Die Zukunft des Staates Israel:
Innere und äussere Perspektiven

Notizen und Beobachtungen zu einem internationalen Workshop der Friedrich-Ebert-Stiftung am 28. und 29. März 2001 in Berlin - von Stephan Stetter

Betr.: Organisatorisches
1. Ziel der Veranstaltung
(28. März, 09.30 Uhr)
Auszug aus dem Programm:
„Mit dem erdrutschartigen Sieg Ariel Scharons bei der Wahl zum neuen Ministerpräsidenten hat für Israel eine neue Phase der Politik begonnen. Sie wird geprägt sein durch große Unsicherheiten über die Zukunft des Friedensprozesses und damit auch hinsichtlich der Stabilität im Nahen Osten. [...] Die Krise des Friedensprozesses spiegelt aber auch die tiefere Krise der israelischen Gesellschaft wider. Die Unsicherheit der Israelis hat tiefere Gründe und das innenpolitische Chaos ist nur ein Symptom für eine schwere Identitätskrise. [...] Die Konferenz will den Ursachen der Krise nachgehen, die vor allem in einer Spaltung der Gesellschaft entlang mehrerer Konfliktlinien zum Ausruck kommt: orthodox - säkular; jüdisch - arabisch; arm - reich; europäisch/aschkenasisch - orientalisch/sephardisch; usw.. Darüber hinaus sollen die möglichen Auswirkungen dieser Spaltung auf den Friedensprozess erörtert und der Frage nachgegangen werden, was die Deutschen und die Europäer für die Förderung des Friedens im Nahen Osten weiterhin tun können und müssen."

Konferenzeröffnung durch Dr. Ernst-J. Kerbusch (Leiter der Abteilung Internationale Entwicklungszusammenarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung)
Trotz der beunruhigenden politischen Lage in Israel darf der Blick auf die Ursachen der Krise und mögliche Lösungswege nicht verloren gehen. Seit mehr als 30 Jahren befasst sich die Ebert-Stiftung intensiv mit dem Nahen Osten und hat seit mehr als 20 Jahren Büros vor Ort. Die Grundlinien des Engagements der Ebert-Stiftung sind deckungsgleich mit dem deutschen und europäischen Interesse an Frieden und Stabilität in der Region. Die Ebert-Stiftung ist sich der aus dem Holocaust erwachsenden besonderen Verantwortung Deutscher gegenüber Israel bewußt. Begrüßung der Teilnehmer, der Abgeordneten der Knesset und des Bundestages und der Mitarbeiter des Israel-Büros der Ebert-Stiftung Dr. Winfried Veit, Türkan Karakurt und Dirk Sadowski .

Betr.: Organisatorisches
2. Notizen zu den Teilnehmern
1. Israelische Teilnehmer
Die israelischen Teilnehmer vertraten sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in Israel. Für ein deutsches Publikum war dies wohl eine einmalige Gelegenheit, einen tieferen Eindruck von der Pluralität der israelischen Gesellschaft zu erhalten. Allein sieben Knessetmitglieder (von insgesamt 120) nahmen an der Konferenz teil. Im Verhältnis zum Deutschen Bundestag entspräche dies etwa 40 Bundestagsabgeordneten, die an einer Veranstaltung teilnehmen würden.

a) Knessetabgeordnete

b) weitere israelische Teilnehmer 2. Deutsche Teilnehmer Betr.: Äußere Perspektiven / Deutschland-Israel
Primor: „Auf Dauer ein besonderes Verhältnis: die deutsch-israelischen Beziehungen"
(28. März, 10.00 Uhr)
Avi Primor skizzierte die deutsch-israelischen Beziehungen vor dem Hintergrund von drei miteinander verwobenen Zeithorizonten.

1. Werdung des Staates Israel
 Man wollte in Israel nie mehr etwas von Deutschland wissen. Dies war die Lehre der Mehrheit der israelischen Bevölkerung aus dem Holocaust. Deutschland (West und Ost) sollte dauerhaft ein weisser Fleck auf israelischen Landkarten bleiben. Auf Druck der Bevölkerung kam es daher zu dem Eintrag in israelischen Reisepässen: „Gültig für alle Länder, mit Ausnahme Deutschlands". Dieser Eintrag kam wesentlich durch öffentlichen Druck zustande. Die politische Führung Israels war an partiellen Kontakten mit Deutschland interessiert - war sich aber des gesellschaftlichen Widerstandes bewusst. Als die Wiedergutmachung von der Knesset beschlossen wurde, schmissen Israelis Steine auf ihr Parlament...

2. Entwicklung des Staates Israel
...doch Ben-Gurion und die politische Führung konnten ihr Ziel erreichen. Ihr Argument war, dass es ein neues Deutschland gäbe, ein demokratisches, mit dem auch Israel Beziehungen pflegen sollte. Ben-Gurion sprach von einer moralischen Pflicht, denen in Deutschland zu helfen, die eine Demokratie aufbauen wollten und die nicht bereit waren, die Ermordung europäischer Juden durch Deutsche weiter zu verdrängen. Dies war die Grundlage für die ersten, zögerlichen Kontakte zwischen (West-)Deutschland und Israel, vor allem auf wirtschaftlicher Ebene. Hieraus bildeten sich seit den 60er Jahren immer stärkere zwischenmenschliche Kontakte. Diese Kontakte, die vielen Gespräche zwischen Israelis und Deutschen sind das Fundament der Beziehungen. Bilaterale Verträge schaffen Kontakte, eine Verwurzelung hat aber auf der menschlichen Ebene stattgefunden, so dass Deutschland heute neben den USA Israels wichtigster Partner ist...

3. Zukunft des Staates Israel
...auf diesem Fundament gilt es aufzubauen. In Israel setzt sich immer mehr die Auffassung durch, dass zukünftig vor allem die Beziehungen zu Europa von Bedeutung sein werden. Dies gilt insbesondere nach einem Friedensschluss mit den Palästinensern. Ein dauerhafter Frieden wird Israel neue Türen öffnen. Die EU ist bereits jetzt der wichtigste Nachbar Israels und Deutschland Israels wichtigster Fürsprecher in Europa. Israel möchte als Zukunftsperspektive aber nicht nur Verträge mit der EU sondern langfristig eine institutionelle Verankerung im vereinten Europa. Bereits 1994 hat der Europäische Rat in Essen Israel die Perspektive eines „privilegierten Status„ zugesichert.
 

Betr.: Äußere Perspektiven / Friedensprozess
4. Panel „Die Zukunft des Friedensprozesses"
Moderation: Bertram. Teilnehmer: Avital, Eitan, Harel, Tibi
(28. März, 10.30 Uhr)
Christoph Bertram fragte die Panelteilnehmer nach ihren Auffassungen zur Krise des Friedensprozesses, der Überlebenschancen der Osloer Bestimmungen und möglichen Wegen aus der Krise. Unterschiedlichste Bewertungen stießen dabei aufeinander, doch trotzdem war die prinzipielle Bereitschaft für eine tragfähige, dauerhafte Friedenslösung ein gemeinsamer Nenner.

1. Ursachen der Krise und der Gewalt: Politische Strategie oder berechtigte Enttäuschung?
Avital und Tibi verwiesen beide darauf, dass die tiefsitzende Enttäuschung in der palästinensischen Gesellschaft über die fortdauernde israelische Besatzung die eigentliche Ursache der Krise und der Gewalt ist. Avital machte aber auch darauf aufmerksam, dass die mangelnde Bereitschaft der palästinensischen Führung, die Gewalt zu stoppen ein ernstes Hindernis auf dem Weg zum Frieden ist. Eitan und Harel sehen in der Krise eine von der palästinensischen Führung bewußt angewandte politische Strategie und kritisierten die mangelnde Bereitschaft der westlichen Welt, die Palästinenser zu einem Ende der Gewalt zu bringen.

2. Wege aus der Gewaltspirale: Zurück nach Oslo, aber wie?
Alle Teilnehmer waren sich in der Verurteilung der Gewalt von beiden Seiten einig und übten teilweise auch Selbstkritik. Dennoch herrschte Dissens über Wege zurück zum Verhandlungstisch. Während Avital dazu aufforderte, die abgebrochenen Gesprächskontakte und Verhandlungen sofort aufzunehmen und nicht auf ein Ende der Gewalt zu warten, machte Eitan weitere substantielle Friedensverhandlungen von einem vorherigen Gewaltverzicht abhängig. Eitan und Harel forderten die EU auf, hierfür verstärkt Druck auf Palästinenserpräsident Arafat auszuüben.

3. Ein endgültiger Frieden! Aber auf welchem Nenner?
Tibi betonte, dass selbst die Vorschläge des damaligen Ministerpräsidenten Barak in Camp David weit von der palästinensischen Minimalforderung entfernt gewesen seien. Avital und Eitan bezogen sich hingegen auf Baraks Vorschläge als Basis einer dauerhaften Friedenslösung. Langfristig ist für beide Politiker nur ein friedliches Zusammenleben beider Seiten ein tragfähiges Fundament. Avital betonte, dass die Prinzipien eines dauerhaften Friedens bereits seit Oslo bekannt seien: eine Zweistaatenlösung kann das einzig tragfähige Ergebnis sein. Während Avital und Tibi auf die Besatzung des Westjordanlandes verwiesen, betonten Eitan und Harel die jüdischen Wurzeln dieses Gebietes. Harel lehnte daher auch Baraks Vorschläge ab. Die Siedlerbewegung sieht die besetzten Gebieten als integralen Bestandteil Israels. Aber auch Harel ließ Kompromissbereitschaft erkennen. Obwohl die Siedler eine Übergabe des Territoriums an die Palästinenser inhaltlich ablehnen, würden sie als Demokraten eine solche Entscheidung des israelischen Parlamentes oder der israelischen Bevölkerung dennoch akzeptieren.
 

Betr.: Äußere Perspektiven / Menschenrechte
5. Vortrag: Feffer „Friedensprozess und Menschenrechte"
(28. März, 12.00 Uhr)
Seit 1989 sammelt B‘Tselem Informationen über die Menschenrechtslage in den besetzten Gebieten. Tomer Feffer zeichnete ein düsteres Bild der Lage.

Aus der Perspektive der Menschenrechte ist Oslo kritisch zu sehen; von einer Verbesserung der Menschenrechtslage in den besetzten Gebieten seit Beginn des Friedensprozesses kann nicht gesprochen werden. Nach wie vor ist die Mehrheit der besetzten Gebiete unter israelischer Kontrolle und der gegen internationales Recht verstossende Siedlungsbau wird seit 1993 fortgesetzt. Durch israelische Kontrollen innerhalb der besetzten Gebiete werden Grundfreiheiten der Palästinenser, wie etwa die Bewegungsfreiheit, stark eingeschränkt. Viele Bestimmungen, die aus Sicherheitsgründen partiell Sinn machen, sind in ihrer Anwendung als Kollektivstrafen anzusehen und aus Menschenrechtsperspektive zu kritisieren. Die Lage eskaliert seit Beginn der Al-Aqsa Intifada im Oktober 2000. Israelische Sicherheitskräfte haben noch immer keinen Weg gefunden, Gewalt von palästinensischer Seite ohne leichtfertige Inkaufnahme von Toten einzudämmen. Es verstößt auch gegen internationales Recht, dass das israelische Militär de facto keine Ermittlungen gegenüber eigenen Soldaten einleitet, auch wenn begründeter Verdacht besteht, dass z.B. ohne vorhergehende Provokationen von palästinensischer Seite, Feuer eröffnet wurde.

Die grossen Hoffnungen in Bezug auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage, die mit Oslo verbunden waren, werden aber auch von der palästinensischen Politik enttäuscht. Die Autonomiebehörde errichtet ein fragwürdiges Regierungssystem in den von ihr kontrollierten Gebieten. Es kommt zu vielen Festnahmen ohne anschliessendes Gerichtsverfahren, Folter in Ermittlungen ist ein probates Mittel, das Gerichtssystem genügt nicht rechtsstaatlichen Kriterien und oft werden Todesurteile eilig von Sicherheitsgerichten verhängt. Auch die Zunahme von Anschlägen auf jüdische Siedler ist durch nichts zu rechtfertigen.

Die Lage in den besetzten Gebieten ist problematisch. Beide Seiten messen der Menschenrechtsfrage keine grosse Bedeutung bei und haben darüber hinaus die Fähigkeit zur Selbstkritik und Zurückhaltung verloren.

Betr.: Äußere Perspektiven / Rolle der EU und Deutschlands
6. Panel „Was können und sollen die Deutschen/Europäer im Nahen Osten tun?"
Moderation: Bertram. Teilnehmer: Hirschfeld, Moosbauer, Peretz, Tibi
(28. März, 12.30 Uhr)

Christoph Bertram fragte die Diskussionsteilnehmer nach ihrer Einschätzung der Rolle der EU und Deutschlands im Nahen Osten und zukünftigen Entwicklungspotentialen des Engagements, insbesondere in der Rolle der EU als „Finanzier" der palästinensischen Autonomiebehörde. Bertram warnte aber auch davor, Einflussmöglichkeiten zu überschätzen. Auch die USA haben in Camp David verstanden, dass Einfluss oft ein Einverständnis der Konfliktparteien vor Ort voraussetzt.

1. Die bisherige Rolle der EU: „Player or payer"?
Konsens herrschte in der Runde über die zentrale Bedeutung des bisherigen Engagements der EU, vor allem als wichtigster Geber von Geldern an die palästinensische Autonomiebehörde. Peretz betonte, dass die bisherige finanzielle Unterstützung überlebensnotwendig für die palästinensische Bevölkerung sei und daher nicht ausgesetzt werden sollte. Nur im Falle einer weiteren Eskalation der Gewalt sollte die EU auch ein Einfrieren der Zahlungen erwägen. Hirschfeld begrüßte die Zahlungen der EU ohne Umschweife, betonte aber ebenfalls die Notwendigkeit einer effizienten Kontrolle der Mittelvergabe. Ahmed Tibi begrüßte zwar das finanzielle Engagement der EU, vermisste aber ein weitergehendes politisches Vorgehen der Europäer. Die EU sei letztlich mehr „payer„ als „player„. Dieser Auffassung widersprach Moosbauer. Das finanzielle Engagement der EU ist gleichzeitig auch ein politisches. Moosbauer stellte ausserdem klar, dass bereits jetzt die Mittelvergabe an strenge Kontrollkriterien gebunden wird.

2. Handlungsoptionen für die EU: wie sieht aktives Engagement eigentlich aus?
Peretz warnte vor überzogenen Erwartungen in Bezug auf Einflussmöglichkeiten der EU oder anderer internationaler Akteure. Ihren Einfluss könnte die EU dann geltend machen, wenn sich Israel und die Palästinenser auf einen endgültigen Frieden geeinigt haben. Bei der Umsetzung eines Friedensvertrages sollten die EU und die USA bei der Realisierung der Vertragsbestimmungen unterstützend helfen. Kurzfristig soll die EU dazu beitragen, mäßigend auf die palästinensische Seite in Hinblick auf eine baldige Einstellung der Gewalt einzuwirken.

Hirschfeld betonte, dass bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine stärkere Rolle der EU vorstellbar sei. Da bereits Konzepte für den Endfrieden vorliegen (Beilin-Abu Masen Abkommen und die daran angelehnten Clinton-Vorschläge) sollte die EU beide Seiten öffentlich bestärken, die in diesen Vorschlägen niedergelegten Prinzipien zu verfolgen. Dies wäre eine wichtige Vermittlerrolle Europas. Die EU muss auch klar machen, dass ein Rückkehrrecht für Palästinenser nach Israel nicht mit den Osloer Prinzipien vereinbar ist. Noch stärker als bisher sollte die EU israelisch-palästinensische Friedensprojekte und den Ausbau zivilgesellschaftlicher Institutionen in den palästinensischen Gebieten fördern.

Im Gegensatz hierzu kritisierte Tibi die EU-Nahostpolitik, da diese zu passiv sei. Vor allem Deutschland zeige zu wenig Verständnis für die Palästinenser und fördere eine zu große Zurückhaltung gegenüber Israel. Tibi forderte die EU auf, Produkte aus den jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten zukünftig zu boykottieren.

Moosbauer betonte das ureigene europäische Interesse an der weiteren Entwicklung im Nahen Osten, machte aber auch klar, dass die EU nur Rahmenbedingungen stellen kann und dass substantielle Fortschritte im Friedensprozess aus der Region kommen müssen. Zur Unterstützung dieses Prozesses sollte die EU weiterhin ihre guten Dienste anbieten, wie etwa (finanzielle) Unterstützung der diversen Friedenskräfte vor Ort. Für Deutschland ist die Sicherheit des Staates Israel weiterhin die Prämisse der Nahostpolitik. Moosbauer warnte vor überzogenen Erwartungen über die Geschwindigkeit des Friedensprozesses. Derart komplexe politische Prozesse können nicht in wenigen Jahren vollständig gelöst werden.

Betr.: Äußere Perspektiven / Israel
7. Panel „Wo steht Israel heute?"
Moderation: Erler. Teilnehmer: Bronfman, Goldschmidt, Sandler, Weisskirchen
(28. März, 15.00 Uhr)

Gernot Erler forderte dazu auf, die Betrachtung der Lage im Nahen Osten nicht auf den Friedensprozess zu reduzieren. In der EU habe sich, ähnlich wie in den USA, die Sichtweise durchgesetzt, den Nahen Osten in seinem regionalen Zusammenhang zu verstehen. Es kann derzeit von einem größeren Krisenbogen gesprochen werden der sich über den Balkan, den Nahen Osten, das Schwarze Meer und den Kaukasus bis hin zum Kaspischen Meer erstrecke. All dies muss von Europa bei der Konzeption einer Nahostpolitik mitgedacht werden.

1. Wie ist der Konflikt zu bewerten: Westfalen in Nahost?
Sandler stellte einen historischen Bezug zwischen der europäischen Geschichte und der Entwicklung der letzten Jahrzehnte im Nahen Osten her. Der Nahe Osten befinde sich in einem Zeitalter der „low intensity conflicts", d.h. es sei nicht direkt mit Krieg zwischen Staaten in der Region zu rechnen, dafür aber verstärkt mit „bürgerkriegsähnlichen", ethnisch-nationalen Auseinandersetzungen, wie etwa der Al-Aqsa Intifada seit Oktober 2000. Die EU hat im Gegensatz zu den USA die historische Erinnerung an solche Konflikte, die in vielem an Europa nach dem Westfälischen Frieden erinnern. Der arabisch-israelische Konflikt (Kriege zwischen Staaten) habe sich immer mehr in einen palästinensisch-israelischen Konflikt verwandelt. Die Komplexität des Konfliktes werde eine baldige Lösung schwierig machen und ein längerer Zeithorizont muss in Betracht gezogen werden. Europa, so Sandler, habe nach dem Westfälischen Frieden von 1648 schliesslich 300 Jahre benötigt, um dauerhaften Frieden herzustellen.

2. Rolle der EU und zukünftige Beziehungen mit Israel
Sandler zeigte sich skeptisch gegenüber einer größeren Rolle der EU, die bereits auf dem Balkan nicht in der Lage war, zur Konfliktlösung beizutragen. Bronfman und Goldschmidt hingegen sprachen sich für eine verstärkte Rolle der EU aus. Freilich waren beide skeptisch ob der Erfolgsaussichten einer solchen Initiative. Goldschmidt stellte fest, dass durch ihren finanziellen Leistungen an die Palästinenser, die EU bereits jetzt eine Schlüsselrolle im Nahen Osten habe. Was allerdings Handlungsoptionen zur Beendigung der derzeitigen Gewalt angehe, habe die EU kaum Möglichkeiten. Bronfman kritisierte die nach wie vor bestehenden Unstimmigkeiten über die EU-Nahostpolitik zwischen den Mitgliedsstaaten.

Sowohl Bronfman als auch Goldschmidt begrüßten die Vorschläge Primors für eine institutionelle Verankerung Israels in der EU. Bronfman betonte, er könne sich Israel langfristig als Beitrittskandidaten vorstellen.

Weisskirchen stellte die starken Sicherheitsinteressen der EU an einem stabilen Nahen Osten dar. Die Nahostpolitik der EU kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie gemeinsam mit den USA nach einem gemeinsamen Nenner sucht. Die EU sollte verstärkt beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in den palästinensischen Gebieten helfen, um so die Symmetrie mit Israel zu erhöhen.

3. Auf dem Weg zum Frieden: der Beitrag Baraks
Trotz der deutlichen Wahlniederlage Ehud Baraks gegen Ariel Scharon im Februar 2001, gab es eine überraschend positive Bewertung der politischen Rolle Baraks. Sandler, obschon den Osloer Bestimmungen kritisch gegenüberstehend, zeigte sich überzeugt, dass Barak als bedeutender Ministerpräsident in die israelische Geschichte eingehen wird, da er in Camp David als erster führender Politiker einer endgültigen Friedensregelung eine klare Gestalt gegeben habe. Goldschmidt und Bronfman bezeichneten die Vorschläge Baraks als mutige und innovative Grundlage eines historischen Kompromisses zwischen Israelis und Palästinensern. Gemeinsam mit Weisskirchen erwarten sie, dass eben diese Vorschläge die zukünftige Verhandlungsgrundlage bilden werden. „Wir werden", so Weisskirchen, „wieder bei Barak ankommen."

4. Diskussion
In einer bewegten Stellungnahme forderte der Gouverneur der autonomen palästinensischen Region Jenin zu einer Fortsetzung des Osloer Friedensprozesses auf. Es müsse aber noch mehr gemacht werden, damit sich Israelis und Palästinenser auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Die Tabubrüche durch Barak seien zu begrüßen, aber es bedürfe noch größerer Kompromissbereitschaft. Dies gelte auch für die Palästinenser, die den Friedensprozess aus eigenem Interesse nicht stoppen dürfen.

Betr.: Äußere Perspektiven / Kaniuk
8. Öffentliche Vortragsveranstaltung „Begegnung mit Yoram Kaniuk"
Moderation: Fuchs. Weitere Teilnehmer: Avital, Moosbauer
(28. März, 19.00 Uhr, Willy-Brandt-Haus)

Eindringlich schilderte Yoram Kaniuk seine ganz persönliche Sichtweise der Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern.

Viele Hoffnungen in Bezug auf die Möglichkeiten für einen echten Frieden sind in den letzten Monaten zerstoben. Das größte Problem ist die immer wiederkehrende Rolle der Geschichte. Israelis und Palästinenser haben es nach wie vor nicht gelernt, die gegenseitige Geschichte zu würdigen. Die Vertreibung der Palästinenser ist ein Unrecht gewesen. Dies gebe aber niemandem das Recht, Israel, dem jüdischen Staat, sein Existenzrecht abzusprechen (und dem käme ein Rückkehrrecht für alle Palästinenser gleich). Es gibt eine gerechte, moralische Grundlage für die Existenz Israels. Als Eichmann die Juden verkaufen wollte, war kein Staat bereit, diese Verfolgten aufzunehmen. Hätte Israel zu diesem Zeitpunkt, 1942, bereits bestanden, wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können. Für die Juden gab es nach dem Holocaust keine andere Wahl, als einen eigenen Staat zu gründen. Israel ist kein Fremdkörper im Nahen Osten. „Ich, meine Tochter und mein Hund", so Kaniuk, „sind dort geboren. Der Hund sieht auch so aus und benimmt sich so."

Israelis und Palästinenser müssen um der Zukunft willen aufhören, in Klischees von der anderen Seite zu denken und sich echtem Dialog öffnen. Gemeinsam mit dem arabischen Schriftsteller Emil Habibi hatte Kaniuk während der 1. Intifada seit 1987 eine jüdisch-arabische Organisation gegründet, die nach Wegen zu einem friedlichem Miteinander suchte. Es wurden Vorschläge zur Errichtung eines Zweistaatenmodells mit Jerusalem als geteilter Hauptstadt erstellt. Hinter diesem Komitee, wie sich später herausstellte, stand Yassir Arafat. Es fehlt aber an mutigen öffentlichen Stellungnahmen, nicht an geheimgehaltener Zustimmung. Baraks Vorschläge aus Camp David sind hier die große Ausnahme gewesen.

Derzeit geschehen fürchterliche Dinge, es wird gemordet und beide Seiten sprechen unterschiedliche Sprachen. Aus diesem Dilemma kann nur eine neue Dialogsituation führen. Dies ist ein schwieriger Weg, aber „wir haben nur unsere Köpfe, die müssen wir benutzen". Für einen Neuen Nahen Osten bedarf es auch eines Neuen Denkens. „Vielleicht gibt es dafür keine Chance, aber wir müssen so tun, als gäbe es sie", forderte Kaniuk.

Eine Überwindung der Gewaltspirale würde beiden Gesellschaften endlich die notwendige Ruhe geben, ihre inneren Probleme, vor allem diejenigen sozialer Natur, anzugehen. Um dies zu erreichen, rief Kaniuk zu mehr Mäßigung auf: „Araber und Juden haben ein Problem, sie wollen immer Recht haben. Jetzt ist aber Zeit für Kompromisse. Lasst uns weniger Recht haben, aber dafür klüger sein."

Betr.: Innere Perspektiven / Einführung
1. „Eine gespaltene Gesellschaft auf der Suche nach einer neuen Identität"
Einführung: Veit
(29. März, 9.30 Uhr)

Winfried Veit erinnerte an die Diskussion am vorherigen Tag des Workshops und die Pluralität der Meinungen in Israel zu aussenpolitischen Fragen. Aber auch in inneren Fragen ist die israelische Gesellschaft durch viele Brüche gekennzeichnet. Auf der einen Seite ist dies ein positives Beispiel einer lebendigen Demokratie, andererseits aber könnte aus der zunehmenden Dominanz partieller Eigeninteressen eine Gefährdung des demokratischen Miteinanders entstehen. Eine zunehmende innere Fragmentierung birgt auch Risiken in Bezug auf die äußere Friedensfähigkeit Israels...

...eine zunehmende Instabilität Israels zeigt sich anhand der andauernden Regierungswechsel seit der Ermordung Yitzchak Rabins im November 1995...

...aufbauend auf seinen positiven Erfahrungen mit Zukunftsszenarien, die er als Leiter des FES-Büros in Südafrika während des dortigen Regimewechsels gemacht hat, hat nun auch das FES-Büro in Israel ein Szenarioprojekt durchgeführt. Dies soll im weiteren Verlauf des Workshops präsentiert werden und die Grundlage der sich anschliessenden Diskussionen bieten.

(Für weiterer Informationen zum Szenario siehe Szenario der Friedrich Ebert Stiftung.)

Betr.: Innere Perspektiven / Szenario
2. „Israel im Jahre 2025 - Szenarien der zukünftigen Entwicklung
Präsentation: Sadowski, Kommentar: Hirschfeld
(29. März, 9.45 Uhr)

Dirk Sadowski stellte die Ergebnisse des Szenarioprojekts vor. Bei der Erarbeitung der Zukunftsszenarien ging es den Teilnehmern nicht um das Aufstellen gemeinsamer Zielvorstellungen, sondern um möglichst realistische Zukunftsoptionen. Die Gruppe erarbeitete die Szenarien zwischen Januar 1999 und Juni 2000, bestand aus Vertretern der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen Israels und wurde gemeinsam von Yair Hirschfeld und Israel Harel geleitet. Nach Anhörung von Expertenvorträgen über Themen wie demographische, soziale, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Entwicklungstrends wurden vierzehn verschiedene Einzelszenarien aufgestellt. Aus dieser Zahl wurden daraufhin von der Gruppe vier zentrale potentielle Entwicklungswege der israelischen Gesellschaft herausgefiltert.

Als gemeinsamen Nenner einigte sich die Gruppe darauf, dass Israel derzeit von sich überlagernden und gegenseitig verschärfenden innergesellschaftlichen Konflikten geprägt ist. Man einigte sich auf die Allegorie eines „Schiffes in einem Sturm". Wohin steuert das „israelische Schiff". Dies sind die vier Szenarien der künftigen Entwicklung

1. Israel als Sklavenschiff - Diktatur der jüdischen Mehrheit über die arabische Minderheit
Dieses Szenario geht von einer dauerhaften Fortsetzung des israelisch-palästinensischen Konflikts aus. Daher bleibt auch die Sicherheitslage Israels angespannt, was zu verstärkten sozialen Spannungen, insbesondere zwischen der nach nationalen Rechten strebenden arabischen Minderheit und der jüdischen Mehrheitsbevölkerung führt. Es kommt immer wieder zu gewaltsamen Protesten und damit einhergehend zu restriktiveren Gesetzen gegen die arabische Minderheit durch eine rechts-religiös geprägte politische Mehrheit.

2. Israel als umherdriftendes Schiff - Der Verlust des jüdischen Charakters des Staates
Dieses Szenario geht von einer zumindest partiellen Lösung des israelisch-arabischen Konflikts aus. Dies führt zu einer zunehmenden Konzentration auf die innergesellschaftlichen Konflikte. Der zionistische Konsens wird von links-liberalen jüdischen Gruppen zunehmend in Frage gestellt. Gleichzeitig stellt die arabische Minderheit den jüdischen Charakter des Staates immer mehr in Frage. Schrittweise verschwinden die bisher identitätsstiftenden jüdischen Symbole aus dem öffentlichen Leben. Der jüdische Staat verliert damit seine eigentlichen Grundlagen.

3. Israel verteilt sich auf drei Beiboote - die Autonomisierung der Gesellschaft
Hier wird von ebenfalls von einer zumindest partiellen Lösung des israelisch-arabischen Konflikts ausgegangen. Die arabische Minderheit stellt ebenfalls den jüdischen Charakter zunehmend in Frage, trifft allerdings auf den vereinten Widerstand des jüdischen Teils der Bevölkerung. Gleichzeitig verschärft sich aber innerhalb des jüdischen Lagers der Widerspruch zwischen religiösen und säkularen Gruppen über die Zukunft des Staates. Als Antwort auf die separatistischen Tendenzen der Araber und der Religiösen löst sich der Staat Israel in eine Pseudo-Föderation voneinander entfremdeter autonomer gesellschaftlicher Einheiten auf.

4. Israel steuert in ruhigere Fahrwasser - Dialog und Verzichtsbereitschaft
Das einzig optimistische Szenario. Es basiert nicht zuletzt auch auf Wunschdenken, dass die offensichtlichen inneren Spannungen aufgelöst werden können. Für dieses Szenario geht die Gruppe von einer umfassenden Lösung des israelisch-arabischen Konfliktes aus. Die inneren Widersprüche sind auch in diesem Szenario Ausgangspunkt. Allerdings einigen sich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auf einen neuen „sozialen Vertrag„ für Israel. Dialog und Verzichtsbereitschaft aller Gruppen sind hierfür Voraussetzung, das Resultat eine Stärkung des inneren Friedens, eine Konsolidierung des jüdischen Charakters des Staates bei gleichzeitig verbesserter Lage der arabischen Minderheit.

In seinen Anmerkungen machte Yair Hirschfeld einige ergänzende Bemerkungen. Die verschiedenen Teilnehmer sind sich unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung bewusst gewesen, dass der innergesellschaftliche Dialog in Israel gestärkt werden muss. Die Gruppe konnte sich auf die drei Negativszenarien einigen, das positive Szenario, dies ist allen Teilnehmern bewusst gewesen, basiert zu einem großen Teil auch auf Wunschdenken. Das Problem in Israel sei sehr oft, dass Dialoge etwa zwischen linken und rechten Gruppen, oder sogar zwischen Siedlerbewegung und der Palästinenserbehörde auf geheimgehaltener Ebene durchaus konstruktiv stattfinden, dass es aber an Bereitschaft fehlt, für diesen Dialog auch öffentlich einzustehen.

Betr.: Innere Perspektiven / Juden-Araber: Konfliktlinien
3. „Jüdischer Staat oder Staat aller Bürger?"
Moderation: Goldschmidt, Teilnehmer: Al-Haj, Avital, Sandler, Tibi
(29. März, 11.15 Uhr)

Elie Goldschmidt stellte heraus, wie emotionsgeladen dieses Thema ist. In seiner Substanz stellt sich die Frage „Jüdischer Staat oder Staat aller Bürger„ seit der Gründung Israels, hat aber in jüngster Zeit an Bedeutung und Intensität zugenommen. Die Ausschreitungen israelischer Palästinenser im Oktober 2000 und die Reaktion der israelischen Polizei sind ein Anzeichen hierfür. Während es auf juristischer Ebene formelle Gleichheit gibt, ist Diskriminierung etwa in Budgetfragen oder im öffentlichen Leben immer noch präsent.

In der Diskussion waren die weitreichenden Meinungsunterschiede zwischen Juden und Arabern nicht zu überhören.

Al-Haj und Tibi sprachen sich gegen die Option eines jüdischen Staates aus. Tibi sieht in dieser Konzeption eine kollektive Vereinnahmung des Staates durch die Juden auf Kosten der nicht-jüdischen Gruppen, die dauerhaft ausgeschlossen bleiben. Al-Haj verwies auf den Widerspruch zwischen dieser ethno-zentrischen Staatsdefinition und der multikulturellen Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens in Israel. Der jüdische Charakter des Staates führt für die palästinensische Minderheit zu einer doppelten Ausgrenzung. Einerseits aus der israelischen Gesellschaft, andererseits aus der entstehenden palästinensischen Gesellschaft in den Autonomiegebieten. Ebenfalls skeptisch zeigten sich sowohl Al-Haj als auch Tibi über die Anwendbarkeit des Konzeptes „Staat aller Bürger" für die palästinensische Minderheit. Dieses formal-demokratische Konzept erkennt nur individuelle Rechte Einzelner gegenüber dem Staat an, verkennt damit die kollektive Identität der palästinensischen und anderer Minderheiten.  Tibi äußerte als Zielvorstellung die volle bürgerliche Gleichberechtigung der Minderheiten, die Anerkennung des Status einer nationalen Minderheit für die israelischen Palästinenser (und anderer Gruppen) sowie eine Abkehr von der zionistischen Ausrichtung des Staates. Hierzu sollte vor allem das Rückkehrrecht für Juden abgeschafft werden.
 

Andere Auffassungen wurden von Avital und Sandler vertreten. Beide sprachen sich dafür aus, den jüdischen Charakter des Staates aufrecht zu erhalten. Avital wies darauf hin, dass Demokratie sich sowohl durch die Macht der Mehrheit als auch durch die Wahrung der Rechte von Minderheiten auszeichne. Der Widerspruch zwischen jüdischem Staat und Gleichberechtigung nicht-jüdischer Gruppen wird daher oft überzeichnet. Es geht darum, das jüdische und das demokratische Element Israels zu stärken. Die arabische Minderheit muss allerdings in Zukunft stärker in die Entscheidungszentren Israels integriert werden. Sandler verwies darauf, dass es für den Staat Israel keine andere historische Rechtfertigung als sein Hervorgehen aus der zionistischen Nationalstaatsidee gibt. Aus praktischer Perspektive ist genau diese Überzeugung einer der stärksten Gründe, die für einen Rückzug Israels aus dem Westjordanland und ein Zweistaatenmodell sprechen, denn ohne diesen Rückzug würde der jüdische Charakter des Staates mittelfristig ausgehöhlt. Gemeinsam mit Al-Haj sprach sich Sandler auch gegen eine allzu einfache Übertragung des Konzeptes „Staat aller Bürger„ auf die Minderheiten aus. Auch er sieht eine Zukunftsperspektive in einer verstärkten Hinwendung zu multikulturellen Konzepten des Zusammenlebens zwischen jüdischer Mehrheit und nicht-jüdischen Minderheiten.

Betr.: Innere Perspektiven / Religiöse-Säkulare: Konfliktlinien
4. „Demokratie oder Gottesstaat?"
Moderation: Primor, Teilnehmer: Bronfman, Gal-On, Peretz
(29. März, 13.30 Uhr)

 Avi Primor unterstrich, dass das Judentum die einzige national ausgerichtete monotheistische Religion ist. Sie ist auf ein Volk eingeschränkt. Was bedeutet dies für die Juden in Israel? Wie zentral ist die Rolle der Religion für das gesellschaftliche Leben? Auf diese Fragen gab es, je nach Standpunkt der Diskussionsteilnehmer, konträre Auffassungen.

Gal-On und Bronfman kritisierten die mangelnde Trennung von Staat und Religion in Israel. Es gibt nach ihrer Auffassung einen Kampf zwischen liberaler und fundamentalistischer Weltanschauung. Religion sollte allein Sache des Individuum sein.  Vieles in Israel, so Bronfman, passt nicht in eine moderne Demokratie, etwa die zentrale Rolle der Rabbinatsgerichte in Ehe- und Familienfragen oder die religiöse geprägte Definition der Frage „Wer ist ein Jude?". Gal-On führte Beispiele aus dem Familienleben auf, die religiösen Zwang der orthodoxen Minderheit auf die säkulare Mehrheit bezeugen. Nur eine Trennung von Staat und Religion kann Israel dauerhaft seine Stellung als Teil der demokratischen Welt garantieren. Der gemeinsame Nenner aller Israelis liegt nach Bronfman jenseits religiöser Fragen. Gal-On machte einen Rekurs zum vorhergehenden Panel. Israel ist nicht ein jüdischer Staat, sondern der Staat des jüdischen Volkes. Eine solche Definition erlaubt auch die volle Gleichberechtigung der nicht-jüdischen Minderheiten und eine „Israelisierung" der israelischen Gesellschaft.

Eine entgegensetze Deutung gab Yair Peretz. In seinem Vortrag hob er die demokratische Tradition der jüdischen Religion hervor. Das Judentum basiert auf der Idee des Rechts auf freie Meinungsäußerung und schon im Talmud werden Mehrheitsentscheidungen propagiert. Er wolle keinen Staat in dem die Macht eine religiöse ist. Andererseits darf Israel auch kein vollkommen säkularer Staat werden, denn die Juden brauchen eine Heimstätte für ihre einzigartige Kultur. Das Judentum ist diese kulturelle Wurzel des Staates Israel. Ohne seinen jüdischen Charakter hat Israel keine Existenzberechtigung. Peretz bedauerte die verstärkten Spannungen der letzten Jahre zwischen Säkularen und Religiösen und machte hierfür allzu weltlich geprägte Entscheidungen u.a. des Obersten Gerichtshofes verantwortlich (z.B. Öffnung von Geschäften am Schabbat), der nicht genügend Rücksicht auf die Vorstellungen der anwachsenden orthodoxen Bevölkerungsteile genommen habe.

Betr.: Innere Perspektiven / Bürgerrechte
5. „Bürgerrechte in Israel"
Vortrag: Carmi
(29. März, 14.30 Uhr)

Na‘ama Carmi zeichnete ein tristes Bild der Bürgerrechte in Israel. Zivilgesellschaftliche Strukturen sind nach wie vor stark ausbaufähig. Ein Grund hierfür geht bereits auf die Phase vor der Errichtung des Staates zurück, denn dessen Gründer kamen mehrheitlich aus Osteuropa, wo Bürgerrechte westlicher Prägung nicht von größerer Bedeutung gewesen sind. So fehlt in Israel bis auf den heutigen Tag eine Verfassung, die die universellen Menschenrechte formell festschreibt und dem Bürger Freiheitsrechte gegenüber staatlicher Machtausübung garantiert. Heute kommt der entscheidende Widerstand von religiösen Gruppen, die gegen Gleichheit und eine Zivilverfassung sind. Auch der langjährige Konflikt mit der arabischen Welt hat zu einer Unterbewertung der Bedeutung von Bürgerrechten auf Kosten eines starken Staates geführt.

In Israel gibt es heute viele gesellschaftliche Gruppen, die durch das Fehlen ausgeprägter zivilgesellschaftlicher Strukturen Benachteiligungen ausgesetzt sind. Dies gilt etwa für Araber, Frauen, nicht-jüdische Einwanderer, Homosexuelle oder Fremdarbeiter. Carmi führte zahlreiche Beispiele umfassender Benachteiligung dieser Gruppen in ihrem Vortrag auf.

Einer der wenigen „Verbündeten" in Bürgerrechtsfragen ist in der Vergangenheit der Oberste Gerichtshof Israels gewesen, der in einigen Urteilen zivilgesellschaftliche Strukturen entscheidend gestärkt hat. Als Beispiel ist das Verbot von Foltermethoden bei Befragungen durch die israelischen Sicherheitsbehörden zu nennen. Das Bewußtsein, dass Bürgerrechte kein Luxusgut einer saturierten Gesellschaft sind, setzt sich in Israel nur langsam durch. Einer umfassenden Veränderung der Gesetzeslage, bis hin zur Verabschiedung einer Verfassung, muss daher zwangsläufig eine Veränderung von Normen und Denkarten in der israelischen Gesellschaft vorausgehen.

Betr.: Innere Perspektiven / Identität
6. „Eine gespaltene Gesellschaft auf der Suche nach einer neuen Identität"
Moderation: Diner, Teilnehmer: Al-Haj, Bronfman, Gal-On, Goldschmidt, Peretz
(29. März, 15.00 Uhr)

Dan Diner stellte eingangs die Beziehung zwischen der Identitätsfrage in Israel und dem Nahostkonflikt dar. Oslo versucht danach die historische Erinnerung, d.h. die Identitäten beider Seiten zu neutralisieren und einen auf die Gegenwart und Zukunft gerichteten Prozess in Gang zu setzen. Der Gipfel von Camp David im Sommer 2000 hat dann aber gezeigt, dass auch heute noch eine Einigung an Identitätsfragen scheitern kann. Der Tempelberg, die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge, all diese Themen symbolisieren Zugehörigkeits- und Identitätsfragen. Auch in Israel spielt eine so verstandene Identität eine grosse Rolle. Dennoch besteht Hoffnung auf Kompromissbereitschaft, denn auch Identitäten sind Veränderungen und Anpassungen unterworfen. Es kann auch hilfreich sein, dass Israel heute zwar nicht multikulturell ist, dafür aber doch eine gewisse Heterogenität in den Teilidentitäten der Gesellschaft aufweist.  Für die Entwicklung einer Identität in der Vielfalt gilt es die Schnittmenge dieser verschiedenen Narrative herauszufinden. Der gemeinsame Nenner basiert auf dem Zusammenspiel von Staatsgebiet, jüdischem Charakter des Staates und der zivil-demokratischen Ausrichtung seiner Institutionen.

Gal-On zeigte sich besorgt über die Entwicklung zentraler Teilidentitäten in Israel. Der religiöse, nicht-orthodoxe Zionismus, wie er in den Siedlungen im Westjordanland zum Ausdruck kommt, ist Indiz einer groß-israelischen Territorialideologie. Die Implikationen dieser Entwicklung sind weitreichend, denn es kommt zu einer Magnetwirkung nationalistischer Ideologien auf die ultra-orthodoxen und moderat-rechten Gruppen in Israel.

Al-Haj machte in seiner Stellungnahme auf die Identitätskonflikte in der palästinensischen Bevölkerung Israels aufmerksam. Die Araber Israels sind jeweils nur „Teilmitglieder" sowohl der israelischen als auch der entstehenden palästinensischen Gesellschaft. Derzeit kann man einen Kampf der gesellschaftlichen Gruppen zur Bewahrung ihrer jeweiligen Identitäten beobachten. Um Ängste abzubauen soll sich Israel auf mehr kulturelle Autonomie, so z.B. im Schulwesen, einlassen. Gleichzeitig sollte die Bereitschaft gefördert werden, mehr über andere gesellschaftliche Gruppen zu lernen. Juden und Araber sollten ihre kulturelle Autonomie achten, gleichzeitig aber in einen Dialog über ihre jeweiligen Kulturen eintreten. Dem Erziehungssystem kommt hierbei eine zentrale Rolle zu.

Peretz zeichnete ein vielschichtiges Bild der israelischen Gesellschaft. Aus der homogenen Gesellschaft der Gründerjahre bilden sich seit den 80er Jahren die individuellen Identitäten einzelner Gruppen heraus. Israel ist heute eine multikulturelle Gesellschaft. Doch der Preis dafür ist hoch, denn die klassische Identität ist verloren gegangen und Israel ist gesellschaftlich tief zerstritten. Peretz zeigte sich aber überzeugt, dass eine neue Generation ein neues gesellschaftliches Zentrum und neue Solidarität schaffen kann.

Auch Bronfman sah Israel als „modernen babylonischen Turm", wies aber darauf hin, dass es eine Basis für eine einheitliche Identität gibt. Israel ist auf der normativen Ebene in Richtung europäischer Werte ausgerichtet. Auf dieser Basis gilt es aufzubauen, um die nicht zu leugnende Zersplitterung der Gesellschaft aufzuhalten.

Goldschmidt stellte einen etwas anderen Blickwinkel her. Gerade die ethnische Vielfalt, der „Misch-masch" der Gesellschaft ist typisch israelisch. Dies ist keine neue Entwicklung, denn bereits seit der Staatsgründung ist Israel multikulturell. Dies wurde lediglich im öffentlichen Diskurs geleugnet, wo lange die Schaffung eines „homogenen Israeli" angestrebt wurde. Heute fällt es Israel leichter seine heterogene Einheit zu akzeptieren. Es ist eine besondere Leistung der israelischen Demokratie, diese unterschiedlichen Identitäten miteinander im Dialog zu halten. In einer Demokratie können viele Identitäten nebeneinander stehen, solange die demokratischen Werte den verbindlichen Kontext bilden.

Betr.: Innere Perspektiven / Abschlussveranstaltung
7. „Aus der Geschichte Israels"
Erfahrungen und Gedanken. Eine persönliche Auseinandersetzung mit einer Lesung von Yoram Kaniuk und Liedern von Einat Sarouf und Tamir Harpaz
(29. März, 19.00 Uhr)

Zu Beginn der abendlichen Abschlussveranstaltung, die in einem festlichen Rahmen stattfand, las Werner Puschra aus Yoram Kaniuks Buch „Verlangen".

Yoram Kaniuk betrat daraufhin persönlich die Bühne und sprach auf sehr persönliche Weise darüber, wie sich die Geschichte Israels mit seiner eigenen Lebensgeschichte berührt, gerieben und entwickelt hat. Er erzählte aus den Anfängen des Staates: die Konfrontation mit dem Krieg. Der Unabhängigkeits-krieg 1948 traf den damals achtzehnjährigen Kaniuk unvorbereitet, entstammte er doch einem bürgerlichen, mitteleuropäisch-deutsch geprägten Elternhaus, in dem Kultur als oberster Wert firmierte. Aus der Welt der Bücher und Musik, der Intimität von Schiller und Brahms fand sich der junge Kaniuk unvermittelt an „einem schrecklichen Ort" wieder, einer Kompanie von 23 jungen Juden, von denen nur drei den Krieg überleben sollten.

Der Krieg, die Erfahrung von Leid, Mord und roher Gewalt auch auf jüdischer Seite ließ Kaniuk in Konfrontation zum eigenen Volk treten. Wie unterschiedlich waren doch diese Erfahrungen mit denen der Jugend im Mandatsgebiet, als es noch Hoffnung auf weniger Konfrontation gab. Seine Eltern waren beim von Toscanini 1936 dirigierten Eröffnungskonzert des Philharmonischen Orchester Palästinas (dem späteren Israelischen Philharmonischen Orchester) anwesend, dass von Bronislaw Huberman gegründet wurde. Es gab damals in Tel Aviv noch keine asphaltierten Wege und das Konzert fand unter einem Blechdach statt. Der einsetzende Regen vermischte sich mit den Melodien der Musik. Diese Einfachheit und die Botschaft der Musik hat Hoffnung auf eine einfache aber friedliche Zukunft gegeben. Auch wenn dieser Wunsch bis heute ein Traum geblieben ist, und „Wahnsinn, Schmerz und der Schock des Kampfes und ein wenig Lachen das Geflecht sind, das mich geschaffen hat", so bekräftigte Kaniuk doch die Kraft des Willens. Den Verletzungen der Geschichte trotzend, stellte er der Wirklichkeit seinen Willen entgegen. „Ich habe", so Kaniuk abschliessend, „irgendwann beschlossen, normal zu sein, normal zu leben. Ich weiss nicht, ob ich erfolgreich war, aber ich habe es versucht."

Den Abschluss der Veranstaltung bildeten jüdische und israelische Lieder, aufgeführt von Einat Sarouf und Tamir Harpaz. Auch in der Musik kam das Leitmotiv des Workshops zum Ausdruck. Die Vielfalt Israels, denn die Lieder entstammten unterschiedlichsten Kulturen. Jiddische, sephardische, israelische Lieder wechselten sich dabei ab. Kann es angesichts dieser Vielfalt Verbindendes geben?

Ein Bild gab zu Hoffnung Anlass. Die Sängerin bat die israelischen Teilnehmer zu einem Schlusslied auf die Bühne. Gesungen wurde das Friedenslied (Schir-Ha-Schalom). Seit der Ermordung Rabins steht diese Lied für den Wunsch nach Frieden, es war das Lied, das Rabin sang, wenige Minuten bevor ihn die tödlichen Schüsse trafen. Und gemeinsam sangen alle Israelis, die an der Veranstaltung teilnahmen, Rechte und Linke, Säkulare und Religiöse, Juden und Araber dieses Lied. Ein bewegender Moment und ein besonderer Augenblick, den man lange festhalten möchte und der den Glauben an die Möglichkeit zu Dialog und Miteinander in den inneren und äußeren Beziehungen Israels aufrecht erhält.



Stephan Stetter, im April 2001
(Politikwissenschaftler, M.Phil., M.Sc., geboren 1972 in Konstanz, Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Studium an den Universitäten in Heidelberg, Jerusalem, London (LSE) und Florenz (EUI). Promoviert am Department of Government der London School of Economics über die Nahostpolitik der Europäischen Union)