kommen, so sehr sie sich auch bemüht. Der vielversprechende Ansatz der sogenannten 6 plus 2-Verhandlungen, also die sechs Anrainerstaaten gemeinsam mit den USA und Russland in einen Dialog einzubeziehen, kann nur zum Erfolg führen, wenn die global players ein Machtwort sprechen und tatsächlich Frieden in Afghanistan wünschen. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall. Auch auf europäischer Ebene ist kein gemeinsamer Ansatz für Afghanistan zu erkennen. Mit den Japanern, die sich immer wieder für das Land am Hindukusch eingesetzt haben, dürfte es sich Afghanistan nach der Zerstörung der buddhistischen Statuen zudem ein für allemal verdorben haben. Es können sich nur die japanischen Privatiers freuen, die sich noch rechtzeitig ein buddhistisches Kunstwerk aus Afghanistan für die Vitrine im Wohnzimmer sichern konnten. 

Fassen wir zusammen: Ein humanitäre Katastrophe findet wenig Interesse, die Zerstörung von Buddha-Statuen schafft dies immerhin kurzfristig. Die Taliban mit Osama Ben Laden im Huckepack hingegen können mit starken westlich-säkularen Emotionen rechnen. Verkörpern sie doch das Feindbild von wilden unberechenbaren Nicht-Christen, die die gesamte sogenannte zivilisierte Welt bedrohen und den Prototyp des „Anderen“ in den clash of civilization der Thesen Samuel Huntingtons darstellen. Wahrscheinlich ist es politisch nicht korrekt auch nur andeuten zu wollen, dass die neue Weltordnung solche „Schurken“ gut gebrauchen kann. Und zynischerweise hat die Zerstörung von einem Teil des Weltkulturerbes in Form der Buddhas von Bamiyan – nicht etwa die erfrorenen Kinder – noch zur Schärfung der Feindkonturen beigetragen. Eine Lösung des Afghanistan-Konflikts liegt immer noch in weiter Ferne.