Der WTO-Beitritt Chinas im November 2001. Einige innenpolitische Aspekte

Bernd Reddies, Friedrich-Ebert-Stiftung Beijing
November 2001

  • Seit 1998 hat Premierminister Zhu Rongji die Verhandlungen zur WTO-Aufnahme zur Unterstützung der innerchinesischen Reform- und Öffnungspolitik forciert.
  • Der WTO-Beitritt nach 15 Verhandlungsjahren ist Ausdruck für Chinas verantwortungsbewusste Öffnung zu multilateraler, internationaler  Kooperation.
  • China erhofft vom WTO-Beitritt verstärkte ausländische Investitionen, eine Ausweitung des Handels, weitere Modernisierung der Wirtschaft und Mehrung des Wohlstands für die Bevölkerung.
  • Premier Zhu Rongji instrumentalisierte die Perspektive des WTO-Beitritts zur Forcierung  marktwirtschaftlich und rechtsstaatlich orientierter  Reformen gegen beharrende Strukturen in Staatsapparat und Staatsbetrieben.
  • Über die Forderung des WTO-Regimes nach Liberalisierung auch des Binnenhandels wird die Zentralregierung historisch überlieferte Handelsbarrieren zwischen den Provinzen aufbrechen.
  • Die Regierung ist sich bewusst, dass sozialer Wandel und gesellschaftliche Modernisierung einer Flankierung durch ein System sozialer Sicherung bedarf, um soziale Destabilisierung zu vermeiden.
  • Die KP Chinas ist bemüht, über Strukturwandel und Modernisierung der Partei  den Anschluss an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen zu halten.
  • Auf dem Parteitag im Herbst 2002 wird die vierte Generation nach der Revolution, die „Nach-Kulturrevolutionsgeneration“, in Führungspositionen in Staat und Partei aufrücken und den marktwirtschaftlichen Reformprozess fortführen.


Nach 15 Jahren der Verhandlungen ist in langwierigen bilateralen Runden Einigung erzielt –  China wurde im November 2001 auf der WTO-Konferenz in Doha/Katar als Vollmitglied aufgenommen. 

Mit der Aufnahme der siebtgrößten Handelsnation der Welt kommt die WTO ihrem Anspruch auf  Repräsentation der wichtigsten Handelsnationen entscheidend näher. Denn das Außenhandelsvolumen  Chinas ist so groß wie das Russlands, Indiens und Indonesiens zusammen, und  China ist nach der jüngsten Statistik viertgrößter Exporteur der Welt. Ohne Chinas Mitgliedschaft kann die WTO ihren globalen Anspruch nicht einlösen. Mehr Wettbewerb wiederum wird Chinas Wirtschaft stimulieren. Aber brauchen beide einander? Zwar musste China eine Balance aus Rechten und Pflichten zugestehen: „There is never a free lunch“, kommentierte Chinas Verhandlungsführer der ersten Runden, Vize-Premier Li Lanqing, den erfolgreichen Abschluss der Aufnahmeverhandlungen. Jedoch wird andererseits auch in den Industrieländern nicht bezweifelt, dass China als Staat mit geringer Exportabhängigkeit, riesigem Binnenmarkt und flankierender staatlicher Makrosteuerung und Fiskalpolitik seine Modernisierung grundsätzlich auch außerhalb der WTO mit Erfolg betreiben könnte. Wo also liegt das politische und wirtschaftliche Interesse Chinas an einer WTO-Mitgliedschaft?

Im Rahmen einer 1978 eingeleiteten Reform- und Öffnungspolitik bemühte sich China auch um Integration und Akzeptanz in den internationalen Gremien. Die WTO-Verhandlungen begannen 1986 schleppend. Zu sehr lag China mit  unkonvertierbarer Währung, tarifären und nichttarifären Handelshemmnissen  und staatlicher Planwirtschaft neben den liberalen Wirtschafts-, Finanz- und Handelsvorstellungen der WTO, aber auch von Weltbank und Weltwährungsfonds. Die grundsätzliche Zurückhaltung dieser Organisationen lockerte sich jedoch angesichts der südostasiatischen Finanzkrise und ihrer wirtschaftlichen Folgen für die Subregion 1997. Nicht konvertierbar, blieb Chinas Währung von der internationalen Spekulation verschont. Das Wirtschaftswachstum konnte bei 7% gehalten werden. Mit einer Politik der Nichtabwertung des Renminbi trug China aktiv zur wirtschaftlichen Erholung der asiatischen Nachbarn bei. Diese verantwortungsbewusste Politik fand Anerkennung auch in den internationalen Organisationen.

Die Ernennung des wirtschafts- und finanzpolitisch erfahrenen Reformpolitikers Zhu Rongji zum Premierminister im März 1998 war ein zweites Moment zur Intensivierung und Beschleunigung der WTO-Aufnahmeverhandlungen. Zhu Rongji entwickelte ein Konzept mehrgleisigen, parallelen graduellen Wandels in Wirtschafts- und Fiskalpolitik und in der Staatsverwaltung. Mit ungeduldigem Nachdruck leitete er die  Reform und Entschuldung der Staatsbetriebe und Staatsbanken ein, bei gleichzeitiger Förderung neuer Eigentumsformen in Produktion und Dienstleistungen. Die Sanierung und Refinanzierung des überschuldeten staatlichen Bankensektors, dazu der schrittweise Rückzug des Staates aus der Wirtschaftslenkung, bildeten zentrale Elemente der marktwirtschaftlichen Reformorientierung. 

Die soziale Härte einer Abschaffung der ‚eisernen Reisschüssel‘, der sozialen Umsorgung von der Wiege bis zur Bahre in den Staatsbetrieben,  sollte durch den Aufbau außerbetrieblicher Systeme der sozialen Sicherung und eine aktive Arbeitsmarktpolitik des Staates abgefangen werden. Elemente staatlicher Makrosteuerung sollten hohes Wachstum um 7% sichern, vor allem um eine aus zunehmender reformbedingter Arbeitslosigkeit bedingte soziale Katastrophe abzufangen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Über eine Neuordnung der Steuerpolitik zugunsten eines größeren Aufkommens bei der Zentralregierung in Beijing, verbunden mit einer Politik ausgeweiteter Staatsverschuldung, beschaffte er die Mittel für eine regionale Förderpolitik zugunsten der messbar in der Entwicklung zurückbleibenden Westprovinzen. Von der Zentralregierung angestoßene landesweite Infrastrukturmaßnahmen sollten Massenentlassungen der Staatsbetriebe und die Binnenwanderung Arbeit suchender Landbevölkerung abfedern. Verbunden mit  markt- und wettbewerbsorientierten Reformmaßnahmen sollte dieser  keynesianische Politikansatz die wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformpolitik stützen und die soziale Katastrophe im Arbeitsmarkt abwenden. 

Unter der Regierung Zhu Rongji betreibt  China seit 1998 eine gradualistische Reformpolitik, bemüht um Bewahrung eines Gleichgewichts zwischen Marktreform und sozialer Stabilität. Angesichts der frühen Krise der new economy in den Industrieländern, weltweiter Unruhe über die sozialen und regionalen Folgen der Globalisierung von Produktion, Handel  und Finanzströmen und wachsenden Rezessionsängsten in den Industrieländern, hat die chinesische Renaissance keynesianischer Makrosteuerung den Geruch der Unzeitgemäßheit verloren. Gegenwärtig  erklingt auch in entwickelten Industriestaaten erneut der Ruf nach staatlichen stimulus measures  aus gestern noch dogmatisch neo-liberalen Politiklagern und Wirtschaftsverbänden. China ist schon da.

Parallel zu marktorientierten Wirtschaftsreformen schnitt die Politik des Premiers in die Privilegien der staatlichen Herrschaftseliten. Das Militär musste sich 1998 binnen eines Jahres aus dem wuchernden attraktiven Feld eigener wirtschaftlicher Aktivitäten jenseits militärischer Produktion  zurückziehen. 

Im Zweijahreszeitraum 1999/2000 wurde landesweit der Beamtenapparat sorgfältigst durchleuchtet und in Zentralregierung und Provinzen von 8 Mio. auf 4 Mio. Beamte halbiert. Mit dieser san jiang ( drei Betonungen) genannten Aktion ging geräuschlos eine Umstrukturierung der Ministerien und Verwaltungen einher. Keineswegs ein Nebenergebnis ist die mit der Verjüngung verbundene reformorientierte politische Überprüfung und Sortierung der Beamtenkader.

Von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, nutzte Zhu Rongji die WTO-Perspektive zu einem epochalen binnenwirtschaftlichen Reformschritt. Er attackierte die seit Jahrhunderten zwischen den Provinzen bestehenden vielfältigen tarifären und nichttarifären Handelshemmnisse. In der gegenseitigen Behinderung des Warenaustausches zwischen den Provinzen hat sich über Jahrhunderte ein Kuriositätenkabinett an provinziellem Protektionismus erhalten, bis hin zu geschützten Provinzmonopolen, z.B. im Bausektor. So wird Warenproduktion aus anderen Provinzen zum Schutz eigener Betriebe mit Einfuhrsteuer belegt, vom Bier bis zum Auto. Zhu Rongji, der Friedrich List von China – ein außerhalb Chinas kaum wahrgenommener Reformaspekt. 

Premier Zhu Rongji flankierte diese rigorose, alle Bereiche des überlieferten chinesischen Staatsmodells erfassende Reformpolitik mit einer nachdrücklichen Bemühung um WTO-Aufnahme durch Intensivierung der bilateralen Verhandlungen vor allem mit den USA und der EU. Im Frühjahr 1999 reiste er  – gegen den Rat vieler ZK-Mitglieder- in die USA und legte ein umfassendes Öffnungs- und Liberalisierungsangebot vor. Offensichtlich schlecht vorbereitet, lehnte die Clinton-Administration spontan das Angebot ab – und erzielte in allen folgenden Verhandlungen bis zur WTO-Aufnahme Chinas kein besseres Ergebnis. Nach der erfolglosen Rückkehr aus den USA spielte Zhu Rongji kurzfristig mit Rücktrittsgedanken, berichteten die Zeitungen. 

Der Premier nutzte die WTO-Beitrittsperspektive als politische Trumpfkarte, um im eigenen Land den Reformdruck  zu begründen, zu verstärken und durchzusetzen. Unter Verweis auf diese Herkulesaufgabe der Wirtschafts- und Staatsreform forderte er von den Verhandlungspartnern in den Industrieländern für eine Übergangsphase von fünf Jahren Konzessionen beim stufenweisen Abbau der Importzölle ein. Er verwies gleichzeitig die Kritiker im eigenen Land auf die Schrift an der Wand: Wer den Schritt in den Markt verweigert, wird unter kommenden WTO-Handelsbedingungen zum Scheitern verurteilt sein. Mit seiner radikalen Reformpolitik trieb Zhu Rongji das Land vor sich her, bemerkte kürzlich ein deutscher Wirtschaftssprecher in Beijing. Eine Beibehaltung dieses Reformdrucks und der  Marktöffnung, dazu eine aktive Arbeitsmarktpolitik des Staates und die Erstellung eines Grundsystems sozialer Sicherung, sind Voraussetzungen  für eine Entwicklung Chinas in Stabilität. Die WTO-Mitgliedschaft wiederum wird den erforderlichen gleichbleibenden Druck von außen schaffen   und damit  die Regierung in ihren Reformbemühungen indirekt unterstützen. 

An die zweitausend Gesetze und Vorschriften wurden in den letzten Jahren neu erlassen, ergänzt  oder  modifiziert, um WTO-Konformität in vielen Feldern von Wirtschaft, Handel und Verwaltung herzustellen. Chinesische Experten zweifeln, dass die Verwaltungen und der Justizapparat hinreichend vorbereitet sind, um den veränderten Bedingungen nach dem WTO-Beitritt gerecht zu werden. Vor allem, lauten die Bedenken, seien die Regierungsorgane sich der Dringlichkeit, der Komplexität und des Umfangs der Herausforderungen nach dem WTO-Beitritt bislang nicht hinreichend bewusst. Hier liegt ein Ansatzpunkt für vielfältige Reibereien mit in den chinesischen Markt drängenden Ausländern. Das Entstehen einer regen Streit- und Prozesskultur ist voraussehbar. 

Die Modifizierung des Gewerkschaftsgesetzes im Oktober 2001 zeigt auf, dass mit dem Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft – immer mehr joint ventures und Privatbetriebe entstehen - auch die Arbeitsbeziehungen auf Betriebsebene neu definiert werden müssen.  Nunmehr ist gesetzlich vorgegeben, dass die Interessenvertretung der Arbeitnehmer auf Betriebsebene und der Abschluss von Tarifvereinbarungen die vorrangigen Aufgaben der Gewerkschaften sind. Das Gesetz fordert die Errichtung von Betriebsgewerkschaften in allen Unternehmen mit mehr als 25 Beschäftigten. Damit sollen vor allem im weitgehend unregulierten,  expandierenden privatwirtschaftlichen Bereich geordnete Arbeitsbeziehungen geschaffen werden. Konsequent ist deshalb die gegenwärtig stattfindende Umstrukturierung des Gewerkschaftsverbandes ACGB und seiner Mitgliedsverbände mit dem Ziel der Schaffung größerer Betriebsnähe. 

China tritt der WTO zweifach bei: Als Industriestaat, blickt man auf die entwickelten Küstenregionen, und als Entwicklungsland, blickt man auf das unterentwickelte Hinterland. Als WTO-Mitglied wird China zur verlängerten Werkbank transnationaler Konzerne, und damit Investitionen aus Entwicklungsländern und Tigerstaaten in der asiatischen Nachbarschaft abziehen. 70% der ausländischen Investitionen in Asien fließen bereits nach China und Hongkong. Wenn Premier Zhu Rongji auf der ASEAN plus Drei Konferenz in Brunei  im November des Jahres die Perspektive einer gemeinsamen Freihandelszone innerhalb der nächsten 10 Jahre offerierte und dazu entwicklungspolitische Unterstützung für die am wenigsten entwickelten Aseanstaaten ankündigte, so ist das bereits eine erste Perspektive der Konfliktmoderierung. 

Noch immer sind Korruption im Staats- und Parteiapparat, Nepotismus und mangelnde Transparenz in Politik und Wirtschaft Hindernisse auf dem Weg zum modernen Staat. KPC-Generalsekretär Jiang Zemin hat in seiner Rede zum 80. Parteijubiläum am 1. Juli 2001 deutlich gemacht, dass die KPC den Anschluss an die Wirtschaftsreformen und den sozialen Wandel im Land nicht verpassen darf. 

Mögen die Monopole in der Wirtschaft fallen, die politische Führung beharrt weiterhin auf dem politischen Herrschaftsanspruch der KPC als Voraussetzung zur Bewahrung der Stabilität und zur Mehrung des Wohlstands. Sie formuliert allerdings auch die Notwendigkeit der Modernisierung der Partei in Programm und Struktur. Unter dem etwas sperrigen Begriff der ‚drei Repräsentationen‘ hat Generalsekretär Jiang Zemin eine Kampagne zur Modernisierung der KPC angestoßen. An der Spitze der modernen Produktivkräfte zu stehen, die Entwicklung der Kultur und die Repräsentation der Grundinteressen der Bevölkerungsmehrheit seien die drei zentralen Aufgaben einer modernen KP Chinas. Die in der genannten Rede verkündete Bereitschaft zur Aufnahme der anwachsenden privaten Unternehmerschicht in die Partei ist symbolischer Ausdruck einer dann ideologisch kaum begründbaren Öffnung hin zur sich im Reformprozess wandelnden Gesellschaft. Auf dem Kongress der KPC im Herbst nächsten Jahres wird erwartbar die Hälfte der ZK-Mitglieder  ausgewechselt werden. Nachrücken wird die vierte Generation des kommunistischen China, die Nach-Kulturrevolutionsgeneration, mehrheitlich ausgestattet mit langjähriger Ausbildungserfahrung im westlichen Ausland.

Die Regierung Zhu Rongji nutzt die WTO-Mitgliedschaft als innenpolitisches Druckmittel zur Fortführung und Durchsetzung der  Reformpolitik. Im Interesse eines sich reformierenden und stabilen Chinas bleibt zu hoffen, dass der nach Ende der Amtszeit 2003 übernehmende Premiernachfolger in Problembewusstsein und Engagement hinter seinem Amtsvorgänger nicht zurückstehen wird.

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