Szenarien für Israels Zukunft

Wie wird die israelische Gesellschaft im Jahr 2025 aussehen? Und welche Entwicklungen wird sie bis dahin durchlaufen? Wird es ihr gelingen, die tiefen Risse, die sie heute kennzeichnen, zu überwinden? Und wenn nicht, welche Optionen für seine Zukunft hat der Staat Israel? – Auf diese Fragen eine Antwort zu finden versuchten die Teilnehmer eines Szenario-Planspiels, das von Januar 1999 bis Mitte 2000 stattfand.

Das Projekt war von der Friedrich-Ebert-Stiftung initiiert worden und wurde nach dem Vorbild des „Mont Fleur“ Szenario-Planspiels durchgeführt, mit dem das Büro der FES in Kapstadt 1991/92 den Übergang Südafrikas von der Apartheid zur Demokratie begleitet hatte.

Allen Teilnehmern war klar: Die Zukunft läßt sich nicht voraussagen. Doch kann es gelingen, anhand einer klaren Analyse der gegenwärtigen Entwicklungen zu einer Beschreibung mehrerer möglicher Zukunftsvarianten zu gelangen. Anhand dieser Szenarien läßt sich diskutieren, welche Schritte unternommen werden müssen, damit eine bestimmte Zukunft eintritt bzw. nicht eintritt.

Das Szenario-Team umfaßte zeitweise bis zu zwanzig Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die unterschiedliche politische Lager repräsentieren. In einem äußerst dynamischen Diskussions- und sicherlich auch Lernprozeß gelang es den Teilnehmern des Planspiels trotz ihrer unterschiedlichen und z.T. entgegengesetzten  politischen und ideologischen Anschauungen, sich auf vier mögliche Zukunftsszenarien für die israelische Gesellschaft zu einigen:

Die Mitglieder der Gruppe fanden eine gemeinsame Sprache nicht nur zur Beschreibung der möglichen Zukünfte, sondern auch der Gegenwart ihres Gemeinwesens. Die akute Gefahr, in der sich dieses aufgrund der gesellschaftlichen und ideologischen Spaltungen befindet, ist allen Teilnehmern bewußt. Somit hat auch das Jahr 2025 als gedanklicher Endpunkt der verschiedenen Szenarien nur symbolische Bedeutung: die in ihnen beschriebenen Entwicklungen können schon morgen Wirklichkeit werden.

Die Szenario-Methode

Die Szenario-Methode ist ein Instrument strategischer Planung, das vor allem in der Wirtschaft, in den letzten Jahren aber auch verstärkt im gesellschaftlichen und politischen Bereich angewandt wird. Im Zentrum der Überlegungen stehen nicht ein festgestecktes Ziel und die Möglichkeiten und Wege, dieses Ziel zu erreichen, sondern vielmehr die Frage: „What if…?“ – Was geschieht, wenn Ereignisse eintreten, die im Augenblick nicht konkret vorhersagbar sind, die aber durchaus im Bereich des Möglichen liegen und die alle Planung durchkreuzen können? Was kann man tun, damit sie nicht eintreten? Im Dialog zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen bietet diese Methode den Vorteil, daß sich mit ihrer Hilfe verschiedene mögliche Zukunftsvarianten beschreiben lassen und auf diese Weise leichter ein Konsens gefunden werden kann, als dies beim Streit um eine einzige erwünschte Zukunft der Fall ist. Jeder Teilnehmer an einer Szenario-Übung muß allerdings bereit sein, die Wahrscheinlichkeit des von seinem politischen Gegner dargebotenen Zukunftsszenarios anzuerkennen.

Hintergrund

Bereits in den Jahren 1991/92 führte das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Südafrika unter seinem damaligen Leiter Dr. Winfried Veit ein Szenario-Projekt durch. Das Land befand sich damals in der kritischen Anfangsphase des Übergangs von der Apartheid zur Demokratie. Nach dem Tagungsort wurde das Szenario-Planspiel als „Mont Fleur Projekt“ bezeichnet. Zu dem 22köpfigen Projektteam gehörten Politiker, Akademiker, Industrielle und Gewerkschafter aus dem Mitte-Links-Bereich des politischen Spektrums in Südafrika, darunter auch mehrere führende Mitglieder des ANC. Nach mehreren Treffen erreichte das Team Übereinkunft über vier Szenarien für Südafrikas politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung bis zum Jahre 2002. Die Szenarien wurden der politischen Elite des Landes sowie einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt und fanden Eingang in den politischen Diskussions- und Entscheidungsprozeß zu jener Zeit.

Im Jahre 1998 wandte sich Dr. Yair Hirschfeld, einer der Initiatoren des Osloer Friedensprozesses, an Dr. Veit, zu dieser Zeit Leiter des FES-Büros in Israel, mit dem Vorschlag, die südafrikanische Idee aufzugreifen und ein ähnliches Projekt auch in Israel durchzuführen. Mit Israel Harel, einem der Gründer der Siedlerbewegung in den besetzten Gebieten, konnte ein dialogbereiter Ansprechpartner aus dem rechtsreligiösen Bereich des israelischen politischen Spektrums als Mitinitiator des Projekts gewonnen werden.

Das Szenario-Team

Das Szenario-Team traf sich zum ersten Mal im Januar 1999. Es umfaßte zwanzig Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Israel, die unterschiedliche politische Lager repräsentieren. Das Team wurde durch Dr. Yossi Rein, einen der besten Strategic Consultants Israels und Experten für Szenario-Planung, angeleitet. Mit Col. (Res.) Yonathan Lerner stand ihm ein ehemaliger ranghoher Mitarbeiter der strategischen Planungsabteilung der israelischen Streitkräfte zur Seite. Die Koordinierung des Projekts erfolgte durch Dirk Sadowski, wissenschaftlicher Mitarbeiter des FES-Büros Israel.

Zu den Voraussetzungen einer erfolgreichen Szenario-Übung gehört die regelmäßige Teilnahme der Teammitglieder an den einzelnen Treffen, und damit verbunden deren Bereitschaft, dem Projekt einen großen Teil ihrer Arbeits- und Freizeit zu opfern. Hierin liegt der Hauptgrund, daß einige der Mitglieder des Ausgangsteams im Verlaufe des Projekts wieder aus der Gruppe ausscheiden mußten. An der Schlußphase des Projekts, der Ausformulierung der vier Hauptszenarien, beteiligten sich noch dreizehn der ursprünglichen Mitglieder:

Der Szenario-Prozeß

Das Team traf sich im Laufe des Jahres 1999 etwa ein dutzend Mal zu mehr- oder eintägigen Begegnungen. Die ersten Treffen dienten der Schaffung einer gemeinsamen Informationsgrundlage über aktuelle demographische, wirtschaftliche, soziale, politische und sicherheitsrelevante Entwicklungen. Dazu wurden renommierte Experten aus diesen Bereichen eingeladen, für den Sicherheitsbereich z. B. der Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ami Ayalon. Weitere Treffen dienten der Diskussion der möglichen Zukunftsszenarien. Ohne die äußeren Faktoren der Existenz Israels – Verhalten der arabischen Nachbarn, Friedensprozeß, jüdische Diaspora u. a. – sowie die globalen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu vernachlässigen, konzentrierte sich die Diskussion doch überwiegend auf die Zukunft der israelischen Gesellschaft. Während die Teammitglieder den Prozeß des Ausgleichs mit den arabischen Nachbarn im Grunde als irreversibel betrachteten, erkannten sie die heute innerhalb der israelischen Gesellschaft zwischen den verschiedenen Gruppen herrschenden Spannungen als die größte Gefahr für die Zukunft ihres Landes.

Nachdem die Teammitglieder ihre persönlichen Szenarien für die Zukunft der israelischen Gesellschaft vorgestellt hatten, wurde in den folgenden Treffen versucht, Übereinstimmung über drei bis vier von allen für möglich gehaltene Zukunftsszenarien zu erreichen. Diese Übereinstimmung konnte im wesentlichen im März 2000 erzielt werden. Damit war der erste Teil des Projekts abgeschlossen. In einer zweiten Projektphase wurde versucht, die Ergebnisse des Projekts einer breiteren Öffentlichkeit sowie wichtigen Entscheidungsträgern des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Israel vorzustellen. Unter anderem gelangten die Szenarien zur Kenntnis von Ministerpräsident Ehud Barak, sie wurden von Mitgliedern der Gruppe auch vor einem Forum von – linken und rechten – Knessetabgeordneten um den Parlamentspräsidenten Avraham Burg vorgestellt. Daneben fanden Präsentationen vor verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Foren sowie in Schulen statt.

Zum Zwecke der Veranschaulichung der Szenarien wurde die Schiffs-Metapher gewählt. Sie ist einprägsam und hat sich bei der öffentlichen Präsentation und Diskussion der Szenarien als sehr effektiv erwiesen.

Wohin steuert das „Schiff Israel“? – Die Ausgangslage

Die Teilnehmer der Szenario-Übung waren sich darüber einig, daß die israelische Gesellschaft heute von einer Reihe tiefer Konflikte und Krisen gekennzeichnet ist, die die Weiterexistenz des Staates Israel in seiner derzeitigen Form gefährden:

1. Noch immer ist Israel nicht zu einer endgültigen Friedenslösung mit seinen arabischen Nachbarn gelangt und opfert der Behandlung dieses Problems erhebliche materielle und immaterielle Ressourcen.
2. Die israelische Gesellschaft ist durch eine Vielzahl tiefer Konflikte gekennzeichnet, die einander z. T. überlagern und die sich wechselseitig verschärfen.
3. Der Staat Israel definiert sich als „jüdischer Staat“, während der Anteil der nichtjüdischen Staatsbürger stetig zunimmt.
4. Innerhalb der jüdischen Gesellschaft herrscht ein zunehmender Dissens hinsichtlich der Rolle, die Religion und Tradition in den Angelegenheiten des Staates und im Leben seiner Bürger spielen sollen.
5. Es herrscht eine wachsende Ungleichheit bei der Verteilung der Ressourcen (Einkommen, Bildung usw.), unter der vor allem bestimmte Bevölkerungsgruppen wie die arabische Minderheit, Ultraorthodoxe, Neueinwanderer sowie orientalische Juden leiden.
6. Unter den arabischen Staatsbürgern Israels wächst das Bestreben, eine Änderung ihrer Rechtslage herbeizuführen, bei gleichzeitig zunehmenden Anzeichen einer separaten Identität.
7. Die zwischen den verschiedenen Gruppen ausgetragenen Kämpfe schaden der Demokratie und stellen Legitimität und Autorität des Staates in Frage.

Falls keine korrigierenden Maßnahmen erfolgen, besteht die Gefahr der Verwirklichung einer Reihe von Szenarien, die zu einer Auflösung des Staates Israel oder zu einschneidenden Veränderungen seines Charakters führen können.

Die israelische Gesellschaft gleicht einem Schiff im Sturm, das zu zerschellen droht, falls nicht energische Maßnahmen ergriffen werden, um die Lecks zu dichten, die Segel zu flicken, die Mannschaft zu einen und das Schiff um die Klippen herum zu steuern.

3 + 1 Szenarien für Israels Zukunft

1. Das „Sklavenschiff“-Szenario

Der arabischen Minderheit werden wichtige Rechte vorenthalten. Einschränkung demokratischer Rechte auch für die jüdische Bevölkerung.

Dieses Szenario geht davon aus, daß der Konflikt Israels mit seinen arabischen Nachbarn in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nicht gelöst werden wird. Die Sicherheitslage Israels in der Region, aber auch im Inneren, bleibt prekär. Ein Großteil der nationalen Ressourcen wird weiterhin im Rahmen dieses Konfliktes verbraucht. Von der ungleichen Verteilung der verbleibenden Ressourcen und einer ultraliberalen Wirtschaftspolitik der Regierungen sind bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders betroffen. Die gesellschaftlichen Spannungen verschärfen sich. Die demographisch stark angewachsene und immer noch diskriminierte arabische Minderheit versucht, sich mehr Rechte zu sichern und ihren nationalen Ansprüchen – z. T. mit Gewalt – Geltung zu verschaffen, womit sie auf den entschiedenen Widerstand der jüdischen Mehrheit und des Staates stößt. Gleichzeitig wächst die Spaltung innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Hier stehen sich zwei Lager fast unversöhnlich gegenüber: ein gestärktes religiös-ultraorthodox-nationalistisches Lager auf der einen Seite und ein säkulares, nichtzionistisches Lager auf der anderen Seite. Auf demokratischem Wege erlangt das nationalistische Lager die Macht im Staat. In der Knesset setzen seine Vertreter Gesetze durch, die die Rechte der arabischen Minderheit stark einschränken, und die z. T. auch mit Gewalt durchgesetzt werden. Gleichzeitig, und in Anbetracht des wachsenden „zivilen Ungehorsams“ von seiten des säkularen Lagers, werden auch wichtige allgemeine Freiheits- und Bürgerrechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, beschnitten. Eine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit, die Züge einer (umgekehrten) Apartheid trägt, entsteht. Die angespannte äußere Lage und die innere Instabilität führen zur Flucht von Kapital und hochspezialisierten Fachkräften, die wirtschaftliche und die soziale Lage verschlimmern sich zusehends.

Im Jahr 2025 gleicht Israel einem Schiff, an dessen Deck ständige Alarmbereitschaft herrscht, während im Unterdeck rechtlose Passagiere bzw. „Sklaven“ transportiert werden.

2. Das „umherdriftende Schiff“-Szenario

Der Staat verliert seine besondere jüdische Identität

Dieses Szenario geht von einer Kompromißlösung im Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn aus. Die Energien der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen werden nunmehr auf die inneren Konflikte gelenkt, die durch mangelnden Dialog und eine weiterhin ungerechte Ressourcenverteilung verschärft werden. Die jüdische Gesellschaft wird durch zwei einander entgegengesetzte Hauptkräfte bestimmt: das gestärkte ultraorthodoxe Lager, das die Halacha als das allein maßgebliche Gesetz betrachtet (und das seine Macht auf Kosten des nationalreligiösen Lagers und der traditionellen israelischen Rechten ausgebaut hat), und das säkulare Lager, das an der Demokratie in ihrer liberalsten Form festzuhalten versucht. Dieses Lager erhält Verstärkung durch eine große Anzahl nichtjüdischer Staatsbürger, die aufgrund des Rückkehrgesetzes in den letzten Jahrzehnten nach Israel eingewandert sind. Gleichzeitig ist der Anteil der arabischen Minderheit auf über ein Viertel der Gesamtbevölkerung angestiegen. Nach dem Wegfall aller diskriminierenden Maßnahmen ist es den arabischen Staatsbürgern Israels im Laufe der Zeit gelungen, sich erfolgreich in die israelische Gesellschaft zu integrieren. Sie drängen auf einen – friedlichen – Wandel des jüdisch-zionistischen Charakters des Staates, der auf jüdischer Seite schon lange durch das säkular-liberale Lager in Frage gestellt wird. In zunehmendem Maße treten an die Seite der jüdisch-zionistischen Symbole auch arabisch-palästinensische nationale Symbole; z. T. werden erstere durch letztere ersetzt (so gibt es im Jahre 2025 erstmals einen arabischen Staatspräsidenten). Die Bindung zwischen Israel und der – selbst geschwächten – jüdischen Diaspora lockert sich mehr und mehr. Nach der Auflösung des zionistischen Konsensus und dem Wegfall seines besonderen jüdischen Charakters befindet sich das Land in einem schweren Identitätskonflikt, der aufs neue die Begehrlichkeiten der arabischen Nachbarn weckt.

Im Jahre 2025 gleicht Israel einem Schiff, das ohne Navigation auf den Meeren umherdriftet und das dem Sturm und den Piraten preisgegeben ist.

3. Das „Drei Boote“-Szenario:

Aufteilung des Staates in autonome Einheiten

Die Ausgangsposition dieses Szenarios ähnelt der des vorhergegangenen Szenarios vom „umherdriftenden Schiff“: Kompromißlösung zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten bei gleichzeitiger Verschärfung der Konflikte zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im Inneren Israels. Im Laufe der Jahre kommt es zur Entwicklung von separatistischen Tendenzen bei zwei Bevölkerungsgruppen: den arabischen Staatsbürgern und den Ultraorthodoxen. Die Versuche der weiterhin diskriminierten arabischen Minderheit, sich gleiche Rechte zu sichern und den Charakter des Staates zu ändern, stoßen auf den Widerstand der jüdischen Mehrheit und des Staates, die an diesem Charakter um jeden Preis festhalten wollen. Die Auseinandersetzungen nehmen z. T. gewalttätige Züge an. Gleichzeitig verschärft sich aber auch innerhalb der jüdischen Gesellschaft der Kampf um den Charakter des Staates. Die Frage ist hier: Halacha-Staat (vertreten von den Religiösen/Ultraorthodoxen) oder säkulare Demokratie. Auch dieser Konflikt wird z. T. mit Gewalt ausgetragen. Beide Konflikte werden genährt durch die weiterhin bestehende Ungleichheit bei der Verteilung der Ressourcen, von der sowohl die arabische Minderheit als auch die ultraorthodoxen Juden in besonderem Maße betroffen sind. Die offensichtliche Unlösbarkeit der beiden Grundkonflikte im hergebrachten staatlichen Rahmen führt zu der Einsicht, daß eine Lösung nur in der Aufgliederung des Landes in autonome Einheiten (ein arabisches, ein religiös-ultraorthodoxes und ein säkulares jüdisches Gebilde) bestehen kann, in denen die einzelnen Gruppen ihr Leben entsprechend ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Israel wird zu einem Föderalstaat. Die inneren Angelegenheiten wie Infrastrukturplanung, Gerichtsbarkeit, kulturelle und soziale Belange werden von jedem der drei Teilstaaten eigenverantwortlich bestimmt, während die Sicherheits- und die Außenpolitik in der Hand der Föderalregierung verbleiben. Die Lage beruhigt sich, doch kann diese relative Ruhe nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sich der Staat Israel in seiner alten Gestalt aufgelöst hat und daß die Entfremdung zwischen den einzelnen Teilstaaten zunimmt.

Im Jahr 2025 gleicht Israel einem Schiff, dessen Mannschaft sich nach einer Meuterei in mehreren Beibooten auf unterschiedliche Kurse begibt.

Gibt es eine Möglichkeit, diesen drei „Horror-Szenarien“ auszuweichen? Die Teilnehmer der Szenario-Übung waren überzeugt, daß nur Dialog und Verzichtsbereitschaft auf seiten aller gesellschaftlichen und politischen Gruppen Entwicklungen verhindern können, wie sie in den drei vorhergegangenen Szenarien beschrieben wurden. Der allgemeine Prozeß  verliefe dann in Richtung Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Erhalt des Staates als territoriale Einheit. Während einige Teammitglieder glaubten, daß gemäß diesem Szenario die Entwicklung mehr in Richtung eines „Staates aller Bürger“ gehen wird, war die Mehrheit der Teilnehmer der Auffassung, daß der zionistisch-jüdische Charakter des Staates letztlich gewahrt bleiben wird. Die Grundzüge dieses Szenarios sind die folgenden:

4. Das „Schiff in ruhigen Gewässern“-Szenario:

Die israelische Gesellschaft ist gekennzeichnet durch Zusammenhalt auf der Grundlage von Dialog und gegenseitigem Verzicht

Zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn ist es zu einer umfassenden Friedenslösung gekommen. Doch widersetzt sich vor allem das Lager der Friedensgegner der neuen politischen Ordnung. Gleichzeitig verschärfen sich die Konflikte zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im Inneren Israels. Die Auseinandersetzungen nehmen immer gewalttätigere Formen an. In dieser Situation verstehen die Führer der unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Gruppen, daß Dialog und gegenseitige Verzichtsbereitschaft die einzigen Mittel sind, um die Zukunft des Landes zu bewahren. Jede Gruppe muß bereit sein, bestimmte sektorale Bestrebungen zugunsten des gemeinsamen Zieles zurückzustellen: eines stabilen, sozial gerechten und prosperierenden Staates Israel. Der Dialog, der von schweren Konflikten innerhalb der einzelnen Gruppen begleitet ist, führt zur Schaffung eines Gesellschaftspaktes, der das Recht jeder Gruppe auf eigenständige kulturelle Identität anerkennt, wenn dadurch keine Rechte einer anderen Gruppe geschmälert werden und die Grundlagen des Staates als des gemeinsamen Bezugsrahmens unangestastet bleiben. Die einzelnen Konflikte werden auf folgende Weise gelöst:
Eins) Der Staat verwirklicht in umfassender Weise die Rechte der arabischen Minderheit; alle diskriminierenden Maßnahmen werden abgeschafft. Erst jetzt können sich die arabischen Israelis vollständig in die israelische Gesellschaft integriert fühlen und verzichten ihrerseits auf separatistische Tendenzen bzw. auf das Bestreben, den Charakter des Staates zu verändern.
Zwei) Der Staat erkennt die nichtorthodoxen Ströme des Judentums an und festigt auf diese Weise die Verbindung zwischen Israel und der jüdischen Diaspora. Die Ultraorthodoxen, die ihr „Religionsmonopol“ verloren haben, werden stärker in die Gesellschaft integriert. Als Vermittler zwischen den verschiedenen Strömungen untereinander und zwischen ihnen und dem Staat fungiert das nationalreligiöse Lager, das auf diese Weise – und nach dem Verlust seiner bisherigen raison d'être, der Besiedlung Judäas und Samarias – zu seiner neuen Rolle findet.
Drei) Die Energien, die mit der Beilegung dieser beiden Grundkonflikte freiwerden, kommen der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage zugute; die sozialen Klüfte verringern sich und damit auch die Spannungen zwischen den aschkenasischen und den orientalischen Juden. Die Peripherie wird gegenüber dem Zentrum gestärkt. Dank einer Lösung des Konversionsproblems nimmt auch die Entfremdung der Einwanderer aus der GUS und ihrer Nachkommen gegenüber dem Staat ab. Sie spielen nun eine wichtige Rolle bei der Entwicklung Israels zu einer modernen Wirtschaftsnation.

Im Jahr 2025 gleicht Israel einem Schiff, das nach schweren Stürmen einen Kurs einschlägt, der von der Mehrheit der Mannschaft akzeptiert wird. Dialog und Toleranzbereitschaft bestimmen das Klima an Bord. Das Schiff gelangt schließich heil in sichere Gewässer.

Anmerkung:

Wie in Südafrika stießen auch die Mitglieder des israelischen Szenario-Teams auf Schwierigkeiten bei der Formulierung eines vierten, optimistischen Zukunftsszenarios, was z. T. darin begründet liegt, daß dieses vierte Szenario einen Zustand zu beschreiben versucht, in dem alle gesellschaftlichen Gruppen in Harmonie miteinander leben. Die Diskussion über ein solches harmonisches Szenario verwandelt sich automatisch in einen politischen Verhandlungsprozeß über den erwünschten zukünftigen Charakter des Staates. Bei einem solchen Verhandlungsprozeß wird es schwieriger, die Auffassung des anderen zu akzeptieren, als in einem Diskussionsprozeß, in dem es allein um mögliche Varianten der Zukunft geht.



Die Szenario-Stories

Die folgenden Texte sollen als “Illustrationen” der vorgestellten Szenarien verstanden werden. Sie führen die in den Szenarien 1 bis 4 grob umrissenen Entwicklungszüge weiter aus. Nachdem das Szenario-Team Übereinkunft über die vier grundlegenden Zukunftsmuster erreicht hatte, wurden einige Mitglieder der Gruppe gebeten, eine “story” zu jeweils einem dieser Szenarien zu verfassen, die dann als Grundlage der weiteren Diskussion diente. Bei diesen Erzählungen handelt es sich naturgemäß um  sehr persönlich gefärbte Interpretationen, in die die jeweiligen politischen und ideologischen Anschauungen der Verfasser – jedoch nicht unbedingt ihre Zukunftswünsche –  eingeflossen sind.

Die stories wurden Ende 1999/Anfang 2000 verfaßt. Einige der in ihnen beschriebenen Entwicklungen sind inzwischen – im Frühjahr 2001 – obsolet, und gegenüber der heutigen Wirklichkeit nehmen sich einige der pessimistischsten Vorhersagen geradezu rosig aus. So ist es nicht einmal zu einer “kleinen” Lösung zwischen Israel und den Palästinensern gekommen, die prophezeiten Unruhen brachen bereits im September 2000 aus, und die “erste Regierung Barak” ist auch nicht mehr im Amt. Eine umfassende Lösung des israelisch-arabischen Konflikts scheint in weite Ferne gerückt – und das “Sklavenschiff”-Szenario gegenwärtig als die wahrscheinlichste aller Zukunftsoptionen. Doch verfügen die Erzählungen teilweise über eine Plastizität und Wirklichkeitsnähe, die den Leser in Erstaunen und in Erschrecken zu setzen vermag.

“Spartheid” – bei dem Namen handelt es sich um eine Zusammensetzung aus den Wörtern “Sparta” und “Apartheid” – von Ron Pundak soll das “Sklavenschiff”-Szenario illustrieren. “Der letzte Unabhängigkeitstag” von Israel Harel beschreibt den allmählichen Verlust des zionistisch-jüdischen Charakters des Staates und dient somit als Illustration des Szenarios vom “Umherdriftenden Schiff”. Zwei Mitglieder des Teams, Hana Swaid und Menachem Leibowitz, wurden um ihre Interpretation des “Drei Boote”-Szenarios gebeten. Einen optimistischen Ausblick bietet schließlich die Erzählung “Friedenslaube” von Gidi Grinstein, David Brodet und Mor Altschuler zum “Schiff in sicheren Gewässern”-Szenario.



Ron Pundak
Spartheid

Die alte Digitaluhr weckte mich mit nervtötendem Schnarren. Mir fiel ein, daß ich beim Hersteller Batterien alten Typs bestellen mußte. Ein leiser Befehl - “Bildschirm!” – und die Wand vor mir wurde zu 250 gleichgroßen Rechtecken. Die oberen Reihen zeigten israelische Kanäle. Ich verlor keine Zeit zu prüfen, was sich da tat. In der Mehrzahl zeigten sie religiöse Programme, andere waren bereits mitten in Spielshows, und auf den Nachrichtenkanälen, die sämtlich durch die Regierung oder deren privatwirtschaftliche Handlanger kontrolliert werden, wimmelte es nur so von Lügen. Seit über fünf Jahren wache ich jeden Morgen früh auf und schwöre mir, nicht mehr durch die hebräischsprachigen Nachrichtenkanäle zu zappen. Und wenn ich dann doch mal schwach werde, fühle ich mich stets aufs Neue an die dröhnenden Propagandasendungen von Radio Kairo während der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert. Auch diese Woche sind wieder einige Piratensender mit demokratischen und liberalen Botschaften auf Sendung gegangen. Ich weiß nicht, ob ich deren Treiben wegen ihrer Inhalte verfolge, die ich auf den unzähligen anderen Kanälen so schmerzlich vermisse, oder aufgrund meiner Sympathie für die Enkel Salman Schockens, die den Gerüchten zufolge hinter diesem verzweifelten Unterfangen stehen sollen.

Auch an diesem Morgen fraß sich wieder die lästige Frage durch mein Hirn, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, zusammen zu kratzen was noch übrig war und von hier zu verschwinden. In den letzten Jahren war die Lage derart katastrophal geworden, daß die meisten Freunde, die zunächst noch geblieben waren, schließlich doch das Land verlassen hatten. Das Ganze fing zumeist damit an, daß ihre Kinder oder Enkel das Weite suchten. Eine ganze Generation von Unternehmern und Hightech-Firmengründern war schlicht verschwunden. Ein Teil von ihnen emigrierte nach Europa, viele in die USA und einige hatte es sogar bis nach Fernost verschlagen. Dem Land, das zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auf etlichen Bereichen der Hochtechnologie führend war und noch im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts als das “weltweit führende Molekularlabor” bezeichnet wurde, fehlt heute ein Großteil aller Fachleute auf diesem Gebiet. Ich erinnerte mich noch an die optimistischen Prognosen von vor fünfundzwanzig Jahren. Der Beginn war in der Tat vielversprechend. Israelische Firmen wechselten für Milliardenbeträge den Besitzer. Doch daß das Bruttosozialprodukt nun schon seit zehn Jahre drastisch zurückgehen würde, hätte niemand vorhergesagt.

Auf einem der Kanäle brachte die BBC eine Sondersendung zum fünfundzwanzigsten Jahrestag der Gründung des Staates Palästina. Unwillkürlich mußte ich an die folgenschweren Fehler denken, die während der Amtszeit der ersten Regierung Barak begangen wurden. Alles schien damals reif für eine Unterzeichnung und Umsetzung des großen historischen Abkommens mit den Palästinensern, das vielleicht den Gang der Geschichte verändert hätte. Doch die Regierung entschied sich für die kleine, wenig inspirierte Lösung, die den Palästinensern aufgezwungen wurde und den Nahen Osten in ein Tollhaus verwandelte, für das wir heute noch bezahlen.

Die Verhandlungen über das Schlußabkommen, die im Laufe des Jahres 2000 mit den Palästinensern geführt wurden, waren mühsam und brachten immer wieder die altbekannten Einsichten von Nullsummenspielen. Die israelische Regierung zeigte sich nicht bereit, den Palästinensern zu ermöglichen, auf dem größten Teil der Westbank und des Gasastreifens einen eigenen Staat zu errichten. Zudem versuchte sie, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge auf den neu zu gründenden Staat zu beschränken, beharrte darauf, entlang der Jordansenke einen breiten Sicherheitsstreifen unter israelischer Kontrolle zu beanspruchen und verwehrte den Palästinensern, echte Partner bei der Verwaltung der Wasserreservoirs, die sich unter ihrem Staatsgebiet befinden würden, zu sein. Auch die Verhandlungen über den Status von Jerusalem liefen sich fest, als Israel sowohl die Herrschaft über das gesamte Stadtgebiet forderte – einschließlich jener 65 Quadratkilometer, die 1967 von der Westbank annektiert worden waren -, als auch die volle Souveränität in Bezug auf die arabische Bevölkerung der Stadt, die damals 200.000 Menschen zählte und sich heute bereits der Marke von einer halben Million nähert.

Am Ende stand für die israelische Regierung fest, daß der einzige Weg, zu einem Abkommen zu gelangen, darin bestand, Druck auf Arafat auszuüben, damit dieser den israelischen Diktatfrieden akzeptiere. Arafat, der wußte, daß er ein kranker Mann war und seine Tage gezählt, und der mehr als alles andere der Gründer eines unabhängigen Staates Palästina sein wollte, fügte sich dem Druck Baraks und des amerikanischen Präsidenten Clinton, der heute wohl eher noch als Ehemann der ermordeten Präsidentin Rodham bekannt ist. Nachdem Arafat zugesichert worden war, der Vertrag mache es möglich, unverzüglich die Verhandlungen über all jene Themen wieder aufzunehmen, die im Verlauf der Gespräche über das Schlußabkommen ausgeklammert worden waren, darunter der Status von Jerusalem, die Flüchtlingsfrage und die Zukunft jener vierzig Prozent der Westbank, die im Rahmen der Abmachung in israelischer Hand blieben, stimmte er schließlich dem Handel zu.

Die israelische Regierung begann entlang der neuen Grenzlinie, die de facto vierzig Prozent der besetzten Gebiete annektierte, einen hohen Zaun zu errichten, der durch Patrouillenwege und elektronischen Sensoren noch zusätzlich gesichert wurde, um so eine physische Trennung zwischen Israel und dem palästinensischen Staat zu erreichen. Parallel dazu hielt die Regierung an ihrer Politik fest, die Anzahl der in Israel arbeitenden Palästinenser auf ein Minimum zu reduzieren. Israelisch-palästinensische Kooperationsprojekte fanden keine Ermutigung durch die israelische Regierung, und die palästinensische Wirtschaft brach zusammen.

In Israel erreichte der Volksentscheid mit Leichtigkeit die erforderliche Stimmenzahl. Ja vielleicht mit zu großer Leichtigkeit. Auf palästinensischer Seite formierte sich dagegen unmittelbar, nachdem Arafat seine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt hatte, auf dem Gebiet des neuen Staates eine breite Opposition gegen das Abkommen. Die Hamas verbündete sich mit der Jugendorganisation der Fatah, die bis dato als vehementester Verfechter des Friedensgedankens und der Koexistenz mit Israel gegolten hatte. In Aufrufen, die im Namen der Fatah selbst veröffentlicht wurden, hieß es, der demokratische Widerstand gegen den Friedensvertrag und der politische Kampf für die Rechte des palästinensischen Volkes werde fortgesetzt. Parallel dazu werde weiterhin nach Wegen zu einem echten Frieden zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Volk als gleichberechtigten Partnern gesucht. Nach wie vor gelte das Prinzip eines palästinensischen Staates Seite an Seite mit dem israelischen Staat, und zwar in den Grenzen von 1967 mit leichten Grenzkorrekturen, die den Austausch von Gebieten beinhalteten.

Arafat sollte es nicht gelingen, bis zu seinem Tod im darauffolgenden Jahr die widerstreitenden Kräfte zu einen. Sein Nachfolger Abu Masen wurde zu einer Marionette in den Händen der Sicherheits- und Geheimdienste, die unverändert selbstherrlich herrschten und die im Aufbau befindliche bürgerlich-demokratische Gesellschaft daran hinderten, Strukturen zu entwickeln und Einfluß zu gewinnen. Die Begründung lag auf der Hand: Die sicherheitspolitische Lage mache solches unmöglich.

Ein Jahr danach spitzte sich die Lage zu. Die zwischen den beiden Staaten ohnehin herrschende Spannung verschärfte sich jedes Mal, wenn palästinensische Extremisten ohne Schwierigkeiten den Sicherheitszaun überwanden und in Beit-El, in Kochav-Ya’ir  und Makkabim-Re’ut Sprengstoffattentate verübten. Die Regierung, die in jenen Jahren Investitionen im sozialen Bereich vernachlässigte und die in Israel lebenden Araber in Sachen Infrastruktur, Bildungswesen und Industrieansiedlung weiter benachteiligte, erlitt bei den Wahlen eine verheerende Niederlage. Einer der Gründe für die klare Wahlschlappe war das Abstimmungsverhalten der israelischen Araber. Hatten bei den vorangegangen Wahlen noch 95 Prozent für Barak gestimmt, so unterstützte diesmal die Hälfte von ihnen die Kandidatur Azmi Bisharas . Gleichzeitig gelang es der islamistischen Bewegung rund ein Drittel aller arabischen Wähler zu überzeugen, am Wahltag nicht zu den Urnen zu gehen.

Ministerpräsiden Barak räumte seinen Platz zugunsten einer neuen Regierung unter Führung von Ehud Olmert, der eine gemäßigte Rechtskoalition mit der Shas-Partei einging, die bei den Wahlen erneut zulegen konnte. In seiner ersten öffentlichen Erklärung sagte der neue Premier, eine Fortsetzung der Verhandlungen mit den Palästinensern käme nicht in Frage. Für die neue Regierung sei der Fall abgeschlossen: Es gebe einen – wenn auch kalten - Friedensvertrag zwischen Israel und dem palästinensischen Staat, der ohnehin mehr zugestanden bekommen habe, als nötig gewesen sei.

Die Regierung Olmert entpuppte sich als eine Regierung des Stillstands. Der einzige Grund, daß Olmert auch bei den Wahlen des Jahres 2007 triumphieren konnte, war der damalige wirtschaftliche Boom in Israel. Dieser gründete sich auf eine Vielzahl von bahnbrechenden technologischen Entwicklungen durch israelische Start-up-Firmen, deren Aktien weltweit gehandelt wurden und Investoren ins Land brachten. Gleichzeitig jedoch verschlechterte sich die Lage zwischen Israel und den arabischen Staaten zusehends. Die Tatsache, daß ein starkes Israel einseitig die Fortführung der Verhandlungen mit dem palästinensischen Staat über alle Punkte, die laut Vertrag noch einer endgültigen Klärung bedurften, boykottierte, führte nicht nur zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen mit Palästina, sondern auch zu wachsenden Spannungen mit Ägypten und Jordanien.

Als die ehemaligen Siedler – genauer gesagt jene, die in Siedlungen auf der Westbank unweit der neuen Grenzlinie mit Palästina lebten – anfingen, Vergeltungsaktionen gegen palästinensische Dörfer zu unternehmen, die in Verdacht standen, die Hamas und den Islamischen Djihad zu unterstützen, schlug die Spannung in einen Flächenbrand um. Ägypten beschuldigte die israelische Regierung, derartige Aktionen nicht nur gutzuheißen sondern auch für Organisation und Ausrüstung der paramilitärischen Einheiten verantwortlich zu zeichnen. In der Presse wurde ihnen die Bezeichnung 2101 verliehen, in Anspielung auf jene legendäre Einheit 101, die vor mehr als einem halben Jahrhundert von sich reden machte. Entlang der Grenze im Gebiet zwischen Afula und Jenin kam es abwechselnd zu palästinensischen und israelischen Terroraktionen, bis die israelische Regierung schließlich Order gab, die Region um Jenin und Nablus für einige Tage zu besetzen, um das Gebiet von “Terrornestern zu säubern” und sich dann wieder bis hinter die internationale Grenze zurückzuziehen.

Das Ergebnis war katastrophal. In Israel stieß die Aktion auf heftige Kritik seitens der Opposition. Die europäischen Staaten verurteilten das Vorgehen, und bald schlossen sich die USA ihrer harschen Kritik an. Die palästinensischen Polizeistreitkräfte, die mit Guerillamethoden gegen die israelische Armee kämpften, fügten den israelischen Panzerverbänden schwere Verluste zu. Wieder einmal steckte die israelische Armee im “arabischen Morast” fest, ohne angesichts weltweiter Proteste auf Rückendeckung aus der eigenen Öffentlichkeit hoffen zu können. Als nach einer Woche die Aktion noch immer nicht beendet war, organisierte die “Bewegung der vierzig Väter”  eine Massendemonstration auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv. Zehntausende junger Leute unterzeichneten eine Petition, in der zu einem “Nein gegen den Dienst in einer Besatzungsarmee” aufgerufen wurde, und gerüchteweise berichteten die Medien, aus den Reihen der Eliteeinheiten seien Soldaten, die sich mit dem Grundsatz der Aktion nicht einverstanden erklärt hätten, in Scharen desertiert. Die internationale Presse meldete, das Internierungslager Anssar 3 sei wieder in Betrieb genommen worden und habe sich mit Tausenden israelischer Soldaten gefüllt, die Befehlsverweigerung begangen hätten.
Als nach Monatsfrist die israelischen Streitkräfte noch immer im nördlichen Samaria standen, verkündeten Jordanien und Ägypten den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel. Im Gegenzug plädierten einige Minister – an ihrer Spitze Verteidigungsminister Ariel Sharon – dafür, israelische Truppen in der Jordansenke zusammenzuziehen, um den palästinensischen Staat von jedweder Verbindung zur östlichen Frontlinie abzuschneiden. In den israelischen Medien wurden Meldungen verbreitet, nach denen die irakische Armee als Reaktion auf die israelischen Schritte Truppen an der irakisch-jordanischen Grenze aufmarschieren ließ. Später sollte sich herausstellen, daß die Meldungen Teil der psychologischen Kriegsführung Israels waren und als Fehlinformation bewußt lanciert wurden, um den Regierungsbeschluß zur Truppenverlegung in die Jordansenke zu beschleunigen und ihm die nötige Legitimation zu verschaffen. Die Regierung faßte dann tatsächlich den gewünschten Beschluß, so daß die israelischen Streitkräfte strategisch wichtige Gebiete in der Jordansenke unter ihre Kontrolle brachten und die Bereitschaft verkündeten, “einen möglichen irakischen Angriff abzuwehren”. Die irakische Regierung, die in den Teufelskreis der Eskalation getrieben wurde, gab bekannt, der Irak – der damals bereits in der Lage war, eine primitive Atombombe zu bauen – werde auf jede Aggression seitens Israel antworten. Israelische und irakische Kommuniques jagten einander, und in rechten Regierungskreisen und unter rechtsgerichteten Gruppierungen in der
Öffentlichkeit mehrten sich die Stimmen, die nach einem Präventivschlag gegen die atomare irakische Bedrohung riefen. Ministerpräsident Olmert, der versuchte, sein Kabinett zu stabilisieren, die Armeeverbände nach Israel zurück zu beordern und die wachsende Spannung im Nahen Osten zu entschärfen, scheiterte und wurde mitsamt seiner Regierung durch die rechtslastige Knesset gestürzt.

Die nächsten Wahlen brachten eine noch rechtere Regierung an die Macht. Die Wahlkampfslogans der religiösen Parteien basierten auf Zitaten aus dem Alten Testament, die auf eine begrüßenswerte Lösung hinzuweisen schienen. So fand etwa jener Absatz aus dem fünften Buch Moses 2.33 Verwendung: Aber der HERR, unser Gott, gab ihn vor unseren Augen dahin, daß wir ihn schlugen mit seinen Söhnen und seinem ganzen Kriegsvolk. Da nahmen wir zu der Zeit alle seine Städte ein und vollstreckten den Bann an allen Städten, an Männern, Frauen und Kindern, und ließen niemanden übrigbleiben. Auch die Passage aus dem fünften Buch Moses 3.3 eignete sich vortrefflich: So gab der HERR, unser Gott, auch den König Og von Bashan in unsere Hände mit seinem ganzen Kriegsvolk, daß wir ihn schlugen, bis ihm keiner übrig blieb. Ebenso der düstere Abschnitt aus Moses 19: Wenn der HERR, dein Gott, die Völker ausgerottet hat, deren Land dir der HERR, dein Gott, geben wird, sollst du es einnehmen und in ihren Städten und Häusern wohnen. Und nicht zuletzt fand jenes finstere Gebot aus Moses 20.16 Gefallen: Aber in den Städten dieser Völker hier, die dir der HERR, dein Gott, zum Erbe geben wird, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat.

Der Slogan, der schließlich dem neuen Ministerpräsidenten zum Wahlsieg verhalf, lautete: “Erinnere dich, was Amalek dir angetan. Araber drinnen oder draußen – eine Gefahr für den Staat Israel!”

Der Konflikt zwischen Israel und dem Irak konnte die wachsende Spannung zwischen der arabischen Minderheit in Israel und großen Teilen der israelischen Gesellschaft nicht überdecken. In den zurückliegenden zehn Jahren war die Zahl der in Israel lebenden Araber um etwa 700.000 gestiegen, jene Viertelmillion Araber in Ostjerusalem mit inbegriffen, denen die israelische Staatsbürgerschaft aufgezwungen wurde.

Die Anstrengungen der arabischen Bevölkerung, ihren Platz in der israelischen Gesellschaft zu finden und in allen Belangen zu gleichberechtigten Staatsbürgern zu werden, blieben erfolglos. Das politische Establishment in Israel zeigte sich außerstande, die Probleme und sozialen Verwerfungen zu bekämpfen, was wachsenden Unmut innerhalb der jungen arabischen Bevölkerung erzeugte, die sich von der traditionsverhafteten Vätergeneration lossagte. Diese hatte sich daran gewöhnt, über persönliche Beziehungen und Bittgänge zu den “Herren” vom Innen- und Wohnungsbauministerium und dem Inlandsgeheimdienst ans Ziel zu kommen.

Der Knessetabgeordnete Asmi Bishara, einer der Vorkämpfer eines “Staates aller seiner Bürger”, wurde im Fernsehen interviewt und beschrieb mit bestechender Klarheit den Prozeß der Veränderung, den die Politik der arabischen Palästinenser mit israelischem Paß zum damaligen Zeitpunkt durchlief, wobei er versuchte, eine vorsichtige Prognose für die Zukunft zu liefern:

Phase 1: Aufkündigen der Partnerschaft mit den zionistischen Parteien.
Phase 2: Schaffung eigenständiger arabischer Parteien.
Phase 3: Zusammengehen mit post-zionistischen Parteien, um den Prozeß der “Israelisierung” der Gesellschaft zu beschleunigen.
Phase 4: Rückkehr zur Partnerschaft mit israelischen, sich betont jüdisch definierenden Parteien.

Damals kam es auch zu einer öffentlichen Debatte über eine mögliche arabische Autonomie innerhalb des israelischen Staates. Die Forderung der Befürworter dieser Idee ging weniger in Richtung einer territorialen Autonomie, sondern zielte vielmehr auf eine kulturelle und funktionale Form von Eigenständigkeit. Unter der jüdischen Bevölkerung fand dieser Ansatz sowohl in Kreisen der Linken Unterstützung, die darin den einzig noch möglichen Weg sahen, die Beziehungen zwischen den Volksgruppen, die auf eine folgenschwere Eskalation zudrifteten, zu normalisieren, als auch unter gemäßigten Religiösen, denen es im wesentlichen darum ging, den jüdischen und demokratischen Charakter des israelischen Staatswesens zu bewahren. Ihr Modell sah eine interne Trennung vor, die den jüdisch-nationalistischen Charakter des israelischen Staates als Staat des jüdischen Volkes erhalten sollte. Der Widerstand der rechtsgerichteten Regierung gegen den Autonomiegedanken war unnachgiebig.

Als Folge der politischen und diplomatischen Spannungen zwischen Israel und den USA stellten die Amerikaner ihre Finanzhilfe für zivile und militärische Belange in Israel ein. Auch der Dialog mit den jüdischen Gemeinden im Ausland kam immer mehr zum Erliegen. Weder die Regierung noch die Jewish Agency vermochten über die Jahre ein alternatives und zeitgemäßes Beziehungsgeflecht zwischen Israel und der Diaspora, die sich immer stärker assimilierte, zu erzeugen. Die Generation junger Juden in den USA und in Europa brachte der Metamorphose, die sich innerhalb der israelischen Gesellschaft abzuzeichnen begann, wenig Sympathien entgegen.

Die angespannte Sicherheitslage entlang der Grenzen führte in den letzten Jahren zu immensen Investitionen sowohl im Rüstungsetat als auch im laufenden Wehretat, was unweigerlich Kürzungen in den Bereichen Bildung, Infrastruktur, Industrieförderung und dem Budget des Innenministeriums nach sich zog. Die allgemeine Lage führte auch zu einem Rückgang des Exportvolumens einerseits und einer steten Abwanderung von Fachkräften ins Ausland andererseits, was sich allmählich zu einem beängstigenden Phänomen auswuchs, unter dem das Bruttosozialprodukt spürbar litt. Die Ersten, die unter den Etatkürzungen zu leiden hatten, waren die arabischen Regionalverwaltungen und Städte, denn insgeheim handelte die Regierung nach der Maxime “den Armen deiner eigenen Stadt (- den Juden -) zuerst”. Die Arbeitslosigkeit im arabischen Sektor nahm weiter zu, die Kriminalitätsrate schnellte in die Höhe und der Groll gegen die Regierung und die jüdische Gesellschaft in Israel erreichte nie da gewesene Ausmaße.

Als in dieser Situation das Kabinett entschied, einen früheren Regierungsbeschluß, der bereits alle Gesetzesausschüsse durchlaufen hatte, rückgängig zu machen und die Errichtung einer modernen arabischen Stadt im sogenannten Dreieck auf Eis zu legen, kam es zum Flächenbrand. Am Tag der geplanten Grundsteinlegung für die neue Stadt, die von den israelischen Arabern bereits den Namen al-Amal – die Hoffnung – verliehen bekommen hatte, fanden sich auf dem Gelände 200.000 Demonstranten, unter ihnen auch Zehntausende Juden, ein. Die Anweisung an die Polizei war eindeutig: Die Demonstration ist nicht rechtmäßig und wird gewaltsam aufgelöst. Am nächsten Tag waren fünfundzwanzig Tote, darunter drei Polizisten, zu beklagen und rund einhundert Verletzte, unter ihnen auch etwa dreißig Polizisten, die Verbrennungen erlitten, als ein Mannschaftsbus der Polizei durch einen Demonstranten in Brand gesteckt wurde.

Die Antwort der Regierung ließ nicht auf sich warten. Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen, und noch in derselben Nacht eine Ausgangssperre über die arabischen Dörfer und Städte des Dreiecks und Galiläas verhängt. In den frühen Morgenstunden wurden Dutzende der arabisch-israelischen Führer zur Vernehmung gebracht und ein Teil von ihnen wegen staatsfeindlicher Umtriebe in Administrativhaft genommen.

In der Knesset kam es zu tumultartigen Szenen. Die Vertreter der “Neuen Kach-Partei” forderten, die Inhaftierten aus Israel auszuweisen. Im Parlament mehrten sich die Stimmen, die lautstark verlangten, die demokratischen Spielregeln zu ändern. Bereits ein Jahr zuvor war der Gesetzesentwurf verabschiedet worden, der es den arabischen Knessetabgeordneten künftig verwehrte, an Abstimmungen teilzunehmen, die mit “dem jüdischen Charakter oder der Zukunft Israels als Staat des jüdischen Volkes und allem was direkt oder indirekt damit zusammenhängt” in Verbindung stünden. Minister Kahane (Junior)  verlangte nun, ein Gesetz zur Anwendung zu bringen, wie es in der US-amerikanischen Demokratie bis Anfang der Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Gebrauch war, wonach bei den Wahlen in Zukunft die Stimme jedes Arabers (- in den USA waren es die Farbigen -) ein Drittel der Stimme eines Juden ausmachen sollte. “Dies ist der einzig mögliche demokratische Weg, eine jüdische demokratische Mehrheit in der Knesset sicherzustellen”, sagte Kahane. Die Gesetzesvorlage scheiterte letztendlich in der Knesset an einer einzigen fehlenden Stimme, doch fünf Jahre später, als die Demographen prophezeiten, in wenig mehr als dreißig Jahren würde die Zahl der Araber in Israel auf fünfundvierzig Prozent ansteigen, wurde ein entsprechender Gesetzesentwurf mit deutlicher Mehrheit verabschiedet.

Auch im jüdischen Israel begann das Sozialgefüge zusammenzubrechen. Der wirtschaftliche Niedergang leistete dem Fremdenhaß, der streckenweise an Rassismus grenzte, Vorschub. In den Elendsvierteln der großen Städte hausten rund eine halbe Million Fremdarbeiter, die meisten von ihnen ohne gültige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Viele dieser Fremdarbeiter lebten bereits in zweiter Generation im Land. Ihre Zahl wuchs kontinuierlich, da die jüdischen Arbeitgeber, die schon seit langem keine Arbeitskräfte aus dem palästinensischen Staat mehr beschäftigten, nun auch zunehmend davon absahen, israelische Araber anzustellen. Hunderttausende aus Rumänien, Jugoslawien, China, Polen, Nigeria und anderswoher lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die meisten ihrer Familien kamen niemals in den Genuß von Leistungen des Gesundheits- und Sozialwesens, und ihre Kinder fielen in aller Regel durch alle Maschen des Bildungssystems. Die Spannungen zwischen ihnen und der israelischen Bevölkerung verschärften sich, als zu Weihnachten des Jahres 2015 die Leichen dreier orthodoxer Kinder gefunden wurden. Obwohl der Mord nie aufgeklärt wurde, beschuldigten faschistoide rassistische Elemente in Israel die schwarzen Fremdarbeiter, der Mord sei Teil eines heidnischen afrikanischen Ritus gewesen. Das Ergebnis war, daß beträchtliche Teile der Städte zu von den Israelis konsequent gemiedenen Ghettos wurden.

Doch diese Entwicklung war zweitrangig angesichts der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen der säkular liberalen Minderheit im Land, die den größten Teil des Bruttosozialprodukts erwirtschaftete, und dem religiösen Establishment, den Rabbinaten und ihren Gefolgsleuten in der Regierung.

Die fragile Koalition war gezwungen, sich dem Diktat der Rabbiner zu beugen. Das Gemeinwesen, das aus demographischer Sicht inzwischen mehrheitlich nicht mehr jüdisch war, wurde zu einem Staat mit strengen religiösen Gesetzen. Unter den gesetzlichen Neuerungen und Erlassen sind besonders folgende herauszuheben: Die Anerkennung von Zivilehen wurde aufgehoben; ebenso wurde jede nichtreligiöse Form des Begräbnisses abgeschafft; der öffentliche Nahverkehr, inklusive des unter dem bisherigen Status Quo geduldeten, wurde am Schabbat ausnahmslos eingestellt; der Verkauf und das Angebot von nichtkoscherem Fleisch wurde im ganzen Land – mit Ausnahme der arabischen Städte und Dörfer – verboten; die Einstellung eines Ritualvorschriftenkontrolleurs wurde bei der Eröffnung eines Restaurants zur Bedingung gemacht; Theater und Vergnügungsstätten hatten am Schabbat und zu den Feiertagen geschlossen zu bleiben; den Arbeitgebern, auch jenen in der Hightech-Industrie, wurde untersagt, am Schabbat zu arbeiten; der Ben-Gurion-Flughafen wurde am Schabbat vollkommen außer Betrieb genommen. Die Gerüchte, denen zufolge das Religionsministerium beabsichtige, Einfluß auf die Lehrinhalte an der Universitäten zu nehmen, erwiesen sich als richtig.

Bei den Wahlen des Jahres 2017, als der Staat Israel auf dem besten Weg war, sowohl innen- als auch außenpolitisch ins Chaos abzugleiten, erklang fast einstimmig der Ruf nach einer “Wiederbelebung der Hoffnung vom Beginn des Jahrhunderts”. Der greise Führer Ehud Barak wurde gedrängt, ein zweites Mal die Regierungsbildung zu übernehmen. Um die hohe Hürde von rechts zu nehmen, versprach Barak eine Regierung zur Rettung der Nation, die auf Experten und nicht auf Politikern basieren sollte. Der Barak des Jahres 2017 erwies sich als ein gereifter Führer. In den ersten Monaten seiner Amtszeit investierte er ungeheure Anstrengungen in die Kontakte zu den Palästinensern und den arabischen Staaten, um den festgefahrenen Karren der Friedensbemühungen wieder freizubekommen. Sein Vorschlag war identisch mit jenem, den er den Palästinensern achtzehn Jahre zuvor hätte unterbreiten sollen. Doch Barak verkannte, daß das, was noch im Jahre 1999 von Bedeutung gewesen war, sich nicht zwangsläufig auch im neuen Zeitalter umsetzen ließ.

Die palästinensische Führung schenkte der israelischen Botschaft keinen Glauben, wobei ohnehin nicht klar war, ob sie in der Lage sein würde, der arabischen Öffentlichkeit, die in den besetzten Gebieten um Jenin und Nablus noch immer gegen die israelische Armee kämpfte, die Friedenskunde zu verkaufen. Die ganze Episode war nur von kurzer Dauer. Baraks gute Absichten konnten die israelische Öffentlichkeit, die allem Anschein nach ein Fortdauern des Konflikts einer friedlichen Lösung vorzog, nicht überzeugen. Nach nur einem Jahr wurde eine neue Regierung gebildet.

Die folgenden sieben Jahren wurden zu den schwersten, die Israel seit seiner Gründung erlebt hatte. Die israelische Armee führte in den besetzten Gebieten einen verlustreichen und schwierigen Kleinkrieg gegen Guerillakräfte. Die Taktik hatte sich seit den Tagen des Libanonkriegs vom Ende des vergangenen Jahrhunderts nur wenig verändert. Der palästinensische Terror war nur mehr punktuell und richtete sich ausschließlich gegen Soldaten und jene Zivilisten, die in den Gebieten, die eigentlich zum Gebiet des palästinensischen Staates hätten gehören sollen, “siedelten”. Die Verluste waren äußerst schmerzhaft, doch die Öffentlichkeit im israelischen Kernland verfolgte das Geschehen in den umkämpften Gebieten mit Gleichgültigkeit.

Jordanien, Ägypten, Syrien und der Libanon verwehrten israelischen Staatsbürgern die Einreise. Die Friedensverträge, die auf dem Papier noch immer gültig und in Kraft waren, wurden von keiner der beiden Seiten angewendet, und es hatte auch nicht den Anschein, als ob eine der beiden Konfliktparteien darum viel Aufhebens machte oder in Erwägung zog, deshalb Beschwerde beim internationalen Gerichtshof einzureichen. Die israelische Regierung vertrat den Standpunkt, “dies war ohnehin nie ein echter Frieden”.

Die ständig angespannte Lage entlang der Grenzen verschlang immense Finanzmittel, die auf Kosten des Entwicklungsetats, der Bildungsausgaben und anderer wichtiger Ressorts gingen. Andererseits sah sich die Armee in jedem Jahrgang mit Tausenden von Wehrdienstverweigerern konfrontiert. Das die Gesellschaft einende israelisch-jüdische Zusammengehörigkeitsgefühl schwand zusehends.

Die Lage der arabischen Minderheit in Israel, die inzwischen auf fast 2.5 Millionen angewachsen war, wurde immer katastrophaler. Wie zu Zeiten der palästinensischen Intifada vor vierzig Jahren wurden bestimmte Landstriche in Galiläa von ihren Bewohnern einseitig zu “unabhängigen Regionen” erklärt. Die Mehrheit der Araber in Israel zahlte keinerlei Steuern mehr, und der Niedergang des Sozialsystems war dort in jedem Dorf und jeder Stadt augenfällig. Über die meisten der arabischen Siedlungen in Wadi Ara wurde jeden Tag von sechs Uhr abends bis zum nächsten Morgen Ausgangssperre verhängt. Die Zahl der israelischen Araber, die sich in Administrativhaft befanden, ging zuweilen in die Zehntausende. In verschiedenen Lagern waren auch Juden interniert, die der Kollaboration mit Arabern in Israel verdächtigt wurden.

International gesehen war Israel isoliert wie nie zuvor. Bestimmte Staaten in Europa kündigten an, verschiedene Sanktionen gegen Israel zu verhängen, jedoch erst, nachdem die Europäische Union zu der unerwarteten Entscheidung gekommen war, jedem Mitgliedsland freizustellen, seine Handelsbeziehungen und kulturellen Kontakte zu Israels selbst zu bestimmen. Israelische Ärzte, Forscher und Wissenschaftler wurden nicht länger zu internationalen Kongressen eingeladen. In verschiedenen internationalen Gremien, vor allem in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, wurde Israel wiederholt gerügt. Dies wurde mit demonstrativer Geringschätzung von Seiten der Regierung aufgenommen, die verlautbaren ließ, sie werde sich mit derartigen “Verderbern Israels” nicht auseinandersetzen. Als sich in den letzten Jahren auch die USA fortgesetzt den Verurteilungen und Androhungen von Sanktionen anschlossen, zog sich die israelische Regierung auf die Formel “Die ganze Welt ist gegen uns” zurück. Einige der orthodoxen Minister im Kabinett fügten hinzu, es falle der Welt noch immer schwer, die Tatsache zu akzeptieren, daß wir das auserwählte Volk und Licht der Ungläubigen seien, weshalb uns Taten, die erst in vielen Jahren verstanden würden, gestattet seien.

Als Antwort auf die Verurteilung, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 31. Dezember 2025 in Bezug auf die fortgesetzte israelische Okkupation von Gebieten der Westbank beschloß, gab der Sprecher der israelischen Regierung eine kurze Verlautbarung heraus, die ein Zitat aus Moses 11.23 beinhaltete: So wird der HERR alle diese Völker vor euch her vertreiben, daß ihr größere und stärkere Völker beerbt, als ihr es seid. Alles Land, darauf eure Fußsohle tritt, soll euer sein: von der Wüste bis an den Berg Libanon und von dem Strom Euphrat bis ans Meer im Westen soll euer Gebiet sein.

Ende?



Israel Harel
Der letzte Unabhängigkeitstag

Am Vorabend des Unabhängigkeitstages im Jahre 5785, dem Jahr 2025 christlicher Zeitrechnung: Nach langwieriger, mitunter unversöhnlich geführter öffentlicher und parlamentarischer Debatte über die Frage, wie der Staat seinen 77. Unabhängigkeitstag begehen solle, hat der Staatspräsident, Dr. Abdul Aziz al-Hindi, beschlossen, seine Teilnahme an der feierlichen Knessetsitzung, die jedes Jahr zu diesem Anlaß stattfindet, abzusagen. Ebenso sagte er seine Teilnahme an anderen Veranstaltungen, wie etwa der Hauptkundgebung zum Auftakt des Trauertages für die in den Kriegen Israels gefallenen Soldaten, die auf dem Platz vor der Klagemauer stattfindet, ab. “Auf einer Veranstaltung, die die Bezeichnung ‚Unabhängigkeitstag’ trägt, wird man mich nicht sehen”, ließ der Staatspräsident verlauten. “Und der Gedenktag für die gefallenen Soldaten ist weder für mich noch für die Angehörigen meines Volkes ein Gedenktag. Darüber hinaus”, fügte Dr. al-Hindi hinzu, “symbolisiert dieser Tag die Folgen der unrechtmäßigen Kriege, die die zionistischen Streitkräfte gegen den Teilungsplan der Vereinten Nationen geführt haben, und das Verbrechen des brutalen Transfers, den sie am arabisch-palästinensischen Volk infolge der von ihnen initiierten Gräueltaten verübten.”

Nach der Verlautbarung des Präsidenten gab der Vorsitzende der Knesset, Mohammed al-Chatib, bekannt, angesichts der dramatischen Entwicklung verliere die traditionelle Feierstunde der Knesset, wie sie in den letzen sechsundsiebzig Jahren abgehalten worden war, ihren festlichen und hoheitsvollen Charakter, weshalb er sich – “mit großem Bedauern”, wie es hieß - gezwungen sehe, diese nicht stattfinden zu lassen. Und so ging trotz lautstarker Proteste der meisten (- wohlgemerkt der meisten, jedoch nicht aller -) jüdischen Knessetabgeordneten eine symbolträchtige und feierliche nationale Tradition von mehr als fünfundsiebzigjähriger Geschichte zu Ende.

Indes akzeptierten nicht alle jüdischen Knessetabgeordneten die Entscheidung des Parlamentsvorsitzenden. Eine Gruppe von Abgeordneten, vor allem aus den Reihen der Volkspartei, die aus den Überresten der ehemaligen Rechtsparteien – des Likuds, der Nationalreligiösen Partei, der Partei der nationalen Einheit und der Shas-Partei – hervorgegangen war, fand sich im Parlamentsgebäude ein, um dort – wie sie es nannten - “die Tradition der Feierstunde zum Unabhängigkeitstag fortzuführen”. Doch auf Weisung des Knessetvorsitzenden verwehrten ihnen die Parlamentsordner, die Veranstaltung im Plenarsaal abzuhalten. Die Gruppe begab sich daher ins Sitzungszimmer des Rechenschaftsausschusses, dessen Vorsitzender, der in die Jahre gekommene Abgeordnete Chaim Falk, ein ehemaliger Siedler und laut eigener Definition gläubiger Zionist, die Befugnis hatte, den Raum für die Zeremonie zur Verfügung zu stellen.

Auch ein Teil der Familien, deren Söhne gefallen waren, war nicht zum Verzicht bereit. Sie versammelten sich wie in jedem Jahr vor der Klagemauer. Da die Abwesenheit des Staatspräsidenten der Feierstunde jedoch ihren offiziellen Charakter nahm, konnte auch der Generalstabschef, Generalmajor Eliram Genut, der Gedenkzeremonie nicht beiwohnen. Er überließ es daher dem Armeeoberrabbiner, dem greisen General Gad Navon, im Anschluß an die Psalmenlesung, die er bei dieser Gelegenheit schon seit gut einem halben Jahrhundert vortrug, auch ein paar kurze Worte im Namen des Generalstabschefs zu sagen.

Die israelischen Medien reagierten, obgleich sie auch Kritik an den Schritten des Präsidenten und des Knessetvorsitzenden zuließen, insgesamt negativ auf die Abhaltung derartiger “Piratenzeremonien”, wie es im Leitartikel der Online-Zeitung “HaAretz”, der einflußreichsten Publikation Israels, hieß. “Gedenkveranstaltungen, die nicht die Zustimmung aller Israelis finden, vergrößern nur die Polarisierung und gegenseitige Entfremdung, die ohnehin schon in diesem zerrissenen Land herrschen”, schrieb in der Zeitung “Yediot-Ma’ariv” der bekannte Dichter Shachaf Ahavim, der, wann immer es zu ideologischen Grundsatzdebatten in der Gesellschaft kommt, gehalten ist, die Meinung der Intellektuellen zum Ausdruck zu bringen. “Sie dienen keineswegs dem Ziel, das die Initiatoren solcher Veranstaltungen erreichen wollten. Den Charakter von Feierlichkeiten und Symbolen in einem Rechtsstaat bestimmen jene, die Kraft des Rechts dazu bestimmt sind. Und diejenigen, die in Sachen Feierlichkeiten und Symbole an der Spitze der Ge- und Verbotshierarchie stehen”, fuhr der Essayist in gewohnt autoritativem Tonfall fort, “sind nun einmal der Staatspräsident und der Vorsitzende der Knesset.” “Wir alle haben ihre Entscheidung zu respektieren”, stellte der Dichter folgerichtig fest, “auch wenn einige von uns dies nur zähneknirschend tun. Denn wer die Stellung des Präsidenten und des Knessetvorsitzenden antastet, stellt die Grundfesten des Staates als bi-nationales, mulikulturelles Gemeinwesen in Frage”, beschloß der einflußreiche Lyriker seine Ausführungen in der auflagenstärksten Zeitung des Landes. (Die Fusion zwischen den beiden meistgelesenen Blättern war zustande gekommen, nachdem die Firmengruppe von “Yediot” in einem brillanten und überraschenden Börsenmanöver die Mehrheit an der Eignergruppe von “Ma’ariv” übernommen hatte. Den meisten Einfluß genoß das fusionierte Blatt in jenen Kreisen, die sich nicht an die elektronische Form der Tagespresse gewöhnen konnten und den traditionellen Printmedien, deren Auflagenstärke seit dem Jahr 2005 kontinuierlich zurückgegangen war, die Treue hielten.)
Als Präsident al-Hindi feststellte, daß sich der jüdische Bevölkerungssektor, zumindest zu diesem Zeitpunkt, mit seinen Schritten abfand, beschloß er, den Brief, den er einer Anzahl jüdischer Persönlichkeiten zugeschickt hatte, zu veröffentlichen. “Da die arabische Öffentlichkeit, die mehr als 30% der Gesamtbevölkerung in diesem Land ausmacht, den ausschließlich zionistischen Charakter der Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit des Landes nicht länger akzeptieren kann”, hieß es in Präsident al-Hindis Schreiben an den Ministerpräsidenten Ofir Pines1, an die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Dorit Beinisch2, und an den Staatsrevisor Ron Pundak, “und da der Ethos der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten auf der Nakba, der Katastrophe meines, des palästinensischen Volkes aufbaut, verbietet sich eine Teilnahme des Präsidenten oder des Vorsitzenden der Knesset – welche ohnehin schon bald ihre Bezeichnung ändern wird - an diesen Veranstaltungen.” “Außerdem”, fügte der Präsident in seinem Schreiben, das weite Verbreitung fand, hinzu, “stellen die Juden, die sich noch immer als Zionisten definieren, im Gesamtgefüge der israelischen Gesellschaft heutzutage nur mehr eine Minderheit dar. Wir, die Araber, machen - wie schon gesagt – ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Weitere 10% der Bevölkerung behaupten von sich, Angehörige der 'neuen israelischen Nation' zu sein. Was nichts anderes heißt, als daß, auch wenn ihre Herkunft jüdisch ist, sie zugunsten einer neuen Identität bewußt auf ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Nation verzichtet haben. Es hat sich in unserem Land ein neues Nationalkonglomerat herausgebildet, das auch Angehörige anderer Volksgruppen, die hier heimisch geworden sind, umfaßt, unter ihnen auch Araber, die auf ihre ursprüngliche Nationalität verzichtet haben. Zusammen mit den Nachkommen der Fremdarbeiter und den Juden, die einen “Staat all seiner Bürger” einem reinen Nationalstaat vorziehen, machen sie annähernd 55% der Gesamtbevölkerung aus und stellen somit eine absolute Mehrheit dar.

Unsere gemeinsame Aufgabe ist es heute, stabile gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die für Juden, Araber und Bürger anderer Herkunft gleichermaßen gelten. Und sollten die Juden in diesem Zusammenhang Vorwürfe erheben, so sollten sie diese an sich selbst richten. Denn immerhin waren sie es, die Hunderttausende von Nichtjuden als “Einwanderer” oder Fremdarbeiter ins Land holten, um vor allem die sich abzeichnende demographische Parität zwischen Juden und Arabern aufzuhalten. Doch sie übersahen dabei die Möglichkeit, daß sich diese neuen Bevölkerungselemente ausgerechnet mit Kräften wie den hiesigen Arabern verbünden könnten, die eine bürgerliche Demokratie anstelle eines jüdischen Nationalstaates mit unverkennbar religiösen, nationalistischen - um nicht zu sagen rassistischen – Charakterzügen wollen.

Ich rate daher angesichts der folgenschweren Umwälzungen, die sich in unserem Land vollzogen haben, jenem Teil der jüdischen Gemeinschaft, künftig nicht länger auf einem staatsfeierlichen Begehen des – wie sie es nennen – Unabhängigkeitstages zu bestehen. Eine übertrieben feierliche Ausgestaltung dieses Tages könnte sowohl die Gefühle der arabischen Bevölkerung verletzen, ja sogar empören, als auch diejenigen Bevölkerungsteile, die weder jüdisch noch muslimisch sind, verstören. Zudem widerstrebt dies einem zusehends größer werdenden Teil der jüdischen Bevölkerung, der – wie die letzten drei Wahlen zur Knesset bewiesen haben – es vorzieht, daß Israel zu einem echten Gemeinwesen, einem Staat aller seiner Bürger wird und nicht länger darauf beharrt, Heimstatt des jüdischen Volkes zu sein.” “Die meisten Bürger verstehen”, fügte der höchste Repräsentant des Staates hinzu, “daß es angesichts der heute in unserem Land herrschenden demographischen und politischen Verhältnisse nicht mehr statthaft ist, das zionistische Unabhängigkeitsfest als Nationalfeiertag zu begehen, und daß man einen übernationalen Ersatz finden muß, wie es in anderen bürgerlichen Demokratien längst der Fall ist. Dieser alternative Nationalfeiertag muß in weiten Teilen der Bevölkerung und bei den meisten gesellschaftlichen Strömungen, die heute eine klare Bevölkerungsmehrheit im Land darstellen, auf Akzeptanz stoßen. Doch leider sehen das jene Juden nicht ein, die darauf beharren, die Identität des Staatswesens habe jüdisch zu bleiben. Heutzutage stellt eine solche Haltung nichts weiter als engstirnigen Chauvinismus dar und findet nicht einmal unter den Juden mehr eine Mehrheit.”

“Auch glaube ich feststellen zu können”, konstatierte der Präsident in seinem Sendschreiben, das gemischte Reaktionen in der “Ein Israel-Partei”3, von der er für das hohe Amt nominiert worden war, auslöste, “daß – wie wir gesehen haben – die meisten Bewohner Israels inzwischen zu einer Änderung des Staatsnamens, der eindeutig jüdisch-nationalistisch ist, bereit wären. Wie Sie sich erinnern, hat der Oberste Gerichtshof (- infolge einer Petition, die im Jahre 2020 von Ganit Shamash-Rantissi eingereicht wurde -) der Regierung bereits Order erteilt, eine Kommission einzusetzen, die sich dieses sensiblen Themas annehmen soll. Doch haben in letzter Konsequenz erst die massiven Demonstrationen der arabischen Öffentlichkeit zugunsten einer Namensänderung dafür gesorgt, daß sich die Kommission konstituierte. Bedauerlicherweise hat jedoch die von bestimmten Elementen in der Kommission an den Tag gelegte Verschleppungstaktik bislang verhindert, daß die gewünschten Schlußfolgerungen veröffentlicht wurden. Dies ist einer der Gründe für den demonstrativen – ja, demonstrativen – Schritt, zu dem ich mich genötigt sah. Denn es kann nicht angehen, daß wir auch nach den tiefgreifenden demographischen, weltanschaulichen und ideologischen Veränderungen, die unser Land im letzten Vierteljahrhundert erfahren hat, weitermachen, als sei nichts geschehen. Ich möchte daher mit diesem Schreiben davor warnen, daß, sollte es nicht in naher Zukunft zu einer Änderung des Staatsnamens kommen, eine erneute Petition an den Obersten Gerichtshof wahrscheinlich ist. Denn dieser hat ja bereits angedeutet, daß er über die Nichterfüllung des seinem Urteilsspruch zugrundeliegenden Rechtsgedankens wenig erfreut ist. Auch steht es all jenen, die sich nicht länger mit der Verschleppungstaktik der Kommission abfinden mögen, frei, zur Waffe öffentlicher Demonstrationen zu greifen, wobei nur zu hoffen bleibt, daß solche nicht in Gewalt ausufern.

Doch nicht nur der Name des Staates bedarf einer Änderung. Auch die Unabhängigkeitserklärung, über viele Jahre eine “heilige Kuh”, kann nicht länger annehmbar sein; sowohl aufgrund des von ihr vertretenen Ethos als auch wegen des rechtlichen Stellenwertes, der ihr als eine Art Verfassungspräambel zugeschanzt wurde.

Doch meine lieben jüdischen Mitbürger, erschrecken sie nicht angesichts einer Annullierung der Unabhängigkeitserklärung. Wir alle werden uns daran gewöhnen, so wie wir uns auch an den Abzug aus allen besetzten arabischen Gebieten oder an die Abschaffung der “HaTikwa”-Nationalhymne gewöhnt haben. Im Jahre 2000 lehnte die Knesset – was vielen noch in Erinnerung sein wird - einen Gesetzesvorschlag des Abgeordneten Baramcha4 zur Änderung der Nationalhymne mit überwältigender Mehrheit ab. Im Jahre 2005, als der Abgeordnete Husail den Gesetzesvorschlag erneut einbrachte, votierte bereits ein Drittel aller Abgeordneten dafür, darunter nicht wenige Juden, die begriffen hatten, daß man sich einer veränderten Realität anpassen muß. So schmolz innerhalb weniger Jahre die Ablehnungsfront zusammen, ehe sich bekanntlich vor vier Jahren die Regierung nur dank der von der Koalition gegebenen - und auch eingehaltenen – Zusage, die Einführung einer neuen Hymne zu unterstützen, retten konnte.

Es hat ein bißchen wehgetan, doch als sie sich daran gewöhnt hatten, fragten sich auch die jüdischen Mitbürger, wie man derart viele und kostbare Jahre lang auf der Fortdauer der zionistischen Besatzung oder der Verwendung des nationalistischen und sicherlich nicht sehr bedeutenden Textes der alten Hymne hatte beharren können. Und so wird es sich auch verhalten, nachdem wir uns alle daran gewöhnt haben werden, daß die Unabhängigkeitserklärung, die ausschließlich und an einigen Stellen in beinahe rassistischer Form von den Rechten des jüdischen Volkes in Eretz Israel spricht, annulliert ist.
Und ich möchte Sie alle daran erinnern, daß noch eine weitere Kommission inzwischen ihre Arbeit aufgenommen hat und sich darum bemüht, einen Alternativvorschlag zur bestehenden Landesflagge, die zugleich auch die Fahne des jüdischen Volkes außerhalb der Landesgrenzen ist, zu finden. Diese Kommission wurde – Gott sei Dank – nicht erst aufgrund eines Erlasses des Obersten Gerichts und auch nicht infolge gewalttätiger Demonstrationen eingesetzt. Der arabische Stimmenanteil und die Zusammenarbeit mit anderen progressiven Kräften in der Knesset reichten aus, die Regierung zu diesem Schritt zu bewegen. Auch hinsichtlich der Landesflagge werden wir, da bin ich ganz sicher, zu einem Einverständnis gelangen, so wie wir uns dank der arabischen Wählerstimme, die von Wahl zu Wahl an Gewicht gewinnt, auf die Ernennung von arabischen Ministern, eines arabischen Präsidenten und eines arabischen Knessetvorsitzenden haben einigen können. Tatsache ist, daß sich diese Gleichberechtigung zur Zeit noch ausschließlich auf repräsentative Ämter beschränkt - und dies, obwohl die Juden schon nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Doch in bestimmten Bereichen, vor allem im Hinblick auf Staatsfeierlichkeiten, die die kollektive Identität unserer Bevölkerung zum Ausdruck bringen, sind es nicht mehr Juden im engeren Sinn, die heute die Form des Ausdrucks bestimmen.

Im möchte daher die Gelegenheit nutzen, unseren jüdischen Mitbürgern in Erinnerung zu rufen, daß die Identität unseres Staates nicht mehr die ist, die sie einmal war. Wir sind heute an dem Punkt, daß wir mit politischer Unterstützung nichtarabischer Kräfte, unter Ausnutzung internationalen Drucks, dessen wir uns zu diesem Zweck bedienen können, und mit Hilfe des liberal eingestellten Obersten Gerichtshofs, den Charakter des Staates entsprechend seiner neuen gesellschaftspolitischen Struktur verändern können.

Wir alle haben zwar noch die vehementen und gewalttätigen Proteste der nationalistisch-jüdischen Rechten in Erinnerung. Doch andererseits erinnern wir uns, wie eben diese Rechte durch den anhaltenden politischen Kampf und die arabische Intifada zermürbt und ermüdet wurde, bis sie sich schließlich mit der Realität abfand, so wie sie zuvor bereits den Rückzug von den Golanhöhen und die Räumung der meisten Siedlungen in Judäa und Samaria hingenommen hatte. Ähnlich wird es sich – insch'allah – auch mit der Veränderung der Staatsbezeichnung, der Annullierung der Unabhängigkeitserklärung und des Rückkehrgesetzes sowie dem Wechsel der Staatsflagge verhalten. Die demographische Realität, einhergehend mit dem stark verminderten Gewicht, das Israelis der jüdischen Nationalität heute noch beimessen, ist es, die den Ausschlag gibt.”
Wie einige der sogenannten “Neuen Historiker” anmerkten, belegte der Inhalt des Schreibens eine kontinuierliche Entwicklung, die in den Tagen der Intifada und in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihren Anfang genommen hatte, als es den Arabern, im Zusammenwirken mit liberalen und fortschrittlichen jüdischen Kreisen, gelungen war, den Glauben der jüdischen Bevölkerung in die Rechtmäßigkeit der zionistischen Sache und ihr volles Recht am Land ins Wanken zu bringen. “Von dem Moment an, da sich der Virus des Zweifels – sowohl im zwischenmenschlichen wie auch im politischen Sinne – einmal festgefressen hatte”, schrieb der hochbetagte Historiker Ilan Pappe, der einst als einer der sogenannten “Neuen Historiker” in den Achtziger und Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für Furore gesorgt hatte, “war klar, daß der jüdische Staat von geborgter Zeit lebte, und dies nicht nur in sicherheitspolitischer Hinsicht.”

Als Bildungsminister Mossi Ras  bestimmte, daß das präsidiale Schreiben an allen Schulen des Landes auswendig zu lernen sei, protestierte niemand gegen die Rückkehr zu Lehrmethoden, wie sie seit gut einem halben Jahrhundert verpönt waren. “Dies ist ein historischer Moment in unserer Geschichte”, sagte der Minister auf einem Kongreß von Schulinspektoren. “Aus meiner Sicht ist dies das erfreuliche Ende eines Kampfes, den ich Ende der Neunziger Jahre als Generalsekretär von ‚Shalom Achshav’ gegen die gewaltbereiten, landhungrigen Siedler führte, die drohten, unser Leben zu einem fortgesetzten Höllentrip zu machen.”
Wenig überraschend löste der Schritt des israelischen Staatspräsidenten weltweit reges Echo aus, vor allem in der arabischen Welt. Die “New York Times” zum Beispiel brachte ihn als Aufmacher und meinte in einem Leitartikel zum selben Thema, die jüdischen Bürger Israels müßten sich mit der Realität, wie ihr Präsident sie treffend analysiert habe, arrangieren. “Die Juden in Israel fühlen sich unbehaglich angesichts der dramatischen Umwälzungen, die sich in ihrem Staat, den sie unter Aufbringung zahlloser Opfer als Staat des jüdischen Volkes errichteten, vollzogen haben”, stellte der Leitartikel fest. “Dennoch haben sie es nicht geschafft, ein Staatswesen mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Werten als Anreiz zu schaffen, das auf die nicht in Israel lebenden Juden eine geradezu magnetische Anziehungskraft ausgeübt hätte. Da aber die Mehrheit des jüdischen Volkes nicht zu bewegen war, in das Land ihrer Vorväter zu gehen, kam es zu einer Situation, in der die in Israel lebenden Juden, nicht zuletzt auch infolge niedriger Geburtenraten und einer Aufgabe der zionistischen Glaubensgrundsätze, die notwendige Mehrheit einbüßten, um ein Nationalstaat im klassischen Sinne, wie wir ihn aus Europa und Asien kennen, zu bleiben. Man kann daher sagen, daß die jüdisch-zionistische Nationalbewegung, die so erfolgreich das Fundament eines jüdischen Staates gelegt hat, die seine Unabhängigkeit erkämpft und ihn mit militärischen und bevölkerungsstrategischen Mitteln ein dreiviertel Jahrhundert lang unter denkbar ungünstigen Bedingungen im Nahen Osten hat bestehen lassen, sich jetzt gezwungen sieht, eine Realität zu akzeptieren, für die sie in erheblichem Maße selbst verantwortlich zeichnet.” “Dieses Scheitern”, resümierte die wichtigste Zeitung des Globus, “hat der arabische Präsident Israels zum Ausdruck gebracht, und alle Bürger seines Landes sollten die Richtigkeit seiner Analyse akzeptieren. Jene Teile der israelischen Gesellschaft jedoch, die sich mit der jetzigen Realität nicht einverstanden erklären, sollten sich nicht verleiten lassen, mit undemokratischen Mitteln eine Entwicklung, und sei sie noch so schmerzhaft, aufhalten zu wollen, die im wesentlichen durch ihre eigene Unfähigkeit eingetreten ist.” “Das Auseinanderfallen des jüdischen Staates ist den Arabern wie eine reife Frucht in die Hände gefallen”, schloß der Leitartikel. “Und nicht etwa als Ergebnis defätistischer Umtriebe, wie nationalistische Kreise in Israel die Staatsbürger arabischer Herkunft beschuldigen. Alle Mittel, zu denen die Araber gegriffen haben, um den jetzt herrschenden Zustand herbeizuführen, waren, im Rahmen des Wettstreits zwischen Juden und Arabern um Charakter und Zukunft ihres Staates, durchaus legitim. Wie zynisch und grausam doch zuweilen die Geschichte ist, da nun klar wird, daß in diesem Wettstreit die Juden unterlegen sind.” “Der 'Fall des Dritten Tempels', wie viele Juden in Israel die Lage umschreiben, ist sicher nicht der richtige Ausdruck. Die vollkommene Herrschaft der Juden über ihren Staat ging beinahe willentlich verloren, ganz sicher jedoch nicht als Folge einer physischen Konfrontation. Der Verlust ist nicht einmal ansatzweise mit dem Fall des Zweiten Tempels, der – wenn auch erst zweitausend Jahre später – einen neuen jüdischen Staat Israel gebar, zu vergleichen. Diesmal jedoch droht – bedauerlicherweise – das beinahe freiwillige Abdanken des jüdischen Staates eine Assimilation der Juden, wie sie bereits in den USA und in Europa zu verzeichnen ist, auch in der eigenen Heimat nach sich zu ziehen.”

Das Zentralamt für Statistik veröffentlichte am Vorabend des Unabhängigkeitstages wie in jedem Jahr seit Gründung des Staates die neuesten statistischen Daten. Demzufolge läßt sich die Bevölkerung Israels auf heute annähernd 10 Millionen Bürger beziffern. Diese leben auf 21.500 Quadratkilometern (- von den ehemals besetzten Gebieten behielt Israel im Zuge des Abkommens mit den Palästinensern, das heute schon niemand mehr als “Friedensabkommen” bezeichnet, lediglich 1000 Quadratkilometer -), womit Israel den Angaben der UN zufolge der am dichtesten besiedelte Staat der Welt ist. Nur 4.752.000 seiner Bewohner definieren sich eindeutig und vornehmlich als Juden. Die Zahl der nichtjüdischen Zuwanderer und derer Nachkommen, die aus den GUS-Staaten oder als Fremdarbeiter nach Israel kamen, beläuft sich dem Zentralamt für Statistik zufolge auf 3.5 Millionen. Rund 750.000 Bürger lehnen es ab, sich einer der beiden großen Nationalgruppen zuordnen zu lassen. In dem statistischen Jahresbericht heißt es außerdem, daß gut 50% (entgegen nur 32% im Jahre 2000) aller Kinder, die Kindergärten, Grundschulen und weiterführenden Schulen besuchen, Araber sind. 20% der Kinder entstammen dem orthodox-jüdischen Milieu und nur 30% dem jüdisch-säkularen Bevölkerungssektor, dem religiös-nationalistischen und jenem, der sich keiner der beiden Mehrheitsethnien – der jüdischen oder arabischen – zurechnen läßt.

Das Schreiben des Präsidenten und seine Absage der Staatsfeierlichkeiten lösten sowohl unter der jüdisch-säkularen Bevölkerung als auch – was jeden, der die Entwicklung in dieser großen Gemeinde verfolgte, nicht überraschen konnte – unter den Orthodoxen heftige emotionale Reaktionen aus. Obgleich der Präsident mit seiner Feststellung, daß sich die Mehrheit der jüdischen Israelis an die dramatischen Veränderungen in ihrem Staat gewöhnt und mit ihnen zu leben gelernt hätte, richtig lag, wurde diesmal die Demütigung als besonders schmerzhaft, verletzend und gegen elementarste Wurzeln der eigenen Identität gerichtet empfunden.
Zum zweiten Mal in der Geschichte des Staates kam es am Unabhängigkeitstag, dem einzigen israelischen Feiertag, der seit Festsetzung der religiösen Feste dem Kalender hinzugefügt worden ist, anstelle von Festtagsumzügen zu Demonstrationen. (Das erste Mal ereignete sich Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die Friedensbewegung ‚Shalom Achshaw’ eine Demonstration auf der Anhöhe Har-Bracha, wo eine provisorische jüdische Siedlung errichtet worden war, abhielt.) Diesmal kam die Initiative von einer Bewegung namens “Weiter auf ihrem Weg”, an deren Spitze die Enkel ehemaliger Siedler standen. Die zentrale Kundgebung fand auf dem ‚Hügel der Schreie’ nahe des Knessetgebäudes statt. Die Polizei, die es abgelehnt hatte, eine Demonstration für einen Tag, der rein offiziell noch immer ein Staatsfeiertag war, zu genehmigen, ging mit massivem Aufgebot gegen die Demonstranten vor und trieb sie unter Einsatz von Schlagstöcken und Tränengas auseinander. Auch die Wachmannschaften der Knesset, die dem Parlamentsvorsitzenden persönlich unterstellt sind und sich zum größten Teil aus Angehörigen seines Volkes aus Galiläa und dem Negev rekrutieren, beteiligten sich zum ersten Mal überhaupt an der Auflösung einer Demonstration. Auch etliche Mitglieder der Jugendorganisation der “Ein Israel-Partei”, Juden wie Araber, stellten sich den Demonstranten entgegen.

Obwohl, wie Meinungsumfragen zeigten, auch nichtreligiöse Juden über die Absage der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag erbost waren, schlossen sich nur wenige von ihnen den Demonstrationen an. Es entstand daher der Eindruck, daß diesmal lediglich die religiöse und orthodoxe Gemeinde gegen die Entfernung jüdischer Symbole aus dem öffentlichen Leben des Staates demonstrierte. Die Sprecher der Mehrzahl aller Parteien – mit Ausnahme jener des rechten Spektrums, der Nachfolgeorganisationen des Likud, der MAFDAL und der Partei der nationalen Einheit – rügten die Demonstranten, “auf populistische und gewalttätige Weise” den Feiertag gestört und die Gefühle der Bevölkerungsmehrheit, die sich entschieden hat, diesen Tag ohne Verwendung nationalistischer Symbole zu begehen, verletzt zu haben. Die Parteisprecher verurteilten zugleich auch die nationalistischen und extremistischen Äußerungen, die im Verlauf der Demonstrationen gemacht wurden, wie etwa den Aufruf, zur alten Staatsflagge zurückzukehren und das Prozedere zur Findung eines neuen Staatsnamens einzustellen, sowie die Forderung, Widerstand gegen die  Außerkraftsetzung der Unabhängigkeitserklärung und des Rückkehrgesetzes zu leisten, als bloße Volksverhetzung. In Anbetracht der Sensibilität, mit der die arabische Öffentlichkeit derartigen Maximalforderungen aus den Reihen der weltfremden israelischen Rechten begegnet, könnten solche Verbalinjurien im schlimmsten Fall zu Blutvergießen führen.

Zum Ausgang des Feiertages stellten die meisten Fernsehsender ihr Programm um und brachten ausführliche Interviews mit namhaften israelischen Persönlichkeiten. Der hochbetagte aber trotz seiner achtundachtzig Jahre geistig noch völlig klare Richter Aharon Barak  war einer der wichtigsten Gesprächspartner vor laufender Kamera. “Wir befinden uns inmitten eines beschleunigt verlaufenden Prozesses der Normalisierung und – ungeachtet aller schmerzlichen Erfahrungen - begrüßenswerten Befreiung von den Altlasten des jüdischen Nationalismus”, stellte Barak unter anderem fest. “Heutzutage, am Ende des ersten Vierteljahrhunderts im dritten Jahrtausend, verstehen auch die meisten Juden – eine doch gemeinhin als aufgeklärt geltende Bevölkerungsgruppe -, daß ihr Staat nicht länger ethnozentrisch sein kann.” Nationalstaaten seien zu einem dem historischen Trend zuwiderlaufenden Anachronismus geworden, urteilte der Mann, der in hohem Maße jene Entwicklung mitgeprägt hatte, die den Staat jenen sittlichen Zustand hatte erreichen lassen, in dem er sich heute im Jahre 2025 befand. Diese Feststellung treffe besonders auf die Lage im Nahen Osten zu, wo die arabischen Staaten, deren Weg noch immer konträr zum globalen Trend verlaufe, den schlagenden Beweis lieferten, wie gefährlich es sei, in einem derart fortschrittlichen Zeitalter, wie die Weltgemeinschaft es gerade erlebe, dem engstirnigen Modell eines Nationalstaats verhaftet zu bleiben. So werde der Nährboden für einen endlosen Konflikt bereitet, wie die Auseinandersetzung zwischen dem Staat Israel – eine vorübergehende Bezeichnung – und den Ländern der arabischen Welt beweise, die auch nach 76 Jahren Gewalt und teilweise offenem Krieg noch immer nicht zu einem vertraglich gesicherten und faktischen Ende gefunden habe. “Gerade dieser Tage”, schloß der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs, “werden wir erneut Zeuge wachsender Spannungen, die einen Krieg im gesamten Nahen Osten zu entfesseln drohen und ursächlich darauf zurückzuführen sind, daß Israel in der Vergangenheit darauf beharrte, 1000 Quadratkilometer der Westbank zu behalten und dort das Gros der Siedler zu konzentrieren. Wäre dies nicht geschehen, hätte der Konflikt mit allergrößter Wahrscheinlichkeit längst ein Ende gefunden. Jetzt jedoch, da in kaum noch einem Punkt ein nationaler Konsens zu erzielen ist, zeichnet sich ab, daß die UN aufgrund der ihr durch den arabisch-europäisch-amerikanischen Block gemachten Vorgaben zu der Entscheidung kommen wird, Israel habe die UN-Resolution 181 zu erfüllen und sich hinter die darin bestimmten Grenzen zurückzuziehen, also die Grenzlinien des Teilungsplans von 1947. Mit der Erfahrung meiner Jahre sage ich heute, daß die Annahme der Resolution 181 unsere letzte Chance ist, im Nahen Osten in Frieden zu leben. Hätten wir, und zwar ohne die Verzögerung von fünfunddreißig Jahren, die Resolution 242 akzeptiert, hätten wir einen Staat in den Grenzen von 1967 haben können. Daß wir aber damals von Größenwahn geschlagen waren und Gebiete annektierten, die die Palästinenser uns gezwungenermaßen überlassen mußten, hat uns die innerstaatlich und außenpolitisch unhaltbare Situation, in der wir uns heute befinden, eingetragen. Laßt uns diesmal klug und nicht kleingeistig sein. Laßt uns die Demonstrationen, die vollkommen außer Kontrolle zu geraten scheinen, einstellen und uns mit der Realität arrangieren. Nur so werden wir in der Lage sein, zumindest etwas von der Vision zu retten, für die wir so viele Opfer gebracht haben.”

Der Vertreter der “Weiter auf ihrem Weg”-Generation, der zusammen mit Aharon Barak in einer Gesprächsrunde saß, protestierte heftig gegen dessen Ausführungen, die er als “Kapitulationserklärung und Ausdruck allgemeiner Schwäche von Seiten des renommiertesten, noch unter uns lebenden Repräsentanten der Oslo-Generation” bezeichnete. “Unter seiner Führung hat der Oberste Gerichtshof das Staatswesen von einem zionistischen Nationalstaat zu einem rückgratlosen Vielvölkerstaat ohne Existenzwillen verkommen lassen. Er ist der Letzte, der uns vorhalten kann, wir hätten Irrtümer begangen. Er ist es doch, der irrte und andere in die Irre geleitet hat, und den die jüdische Geschichte, die ein langes Gedächtnis hat und über all jene, die vor GOTTES Antlitz sich vergangen haben, zu Gericht sitzt, entsprechend seiner Vergehen aburteilen wird”, dröhnte die Stimme des fünfzigjährigen Matanija Levinger. “Wir haben das ständige in Sack-und-Asche-Gehen satt, den ungehemmten Niedergang, die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Unser Volk ist auch während der Pogrome und der Shoah nicht verzweifelt und hat sich niemals unterworfen. Was dieser Mann heute von uns verlangt, ist Unterwerfung. Doch ich verspreche: Dazu wird es nicht kommen. Die machtvollen Demonstrationen, die heute stattgefunden haben, stehen nur am Anfang einer Rückkehr zu Normalität. Wir werden nicht zulassen, daß das Land Israel zum Land Palästina wird. Wir werden nicht denen, die über dreiundzwanzig Staaten verfügen, ermöglichen, auch den einen und einzigen Staat, den das jüdische Volk besitzt, zu schlucken. Wir werden uns von den unter uns lebenden Gojim unsere Zukunft nicht diktieren lassen.”
Der Moderator der Sendung unterbrach Levingers Tiraden, um einen Zettel zu verlesen, der ihm überstürzt hereingereicht wurde. “Ich habe die schreckliche Verpflichtung, Ihnen mitzuteilen”, begann der Moderator schließlich mit zitternder Stimme, “daß vor wenigen Minuten in Shfaram, wo der Staatspräsident, der Vorsitzende der Knesset und weitere hochrangige Persönlichkeiten, unter ihnen auch Juden, die Abschaffung des Unabhängigkeitstags in seiner bisherigen Form feierten, eine Bombe explodiert ist. Die Polizei spricht von Dutzenden von Opfern. Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch nichts über das Schicksal des Staatspräsidenten und des Vorsitzenden der Knesset bekannt. Unser politischer Korrespondent meldet, der Premierminister befinde sich in einem Hubschrauber bereits auf dem Weg zum Ort des Geschehens und habe Anweisung gegeben, daß der Ausnahmezustand und eine landesweite Ausgangssperre verhängt wird, sollte sich herausstellen, daß es sich um einen Anschlag gehandelt hat. Verzeihen Sie..., einen Moment...., ich bekomme gerade über Kopfhörer mitgeteilt, daß alle, die dort in Shfaram am Tisch gesessen haben, getötet wurden – offenbar durch eine Sprengladung, die genau unter dem Tisch angebracht war. Aus Amman kommt in diesen Sekunden die Erklärung des palästinensischen Regierungssprechers, der bekannt gibt, sein Land sei verpflichtet, vom Jordan aus – der im Friedensvertrag festgeschriebenen Westgrenze – in Richtung der östlichen Ausläufer von Samaria vorzustoßen, um den arabischen Brüdern in Israel zur Hilfe zu kommen. Unser Militärkorrespondent fügt hinzu, daß auch in Ägypten und in Syrien Truppenbewegungen zu verzeichnen seien. Unser politischer Korrespondent, der jetzt auch zu hochrangigen Vertretern der amerikanischen Regierung Kontakt aufgenommen hat, meldet in diesem Augenblick, Präsident Ontschinklos werde in Kürze vor den Kongreß treten und eine wichtige Erklärung abgeben. Der Sprecher der israelischen Armee gibt bekannt, daß angesichts der herrschenden Lage die Bürger gebeten werden, ihre Häuser und Wohnungen nicht zu verlassen, den Zustand der Luftschutzräume zu kontrollieren und Radio und Fernsehen eingeschaltet zu lassen, um Meldungen empfangen zu können, die das Wohlergehen der Bevölkerung unmittelbar betreffen.



Hana Swaid
Arabische Autonomie

Im Jahre 2025 sind die Beziehungen zwischen dem Staat Israel (dem Staat des jüdischen Volkes) und der arabischen Bevölkerung in Galiläa und im sogenannten Dreieck (rund 2.2 Millionen Menschen) in Form einer arabischen Autonomie innerhalb des israelischen Staates, der zu einem Föderalstaat geworden ist, geregelt. Das Autonomieabkommen ist mit Hilfe der zu beiden Seiten freundschaftliche Kontakte unterhaltenden Nachbarstaaten Jordanien und Palästina zustande gekommen. Die Beziehungen zwischen der Autonomie und dem israelischen Staat ähneln in ihrer Form dem Abkommen zwischen den Republiken Kosovo und Serbien, das im Jahre 1999 nach einem fortdauernden, verheerenden Krieg zustande kam, oder den Kontakten zwischen Schottland und dem Vereinigten Königreich.

Der Hintergrund dieser Entwicklung liegt in den fehlgeschlagenen Bemühungen der arabisch-israelischen Bevölkerung, eine für sie akzeptable Form der Staatsbürgerschaft zu finden, sich in das zivile Leben des Staates einzugliedern und volle Gleichheit vor dem Gesetz zu erlangen. Der Wunsch der arabischen Bevölkerung, am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Staates teilzuhaben, fand nicht einmal in den liberalen und aufgeschlossenen Kreisen der israelischen Gesellschaft Gehör. Auch die Parteien der politischen Linken und die liberal ausgerichteten jüdisch-zionistischen Parteien pflegten die arabische Bevölkerung zu patronisieren und von ihr zu erwarten, daß sie sich wie Untergebene gegenüber Gebietern verhielte.

Ungeachtet ihres Versuchs, Boykottmaßnahmen und Formen von Separatismus als Druckmittel auf das israelische Establishment einzusetzen, wurde den Arabern fortlaufend mit Geringschätzung und Mißachtung begegnet. Erst in Folge schwerer Zusammenstöße, zu denen es vor dem Hintergrund von Landenteignungen und der Zerstörung von Häusern zwischen den arabischen Bewohnern Galiläas sowie des sogenannten Dreiecks und den Sicherheitskräften kam, entschied man sich in Regierungskreisen, nach einer Formel zu suchen, die die territoriale Unversehrtheit des israelischen Staates einerseits, und - um weitere Reibereien und eine Eskalation der Gewalt zu verhindern - eine physische Trennung von der arabischen Bevölkerung andererseits garantieren würde.

Die Nachbarstaaten Palästina und Jordanien, die wirtschaftlich eng mit Israel verknüpft sind und in der ständigen Sorge lebten, die unter der arabischen Bevölkerung Israels herrschende Unzufriedenheit könnte auf ihre eigenen Staatsterritorien übergreifen, beschlossen, sich aktiv bei der Suche nach einer Lösung zu beteiligen.

Die Formel, die letztlich von beiden Seiten akzeptiert wurde, sicherte der arabischen Bevölkerung in den mehrheitlich von ihr bewohnten Gebieten (vor allem in Galiläa mit einer Ausdehnung ins Wadi Ara und im sogenannten Dreieck) einen Autonomiestatus zu. Konkret bedeutete dies, daß die arabische Bevölkerung ihre inneren Angelegenheiten (Infrastrukturplanung und Bebauung, kulturelle und soziale Belange, Gerichtsbarkeit und einige andere zivile Bereiche mehr) selbstständig gestaltet, während Sicherheitsfragen, außenpolitische Angelegenheiten und Außenhandelsfragen durch die israelische Föderalregierung geregelt werden.



Menachem Leibowitz
Die Geschichte der Autonomieregionen

November 2001
Die Regierung der nationalen Einheit unter Führung von Barak strebt die Umsetzung der ersten Stufe des Abkommens mit Syrien an. In diesem ersten Schritt soll Israel seine Truppen bis zwei Kilometer oberhalb des Fußes der Golanhöhen abziehen. Die tatsächliche Realisierung des Abzugs hängt von einem positiven Votum des Volksentscheids in Israel ab.
Massendemonstrationen von Befürwortern und Gegnern des Abkommens führen zu gewalttätigen Zusammenstößen, die Verletzte in beiden Lagern fordern, jedoch keine bürgerkriegsähnlichen Zustände heraufbeschwören.
Am Ende führen der öffentliche Druck großer Teile der Gesellschaft und der Volksentscheid, bei dem sich eine überdeutliche Mehrheit für einen Abzug ausspricht, dazu, daß sich sowohl die Gegner des Abkommens als auch die Bewohner der Golanhöhen gezwungen sehen, das Votum zu akzeptieren. Unter nur noch lokalem, jedoch nicht gewalttätigen Widerstand beginnt die erste Stufe des Rückzugs von den Golanhöhen.

März 2002
Die neue Zentrumspartei bringt einen Gesetzesentwurf zur Trennung von Religion und Staat ein, worauf die erste echte Regierungskrise entsteht. Der ultraorthodox-konservativreligiöse Block versucht, die Regierung der nationalen Einheit auseinander zu dividieren, doch ohne Erfolg. Das Koalitionsabkommen zwischen dem “Neuen Likud” und der “Ein Israel Partei”, in gesellschaftlichen Fragen kleineren Koalitionspartnern künftig keine Gelegenheit mehr zu geben, mit dem Ausscheren aus der Koalition zu drohen, um dieses oder jenes Zugeständnis zu erpressen, beginnt erste Früchte zu tragen. Die Regierung beschließt mehrheitlich, die nach ihrem Vorsitzenden benannte “Malchidor-Kommission” zum Thema Religion und Staat einzusetzen und Repräsentanten aller gesellschaftlichen und religiösen Strömungen die Teilnahme an der Kommissionsarbeit anzubieten. Im Mittelpunkt der Arbeit der Kommission stehen Themen wie die Konversion zum Judentum, die in Folge der Masseneinwanderungen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion immer mehr zum Problem geworden ist und von den Rabbinaten in Israel nicht mehr bewältigt werden kann. Darüber hinaus wird sich die “Malchidor”-Kommission mit der Frage von Heiratsregistratoren, die keinem Rabbinatsgericht angehören, mit der geordneten und durch alle religiöse Strömungen anzuerkennenden Konversion zum Judentum in den GUS-Staaten, mit der offiziellen Anerkennung aller Strömungen und jüdischen Konfessionen durch sämtliche Regierungs- und Verwaltungsebenen in Israel, mit zivilrechtlichen Trauungen und weiteren Themen befassen.
Die offiziellen Vertreter der religiösen Parteien und des religiösen Establishments sind nicht bereit, in der Kommission zu sitzen, obgleich junge Rabbiner aus den Siedlungen und der religiösen Kibbuzbewegung ihr beigetreten sind. Massendemonstrationen von orthodoxen und laizistischen Israelis in Israel begleiten die ersten Sitzungen der Kommission, während es in den USA zu Großdemonstrationen vor der israelischen Botschaft in Washington kommt.
Ein Gesetzesentwurf zur Aufhebung der Direktwahl des Ministerpräsidenten scheitert an gemeinsamen Interessen kleinerer Parteien, des Ministerpräsidenten Sharak und seines “Leibwächters” Amon. Gleichzeitig betreiben die beiden Spitzenpolitiker ein Vorhaben, das Wahlsystem vom Verhältniswahlrecht auf ein regional ausgerichtetes Mehrheitswahlrecht umzustellen.

Januar 2003
Innerhalb der “Malchidor”-Kommission beginnt sich ein Konsens abzuzeichnen, worauf einzelne Kommissionsmitglieder Morddrohungen von Seiten extremistischer religiöser Elemente erhalten.
Die religiösen und orthodoxen Parteien scheren aus der Koalition aus und gründen ein religiös-orthodoxes Bündnis, das bei den Wahlen im Mai 2003 antreten wird.
Ein Sprengsatz explodiert im “Rechter-Center” der konservativen Kongregation in Jerusalem, fordert jedoch keine Todesopfer. Die bislang noch unbekannte Organisation “Wächter der Religion” übernimmt die Verantwortung für den Anschlag und spricht weitere Drohungen gegen Mitglieder der “Malchidor-Kommission” aus. Telefonische Drohungen gehen auch im Zentrum der Reformgemeinde in Jerusalem ein. Der Inlandsgeheimdienst stellt sämtliche Mitglieder der “Malchidor-Kommission” und die Häupter der nicht orthodoxen Konfessionen in Israel unter Personenschutz.
Die beiden Parteien “Der neue Likud” und “Ein Israel” geben bekannt, daß sie nach den Wahlen eine Regierung der nationalen Einheit bilden werden. Der eigentliche Kampf findet also zwischen Garon und Sharak, den beiden Parteiführern, statt, da das zentrale Thema des Wahlkampfs die gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Entwicklung ausmacht.
In den Meinungsumfragen vor der Wahl zeichnet sich bereits ab, daß “Der neue Likud” Gewinne auf Kosten der “Shas”-Partei erringen wird, die neue Zentrumspartei auf Kosten der Linkspartei “Meretz” und die “Ein Israel Partei” auf Kosten der russischen Parteien, die bestrebt sind, mit einer der großen Parteien zusammenzugehen. In den Umfragen liegt Sharak vor Garon, vor allem wegen seiner kämpferischen Haltung gegenüber dem orthodox-religiösen Block.
Die arabischen Parteien schließen sich zu einem Wahlbündnis unter Führung von Dibi zusammen.

Mai 2003
Sharak wird Ministerpräsident.
Die neue Zentrumspartei verdreifacht ihren Stimmenanteil auf Kosten von “Meretz”. “Der neue Likud” und die “Ein Israel Partei” können um jeweils 25% zu Lasten der russischen Parteien und der “Shas”-Partei zulegen. Dem arabischen Wahlbündnis gelingt es, seinen Stimmenanteil zu verdoppeln, während das orthodox-religiöse Bündnis Verluste von 10% zu beklagen hat. Mehrere kleinere Parteien verschwinden in der Versenkung, nachdem die Sperrklausel erhöht wurde. Der nationalistische Block schrumpft beinahe zur Bedeutungslosigkeit zusammen und erreicht nur mit Mühe die für den Einzug ins Parlament erforderliche Mindeststimmenzahl.

Juni 2003
Innerhalb kürzester Zeit wird eine Koalition aus dem “Neuen Likud”, der “Ein Israel Partei”, der neuen Zentrumspartei und der nationalreligiösen Partei, die das orthodox-religiöse Lager verläßt, gebildet. Das arabische Bündnis und die Orthodoxen verbleiben in der Opposition.

2004 – 2005
In Israel und seinen Nachbarstaaten werden Investitionen von erheblichem Umfang getätigt, der Tourismus floriert, die Arbeitslosigkeit geht auf einen nie da gewesen Tiefstand zurück. Gleichzeitig gelingt es, durch massive Investitionen im gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Bereich die Einkommens- und Sozialunterschiede zu reduzieren.
Als Folge der Festlegung eindeutiger Kriterien für eine gerechte und gleichmäßige Verteilung öffentlicher Gelder an alle Institutionen, fordert die Orthodoxie weltweit ihre Anhänger auf, ihre Sozial- und Bildungseinrichtungen in Israel entsprechend zu unterstützen. So beginnt die Abhängigkeit des orthodoxen Sektors von Zuwendungen der öffentlichen Hand allmählich schwächer zu werden und sich gleichzeitig eine faktische Abgrenzung der strenggläubigen Bevölkerung von der restlichen Gesellschaft abzuzeichnen.
Die israelische Regierung gesteht den Repräsentativorganen der Orthodoxen und der Araber das Recht zu, ihr Bildungs- und Sozialsystem eigenständig zu führen, und ermöglicht diesen beiden Bevölkerungsgruppen, gleichberechtigt mit der Restbevölkerung, eine sektoriale Eigenverwaltung.
Nach Abschluß ihrer Arbeit empfiehlt die “Malchidor-Kommission” der Regierung, die gewonnenen Erkenntnisse umzusetzen.

2006
In wahren Marathonsitzungen berät das Kabinett über die Empfehlungen der “Malchidor-Kommission”. Die Beratungen finden unter Ausschluß der Medien statt und keinerlei Informationen dringen nach außen.
Unter der orthodoxen Bevölkerung kommt es zu allgemeinem Protestfasten mit der Drohung, sich vom Staat loszusagen. Auf der anderen Seite bringen Hunderttausende säkularer Israelis bei Massendemonstrationen ihre Unterstützung für die Regierung zum Ausdruck, die in Erklärungen für einen Ausgleich zwischen den Juden in Israel und der Diaspora wirbt.
Bei einer Großdemonstration auf dem Levin-Platz werden drei Splitterhandgranaten in die Menge geworfen, wodurch 64 Menschen getötet und weitere 371 verletzt werden. Die insgesamt drei Attentäter, die im weiteren Verlauf des Abends durch Demonstranten gefaßt werden, können durch die Sicherheitskräfte vor der Lynchjustiz der Menge gerettet werden, werden jedoch schwer verletzt. Daraufhin marschieren Zehntausende aufgebrachter Demonstranten in Richtung Ganei-Jerek, der nahegelegenen orthodoxen Stadt. Armeeeinheiten marschieren auf und verhindern, das die Demonstration ins Stadtgebiet von Ganei-Jerek vordringt. Es kommt zu vereinzelten Zusammenstößen zwischen der Armee und den Demonstranten, die sich dann aber zerstreuen lassen.
Die israelische Regierung ruft den nationalen Notstand aus und gibt bekannt, sie werde, das Einverständnis der Knesset vorausgesetzt, nach den Empfehlungen der “Malchidor-Kommission” handeln.
Das Oberrabbinat unter Führung des aschkenasischen Oberrabbiners Jibrael Tau und des sefardischen Oberrabbiners Takschi Choron bezieht keinerlei Stellung, womit es von seiner bisherigen ablehnenden Haltung zu den Vorschlägen der “Malchidor”-Kommission abrückt. Die blutigen Unruhen, die – wenn auch in kleinerem Umfang - überall im Land ausbrechen und zahlreiche Tote und Verletzte fordern, schaffen eine Situation, in der jede Äußerung des Oberrabbinats in Sachen Religion und Staat nur zu weiteren Unruhen führen und die Stimmung noch zusätzlich anheizen würde.

Die Vorschläge der “Malchidor-Kommission”
1. Zulassung von Zivilehen in Israel.
2. Übertritt zum Judentum in Form eines von allen Strömungen des Judentums gleichermaßen anerkannten Prozesses mit abschließender Prüfung vor einem gemeinsamen Rabbinergremium.
3. Abschaffung der Eintragung der Volkszugehörigkeit im Personalausweis.

Die Knesset beschließt mehrheitlich, die Empfehlungen der “Malchidor-Kommission” zu übernehmen. Dagegen stimmen die nationalreligiöse Partei (die ihre Abgeordneten bei der Abstimmung vom Fraktionszwang entbunden hat), die orthodoxen Parteien und der arabische Block. Die Araber befürchten eine verstärkte Zuwanderung konvertierter Juden aus der ganzen Welt.
Die Knesset billigt zudem den Vorschlag der Regierung, einen gesellschaftlichen Notstand auszurufen, und verschiebt die nächsten allgemeinen Wahlen bis ins Jahr 2008. Sie unterstützt darüber hinaus die Empfehlung der Verfassungskommission unter Vorsitz von Tzeridor, die Wahlen im Jahre 2008 als Regionalwahlen abzuhalten.
Das arabische Parteienbündnis und der orthodoxe Block leisten aus verständlichen Gründen Widerstand gegen dieses Wahlsystem. In verschiedenen arabischen Ortschaften kommt es zu Unruhen.
Die Hauptverkehrswege werden durch aufgebrachte arabische Demonstranten blockiert, die gewaltsam durch Armee und Polizeikräfte auseinandergetrieben werden müssen. In Jerusalem und Ganei-Jerek kommt es zu Straßenblockaden durch orthodoxe Protestierer, die nur unter massiven Armee- und Polizeieinsatz zerstreut werden können. Die arabisch-orthodoxe Intifada auf den Hauptverkehrsadern und angrenzenden Gebieten fordert zahlreiche Tote und Verletzte.
Die Knesset verabschiedet den endgültigen Zuschnitt der Wahlgebiete, von denen zwölf mehrheitlich von Arabern und insgesamt zehn mehrheitlich von Orthodoxen bewohnt sind. Der Zuschnitt der einzelnen Wahlgebiete erfolgt auf Grundlage der Einwohnerzahl in jeder Region.
Ein parlamentarischer Ausschuß unter Führung des Vorsitzenden des Innenausschusses der Knesset wird gebildet. Seine Aufgabe soll es sein, vor anstehenden Wahlen den Zuschnitt der Wahlgebiete entsprechend der Einwohnerzahlen zu verändern.
Ein landesweiter Migrationprozeß von Bewohnern, die von einem Wahlgebiet in ein anderes ziehen, setzt ein und führt dazu, daß bei den Wahlen des Jahres 2008 schon insgesamt vierzehn Wahlregionen über eine absolute arabische Mehrheit und weitere elf über eine orthodoxe Mehrheit verfügen. (Die gemäßigt Religiösen sind mit der Zeit aus den mehrheitlich orthodoxen Landstrichen in andere Regionen verzogen.)
Geres und Peilin werden als Regierungsmitglieder mit der Koordination zwischen der Zentralregierung und den Arabern betraut, Tarik Garon und Lavid Tevi als Verbindungsleute zum orthodoxen Sektor.

2008 nach den Wahlen
Die israelische Regierung verleiht den orthodoxen und den arabischen Regionen bis auf außen- und sicherheitspolitische Belange vollen Autonomiestatus.

2025
Die Regierung ist mit Vertretern von Arabern und Orthodoxen proportional zu deren Anteil an der Gesamtbevölkerung besetzt. Die Anzahl der zugelassenen Parteien ist auf vier begrenzt worden. Die Wirtschaft floriert, die Arbeitslosigkeit geht auf verschwindend niedrige Zahlen zurück und umfangreiche Investitionen führen zu einer Minimierung sozialer Unterschiede, was eine völlige sektorale Beruhigung nach sich zieht.
Da wirtschaftliche und soziale Unterschied nur mehr eine marginale Rolle spielen, wird die Binnenmigration innerhalb der einzelnen Wahlbereiche zu einem alltäglichen Phänomen.



Gidi Grinstein
(unter Mitwirkung von David Brodet und Mor Altschuler)
“Friedenshütte”

Es war am Vorabend des Jerusalemtags im Monat Ijjar des Jahres 5785 (2025), als Dvorah Ben-Jehuda es sich in ihrem Sessel bequem machte und erst einmal richtig durchatmete. Sie hatte allen Grund stolz zu sein: Am Morgen noch hatte die Premierministerin feierlich die erste israelische Raumfähre verabschiedet, mit der ihr Land sich unter den erlauchten Kreis jener Staaten, die das Weltall beherrschten, mischte. Zu den Astronauten, die an diesem Morgen ins All gestartet waren, gehörte auch ihre eigene Tochter Yael, eine ehemalige Kampfpilotin, die ihrer Mutter viele Augenblicke der Freude, vermischt mit ständiger Sorge, beschert hatte. Die Premierministerin  lächelte. Sie dachte an die Zeit, als sie selbst noch ein stilles, fügsames junges Mädchen gewesen war. Ihre Revolte, wie sie ihren Eintritt in die Politik nannte, kam erst später, nach dem Tod der Eltern. Bei dem Gedanken an ihre Eltern schloß die Premierministerin die Augen. Ihre Gedanken trugen sie fünfundzwanzig Jahre zurück in die Vergangenheit, zu jenen schwarzen Tagen des Jahres 2000 und zu dem Wunder ihres Vaters, das sich am Jerusalemtag jenes Jahres ereignet hatte.

Das Jahr 2000 war ein finsteres Jahr für Israel. Die Bemühungen des damaligen Ministerpräsidenten, eine stabile Koalition aus all jenen Kräften, die ein Schlußabkommen mit den Palästinensern unterstützten, zu errichten, waren gescheitert. Je weiter die Verhandlungen fortschritten und das ganze Ausmaß der erforderlichen Zugeständnisse der Öffentlichkeit bekannt wurde, formierte sich das Lager der Gegner zu einer breiten Volksbewegung, die weite Teile der Bevölkerung umfaßte.
Die Nachricht, daß sich Ehud Barak und Jassir Arafat nach zermürbenden Verhandlungen tatsächlich auf ein Schlußabkommen hatten verständigen können, war für viele ein Schock. Entgegen der Voraussage zahlloser Experten, die prophezeit hatten, daß es unmöglich sein würde, die Gräben zwischen beiden Seiten zu überbrücken, waren die beiden zu einer Übereinkunft gelangt. Der Preis sollte für beide Seiten gleichermaßen schmerzlich sein, da jede Seite in zentralen Bestandteilen des eigenen nationalen Narrativs zu Zugeständnissen gezwungen sein würde. In der Phase vor dem Volksentscheid wurden die israelischen Straßen einmal mehr von unschönen Bildern wie jenen des Sommers 1995 beherrscht: Die Befürworter eines “Nein” brachten den Verkehr an vielbefahrenen Kreuzungen zum Erliegen, setzten Straßenbarrikaden in Brand und prügelten sich mit Armee und Polizeikräften. Auch die Unterstützer eines “Ja” gingen auf die Straße, getrieben vom Schuldgefühl des Sommers 1995: Diesmal würde man den Ministerpräsidenten nicht im Stich lassen. Die Rechte wie die Linke schienen zum letzten Gefecht bereit, so daß ein blutiges Aufeinandertreffen immer wahrscheinlicher wurde. Auch die Gegner eines Abkommens auf palästinensischer Seite gewannen an Einfluß, zeigten wachsende Entschlossenheit, alles zu opfern, um den Friedensprozeß zu zerschlagen. Ihre Anhänger gingen auf die Straße und forderten offen die palästinensische Autonomiebehörde heraus, die nicht in die Bresche gesprungen war. Nach zwei verheerenden Anschlägen in Jerusalem und Tel Aviv überkam viele ein Gefühl der Verzweifelung: Der “Pakt der Extremisten”, vor dem man sich gefürchtet hatte, nahm Gestalt an.

Als der öffentliche Sturm zum Orkan zu werden drohte, und das Land, das am Rande eines ausweglosen Bürgerkriegs schien, bereits in den Abgrund schaute, zeigte sich, daß die Lehren der Vergangenheit doch nicht vergessen waren. In jenem dramatischen Augenblick trat eine Anzahl hochrangiger Persönlichkeiten aus dem Lager der Siedler mit einem Erklärung an die Öffentlichkeit: “Teure Schwestern und Brüder. Das Los ist gefallen. Unser Versuch, im Lande Israel und in den Herzen des Volkes Israel eine Heimat zu finden, ist gescheitert. Die israelische Öffentlichkeit ist nicht bereit, das Opfer zu bringen, welches nötig wäre, um weiter in Besitz von Judäa und Samaria zu bleiben. Wir stehen mithin vor einer grausamen Entscheidung: Entweder ein Staat Israel ohne Judäa und Samaria oder Bürgerkrieg, Untergang des Staates und Verlust des ganzen Landes. Einen Bürgerkrieg können wir nicht wollen. Vor diese Wahl gestellt, sind wir zu folgendem Schluß gelangt: Es ist nun an uns, alle Kräfte des nationalen Lagers zu mobilisieren, um ein Blutvergießen zu verhindern. Wir werden den Verlust von Teilen des Landes, das einst unseren Vorvätern versprochen wurde, niemals vergessen. Doch unser Blick geht in die Zukunft. Der gewaltsame Protest muß unverzüglich aufhören, ehe noch Blut vergossen wird.”

Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehörte auch Rabbi Ya’akov Ben-Jehuda (Jehudowitz), der Vater der Premierministerin. Seine Tochter würde den Augenblick, da er seine Unterschrift unter das Schriftstück setzte, niemals vergessen: Die Skrupel, die seiner Entscheidung vorausgingen, die Furcht vor möglichen Reaktionen, das Gefühl, Verrat zu begehen, und die Trauer über den bevorstehenden Verlust. Ihr Vater faßte damals eine Entscheidung, die ihm das Herz zerriß. Er konnte nicht vorhersehen, daß sich alles zum Guten wenden würde. Rabbi Ben-Jehuda und seine Mitstreiter brachten auf einen Schlag ein ganzes Land ab vom Weg in den drohenden Untergang. Ihr Aufruf führt fast augenblicklich dazu, daß sich die Lage auf der Straße beruhigte. Weitere Versuche, den gewaltsamen Widerstand fortzusetzen, trafen jetzt auf breite öffentliche Ablehnung. Sogar in den Siedlungen boykottierte man die Extremisten. Allmählich kehrte wieder Stabilität ein.

Doch der Aufruf der Siedlerführer sollte noch erheblich weiterreichende Auswirkung haben. Er wurde zu einem Wendepunkt in der Geschichte der israelischen Politik und zum Beginn eines neuen Zeitalters – einer Epoche der Großzügigkeit und gegenseitigen Rücksichtnahme. Die Haßgefühle, die Wut und Feindseligkeit, die viele Linke gegenüber den Siedlern und der Rechten allgemein gehegt hatten, wurden nun durch ehrlich empfundene Hochachtung für das erbrachte Opfer, Mitleid und Anteilnahme verdrängt. Eine Zeit des Zuhörens, der Sensibilität und Aufmerksamkeit begann. Die israelischen Araber ihrerseits taten gut daran, sich in ihren Äußerungen zurückzuhalten und sich nicht von Schadenfreude leiten zu lassen.

Bei dem Volksentscheid sprachen sich die meisten Israelis für das Schlußabkommen mit den Palästinensern aus. Die Räumung der Siedlungen und die Evakuierung ihrer Bewohner in die auch weiterhin unter israelischer Herrschaft stehenden Siedlungsareale war mit herzzerreißenden Bildern verbunden, doch bis auf ganz wenige Ausnahmen mußte die Armee nicht einschreiten. Schweren Herzens nahm die Gemeinde der Siedler von den Anstrengungen einer ganzen Generation Abschied und verband ihr Schicksal mit der Zukunft des Staates. Die Premierministerin seufzte, als sie schmerzlich an die Aufgabe der Siedlungen erinnert wurde. Ihre Tochter Yael, die heute ins Weltall gestartet ist, war damals ein kleines Mädchen von fünf Jahren und die dritte Generation von Siedlern in Judäa und Samaria. Sie mußte an den verlegenen, verstörten Blick des Mädchens denken, das nicht verstand, warum Oma und Opa sich die Kleider einrissen und sich mit Asche im Haar auf den nackten Boden setzten, weshalb Mama und Papa im Hof ein Loch aushoben und Bücher darin versenkten. Im Nachhinein betrachtet, hatte sich das Opfer gelohnt? Die Premierministerin seufzte erneut. An diesem feierlichen Abend ist kein Platz für trübsinnige Gedanken, beschloß sie. Man muß auch all das Gute sehen, das aus dem Leid entstanden ist. In Folge des Abkommens fielen Jerusalem und Umgebung endgültig unter israelische Herrschaft, womit der Kreis geschlossen wurde und die internationale Staatengemeinschaft Israels Recht, in Frieden zu existieren, anerkannte. Seither begründet sich die Sicherheit des Landes in zunehmendem Maße auf Abkommen, Militärbündnisse und den Einsatz von Hochtechnologie, dank derer Israel seit kurzem zum exklusiven Kreis jener Staaten, die auch im Weltraum über Territorien herrschen, zählte. Territorien ohne Landbesitz zwar, aber in der heutigen Zeit war auch die Luft eine Menge wert.

Die Premierministerin lächelte. Ihre Gedanken schweiften zum Beginn des dritten Jahrtausends, als sie ihre ersten Schritte in der Politik unternommen hatte. Sie gehörte damals zu den treibenden Kräften einer Aussöhnung zwischen dem Lager der “Falken” und jenem der “Tauben”. Nachdem der Konflikt um das Land beigelegt war, kam die Zeit des “Urknalls” in der israelischen Politik. Persönlichkeiten vom linken wie vom rechten Spektrum schlossen sich zu einem großen, den Werten des Zionismus verpflichteten Zentrumsblock zusammen. Die Gründung des palästinensischen Staates erneuerte den Konsensus in Bezug auf die Identität des eigenen Staates: Der Staat Israel sollte auch künftig ein jüdischer Staat sein, dessen arabische Bürger das Recht auf volle Gleichheit vor dem Gesetz haben, gleichzeitig aber die Bedeutung der Existenz eines jüdischen Nationalstaates anerkennen. Die nationalen Rechte der Palästinenser hingegen hatten jenseits der Grenze, im neu geschaffenen Staatswesen Palästina realisiert zu werden.

Im fünfundsechzigsten Jahr der Unabhängigkeit Israels verpflichtete sich der Zentrumsblock von neuem, für Frieden und Wohlergehen des Staates Israel im Sinne des zionistischen Ideals einzutreten. Ungeachtet des Widerstands der Orthodoxen wurde ein Gesellschaftsvertrag zur Stellung von Religion und Staat verabschiedet, der Reformierten, Konservativen und Säkularen rechtliche Gleichstellung zusicherte. Diese Strömungen erhielten vor dem Gesetz in Bezug auf ihre Glaubensinhalte und ihre Lebensformen volle Anerkennung. Der Verlust des Monopols über die Religion führte zu schweren Turbulenzen in den Reihen der orthodoxen Öffentlichkeit. Die Kritik an der überalterten Führung, die die orthodoxe Gemeinde in eine Sackgasse geführt hatte, nahm zu. Sie wurde getragen von einem Gefühl der Frustration über drückende Armut, fehlende Kenntnisse auf technologischem Gebiet und wachsende Feindseligkeit von Seiten der nichtreligiösen Öffentlichkeit, die immer weniger bereit war hinzunehmen, daß sich die Orthodoxen aus der nationalen Verantwortung stahlen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, daß die strenggläubige Öffentlichkeit in Israel für Veränderung reif war.

Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert begann sich die stille Revolution in der Lebensweise der orthodoxen Gemeinde bemerkbar zu machen. Das stillschweigende Einverständnis, das einflußreiche Rabbiner zur Rekrutierung junger orthodoxer Männer zum Dienst in der Armee oder im Zivildienst gaben, trug auch dazu bei. Jene jungen Männer kehrten mit dem festen Entschluß nach Hause zurück, fundierte Kenntnisse auf technologischem Gebiet zu erwerben und sich am Arbeitsmarkt zu behaupten. Die Gründung einer orthodoxen Universität im Jahre 2006 befreite sie von dem Dilemma, für die Zeit des Studiums in eine “unreine Kultur” gehen zu müssen. Von nun an konnten sie eine Profession erwerben, ohne dabei den Kontakt zur orthodoxen Gemeinde zu verlieren oder auf ihre besondere Lebensweise verzichten zu müssen. Auch jegliche Diskussionen über Glaubensvorschriften und –inhalte wurde vermieden. An der orthodoxen Universität herrschte strikte Trennung zwischen weiblichen und männlichen Studenten, und geistes- oder religionswissenschaftliche Fakultäten fehlten völlig. Diese Fächer blieben den Talmud- und Thoraschulen vorbehalten. Der Lebensstandard der orthodoxen Bevölkerung stieg nach und nach an, und die Integration dieser Gemeinde in die Gesamtgesellschaft nahm zu. Daraus resultierend kam es zu einer wachsenden Identifizierung mit dem israelischen Staat und dem Wunsch, etwas zu seiner Stärkung beizutragen.

Kein Zweifel, daß die stille Revolution in der orthodoxen Welt einer der Faktoren war, welche die ersten fünfzehn Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts in Israel zu Jahren wirtschaftlicher Blüte machten. Es zeigte sich, daß die im talmudischen Diskurs geschulten Köpfe mit ihrer Ausdauer und Fähigkeit zu analytischem Denken im technologischen Wettlauf eine wertvolle Verstärkung für die Hightechindustrie in Israel wurden. Die wirtschaftliche Saat, die noch in den Jahren der innergesellschaftlichen Konflikte ausgebracht worden war, trug nun Früchte. Die Einnahmen des Staates wuchsen und ließen Projekte, von denen man in der Vergangenheit nur hatte träumen können, Realität werden: Die Infrastruktur wurde gezielt ausgebaut, Eisenbahnverbindungen nach Be’er-Sheva, Jerucham und Dimona, nach Tiberias und Kirjat-Shmona entstanden. Sie ermöglichten die Ansiedlung von Technologiezentren in den Provinzstädten, die zudem mit einer hervorragenden Frühschulerziehung und einem verbesserten Gesundheitswesen aufwarten konnten.

Der wirtschaftliche Umschwung brachte auch einen Wertewandel mit sich. Die jungen Israelis, die erfolgreich mit den führenden Hightechriesen der Welt konkurrierten, brachten neue Maßstäbe mit nach Hause. Das Kriterium “Qualität” wurde zu dem Leitwert. Redensarten wie “vertrau’ mir” oder “geht schon in Ordnung” wurden zum Inbegriff der alten Pleiten-, Pech- und Pannenwirtschaft, der niemand nachtrauerte. Ausdrücke wie “Perfektion”, “Präzision” und “Sauberkeit” wurden zu Maßstäben, die ihren Weg von der Hightechindustrie in die Universitäten und von dort zu den jungen Lehrern an den Schulen und zu guter Letzt auch in die Stadtverwaltungen und Regierungsbehörden nahmen.

Auch die Landkarte Israel veränderte sich, als das sogenannte “Traubenprogramm” allmählich Formen annahm. Auf der Suche nach mehr Lebensqualität verlegten viele Israelis ihren Wohnsitz in jene Kleinstädte der Peripherie, die vor zwanzig Jahren noch als “Entwicklungsstädte” bezeichnet wurden und als Brennpunkte sozialer Not und gesellschaftlicher Spannung galten. Jetzt, nachdem sie durch das öffentliche Verkehrsnetz und moderne Kommunikationstechnologie mit den Wirtschafts- und Medienzentren des Landes verbunden waren, entwickelten diese Städte durch ihre landschaftliche Schönheit, ihre Ruhe und Unverbautheit starke Anziehungskraft. Viele Firmen aus der IT-Branche, in der räumliche Entfernungen keine Rolle spielen, zögerten nicht, sich an entlegenen Orten niederzulassen. Mit den Internetingenieuren und Programmierern kamen nach und nach auch alle anderen – Juristen und Rechtsanwälte, Gastronomen und Händler. Die große Kluft zwischen Zentrum und Peripherie war aufgehoben.

Die kompromißbereite und versöhnliche Atmosphäre und der beeindruckende wirtschaftliche Aufschwung regten einen unverkrampft geführten öffentlichen Diskurs über die gesellschaftliche Funktion des Staates an. Auch in diesem Punkt wurde nach langer und teilweise heftiger Debatte ein neuer Gesellschaftsvertrag formuliert, der den Staat verpflichtete, Bildungseinrichtungen, Gesundheits- und Sozialdienste auf westlichem Niveau zu ermöglichen. Es wurde beschlossen, Etatüberschüsse – etwa auf Grund der guten Ertragslage oder aus Überhängen des Verteidigungsetats – für diese Zwecke zu verwenden. Darüber hinaus begannen sich nach Jahren gezielter Investitionen in Bildungs- und Infrastruktureinrichtungen der arabischen Dörfer diese Anstrengungen auszuzahlen. Ein verbessertes schulisches Angebot und eine erweiterte Sozialversorgung, der Zugang zu Arbeitsplätzen im Regierungsdienst und der allgemeine Wohlstand, der in den Dörfern Einzug hielt, ließen aus den israelischen Arabern arabische Israelis werden – gleichberechtigte Bürger in einem Staat, dem an ihrer Anwesenheit ausdrücklich gelegen ist und dessen Souveränität sie anerkennen.

Israel genoß jetzt eine unerschütterliche Stellung und seine Funktion als Staat des jüdischen Volkes erhielt einen neuen Inhalt. Die Führer der einzelnen jüdischen Strömungen in Israel übernahmen gemeinschaftlich das Zepter über die jüdischen Gemeinden in aller Welt, wobei sie stets darauf bedacht blieben, innerpolitische israelische Kontroversen und den weltweiten jüdischen Diskurs sorgsam zu trennen. Israel wurde zum Zentrum der jüdischen Bildung, das junge Juden aus allen Teilen der Welt anzog. Viele von ihnen verbrachten geraume Zeit im Land und lernten Hebräisch, um mit der Rückkehr in die Diaspora zu Botschaftern jüdischer Gelehrsamkeit und Hebräischlehrern zu werden. Der Staat Israel, der dank der Anstrengungen des ganzen jüdischen Volks entstand, war nun in der Lage, den Juden der Diaspora das kostbarste Geschenk überhaupt zu machen – eine nationale und historische Erinnerung und das Gefühl von Zugehörigkeit.

Eine Epoche inneren Friedens war angebrochen. Ein Zeitalter politischer Toleranz und der Suche nach einem gemeinsamen Nenner. Der dramatische Aufruf der Siedlerführer von vor fünfundzwanzig Jahren hallte in den Herzen nach. Auch im Herzen der Premierministerin Dvorah Ben-Jehuda, von Hause aus Lehrerin und Tochter eines Rabbiners. Sie erhob sich aus ihrem Sessel, trat an den Bücherschrank und nahm die hebräische Bibel heraus, die ihr ihre Eltern vor vielen Jahren vermacht hatten. Sie schlug ihre Lieblingsstelle auf, das Buch des Propheten Jeremia. In ihren Augen war Jeremia immer der Prophet der Zerstörung und des Zorns gewesen, der aber auch um das Geheimnis des Trostes wußte. Flüsternd sprach sie die wohlvertrauten Worte aus Jeremia 23.7: Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, daß man nicht mehr sagen wird: “So wahr der HERR lebt, der die Kinder Israel aus Ägyptenland geführt hat!”, sondern: “So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.” Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.