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TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 7 ]


A.
Hearing „Ein Jahr Nach Kopenhagen" (11./12.6.1996)


Einleitung
Dr. Erfried Adam


Ich freue mich, Sie als Koordinator und Sprecher des Deutschen NRO-Forums Weltsozialgipfel zu diesem „Hearing - Ein Jahr nach Kopenhagen" begrüßen zu können. Als Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung kann ich feststellen, daß wir gerne Gastgeber dieser Veranstaltung sind. Themen und Arbeit des Forums sind uns ein Anliegen.

Als Zusammenschluß von Entwicklungsorganisationen und Sozialverbänden, kirchlichen Einrichtungen, des DGB, des DBB, des Deutschen Frauenrates, des BUND für Umwelt und Naturschutz und vieler anderer, die ich hier nicht alle aufzählen kann, arbeitet das Forum seit Anfang 1994, also seit fast zweieinhalb Jahren.

Es hat sich zum Ziel gesetzt, die Ergebnisse und Verpflichtungen des UN-Gipfels für Sozialentwicklung vom März 1995 in Kopenhagen wach zu halten, ihre Umsetzung auf nationaler und internationaler Ebene zu überwachen und daran mitzuwirken.

Wir sehen dies nicht losgelöst von anderen Themen der UN-Gipfel der letzten Jahre: Umwelt in Rio (1992), Menschenrechte m Wien (1993), Bevölkerungsentwicklung in Kairo (1994) oder Habitat II in Istanbul, die in diesen Tagen zu Ende geht.

Die „Megastädte" der Welt mögen Wirtschaftszentren und Wachstumspole sein, Ausdruck einer universellen Kultur, sie sind aber auch Kulminationspunkt der ökologischen und sozialen Krisen, mit denen sich die Weltkonferenzen auseinandersetzen.

Dabei ist festzuhalten: Auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen überfällt nicht pure Euphorie bei diesen Weltgipfeln. Mit viel Aufwand wird allzuwenig bewegt - leider!

Papier ist geduldig und die Politik sieht oft nur Pflichtübungen, die man hinter sich bringen muß. Es fehlt an politischem Willen und selbst da, wo völkerrechtliche Verpflichtungen bestehen, an Mechanismen der Kontrolle oder gar der Erzwingung.

Gerade weil dies so ist, sind wir aktiv und viele andere in ihren Ländern. Wir sehen keine Alternative als das mühsame und beharrliche Arbeiten an den Ansätzen für eine internationale, eine globale Politik, bei den wachsenden Problemen, auf die nationale Politiken kaum noch einwirken können. Vom Umwelt- bis in den Sozialbereich machen wir aber die Erfahrung, daß tatsächlich globale Probleme zunehmend die eigenen Lebensverhältnisse mitbestimmen.

Im Kern geht es Nichtregierungsorganisationen daher nicht um eine Gegnerschaft zur Politik - da ist kritisches Monitoring und Lobby-Arbeit gefragt - sondern um die Wiedergewinnung von Politik, die Ermöglichung einer neuen Politik in Menschheitsfragen. Institutionell und inhaltlich ist national begrenzte und staatlich organisierte Politik - selbst die EU macht hier noch keine Ausnahme - den Anforderungen längst nicht mehr gewachsen. Nur mühsam wird in vielen Fällen das Defizit durch Aktivismus verdeckt. Es ist richtig: Ohne die Gesellschaft ist der notwendige Wandel in der Politik nicht zu erreichen. Hier ist ein weiterer Mitwirkungsbereich der NRO's, dem diese sich stellen.

Das Deutsche NRO-Forum Weltsozialgipfel hat sich in seiner Arbeit bewußt beschränkt auf die Umsetzung der Verpflichtungen von Kopenhagen. Allerdings nicht im Sinne einer reinen Exegese. Aber: es lohnt sich, die Schlußdokumente: Erklärung und Aktionsprogramm nochmals zu

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lesen! Die Dokumente sind erstaunlich konkret und politisch verpflichtend. Uns geht es um Umsetzung unter den praktischen und konkreten Bedingungen.

Das Forum ist kein neuer Dachverband. Es beansprucht kein allgemeines Mandat. Dies wäre sicher auch vermessen. Wir zielen auf die Funktion als Kommunikations- und Dialogforum zwischen den Organisationen der Sozialpolitik und der Entwicklungszusammenarbeit und gegenüber der Politik, der Bundesregierung, dem Parlament und den Parteien, auch der Länder- oder Kommunalebene. Es ist unserer Arbeit gelungen, in manchen Fragen Dialog und Zusammenarbeit zu begründen.

Das Forum ist nicht institutionalisiert, es hat kein eigenes Budget und äußerst begrenzte Arbeitskapazitäten über einige der mitwirkenden Organisationen. Diese versuchen wir zu nutzen.

Allerdings hat sich der Rahmen für unsere Arbeit deutlich verändert - und nicht unbedingt zum Besseren. Diese Veranstaltung fällt in eine veränderte politische Lage. Markiert wird dies durch die Großveranstaltung des DGB in Bonn am Samstag.

Wenn der Kanzler in Kopenhagen oder bei anderen Auslandsreisen noch das deutsche Sozialstaatsmodell als beispielhaft und die soziale Marktwirtschaft mit sozialem Ausgleich und Sozialpartnerschaft als Vorbild anpreisen konnte, ist dies heute unter Druck. Manche sehen den sozialen Konsens - und damit ein wesentliches Fundament unseres Staatswesens - in Frage gestellt.

Bundeskanzler Kohl erklärte in Kopenhagen:

„Eine stabile wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist ohne Beachtung der Menschenrechte und ohne demokratische Verhältnisse auf Dauer nicht möglich. Jeder Mensch braucht die Respektierung seiner Würde und die Achtung seiner Freiheit wie die Luft zum Atmen, wie das tägliche Brot. Es gibt keinerlei Rechtfertigung, um wirtschaftlicher Ziele willen den Menschen ihre bürgerlichen und politischen Rechte zu verweigern. ... Die historische Erfahrung lehrt, daß Wettbewerb und sozialer Ausgleich zu. einer humanen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gehören. ... Eine herausragende Rolle in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung mit sozialem Ausgleich spielen verantwortungsvolle Sozialpartner — Gewerkschaften und Unternehmer. Sie haben maßgeblichen Einfluß auf die sozialpolitische Entwicklung. Ohne ihre Mitwirkung sind sozialer Konsens und sozialer Frieden nicht erreichbar.

Ein solides Sozialsystem wirkt sich positiv auf das wirtschaftliche Wachstum aus. Sozialer Frieden trägt auch wesentlich dazu bei, innere Konflikte ebenso wie Konflikte zwischen Staaten zu vermeiden. ..."

Ich habe so ausführlich zitiert, weil wir diese Aussage ernst nehmen. Sie sollte Maßstab sein für die praktische Politik dieser Tage! Bleibt dies Leitlinie der deutschen Politik auch im Inneren oder ist dies nur „Fensterrede" an die anderen, an die Entwicklungsländer? Das Bekenntnis zur „Sozialen Marktwirtschaft" ist eine Sache, keine unwichtige. Aber was zählt, ist allein die politische Praxis!

Wir haben uns immer gewehrt, den Weltsozialgipfel als Gipfel nur der „Armen Welt" zu sehen. Und wir sehen jetzt deutlicher noch als vor Kopenhagen, wie stark auch unser Land betroffen ist, wenn der soziale Konsens zerbricht und das Soziale nur noch als Kostenfaktor in Erscheinung tritt. Wir haben unsere massiven Probleme. Und die Auffassung, daß auch unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik auf Veränderungen in den „globalen Bedingungen" reagieren muß, hat sich inzwischen in einer Weise in der politischen Rhetorik und den Köpfen festgesetzt, daß manche, die sich mit diesen Fragen seit längerem beschäftigen, eher die Warnglocken läuten hören!

Ich möchte mich mit weiteren Aussagen zurückhalten und Zuspitzungen vermeiden. Meine Aufgabe liegt heute nicht in einem Vortrag über Fragen der Wirtschafts-, Sozial- oder Entwicklungspolitik unter den Bedingungen der „Globalisierung".

Aber ich möchte versuchen, in einigen Punkten Grundpositionen aus der Arbeit des NRO-

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Forum Weltsozialgipfel zu formulieren, über die zwischen den beteiligten Organisationen ein weitgehender Konsens besteht:

  1. Als Bündnis von Entwicklungs- und Sozialorganisationen wehren wir uns gegen Versuche, die Armen der Welt gegen Armut im eigenen Land auszuspielen. Armut ist relativ, auf die Möglichkeiten der jeweiligen Gesellschaft bezogen. Arme in Deutschland sind nicht die Reichen der Welt - auch wenn es ihnen besser geht als vielen in Entwicklungsländern. Wir können uns nicht abkoppeln von der Entwicklung der Welt und auf eine isolierte Wohlstandsinsel zurückziehen. Soziale Verantwortung und Solidarität sind hier unteilbar. Als praktisch tätige Organisationen wissen wir, wie schwer dies in den derzeitigen Verhältnissen umzusetzen ist.

  2. Wir verstehen Sozialpolitik und Entwicklungspolitik nicht vorrangig als Verteilungs-(oder gar Umverteilungs-)politik.

    Wir wehren uns gegen die Trennung der Sozialpolitik von der Wirtschafts- und Finanzpolitik: Es geht hier wie in Entwicklungsländern um die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für Arbeit und eigenverantwortliche Wirtschaftstätigkeit und die Befähigung der Menschen, durch eigene Arbeit soziale Sicherheit zu erhalten. Arbeit und Qualifikation darf nicht weiter entwertet werden. Es ist unerträglich und langfristig eine Bedrohung unserer Wirtschaftsordnung, wenn Menschen die Chance zu produktiver Arbeit und Lebensgestaltung immer mehr genommen wird. Sozial- und Entwicklungspolitik ist nicht Umverteilung, sondern Befähigung der Menschen zu Eigenanstrengungen - „Hilfe zur Selbsthilfe", wie es entwicklungspolitisch heißt - und der Hilfe an diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind.

  3. Wir fordern nicht nur die Leistung des Staates, aber wir können ihn gerade angesichts der sozialen Krisen mit ihrer globalen Dimension nicht aus der Verantwortung entlassen. Wir wehren uns gegen eine Arbeitsteilung, in der staatliches Handeln sich immer mehr zurückzieht, die Wirtschaft sich um ihre optimale Rendite kümmert und der Gesellschaft, den Kirchen, den Sozialverbänden und Nichtregierungsorganisationen die „Sozialfälle" des Landes und das Elend der Welt überlassen bleiben. Wir setzen uns damit ein für eine „Soziale Marktwirtschaft", in der die Dynamik der Marktwirtschaft nach innen und außen durch politische Rahmenbedingungen und soziale Beteiligung sozial und umweltverträglich eingebunden wird und soziale und ökologische Ziele nicht einseitig rein wirtschaftlichen Zielen geopfert werden. Die Debatte um die „Rolle des Staates" muß in einer neuen Weise geführt werden.

    Im Blick auf Entwicklungsländer kommt selbst die Weltbank inzwischen zu interessanten Ergebnissen, die der totalen Deregulierung eine Absage erteilen.

  4. Wir sperren uns nicht gegen einen „Umbau" oder die „Modernisierung" des Sozialstaates. Mehr Zielgenauigkeit, Effektivität und auch Eigenverantwortung sind notwendig. Aber wir wehren uns gegen schlichten Sozialabbau, die totale Privatisierung des Risikos, das in unserer Wirtschaftsordnung unausweichlich ist.

    Wir erwarten, daß Eingriffe sozial ausgewogen und gerecht in ihrer Wirkung erfolgen. Es geht um die Gesamtwirkung der Politiken im Blick auf Arbeit, soziale Sicherheit, Steuergerechtigkeit, Einkommens- und Vermögensverteilung - und nicht nur um Sozialhilfe oder Arbeitsmarktpolitik und deren Kosten.

    Wir fordern daher von der Bundesregierung erneut die Vorlage eines umfassenden Sozialberichtes (auch „Armutsbericht") zur systematischen Erfassung der Situation und der Folgen der Einwirkungen gemäß der Verpflichtungen des Weltsozialgipfels, denen die Bundesregierung zugestimmt hat. Bisher hat das zuständige Ministerium (für Gesundheit) selbst den Dialog abgelehnt und bestritten, daß es in Deutschland Armut im Sinne des Weltsozialgipfels gebe.

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    Auf der Seite der Verbände und Fachorganisationen ist die Bereitschaft zur Mitwirkung vorhanden.

    Die Berichterstattungspflicht des Weltsozialgipfels bezieht sich keineswegs nur auf die entwicklungspolitischen Leistungen Deutschlands, sondern auf die Vorlage einer Gesamtstrategie sozialer Entwicklung aus deutscher Sicht und unter Mitwirkung der „Zivilgesellschaft".

  5. Die Globalisierung der Wirtschaft enthält Chancen und Risiken, die regional und sozial asymmetrisch und instabil verteilt sind. Entwicklungspolitisch sind Veränderungen in den Weltmarktbeziehungen durchaus wünschenswert. Aber auch in den Ländern mit exportorientiertem Wachstum zeigen sich krisenhafte soziale Folgen. Produktivitätsfortschritte und die Internationalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte führen zu einer Entwertung von Arbeit und menschlicher Qualifikation. Immer mehr Menschen in Entwicklungsländern und zunehmend in Industriestaaten verlieren ihre wirtschaftliche Basis mit unabsehbaren Folgen für soziale und wirtschaftliche Stabilität und den Frieden in der Welt. Arbeitslosigkeit, soziale Desintegration, Kriminalität, Migration, Umweltzerstörung und Krieg sind Folgen dieser Entwicklung.

    Vielen - gerade auch Verfechtern des freien Welthandels - ist deutlich, daß es den freien Weltmarkt auf Dauer nur geben wird, wenn der Weltmarkt ein Minimum an sozialer Ausgestaltung erhält.

    Der Weltsozialgipfel bietet einen Ansatz zu einer international abgestimmten „globalen Sozialpolitik", der auf allen Ebenen, der EU, den VN, der ILO, einschließlich der WTO (der Welthandelsorganisation), weitergeführt werden muß.

    Wir erwarten die Kooperation der Regierungen bei diesen Zukunftsfragen und eine Stärkung der VN und der internationalen Zusammenarbeit. Es gibt Alternativen zum „Standortwettbewerb" um jeden Preis in der Konkurrenz um Kapitalströme, die nationale Bindungen und soziale Verantwortung längst aufgegeben haben.

  6. Auch angesichts der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte bekräftigen wir die in Kopenhagen seitens der Bundesregierung erneut eingegangene Verpflichtung zur Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfe auf 0.7% des BSP und verlangen eine klare Zeitperspektive für die Umsetzung.

    Wir begrüßen die Priorität der Armutsbekämpfung und die Bereitschaft des BMZE zur Umsetzung der in Kopenhagen getroffenen „20:20 Vereinbarung", nach der 20% der Entwicklungsleistungen für soziale Grundversorgung verwendet werden und die Regierungen der Empfängerländer 20% der Haushaltsmittel mit dieser sozialen Zielsetzung einsetzen. Das Forum hat dazu eine Studie mit dem Titel „Soziale Prioritäten in der Entwicklungszusammenarbeit - Die 20:20-Initiative im Umsetzungsprozeß" vorgelegt und setzt auf den weiteren konstruktiven Dialog mit dem BMZE und den Entwicklungspolitikern im deutschen Bundestag. Wir betonen den Prozeßcharakter und die Bedeutung der Selbstverpflichtung der Regierungen von Entwicklungsländern zur Umsetzung der sozialen Ziele und erwarten von der Bundesregierung, dies zum Kernbestand des politischen Dialogs zu machen. Soziale und wirtschaftliche Rechte sind ein gleichwertiges Element einer völkerrechtlich verbindlichen und universellen Menschenrechtspolitik.

  7. Die Bundesregierung hat sich auf verschiedenen Ebenen und in den Verpflichtungen und Erklärungen der Weltgipfel für eine Zusammenarbeit mit der „Zivilgesellschaft", den Nichtregierungsorganisationen und Interessenvertretungen ausgesprochen. Das Kanzleramt hat in einem Schreiben vom 29.

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    März 1995 betont, daß die „Bundesregierung Wert auf den Dialog mit den Vertretern des Deutschen NRO-Forums Weltsozialgipfel (legt)".

    Trotz positiver Ansätze sind die Verfahren des Dialogs und der Zusammenarbeit weiterhin in der Praxis unzureichend geklärt. Die in Kopenhagen und bei der Vorbereitung bewährte Beteiligung von Vertretern der NROs in der offiziellen Regierungsdelegation wurde für den Folgeprozeß auf VN-Ebene, etwa die wichtige Sitzung der „Kommission für Sozialentwicklung", abgelehnt. Wir erwarten positive Schritte zu einer eindeutigen und verbindlichen Klärung der Verfahren und Regelungen der Zusammenarbeit zwischen Regierung und NRO in allen Bereichen, die inhaltliche Kooperation ermöglicht, ohne die jeweiligen Aufgaben, Rollenkonflikte und Möglichkeiten zu verdecken und zu einem formalen Ritual zu verkommen.

    NROs werden die Möglichkeiten der nationalen und internationalen Vernetzung zur Durchsetzung ihrer Ziele weiter nutzen und insofern auch als „Störfaktor" der Politik erhalten bleiben.

  8. Es ist zu beklagen, daß die Bemühungen um eine konsensorientierte und auf einem breiten gesellschaftlichen Bündnis basierende Politik der Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik aufgegeben wurden.

    Gewerkschaften, Sozialverbände, Nichtregierungsorganisationen und weite Teile der Bevölkerung waren aus eigener Einsicht dazu bereit - unter den Bedingungen der sozialen Ausgewogenheit, einer stringenten und systematischen Gesamtüberprüfung aller Politikbereiche und unter dem Interesse zur Aufrechterhaltung eines insgesamt bewährten sozialen Sicherheitssystems.

Viele sehen dies heute in Frage gestellt und die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg in eine andere Wirtschafts- und Sozialordnung. Dies mag übertrieben sein, aber: Staatsquote ist nicht gleich Sozialquote. Und auch diese sagt wenig aus über die tatsächlichen Lebensverhältnisse. Die Entwicklung der Löhne und Gehälter im Vergleich zu denen der Gewinne ist seit Jahren negativ und aus der Balance. Einkommens- und Vermögensverteilung verschieben sich weiter zugunsten einer Spitzengruppe von Kapitalbesitzern mit deutlicher Verringerung der Massenkaufkraft und negativen Konsequenzen für die Binnennachfrage und die Konjunktur. Milliardengewinne bei Unternehmen und Banken bei gleichzeitig andauernder Entlassungswelle. Von Umverteilung von unten nach oben ist die Rede.

Unsicherheit und Angst haben längst breite Bevölkerungsschichten erfaßt, bis tief in obere Mittelschichten und auch unter Selbständigen.

Nicht alles erklärt sich mit „Globalisierung".

„Globalisierung" und „Standortwettbewerb" erscheinen vielen als Pauschalargument und Chiffre für die Durchsetzung neoliberaler ideologischer Konzepte genutzt, die weiter gehen als das, was derzeit auf dem Tisch liegt. So schlecht kann der „Standort Deutschland" nicht sein, angesichts von Exportüberschüssen von mehr als 90 Mrd. DM und positiven Handelsbilanzen etwa gegenüber den „Tigern" in Asien.

Aber fast täglich kommt eine neues „Ranking" der Standorte auf den Markt, dessen Aussagen je nach Nützlichkeit Verwendung finden.

Das „Handelsblatt" verwies jetzt auf eine Untersuchung der „Washington Post", nach der in einer Umrechnung die niedrigsten Tariflöhne in Deutschland unter dem gegenwärtigen US-Mindestlohn liegen und der für Deutschland errechnete Mindestlohn von 6 $ nur eine Kaufkraft von 4 $ habe.

Oft verstärkt sich damit der Verdacht, „Globalisierung" diene der Verdeckung hausgemachter Ursachen wie

  • gravierende Fehler bei der Finanzierung der deutschen Einheit und in der Finanz- und Währungspolitik,
  • den Mißbrauch des sozialen Versicherungssystems durch versicherungsfremde Leistungen,

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  • die systematische Schwächung der Binnennachfrage,
  • die Vernachlässigung der Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Forschungspolitik,

um nur einige Bereiche zu nennen.

Vielleicht sollten auch noch Versagen, krasse Fehlentscheidungen und massives finanzielles Eigeninteresse des Managements im Blick sein? Wenn man die Nachrichten der letzten Zeit verfolgt: Da scheint doch manches im Argen zu liegen!

„Globalisierung" ist für uns nicht ein wettbewerbsbesetzter Kampfbegriff. Wir verbinden ihn mit der Perspektive der Kooperation für die Zukunft der „Einen Welt".

Das NRO-Forum Weltsozialgipfel setzt auf eine Politik des nachhaltigen Wirtschaftens, des sozialen Ausgleichs und der Verantwortung gegenüber den Armen der Welt. „Freiheit von Furcht und Not" (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948) muß Ziel der Politik bleiben. Wir hoffen auf den Sieg von Vernunft und sozialer Verantwortung über kurzfristige Interessenpolitik.

Das Forum hat Positionen vertreten, sich aber parteipolitischer Zuordnung enthalten und versucht, zu einem partei- und interessenübergreifenden Dialog beizutragen und wird dies weiter verfolgen, solange dies Sinn macht.

Konflikte dienen dazu, die Positionen zu klären und Spielräume zu bestimmen. Sie sind legitim und normal. Lösungen wird es angesichts der anstehenden Problemlagen aber nur in einem breiten und verantwortbaren Konsens geben können. Wir meinen, daß sich hier die Politik bewegen muß!

Lassen Sie mich noch einiges zur dieser Veranstaltung sagen:

Wir haben sie in Anlehnung an die Veranstaltung vor Kopenhagen im Februar 1995 „Hearing" genannt, ohne aber das Formale voll umsetzen zu können. Wir setzen auf „Anhörung" und „Befragung" im Rahmen eher konventioneller Vortrags- und Podiumsdiskussionen.

Unser Bemühen, dieses „Hearing" noch vor der Sommerpause stattfinden zu lassen, hat zu einigen terminlichen Überschneidungen geführt, die in der Konsequenz bedauerlich sind.

So sind durch die beginnende Jahrestagung der IAO in Genf insbesondere Vertreter des BMA und des DGB nicht in gewohnter Weise beteiligt. Trotz des frühen Beginns der Vorbereitung im Februar hat es bei potentiell Interessierten Terminschwierigkeiten gegeben, die wir in ihren Konsequenzen bedauern, die sich aber unserer Beeinflussung entzogen.

Wir haben aus der Breite der auf dem Weltsozialgipfel diskutierten Themen Themenbereiche ausgewählt und diese in aktuelle Diskussionszusammenhänge gestellt:

  • Europa - europäische Entwicklungs-, Sozial- und Währungspolitik,
  • Internationale Steuern: Tobin tax,
  • deutsche Entwicklungspolitik,
  • Globalisierung und Soziale Marktwirtschaft.

Wir werden das Europathema morgen Nachmittag mit einem Erfahrungsaustausch zwischen EU-Partnerstaaten über die Umsetzung von Kopenhagen fortsetzen.

Wir begrüßen die dazu angereisten Vertreter von befreundeten NROs und alle Referenten aus dem In- und Ausland und hoffen auf einen guten Austausch und weiterführende Ergebnisse dieser Konferenz.

Zu unserem Bedauern hat Frau Maria de Lourdes Pintasilgo, die Vorsitzende des EU-Comité des Sages und frühere Ministerpräsidentin Portugals kurzfristig ihre Zusage zurückgenommen. Trotz intensiver Bemühungen ist es uns nicht gelungen, ein anderes Mitglied des Comité des Sages derart kurzfristig zu gewinnen. Der entsprechende Programmpunkt muß daher entfallen. Wir bedauern dies außerordentlich.

Ich hoffe, sie fühlen sich wohl in den Räumen der FES und wünsche uns allen eine gute und erfolgreiche Tagung. Ich danke Ihnen!

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„Die sozialen Konsequenzen der Währungsunion"
Prof. Dr. Reimut Jochimsen


I.

Die europäische Integration befindet sich in einer entscheidenden Phase: Wird es tatsächlich gelingen, zum 1. Januar 1999 mit der geplanten Währungsunion zu beginnen? Die Antwort auf diese Frage darf allerdings nicht nur davon abhängen, ob bis zum Prüftermin 1998 gemessen an den Maastrichter Eintrittsbedingungen genügend Partnerländer für die Endstufe bereitstehen und Europas Politiker den Start einhellig befürworten. Entscheidend wird auch sein, die Unterstützung der Bürger für das monetäre Jahrhundertprojekt zu gewinnen. Dafür ist zweifelsfrei sicherzustellen, daß die Maastrichter Geld- und Währungsordnung tatsächlich eine hinreichend glaubwürdige Perspektive nicht nur auf gemeinsames, sondern auch auf gutes, wertstabiles neues Geld zu bieten vermag. Hier dreht sich die Debatte um einen ergänzenden Stabilitätspakt sowie auch darum, auf welche Weise die Beziehungen zwischen den Teilnehmerländern der ersten Stunde und den zunächst außen vor Bleibenden stabilitätsgerecht geregelt werden können (EWS II).

Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion findet dabei unter schwierigen Vorzeichen statt. Schwaches Wachstum, gravierende Arbeitslosigkeit und ein immer härterer Wettbewerb auf den Weltmärkten charakterisieren die Situation. Wirklich durchsetzbare Konzepte zur Sanierung des „Wirtschafts- und Sozialstandorts Europa" fehlen bislang, wie das Leerlaufen der in immer neuen Spielarten präsentierten Programme für „Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Wachstum" oder die Beschwörung diverser „Beschäftigungs- und Vertrauenspakte" (so eine Initiative von EU-Kommissionspräsident Jacques Santer) demonstriert. Auch in der von Jacques Chirac anläßlich des G7-Treffens in Lilie geforderte „dritte Weg" als „Symbiose aus dem angelsächsischen und dem kontinentaleuropäischen Modell" zeigt, wie bitter hier in einer essentiellen Frage Interessen und Visionen der nationalen Regierungen, der Träger der Europäischen Union, noch auseinanderlaufen, jedenfalls nicht zu überzeugendem gemeinsamen Handeln finden.

Die Zeiten sind lange vorbei, als der Einstieg in die Währungsunion noch als bequemer „Spaziergang" erschien, unter milder Konjunktursonne, bei noch verhältnismäßig günstigen Schulden- und Defizitständen, als Hinübergleiten zu unveränderten Paritäten im Europäischen Währungssystem (EWS). Wie sehr hat sich die Welt seit Maastricht verändert! Bei über 18 Millionen Menschen ohne Arbeit in der Europäischen Union - größtenteils strukturell bedingter und damit selbst durch konjunkturelle Besserung kurzfristig nicht zu behebender Arbeitslosigkeit - gerät allenthalben auch der Sozialstaat in die Krise. Praktisch in allen westeuropäischen Industrieländern droht bei alternder Bevölkerung, explodierenden Gesundheitskosten und zugleich beängstigend steigenden Steuer- und Abgabenquoten eine prekäre Schuldenfalle. Zwischen 1990 und 1995 haben sich die durchschnittlichen jährlichen Defizite in der EG von 3,5% auf 4,7% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erhöht, der Bruttoschuldenstand stieg von 38% (1979) über 56% (1991) auf 71% des BIP (1995). Damit werden immer größere Teile der öffentlichen Budgets durch Zins- und Tilgungszahlungen beansprucht, womit sich die Handlungsmöglichkeiten der Regierungen kritisch verengen.

Vor allem beim Abbau der strukturellen Defizite gibt es ganz erheblichen Handlungsbedarf. Und diese Aufgabe stellt sich nicht etwa schlicht als Folge der Konvergenzanforderungen des Maastrichter Vertrags, sondern ganz unabhängig davon. „Maastricht" ist weniger die Ursache, eher der Katalysator der raschen Konsolidierungsnotwendigkeit. Das Vorhaben EWWU taugt dabei nicht zum Sündenbock für die akuten Beschäftigungs- und Wachstumsprobleme, im Gegenteil: Jede Defizitreduzierung setzt private Ersparnisse frei, die dann für private Investitionen zur Verfügung stehen und folglich das volkswirtschaftliche Potential für Wachstum und Arbeit mittel- bis langfristig tendenziell sogar

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erhöhen („crowding in"). [Fn 1 : Zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen einer Konsolidierung der öffentlichen Finanzen vgl. Europäisches Währungsinstitut, Jahresbericht 1995, Frankfurt a. M., April 1996, S. 40 f. sowie die Ausarbeitungen des IWF-Stabes im „World Economic Outlook" von Mai 1996.]
Sonst stellen sich zirkelhafte Verkettungen ein, die bei offenen Märkten Wachstumsanreize in den europäischen Volkswirtschaften abtöten und forcierte Investitions- und Fertigungsverlagerung an günstigere Standorte auslösen können - und dies gerade in einer Zeit, wo sich das „Modell Europa" in einem immer schwieriger werdenden internationalen Umfeld zu behaupten hat.

Bei schon bis zum Überdrehen angespannten Steuer- und Abgabenquoten heißt das in der kurzen Frist jedoch vor allem, öffentliche Ausgaben wo möglich zu kürzen und die Arbeitskosten von lohnfremden Leistungen zu entfrachten. Dabei führt allerdings kein Weg daran vorbei, auch das Niveau der sozialen Sicherungssysteme zu überprüfen. Auf den damit verbundenen sozialen Sprengstoff haben die Streiks in Frankreich, Belgien und Italien Ende 1995 nur einen ersten Vorgeschmack geliefert. Er zeigt sich bei uns in dem heftigen, ja erbitterten Widerstand gegen die jüngsten Sparpläne der Bundesregierung zur Konsolidierung der Sozialversicherungen und zur Eindämmung der sozialen Ausgaben im Rahmen des Ende April vorgelegten sog. „Programm für Wachstum und Beschäftigung". [Fn 2 : Der von der Regierung vorgelegte Katalog enthält einerseits nicht mehr als die Wiederholung lange schon verfolgter Vorhaben, vor allem im steuerlichen Bereich (Vermögenssteuer, Unternehmenssteuerreform). Anderseits sieht er neue Steuervergünstigungen (Junge Unternehmen, Beschäftigungen in Privathaushalten) vor. In sozialpolitischer Sicht sind als Schwerpunkte arbeitsrechtliche Deregulierungsmaßnahmen (Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) und verschiedene Konsolidierungsmaßnahmen auf der Ausgabenseite zu nennen (u.a. Verschiebung der gesetzlich bereits beschlossenen Anhebung von Kindergeld-/-freibeträgen um ein Jahr, Einfrieren von Lohnersatzleistungen und Sozialhilfe, Kürzung bzw. Streichung von Transfers an die Bundesanstalt für Arbeit und die gesetzliche Rentenversicherung, Leistungseinschränkungen im Bereich der Kranken- und Rentenversicherung).]

II.

Die fundamentale Entwicklung läuft indes weiter und vehement in Richtung einer zunehmenden Globalisierung des Wirtschaftsgeschehens. Der sich mit rasanter Dynamik entfaltende Wettbewerb zwischen den „reifen" und den „neuen" Industrieländern sowie stürmisch aufholenden Schwellenländern bewirkt einen weltweit und immer umfassender wirksamen technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Anpassungsdruck, der den langfristigen Strukturwandel beschleunigt. Das macht nicht vor Westeuropa Halt. Neben den Wettbewerb zwischen den führenden regionalen Wirtschaftsblöcken in der sogenannten „Triade" - Nordamerika, Japan und Europa - treten die dynamischen Länder Asiens als neue, rasch wachsende Handelsregionen und Konkurrenten, außerdem die aufstrebenden Reformstaaten Mittel- und Osteuropas. [Fn 3 : Auf diese globalen Veränderungen der internationalen Arbeitsteilung hat die ökonomische Wissenschaft mit einer neuen Diskussion über die Vor- und Nachteile des Freihandels reagiert. Dabei wird u.a. die These vertreten, die steigende Arbeitslosigkeit der „unskilled workers" in Europa bzw. die Einkommensungleichheit in den USA („working poor") seien in kausalem Zusammenhang mit der zunehmenden Liberalisierung der Importe aus den Schwellen- und Entwicklungsländern zu sehen. Siehe hierzu das Symposium zum Thema „Income Inequality and Trade" mit Beiträgen von Richard B. Freeman, J. David Richardson und Adrian Wood im Journal of Economic Perspectives, Summer 1995, S. 15-80.]

III.

Hinzu kommt als zweites Phänomen, daß sich Natur und Wirkung des technischen Fortschritts in den gegenwärtigen Jahren wesentlich anders darstellen. An die Stelle des gewohnten, vor allem arbeitssparenden (und daher kapitalintensiven) Fortschrittsprozesses tritt zunehmend ein gleichermaßen auch kapitalsparender Entwicklungspfad. Die universale Verwendung der Mikroelektronik, der integrierten Informations-, Datenverarbeitungs- und Telekommunikationstechnik, organisatorische Innovationen wie „lean production" mit verringerter Fertigungstiefe, mehr „just in time"-Produktion und „lean management" lauten hier die Stichworte. Die revolutionierenden Konsequenzen neuer Anwen-

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dungsmöglichkeiten von Multimedia und der informationselektronischen Vernetzung über „Datenautobahnen" für die gesamte Arbeitswelt, ja die gesamte Gesellschaft, sind heute noch gar nicht voll zu übersehen.

Dabei wird allerdings evident, daß sich die Arbeitsmarktchancen weniger qualifizierter Arbeitskräfte verschlechtern, was sich nicht zuletzt in der wachsenden Zahl von Langzeitarbeitslosen niederschlägt. Zusätzlich verdunkeln sich die Beschäftigungsperspektiven noch dadurch, daß der private Dienstleistungssektor nur begrenzt eigenständigen Beschäftigungszuwachs bieten kann. Wesentliche Gründe sind die Verschränkungen mit der industriellen Basis und die vor allem mit der explosionsartigen Ausbreitung der vernetzten elektronischen Hilfsmittel verbundenen Rationalisierungspotentiale.

IV.

Verstärkt und vorangetrieben wird die Internationalisierung der Produktion auch durch die politisch gewollte Entgrenzung von ehemals geschützten nationalen Märkten, insbesondere im Rahmen der fortschreitenden europäischen Integration. Einen wahren Quantensprung der wirtschaftlichen Verflechtungen durch Handel und Direktinvestitionen hat die Vorbereitung auf den 1993 formal gestarteten, aber noch keineswegs vollständig verwirklichten Binnenmarkt für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte bereits in der zweiten Hälfte der 80er Jahre erzeugt. Bis spätestens 1999 soll der Binnenmarkt nun durch eine volle Wirtschafts- und Währungsunion mit Gemeinschaftswährung abgerundet und abgesichert werden. Diese „Vertiefung" der Gemeinschaft muß außerdem mit der historisch gebotenen, bereits zugesagten Osterweiterung in Einklang gebracht werden. Zunehmend bedarf es eines Denkens in gesamteuropäischen Dimensionen. Seit Beginn der neunziger Jahre bieten sich ja gänzlich neue Alternativen der interregionalen Arbeitsteilung in nächster Nachbarschaft, mit Chancen, aber auch mit großen Herausforderungen, die in der interregionalen Kooperation und Verflechtung im globalen Wettbewerb liegen, und das betrifft nicht mehr nur den Handel, sondern vor allem Produktion und Beschäftigung an Standorten, die in Arbeitsproduktivität und Infrastrukturausstattung immer noch außerordentlich weit auseinanderliegen.

V.

Hervorzuheben ist zudem, daß die Entgrenzung der Volkswirtschaften durch die Globalisierung der Finanzmärkte erheblich an Fahrt gewonnen hat. Die schon am 1. Juli 1990 gestartete erste Stufe der EWWU hat europaweit die Kapitalverkehrskontrollen beseitigt, die Finanzmärkte liberalisiert und dereguliert, zu ihrer Emanzipation und Professionalisierung beigetragen. Seitdem überwachen die Märkte die stabilitätspolitische Disziplin, traditionelle Handlungsspielräume nationaler Regierungen werden beschränkt. Das alles wirkt tendenziell stabilitätsfördernd, ist aber mit noch nicht abschätzbaren Nah- und Fernwirkungen hinsichtlich der Realisierbarkeit nationaler sozialer, beschäftigungspolitischer und kultureller Ziele verbunden. Für die Nationalstaaten in Europa und die Europäische Union insgesamt stellt sich damit um so schärfer und drängender die Frage nach den wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Antworten auf die Herausforderungen der Liberalisierung, Deregulierung und Globalisierung der Weltwirtschaft.

VI.

Die verschärfte Wettbewerbslage für den „Faktor Arbeit" erfordert zweifellos weitere Produktivitätssprünge, wenn in den hochentwickelten Ländern, wie der Bundesrepublik, das Reallohnniveau unangefochten bleiben, zugleich aber die Beschäftigungsbasis wesentlich verbreitert werden soll, und die schwächeren Länder aufschließen sollen. Auf der verteilungspolitischen Seite zeichnet sich - so bitter dies nach Jahren der Realeinkommensstagnation für breite Schichten der Bevölkerung sein mag - bis weit in das kommende Jahrzehnt kein großer Spielraum ab, gleichzeitig droht jedoch eine fortgesetzte, ja verschärfte Stratifikation der Arbeitseinkommen, die just die untersten sozialen Schichten empfindlich trifft, aber auch die mittleren Qualifika-

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tionen nicht generell verschont. Einerseits bleibt ja hochqualifizierte, spezialisierte Arbeit als komplementärer Faktor für Produktinnovationen, Kapitalintensivierung und neue Technologien durchaus knapp und gefragt; andererseits scheint ein wachsender Teil von abhängig Beschäftigten nicht mit dem Tempo des technologischen und qualifikatorischen Strukturwandels Schritt zu halten; er fällt bei Einkommen, Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzsicherheit zurück.

In den USA - einem großen, einheitlichen Währungsraum mit flexibleren regionalen und berufsspezifischen Arbeitsmärkten als in Kontinentaleuropa - haben wir eine entsprechende Einkommensspreizung praktisch schon seit eineinhalb Jahrzehnten erlebt; sie hat zu den Phänomenen der „shrinking middle class" und „working poor" geführt - von der amerikanischen Sozialwissenschaft zutreffend als Kehrseiten des Beschäftigungswunders und Folgen des durch Globalisierung und neue Technologien bewirkten Strukturwandels herausgestellt.

Aber die aktuelle Tendenz geht darüber hinaus. Bemerkenswert ist dabei aus deutscher Sicht, daß zu einem wachsenden Teil Fertigungskapazitäten nicht nur in den extremen Niedriglohnländern errichtet werden, sondern auch in Westeuropa, vor allem dort, wo die Genehmigungsverfahren schneller ablaufen, die Steuersätze niedriger liegen oder sonstige Rahmenbedingungen inzwischen günstiger sind als bei uns. Wenn selbst Flaggschiffe der deutschen Industrie sich so massiv in Großbritannien, Frankreich oder Amerika engagieren, wie wir es in letzter Zeit erlebt haben, ist dies ein deutliches Warnsignal bezüglich unserer Position im immer globaler ausgetragenen Wettbewerb der Standorte - und vielleicht auch Symptom zunehmender „innerer Kündigung". Dies läßt sich auch im Übergang zum einseitig auf die Kapitalinteressen fixierten „shareholder value" (Nutzen für den Anteilseigner) belegen, der weg vom sozial und regional eingebetteten Nachkriegs-Konzept des „stakeholder value" (Nutzen für alle, die von einem erfolgreichen Unternehmen Gutes haben, selbstverständlich einschließlich der Eigentümer) führt und bekanntlich die Arbeitnehmer und das Umfeld in Gemeinde und Region sowie gesellschaftspolitische Verantwortung einschloß und dennoch - oder gerade deswegen - die Aktionäre bzw. Anteilseigner nicht zu kurz kommen ließ. Und es ist schon bemerkenswert, daß die Diskussion in den USA eine Wendung genommen hat. Dort mehren sich die Zweifel einer allein auf die Kapitalinteressen verpflichteten Doktrin, die das Wohlbefinden einer Gesellschaft am Dow Jones Index mißt. „Main Street versus Wall Street" lautet jetzt das Schlagwort.

Dies schafft Bedarf für eine gezielte aktive Lohn- wie auch Strukturpolitik, nicht zuletzt weil eine den USA entsprechende Flexibilität des europäischen Arbeitsmarktes - namentlich die Bewältigung von Anpassungsprozessen durch Migration im großen Stil - angesichts der kulturellen, sprachlichen und sozialen Vielfalt in Europa weder vorstellbar ist, noch erwünscht sein kann. Hierbei ist insbesondere dem nun auch in Europa wachsenden Problem der „working poor" zu begegnen, das heißt, arbeitenden Menschen, weniger qualifizierten Arbeitskräften, deren Lohn unter das Existenzminimum sinkt. Sie sind dennoch möglichst im Arbeitsmarkt und im Gesellschaftskonzept sozialer Integration zu halten. Das bedingt eine größere Differenzierung zwischen Arbeitslosenhilfe und Nettolöhnen bei gering qualifizierter oder Teilzeitarbeit. Dies sollte jedoch nicht durch abgesenkte, Armut verstärkende Sozialhilfesätze, sondern höheres selbstverdientes, verfügbares Realeinkommen aus Lohnarbeit erreicht werden. Und Lohnsubventionen und Steuergutschriften [Fn 4 : Unter Carter eingeführt, von Reagan ausgebaut und Clinton verteidigt, hat die Lohnsteuergutschrift (Earned Income Tax Credit) - am Mindestlohn orientiert - Niedriglohnempfängern in den USA durch Auszahlung der Gutschrift durch das Finanzamt dazu verhelfen, im Arbeitsmarkt zu bleiben und auch bei sehr niedrigen Bruttolöhnen einen erträglichen, darüber liegenden Nettolohn zu erreichen.] für die Niedrigstlohnempfänger sind billiger als Arbeitslosenunterstützung. Das bedingt ein Steuer- und arbeitsmarktpolitisches Integrationsprogramm für Langzeitarbeitslose, für nach einer „Familienphase" wieder ins Berufs- und Erwerbsleben Zurückkehrende (vor allem Frauen), für Jugendliche, Behinderte und andere Gruppen. Es darf jetzt auch nicht locker gelassen werden bei

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den Bemühungen um gezielte Hilfen für Existenzgründungen, um Entfaltungsmöglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen, um einen nachhaltigen Ausbau von Dienstleistungszweigen, vor allen produktionsnaher Dienste. Hier muß das Potential noch weiter ausgeschöpft werden. Neue Chancen für eine Entlastung des Arbeitsmarktes und für eine Vitalisierung der Wirtschaftsstruktur lassen sich nicht immer am Reißbrett identifizieren und planen. Aber ohne den Mut, neue Wege zu beschreiten, bleiben die Chancen von vornherein ungenutzt. Dies gilt besonders für die hierzulande noch zögerliche Haltung, wenn es darum geht. Risikokapital zur Verfügung zu stellen.

VII.

Statt eine wirkliche Reform der Struktur-, Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik in Angriff zu nehmen, werden derzeit jedoch große Hoffnungen auf die Wachstums- und beschäftigungsfördernden Effekte des EWWU-Projektes gerichtet, dessen rasche Verwirklichung von manchen als „goldener" Ausweg aus der Misere angepriesen wird. Vor solch simplen Einschätzungen ist jedoch dringend zu warnen. [Fn 5 : Vgl. Jochimsen, Reimut: „Der Euro verzeiht keine Tricks", in: Die Zeit, 19.04.1996.]
Gegenwärtig werden viel zu große, viel zu kurzfristige Erwartungen an die Währungsunion geknüpft. „EMU has been oversold", wie die Amerikaner sagen würden, und zwar als politisches Projekt, vor allem aber in seinen ökonomischen Wirkungen. Denn die Währungsunion wird für sich genommen das primär strukturelle Problem der Arbeitslosigkeit nicht aus sich heraus und schon gar nicht über Nacht lösen können. Sie schafft - wenn sie die Geldwertstabilität dauerhaft auf hohem Niveau sichert - allerdings längerfristig verbesserte Rahmenbedingungen für neue Arbeitsplätze in den Unternehmen, die sich im härter werdenden Wettbewerb zu behaupten vermögen.

Auch gemeinsames Geld taugt nicht zum „Allheilmittel" für alle wirtschaftspolitischen Übel unserer Zeit, weder gegen Wachstums- und Wettbewerbsschwäche noch gegen strukturelle Arbeitslosigkeit bzw. chronischen Arbeitsplatzmangel. Gemeinsames Geld vermag weder fehlende heimische Unternehmer oder ausländische Investoren zu ersetzen, es macht Managementreformen und Produktinnovationen nicht überflüssig, weder aktive Arbeitsmarkt- noch Regionalstrukturpolitik, weder Staatsmodernisierung noch Sozialumbau - und schon gar nicht können die überfällige Entfrachtung der Arbeitskosten von fremden Aufwendungen, die Senkung der Staatsausgaben und der Abgabenquote entfallen. Ohne Frage wird eine Währungsunion die Standortkonkurrenz im Innern eher weiter verschärfen als schwächen. Und hierbei werden nicht alle zu den Gewinnern gehören, auch wenn es sich insgesamt als „Positivsummenspiel" darstellt. Zugleich gilt jedoch: Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank müßte mit einer schweren Hypothek und der Gefahr ihrer Überforderung in die Endstufe starten, wenn es nicht gelingt, das Problem der Arbeitslosigkeit und der Finanz- und Sozialkrise wirtschafts- und gesellschaftspolitisch zuvor in den Griff zu bekommen.

VIII.

Damit ist ein zentrales Problem des Maastrichter Vertrages angesprochen - der ungleiche Souveränitätsverzicht, der unausgewogene europäische Gestaltungswille hinsichtlich der verschiedenen Politikbereiche, die Wirtschaft und Währung betreffen („asymmetrische Rollenverteilung"). [Fn 6 : Vgl. Jochimsen, Reimut: Perspektiven der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, hrsg. von Helga Grebing und Werner Wobbe, Köln 1994, S. 123 ff.]
Die Geldpolitik wird künftig supranational organisiert, vergemeinschaftet mit einer - abgesehen von der Wechselkurskompetenz - unabhängigen Notenbank, die der Geldwertstabilität verpflichtet ist. Dagegen verbleiben die Wirtschafts- und Finanzpolitiken in nationaler Hand, von der Einkommens-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik ganz zu schweigen. Zugleich soll die Vergemeinschaftung der Währungen aber ohne vorherige volle Angleichung der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaften bei Sozialprodukt und Beschäftigung zustande kom-

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men, die ja gegenwärtig noch weit auseinanderklaffen [Fn 7 : Vgl. dazu Lesch, Hagen: „Strategische Lohnpolitik in einer Europäischen Währungsunion", Institut „Finanzen und Steuern", IFSt-Schrift Nr. 342, Bonn, Dezember 1995, S.8 ff.]

IX.

Vorgeschrieben sind lediglich nominale Konvergenzkriterien - also Gleichlauf nur bei den Stabilitätsdaten, nicht hingegen realwirtschaftliche „Homogenität", z.B. vergleichbare Produktivitäten oder Arbeitslosenraten oder soziale Sicherung. Zusätzliche Transfermechanismen oder eine flankierende Sozialunion sind nicht vorgesehen, Finanzverfassung und -politik bleiben national, sollen aber einer strikten Kontrolle hinsichtlich ihrer makroökonomischen Nettowirkungen unterworfen werden. Wäre man dagegen britischen (und skandinavischen) Vorstellungen gefolgt, daß es für eine erfolgreiche Währungsunion auf die reale Konvergenz und Homogenität der ihr angehörenden Volkswirtschaften ankommen muß, hätte die EU ein solches Projekt mangels Realisierungschance in absehbarer Zeit schlicht aufgeben müssen bzw. nur als mehr oder weniger längerfristig auf den „Norden" beschränkte dauerhafte Teilwährungsunion angehen können.

Die Geldpolitik gerät bei dieser „hinkenden Konstruktion" unter Stabilitätsgesichtspunkten in eine äußerst bedenkliche Vorreiterrolle mit der strukturellen Gefahr ihrer systematischen Überforderung, wenn die übrigen „Makro-Pendants" ihre stabilitätspolitische Mitverantwortung nicht in der gebotenen Weise wahrnehmen. [Fn 8 : Vgl. Jochimsen, Reimut: „Revisionskonferenz 1996: Wirtschafts- und währungspolitische Anforderungen an Maastricht II", in: Staatswissenschaft und Staatspraxis, Heft 4, 1995, S.542ff.]
Hier basiert der Vertrag auf dem „Prinzip Hoffnung" - Hoffnung darauf, daß sich die wirtschaftspolitischen Akteure an die strikten „Spielregeln" der Währungsunion halten werden. Deshalb müssen fiskalpolitische Eskapaden, ja ein leichtfertiges „Trittbrettfahren" einzelner unsolidarischer, auf vermeintliche nationale Vorteile schielender Teilnehmerstaaten zuverlässig ausgeschlossen werden. Dies ist die Ratio des deutschen Vorschlags eines Stabilitätspaktes, der auf die Glaubwürdigkeit des nationalen Handelns zielt und das wechselseitige Vertrauen stärken soll, indem der Wille und die Fähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten zur fortdauernden Stabilitätsgemeinschaft zur Deckung gebracht werden sollen. Diese Regelung soll das maximal tolerierbare Defizitgebaren der Partner in der Union auch und gerade nach dem Start der Endstufe uneingeschränkt und dauerhaft durchsetzen, also eine Überforderung der Geldpolitik im gemeinsamen Währungsraum ausschließen.

Der vom Bundesfinanzminister vorgeschlagene Stabilitätspakt bedeutet hier eine Minimalvariante, einen „Notnagel", der auf die Glaubwürdigkeit des nationalen Handelns zielt und das wechselseitige Vertrauen stärken soll. Seine Wirkung ist asymmetrisch: Er würde zwar eine „negative" Koordination quasi durch die Hintertür leisten, das zur Abstützung und zum Erfolg der stabilitätspolitischen Währungsunion erforderliche, aktive Gegenstück positiv gestalteter und koordinierter Wirtschafts- und Finanzpolitik vermag dieser Pakt nur sehr bedingt zu ersetzen. Zu Recht hat die Europäische Kommission in ihrem Bericht an die Turiner Revisionskonferenz zum Maastrichter Vertrag darauf hingewiesen, daß die beschäftigungs- und sozialpolitische Dimension der EWWU nicht vernachlässigt werden darf.

In der Maastrichter Blaupause selbst bleibt die beschäftigungs- und sozialpolitische Dimension der Europäischen Union nach dem Start der EWWU-Endstufe unklar. Hier auf bloße Hoffnungswerte zu setzen, ist risikoreich. Denn es gibt über eines jedenfalls kein Vertun: die Standortkonkurrenz innerhalb des Währungsraumes wird noch härter - und die ultima ratio eigenständigen wirtschaftspolitischen Handelns immer stärker eingeengt.

Eine enorme integrationspolitische Herausforderung stellt sich jedoch auch an anderer Stelle. So richten sich vielfältige Befürchtungen darauf, daß es bei einer Rückversetzung von Aspiranten in eine „zweite Liga" zu kompetitiven Abwer-

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tungen kommen würde, daß Reaktionen auf politische Demütigung die Arbeit belasten, nicht nur bei den Gründungsmitgliedern der EWG. Diese Gefahren sind in der Tat auch deshalb so virulent, weil diese Problematik einer faktischen Zweiteilung der Europäischen Union in „Ins" und „Outs" bei Abfassung des Maastrichter Vertrags nämlich weithin ausgeblendet worden ist. Niemand hat seinerzeit allerdings vorhergesehen - oder man hat diese Möglichkeit schlicht ausgeblendet oder logisch übersprungen -, daß die Gruppe der qualifizierten Staaten zunächst sehr klein ausfallen dürfte. Und just mein Land hat klar erklärt, daß eine Aufgabe der Währung nur in Frage kommen kann, wenn der Euro mindestens so stabil wie die D-Mark wird.

Damit der Binnenmarkt nicht monetär gespalten wird und politisch in einen „Club im Club" und die übrigen auseinanderbricht, muß noch manches verabredet werden. Vor allem ist zu regeln, wie die Wechselkurspolitik zwischen der Währungsunion und den noch nicht teilnehmenden Ländern gestaltet werden soll. Dabei gilt es, die Mängel des alten Europäischen Währungssystems tunlichst zu vermeiden. Insbesondere über eine hinreichende Flexibilität bei Bandbreiten und eine Asymmetrie bei den „Anpassungsaufgaben" muß ausgeschlossen werden, daß die Stabilität des Euro als der Ankerwährung aufs Spiel gesetzt wird. Ein EWS II sollte nachhaltig auf die geld-, finanz- und tarifpolitische Disziplin der Nichtteilnehmer hinwirken und die glaubhafte Perspektive auf ihre rasche Nachqualifikation offenhalten.

X.

Für die Akzeptanz des ehrgeizigen Jahrhundertprojekts bei den Bürgern kommt es gerade auf die vernachlässigte beschäftigungs- und sozialpolitische Dimension der Europäischen Union nach dem Start der EWWU-Endstufe an: Neben die Sorge um die Wertstabilität des Geldes treten zwangsläufig weitere bange Fragen: Wie sieht in der Wirtschafts- und Währungsunion die Arbeitsplatzsituation aus? Wonach richtet sich die Entlohnung? Lassen sich die Sozialstandards halten? Wie weit ist das Solidaritätsgebot des Maastrichter Vertrags auszulegen? Wird die EWWU zu einer noch gigantischeren Rutschbahn für Transferzahlungen, als dies die deutsche Einheit für die ostdeutschen Länder war?

XI.

Generell bedarf es für die Realisierung des Ziels der Währungsunion zweifellos einer neuen Sicht auf die gebotene Dimension der Solidarität. Es führt allerdings kein Weg daran vorbei, daß diese auch nach dem Eintritt in die Endstufe stets durch das ökonomisch Machbare und politisch Durchsetzbare begrenzt bleibt. Das Kohäsionsgebot des Maastrichter Vertrags („Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts", Art. 2 EGV) darf nicht als Auftrag zur Herstellung gleicher Einkommens- und Lebensverhältnissen „um jeden Preis" mißverstanden werden. Dies ist auch nicht das Ziel der Sozialcharta von 1989 und des den EG-Vertrag ergänzenden Protokolls und Abkommens über die Sozialpolitik. Ebenso ist vor jeder schematischen Übertragung deutscher Erfahrungen, Verfassungsgebote und Ausgleichsregelungen auf die sehr viel heterogenere europäische Konstellation zu warnen. Die vertraglich vorgesehenen Strukturfonds und Kohäsionsmittel können nur eine Starthilfe beim marktmäßigen Aufholen sein, vor allem durch die Förderung von Infrastruktur- und Umweltinvestitionen. Wachsende Transferströme, zumal in Größenordnungen, wie wir sie bei der deutsch-deutschen Integration erleben (1991 bis 1996 netto 755 Mrd. D-Mark [Fn 9 : Vgl. die Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Irmgard Karwatzki vom 10. November 1995 auf eine Anfrage des Abgeordneten Detlev von Larcher (SPD), in: Bundestagsdrucksache 13/3025, S. 20.] ), müßten dagegen selbst unter dem Dach einer deutlicher als bisher ausgeprägten politischen Union am Widerstand der Bevölkerungen in den Netto-Zahlerländern scheitern. Automatischer und markt- oder systembedingt wachsender Transferbedarf darf also gar nicht erst entstehen oder zugesagt werden - weder innerhalb der Mitgliedstaaten noch auf der Gemeinschaftsebene.

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Wo Hilfe notwendig wird, muß sie die Eigeninitiative der Menschen stärken und als Hilfe zur Selbsthilfe angelegt werden, anstatt ein dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis der Empfänger aufzubauen.

XII.

Größeres Augenmerk sollte die aktuelle Diskussion auch einem weiteren Aspekt widmen, nämlich den vollen Konsequenzen des Verzichts auf den Wechselkurs als wirtschaftspolitisches Anpassungsscharnier. Die Austauschraten zwischen den Währungen verschiedener Volkswirtschaften haben bislang ja nicht nur unterschiedliche Preis- und Kostenentwicklungen ausgeglichen, sondern trugen auch dazu bei, die Beschäftigungswirkungen unterschiedlicher Produktivitätsentwicklungen abzufedern. In der Währungsunion ohne Veränderungsmöglichkeit der Wechselkurse müssen die Löhne diese Aufgabe allein übernehmen. Ihre Gestaltung und Flexibilität wird also noch zentraler. Der Tarifpolitik wächst damit noch stärker als im bloß nationalen Rahmen stabilitätspolitische Verantwortung zu: Im gemeinsamen Währungsraum wird der Verteilungsspielraum durch den relativen Produktivitätsfortschritt in den einzelnen Regionen und Sektoren strikt begrenzt.

Dreh- und Angelpunkte bleiben also der Arbeitsmarkt und die Organisation der Lohnfindungssysteme. Werden die Tarifpartner aber akzeptieren, daß einer Nivellierung der Löhne und Lohnnebenkosten und damit der sozialen Angleichung klare, durch die Produktivitätsentwicklung eng gezogene Grenzen gesetzt sind? Prinzipiell scheint man sich der ökonomischen Logik nicht entziehen zu können - es sei denn, es bestünde die Möglichkeit, die Folgen einer verfehlten Tarifpolitik zu „Vergemeinschaften", also über Ausgleichsfonds auf Mitgliedstaaten oder Regionen höherer Produktivität abzuwälzen. Es wäre jedoch ungemein gefährlich, wenn die praktische Europapolitik sich in diese Richtung entwickeln würde. [Fn 10 : Olaf Sievert setzt darauf, daß die „Spielregeln" der Währungsunion eingehalten werden: „Man kann in der EWWU nationale Fehler der Lohn- und Sozialpolitik nicht mehr durch Abwertung der Währung und Inflation korrigieren. (...) Niemand kann in Europa marktwidrige Löhne festsetzen in dem Vertrauen, Transfers im Zeichen europäischer Solidarität würden allemal dafür sorgen, daß die Wettbewerbsfähigkeit nicht verlorengeht." Vgl. „Die Gefahren einer Sozialunion", in: Handelsblatt, 29./30.03.1996.]

Das bedeutet eine klare Absage an die allzu vereinfachende Forderung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit" oder „gleicher Standard für gleiche Arbeit", auch wenn alles in Euro gezahlt wird. Der Wert der Arbeit kann in einer Marktwirtschaft nicht schlicht auf der Input-Seite gemessen werden, er bestimmt sich nach dem Marktwert des Outputs, der national und international nachgefragt wird; hier stehen Absatzchancen, Innovationswert, Qualität im Vordergrund. Sie schlagen sich in der Endnachfrage nieder. Deshalb können wir dem Ziel etwa gleicher Löhne und Standards nur in dem Maße näher kommen, wie sich die unterschiedlichen Produktivitätsniveaus bei möglichst hohem Beschäftigungsstand angleichen.

Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, daß es hier durchaus Fortschritte zu verzeichnen gibt. So war beispielsweise in Portugal die Pro-Kopf-Produktion 1970 gerade einmal halb so hoch wie im Durchschnitt der übrigen 14 EU-Staaten, heute liegt die entsprechende Quote immerhin schon bei 68%. [Fn 11 : Quelle: European Economy No. 60, 1995 Broad Economic Policy Guidelines, S. 113.]
Auch Spanien und noch mehr Irland können beachtenswerte Erfolge im realwirtschaftlichen Konvergenzprozeß aufweisen. Dennoch zeigt die Entwicklung auch, daß die Hoffnungen auf eine schnelle Angleichung der Einkommen wie auch anderer kostenwirksamer Standards ein Trugschluß sind. Insgesamt kommt die Harmonisierung allerdings nur langsam voran, erweist sich vor allem der Unterschied zwischen zentralen und peripheren Wirtschaftsräumen trotz aller Strukturfonds als sehr zählebig. Gerade eine einheitliche Währung wird dies nicht verhindern können, im Gegenteil, sie legt offen, daß eine weitgehende Annäherung der Lebensverhältnisse noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen dürfte. Gerade im Bewußtsein der fatalen lohnpolitischen Fehler im Zusammenhang mit der deutsch-deutschen Währungsunion sollten wir uns dies mahnend vor

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Augen halten, so wie auch die Erfahrung des italienischen Mezzogiorno nach 125 Jahren einheitlichem Währungsraum uns nahelegt, daß die Gelderverfassung allein die regionalen Disparitäten vertiefen kann, statt sie abzumildern.

XIII.

Untrennbar mit der Lohnpolitik verknüpft ist auch die Frage nach einer sozialen Flankierung des Binnenmarktes und der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Keine Frage, daß es sich bei einem gemeinsamen Markt um mehr handeln muß als nur die Summe der vielzitierten vier großen Freiheiten des Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs. Heißt dies aber andererseits, daß die stark voneinander abweichenden europäischen Sozialsysteme (und deren Finanzierung) weitgehend harmonisiert werden müssen? Das scheint weder möglich noch nötig. Allerdings darf der immer schärfere Wettbewerb zwischen den europäischen und außereuropäischen Standorten nicht dazu führen, daß eine wachsende Arbeitnehmerzahl in materiell und qualifikatorisch ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse abgedrängt wird. Deshalb muß der Gemeinsame Markt durch einen Bestand an Basisstandards in der sozialen und arbeitsrechtlichen Absicherung, im Arbeitsschutz und in den qualifizierungspolitischen Anstrengungen abgesichert werden. Dies scheint auch mit Blick auf die Verwirklichung von Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit unumgänglich. [Fn 12 : Vgl. Nienhaus, Volker: Die Sozialunion: Eine notwendige Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion?, in: Caesar, Rolf , Scharrer, Hans-Eckart (Hrsg.): Maastricht: Königsweg oder Irrweg zur Wirtschafts- und Währungsunion, Europäische Schriften 72, 1994, S. 272 f.]
Im Binnenmarkt hat man sich deshalb auf das Prinzip geeinigt, daß, wie schon in der Umweltpolitik, alle bestimmte Mindeststandards einhalten müssen, aber kein Mitgliedstaat gezwungen ist, seine höheren Standards auf das Gemeinschaftsniveau zu reduzieren.

Denn es ist klar, daß sich ein durchhaltbares Niveau der sozialen Sicherung nicht unabhängig vom wirtschaftlichen Leistungsstand der Volkswirtschaft definieren läßt. Würde eine ehrgeizige Sozialunion den gesamtwirtschaftlichen Möglichkeiten Europas vorauseilen und z.B. bei der Formulierung der notwendigen Mindestschutz-Standards einfach das in den wohlhabenden Volkswirtschaften Erreichte übernehmen, wären wachsende Arbeitslosigkeit und die Zementierung der wirtschaftlichen und arbeitsmarktbezogenen Schwierigkeiten in den leistungsschwächeren Regionen unausweichlich. Daß man dann aber dort dauerhaft am Tropf zunehmender Transferzahlungen der wohlhabenderen Länder hängt, ist nirgendwo erwünscht. Daraus ist letztlich die Konsequenz zu ziehen, daß in einem freien Binnenmarkt nicht nur der lohn-, sondern auch der sozialpolitische Verteilungsspielraum maßgeblich durch die absolute wie auch relative Produktivitätsentwicklung determiniert wird. [Fn 13 : Bezeichnenderweise enthielt der Vertragsentwurf für die internationale Nachkriegshandelsordnung von 1947 („Charta for International Trade Organization", auch als Havanna-Charta bezeichnet) einen „Fair Labour Standard"-Artikel 7, der als „related to productivity" zu interpretieren war. Letztlich trat der Vertrag jedoch nie in Kraft, weil die Vereinigten Staaten das Abkommen nicht ratifizierten und die übrigen Staaten daraufhin ebenfalls von einer Ratifizierung Abstand nahmen, es kam damals nur das intergouvernementale GATT, das „Allgemeine Abkommen über Handel und Zölle", zustande. Auch das neue GATT-Abkommen von 1994 sieht keine Arbeits- und Sozialstandard-Klausel vor. Lediglich Artikel XX Absatz 4 enthält mit der Möglichkeit, die Einfuhr von im Strafvollzug hergestellten Waren zu beschränken, eine quantitativ wenig bedeutsame Ausnahme. Siehe hierzu Karlhans Sauernheimer: Die neue Welthandelsordnung: Fortbestehender Handlungsbedarf, in: Michael Frenkel/Dieter Bender (Hrsg.): GATT und neue Welthandelsordnung, Wiesbaden 1996, S. 227-245.]
Die Währungsunion verschärfte diese Restriktion noch dadurch, daß das temporär wirksame Korrektiv einer Abwertung nicht mehr zur Verfügung steht.

Sehr wohl ernstzunehmen ist aber auch umgekehrt die Sorge der Menschen, vor allem in den hochproduktiven Ländern, daß die Einigung auf den „kleinsten sozialen Nenner" zu einem „Herunterkonkurrieren" der Arbeits- und Sozialstandards (sowie von Umweltstandards), also zu sozialem (und ökologischem) Abbau in den leistungsstärkeren Regionen führen könnte. Das Schutzniveau der Arbeitnehmer pauschal zu senken, wäre der falsche Weg und müßte das einzigartige europäische Gesellschaftsmodell mit

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seiner Kombination aus Wohlstand, hoher Lebensqualität sowie sozialem Zusammenhalt und Konsens und des sozialen Friedens und der Partizipation wider die Ausgrenzung ernsthaft in Frage stellen.

Darüber hinaus ist daran zu erinnern, daß der Binnenmarkt auch in seinen anderen Elementen noch keineswegs vollendet ist, wie die amtliche Terminologie suggeriert. Ich nenne nur drei Themenkomplexe: die Mehrwertsteuer, die Entsenderichtlinie und die Harmonisierung der Kapitalbesteuerung, die jede für sich und kumuliert Fragen des Standortwettbewerbs ansprechen und dem Ursprungslandprinzip verpflichtet sein müßten, was in allen Fällen durchbrochen wird. In der Mehrwertsteuerfrage hat dies besonders weitreichende Folgen. Hier sieht die Regelung noch das Bestimmungslandprinzip vor, d.h. den Exporteuren wird die Mehrwertsteuer an der Binnengrenze erstattet, so wie sie den Importeuren dort auferlegt wird. Es besteht hier deshalb keinerlei Aussicht, daß ein Wettbewerb der Standorte etwa zu einer Senkung der Sätze führt, wie es mancher erhofft hat, als Mindest- und Höchstsätze festgelegt wurden. Im Gegenteil: Viel eher ist damit zu rechnen, daß die Staaten diese Quelle, auf die sie so leicht Zugriff haben, noch stärker sprudeln lassen, weil sie damit keinen Schaden für ihre jeweilige Exportwirtschaft auslösen. Wenn dabei noch eine hohe Mehrwertsteuer mit niedrigem Einkommens- und Lohnsteuerniveau zusammenfällt, wie von vielen Ländern verfolgt, trägt ein Hochlohnland binnenmarktwidrig eine Doppellast, die zudem nicht an der Grenze ausgeglichen wird. Umso wichtiger wird dann die Entsenderichtlinie als sozialer Mindestlohn auch für diejenigen Arbeitskräfte, die nicht dauerhaft der relativ hohen Lohnbesteuerung und des hohen Lebenshaltungskostenniveaus ausgesetzt sind, also insoweit „Sozialdumping" betreiben. Hinsichtlich der Kapitalertragsbesteuerung kann ich mir den gegenwärtigen Zustand der unterschiedlichen Steuersätze (Null bis 35%) in der vollen Währungsunion schlicht nicht als stabil vorstellen.

XIV.

Für den Erfolg von Binnenmarkt, Währungsunion und Beschäftigung bedarf es also eines subsidiär, föderal aufgebauten, dezentralisierten Europas, das den Regionen wichtige Aufgaben u.a. für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen zuweist. [Fn 14 : Zu den Perspektiven für eine tragfähige und dauerhafte Europäische Union vgl. Jochimsen, Reimut: Perspektiven der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, a.a.O., S. 138 ff.]
Eine solche föderale Ordnung schafft bedeutsame Voraussetzungen für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Stabilität im ganzen Wirtschafts- und Währungsraum. Sie würde den nationalen Verschiedenheiten sowie sozialpolitischen Präferenzen entsprechen und der sprachlichen und kulturellen Vielfalt Rechnung tragen, zumal nach der prospektiven Erweiterung der Gemeinschaft nach Osten.

Der solchermaßen fundamental veränderte Rahmen verlangt nach neuen, nach spezifischen Entwicklungsstrategien im Binnenmarkt und im Europäischen Wirtschaftsraum, in Sonderheit nach einer Aktivierung des demokratischen Staates. Wissenschaftsförderung, Forschung, Entwicklung und Technologiezugang, aber auch Bildung und Ausbildung, Weiterbildung und Qualifikationsforderung nehmen jedenfalls einen noch höheren Stellenwert ein als bisher schon, es erwächst eine bildungspolitische, sozialpädagogische Integrationsaufgabe neuer Dimension. Dies bietet auch neue Chancen für die Politik. Der Hinweis auf die anonyme, unwiderstehliche Kraft globalisierter Märkte kann ja keine Entschuldigung für Untätigkeit und Abstinenz sein. Nationale oder regionale Politik wird schließlich in entgrenzten, weltweiten Wirtschaftsstrukturen nicht etwa überflüssig. Ebensowenig verschwindet sie vor dem Hintergrund der europäischen Einigung oder wird durch „Brüssel" abgelöst oder gar ausgelöscht. Im Gegenteil: Just die nationalen und subnationalen, regionalen Politiken gewinnen einen Bedeutungszuwachs, ihnen fallen neuartige Funktionen zu, neben den überkommenen, die sich massiv wandeln. Das Herausarbeiten, die Entwicklung und Nutzung sol-

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eher neuer Handlungsmöglichkeiten stellt sich dabei als die eigentliche Herausforderung dar, und zwar durchaus unterschiedlich - je nach Ebene.

Im Trend zeigt sich jetzt schon, daß die in den Mitgliedstaaten bereits bestehenden Gliedstaaten - so die Länder der Bundesrepublik - und die organisatorisch vorhandenen Regionen faktisch eine erhebliche zusätzliche Funktion gewinnen. Und eine Währungsunion verstärkt den Bedarf danach nochmals enorm. Während einerseits die Binnenmarktrahmensetzung und die Wettbewerbspolitik im einheitlichen Wirtschaftsraum sowie die Geldpolitik von europäischen Instanzen wahrgenommen werden muß, wächst andererseits zugleich die Standortkonkurrenz, die immer stärker zwischen den Regionen, nicht mehr einfach zwischen den zunehmend „entfernten" nationalen Volkswirtschaften als Ganzheit, ausgetragen wird. Allerdings muß man sich auch hierbei des Zusammenhangs innesein, den gemeinsame Sprache, Kultur, Gesellschaft und Kommunikationsstruktur in Politik und Meinungsbildung, für nationale Wissenschaft, Kunst und so weiter darstellen.

Um das im entgrenzten Binnenmarkt Europas (und auch hinsichtlich des Weltmarktes) entstehende raumpolitische Vakuum zu füllen, müssen die Regionen eine auf die jeweilige Situation zugeschnittene aktive Standortpolitik entfalten. Das heißt, die relevanten Standortfaktoren auf regionaler Ebene adäquat auszugestalten und zu einem je unverwechselbaren, attraktiven Regionalprofil zu modellieren. Eine immer wichtigere Rolle gewinnen dabei die „weichen" Standortfaktoren, z.B. das verfügbare Humankapital, die institutionelle Infrastruktur in Wissenschaft, Forschung, eine zukunftsweisende Aus- und Berufsweiterbildung, Kultur und Kommunikation vor Ort, Qualität des Lebensumfelds, auch und gerade in sozialer und ökologischer Hinsicht. Diese Faktoren gilt es politisch zu einem je eigenen, möglichst vorteilhaften und unverwechselbaren Bündel zu kombinieren. Von seiten des demokratischen Nationalstaats ist dabei ein neuer, offener Politikstil zu fordern. Das heißt: Kooperative Mitgestaltung und Mitverantwortung gemeinsam mit den die Regionalwirtschaft und -gesellschaft tragenden Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften, der Wissenschaft usw., Übernahme der Rolle des Moderators, des Impulsgebers für Innovation und Kreativität. Um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden, benötigen die Regionen darüber hinaus freilich auch angemessene Strukturpolitische Kompetenzen sowie eine entsprechende finanzpolitische Ausstattung, zugleich eine wirksame Vertretung und Mitwirkung in den Nationalstaaten sowie der Europäischen Union. Der 1994 konstituierte Ausschuß der Regionen in seiner jetzigen Form, als bloß beratendes Gremium ohne nennenswerte Kompetenzen, kann dabei nur den Anfang markieren.

Schließlich sollte in bezug auf die Furcht vor einer währungsunionsbedingten Spirale des Sozialabbaus und vor der Fortsetzung sowie Vertiefung von beschäftigungspolitischen Fehlentwicklungen ein nach dem Subsidiaritätsprinzip abgestuftes Programm der europäischen Sozialpolitik in Betracht gezogen werden. Die Europäische Sozialunion hätte dabei vor allem nationale Egoismen unter gemeinschaftlicher Kontrolle zu halten bei der Ausgestaltung der Zugangsbedingungen zum Gemeinsamen Markt und bei der Verteilung der Startchancen für den friedlichen, wohlstandsfördernden Wettbewerb unter der Vielfalt und Vielzahl der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialsysteme in Europa.

Alles in allem drängt sich der Eindruck auf, daß an der Finalität des Integrationsprozesses noch weitaus intensiver gearbeitet werden muß, anstatt ein isoliertes Projekt EWWU in die Welt zu setzen, das ohne politische Abstützung und Einbettung zum Scheitern verurteilt ist.

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„Die sozialen Konsequenzen der Währungsunion"
Diskussion


Die Frage nach der Stabilität der neuen Euro-Währung und der Solidarität innerhalb der geplanten Wirtschafts- und Währungsunion bestimmten naturgemäß die Diskussion im Anschluß an den Vortrag des Präsidenten der Landeszentralbank Nordrhein-Westfalen. Bei der Beantwortung beleuchtete Reimut Jochimsen sowohl strukturelle Spezifika in einzelnen Beitrittsstaaten als auch grundlegende supranationale Voraussetzungen für ein Gelingen der fortschreitenden Integration.

Zu den grundlegendsten Voraussetzungen für einen Beitritt zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gehört die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Schon wegen des sich daraus ergebenden Qualitätsdrucks sollte nach den dramatischen Bilanzen für die erste Hälfte der 90er Jahre am bisherigen Zeitplan festgehalten werden. Hier stehen den Industriestaaten angesichts ihrer strukturellen gesellschaftlichen Probleme wie der Überalterung der Bevölkerung, der Gesundheitskostenexplosion und der hohen Arbeitslosigkeit noch große Aufgaben bevor, es besteht enormer Reform- und Handlungsbedarf. Die Ausprägung der Arbeitslosigkeit könnte ein nicht-nominelles Kriterium für die Leistungsfähigkeit der Staaten sein. Außerdem besteht gerade hier eine hohe Anpassungsnotwendigkeit, denn in einzelnen Mitgliedsstaaten herrscht eine von 20-25%, während der Prozentsatz in anderen Ländern unter 10% liegt.

Die politischen Voraussetzungen in der Bundesrepublik unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von anderen europäischen Staaten. Bedeutend für die Situation in Deutschland ist der weiterhin bestehende Transferbedarf in die neuen Bundesländer. In der ehemaligen DDR sind die Lohnstückkosten höher als im Westen und auch dort werden sie ja als zu hoch angesehen, die Lohnentwicklung ist hier der Produktivitätsentwicklung weit vorausgeeilt und bremst den Wachstumsprozeß. Zu den vordringlichsten Aufgaben wird daher die Schaffung einer eigenständigen Wertschöpfungsbasis in Ostdeutschland gehören.

Darüber hinaus weisen die Europäischen Verträge gerade unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität noch Schwachstellen auf, die Rolle der Kommunalpolitik ist darin unterbewertet. Dies betrifft vor allem die Bundesrepublik Deutschland, die als einziges Land innerhalb der EU der kommunalen Selbstverwaltung verfassungsrechtlich Autonomie garantiert. Bisher waren Bemühungen erfolglos, dieses Prinzip auf europäischer Ebene zu etablieren. Hier würde der Beitritt zum Stabilitätspakt außerdem eine Grundgesetzänderung erforderlich machen, da sich Bund, Länder und Gemeinden die Kosten teilen müssen.

Des weiteren ist der Bundesregierung auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine bestimmte Marschroute vorgegeben. Die deutsche Ratifikation steht unter der Voraussetzung, daß die Bundesrepublik einer Stabilitätsgemeinschaft betritt, bei einem Scheitern könnte dies im Extremfall aus verfassungsrechtlichen Gründen einen Austritt nach sich ziehen.

Zur Umsetzung des Stabilitätsziels sollten die bestehenden Kriterien auch oder gerade im Hinblick auf die anstehende Osterweiterung nicht aufgeweicht werden. Hier sieht Jochimsen sich, besonders angesichts der Skepsis bei über 71% der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem EURO, als stabilitätspolitischer 'Wächter'.

Die Haltung Frankreichs zur Wirtschafts- und Währungsunion beruht auf seinen spezifischen politischen Erfahrungen. Mitterrands Versuch, nach keynesianischem Muster Vollbeschäftigung im Alleingang zu erreichen, war in einer globalisierten Welt und in einem integrierten Europa nicht durchzuhalten. Die Lösung der darauffolgenden innenpolitischen Krise sah er in einem europäischen Währungssystem. Es hätte durchaus auch Alternativen geben können, doch die politische Entscheidung fiel für das gemeinsame Geld und die einheitliche Geld- und Zinspolitik für alle beteiligten Staaten.

Für die großen Volkswirtschaften, die bisher eine eigenständige Währungs- und Geldpolitik

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betrieben haben, wird sich die Anpassung womöglich schwieriger gestalten als für die kleinen Länder, die sich ja längst an andere Währungen und Politiken angelehnt haben. Dabei gilt für manche Länder sicherlich, daß sie lieber von einem EURO abhängen als von der DM.

In der kommenden Währungsgemeinschaft werden Löhne gewissermaßen das einzige Ventil sein, an dem man drehen kann. Hier haben strukturschwache Länder zunächst einen Vorteil, für sie ist es günstig, in die Währungsunion einzutreten, weil sie im Verbund ihre Staatsverschuldung billiger finanzieren können. Dies bedeutet umgekehrt für die starken Länder eine höhere Belastung, da sie höhere Zinsen zahlen müssen. Denn in einer Währungsgemeinschaft werden alle Schulden addiert, daraus ergibt sich die Belastung der neuen Währung.

Es besteht andererseits innerhalb der Vereinbarungen zur Wirtschafts- und Währungsunion durchaus die Möglichkeit, bei Sozial- und/oder Umweltstandards nach oben hin abzuweichen. Durch die höheren Kosten könnte sich aber die Attraktivität eines Standortes mindern, der politische Druck jedoch ist an dieser Stelle groß, von diesen Möglichkeiten nur begrenzt Gebrauch zu machen und zu große qualitative Unterschiede nicht zustande kommen zu lassen.

Die Kluft zwischen den abweichenden Beschäftigungsquoten könnte möglicherweise eine verstärkte Binnenmigration hervorrufen, hier müssen Arbeitsmarktprobleme adäquat untersucht und herausgearbeitet werden. Der Vertrag über die Errichtung der EU sieht Freizügigkeit und Mobilität vor, Binnenmigration soll er nicht provozieren. Im Gegenteil müssen Arbeitsplätze dort geschaffen werden, wo Menschen leben. Gezielte Maßnahmen müssen die Wirtschafts- und Währungsunion unterstützen, denn ein bloßer Vertrag allein kann unter diesem Gesichtspunkt keine Stabilität mit sich bringen.

Zur Umsetzung einer supranationale Geldpolitik gehört mehr als die bloße Kooperation und Koordination von Finanzpolitiken, an dieser Stelle ist ein verpflichtendes Programm vonnöten, um eine wirkliche Währungsgemeinschaft zu bilden.

Dies enthalten die Maastrichter Verträge jedoch nicht.

Zentralbanker konvergieren viel stärker als Finanzpolitiker. In diesem Sinne wird innerhalb eines Stabilitätspakts nicht die Finanzpolitik in toto geregelt, sondern ihr Makrosaldo, d.h. die Höhe der aufzunehmenden Schulden oder zu erzielenden Überschüsse. Diesen Vorgaben unterliegen dann neben den Staatsbudgets auch die Sozialbudgets, also auch Sozialversicherungen und alle darunter fallenden Strukturen.

Nationalwirtschaften im herkömmlichen Sinne wird es nicht mehr geben, aber bisher herrschen nationale Interessen immer noch vor. Ein Land nämlich, das aus dem Stabilitätspakt ausbricht oder ihn verletzt, zieht durchaus Vorteile daraus. Es kann sein Budgetdefizit auf Kosten der anderen finanzieren, es zahlt weniger Zinsen, während alle anderen mehr zahlen, bremst aber die Wachstums- und Beschäftigungsperspektive. Daher ist der Stabilitätspakt besonders auf die Solidarität angewiesen.

Nach Jochimsens Ansicht fehlt es bislang am notwendigen solidarischen und politischen Willen zur Durchsetzung der Stabilitätsgemeinschaft, dazu gehören auch eine gezielte Koordination und ein verpflichtendes Programm, um die angestrebten Vorstellungen umzusetzen.

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Forum 1
Europa: Maastricht - Entwicklungspolitik - Währungsunion
Die EU-Entwicklungspolitik nach Maastricht


„Gibt es eine europäische Entwicklungspolitik?" fragte sich Simon Stocker, EUROSTEP, zu Beginn seines Vortrags, oder nicht vielmehr ein Konglomerat von 15undeiner Form von Entwicklungspolitik, obwohl sich die EU in der Öffentlichkeit gerne auf ihren gemeinschaftlichen Anteil von beinahe 50% an der ODA beruft. Denn der Maastrichter Vertrag schuf zwar die Grundlage für die Europäische Union, die in Titel 17 enthaltenen Grundzüge einer europäischen Entwicklungspolitik beziehen sich jedoch auf die Europäische Gemeinschaft, nicht auf die Union.

Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft war in erster Linie eine Interessengemeinschaft für Handel und Wirtschaft, der Außenhandel steht auch heute noch im Mittelpunkt. In dem Maße, in dem soziale Fragen zunehmen, verlagert sich das politische Gewicht hin zu sozialen Aspekten.

Weder die Römischen Verträge noch die Verträge zur Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft enthielten Richtlinien einer europäischen Entwicklungsarbeit. Die Abkommen vom Yaunde regelten zunächst das Verhältnis zwischen den ehemaligen französischen Kolonialstaaten und der EWG, in den 70er Jahren kamen in der Lomé-Konvention noch die vormaligen britischen Kolonien dazu. Vorgesehen war aber nicht eine reine Entwicklungshilfe, sondern Handelsvereinbarungen. Die Lomé-Konvention, die in ihrer dritten Phase seit 1975 besteht, ist eine zwischenstaatliche Übereinkunft, getroffen von den Mitgliedern der heutigen Europäischen Union und den heute 70 Staaten der AKP-Gruppe. Jedoch stehen die Lomé-Verträge als Zusatzabkommen außerhalb der eigentlichen Europäischen Verträge.

Nach dem Beitritt Spaniens und Portugals richtete sich die Kooperation verstärkt auf Lateinamerika und den Mittelmeerraum. Nach dem Ende des Kalten Krieges kamen auch noch die ehemaligen Ostblock-Staaten hinzu.

Der Maastrichter Vertrag beinhaltet nun zumindest für die Gemeinschaft entwicklungspolitische Grundbekenntnisse. In Titel 17 ist auch eine gemeinsame Sicherheits- bzw. Außenpolitik formuliert und diese beiden Bereiche werden in den kommenden Jahren kaum noch zu trennen sein. Der Entwicklungszusammenarbeit werden dort drei Hauptaufgaben gestellt: Der Kampf gegen die Armut, die Förderung von nachhaltiger Entwicklung und die Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft. Darüber hinaus wurde der Rahmen für entsprechende Aktivitäten gesteckt - die Achtung der Menschenrechte und der Aufbau eines rechtsstaatlichen Systems zählen dabei zu den Grundvoraussetzungen, hinzu kommen eine marktwirtschaftliche Ausrichtung und die Partizipation der Bevölkerung an politischen Entscheidungen.

In Expertenkreisen hat sich dafür der Begriff 'drei Ks' bzw. 'drei Cs' eingebürgert: Koordination und Abstimmung der Programme zwischen den Mitgliedsstaaten und der Kommission (coordination), Komplementarität (complementarity) der Programme innerhalb der EU mit Ausrichtung auf eine gemeinsame Politik und Kohärenz (coherence), d.h. die Kohärenz der Entwicklungspolitik mit anderen Politiken der Europäischen Union, beispielsweise der Handels- oder der Sozialpolitik.

Nach intensiven Diskussionen wurden die grundlegenden Prinzipien und Ziele des Maastrichter Vertrages bei der Halbzeit-Revision in die Lomé-Konvention integriert.

In der Debatte um den 'Horizont 2000', die auf europäischer Ebene nach Wegen zur politischen Umsetzung des Maastrichter Vertrages sucht, gab es bereits eine Reihe von Resolutionen u. a zu Armut, Gesundheit, Gender und gesicherter Ernährung. Wie im Follow-up-Prozeß der großen UN-Konferenzen muß die Öffentlichkeit nun dafür sorgen, daß den vielversprechenden Worten der Entwicklungshilfeminister auch Taten folgen.

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Diese Beschlüsse sind nicht nur auf die Politik der EG gerichtet, sondern auch auf die einzelnen Mitgliedstaaten. Wenn sie nun auch rechtlich nicht bindend sind, so stellen sie doch eine gemeinsam getragene Entscheidung auf Ministerebene dar, die auch von den bilateralen Programmen der Mitgliedsländer begleitet wird.

Nach dem Abschluß des Maastrichter Vertrages hat die europäische Entwicklungspolitik eine ganz bestimmte Richtung eingeschlagen. Die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten unter dem Dach des Lomé-Abkommens ist hierbei nur ein Element, seither hat sich die Zusammenarbeit verstärkt auf Staaten in Asien, Lateinamerika und in der jüngsten Vergangenheit besonders auf dem Mittelmeerraum und die ehemaligen Ostblock-Staaten ausgedehnt. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich die Politik der EG zerfasert. Separate Ausschüsse befassen sich mit der Entwicklungspolitik in einer jeweiligen Region. Die Kommission betont zwar die gute Abstimmung zwischen den verschiedenen Gremien, dennoch hat diese Aufspaltung zur Folge, daß es keine einheitliche, gemeinsame Strategie gibt. Bei einer näheren Betrachtung der Programme werden die spezifischen Interessen der EU in einer bestimmten Region klar ersichtlich.

Dies spiegelt sich besonders in der finanziellen Rahmenplanung wider. So stieg beispielsweise die Aufbauhilfe für die osteuropäischen Staaten und die GUS von 1990 bis 1996 um 271% und erhält damit 34% der Entwicklungshilfe. Die Zuwendungen für den Mittelmeerraum stiegen im gleichen Zeitraum um 64% auf einen Anteil von 11%. Der Gesamtanteil von Asien und Lateinamerika wuchs um 76% bzw. 77% auf 12% der Gesamtförderung. Die Mittel, die bisher für die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten aufgewendet wurden, sind im gleichen Zuge gefallen. Dabei ist zu beachten, daß 35 der AKP-Staaten nach UNDP zur Gruppe der 45 am wenigsten entwickelten Ländern der Erde zählen.

Weltweit zeichnet sich ein drastischer Rückgang der ODA ab, deren Anteil weit unter dem von der UNO anvisierten 0,7% des BSP liegt, obwohl sich alle relevanten Staaten mit Ausnahme der USA zur Einhaltung dieses Zieles verpflichtet haben. Trotz dieses allgemeinen Rückgangs sind die Gesamtaufwendungen der EG sogar noch gestiegen. Bei der Sitzung zur Finanzrahmenplanung 1992 in Edinburgh wurde ein Paket verabschiedet, daß für Aktivitäten auf dem Gebiet der Außenbeziehungen sogar noch eine Steigerung des Budgets vorsah. Die Niederlande haben nun vor einigen Monaten diese Vereinbarung als letzter Mitgliedsstaat ratifiziert, dieser Finanzrahmen gilt bis zum Ende des Jahrhunderts. Im Zuge der Erhöhung der EG-Beiträge haben viele Mitgliedstaaten ihre nationalen Ausgaben jedoch reduziert, auch die Beitragszahlungen an die UN geraten unter Druck.

Das Jahr 2000 mit dem Ende der Lomé-Konvention wird einen Schlußpunkt in dieser Entwicklung markieren. Das Gesicht der Entwicklungszusammenarbeit wird sich weiter wandeln. Mit zunehmender Globalisierung weicht die bisherige Entwicklungshilfe einer Politik, die von Handelserleichterungen und einem Weltmarkt bestimmt wird. Und dies ist für die ursprüngliche Handelsinteressengemeinschaft von enormer Bedeutung.

Ein zweiter wichtiger Gesichtspunkt ist der Aspekt der äußeren und inneren Sicherheit, es geht um die Bedrohung der 'Insel Europa' durch Migration. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, daß die Zuwendungen für den Mittelmeerraum und die Maghreb-Staaten enorm zugenommen haben. Denn die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen durch Maßnahmen der EU-Aktivitäten in Nordafrika verzögert die Migrationsbewegungen und erschließt gleichzeitig neue Absatzmärkte für europäische Produkte. Der Mittelmeerraum ist in das Zentrum des politischen Interesses gerückt, und so ist im Finanzplan für 1997 eine erneute Erhöhung der Mittel und Ausweitung der Aktivitäten vorgesehen, während das Engagement in anderen Regionen zurückgeht oder sogar zum Stillstand gekommen ist.

Auch die Staaten des ehemaligen Ostblocks werden gerade im Hinblick auf eine mögliche Ost-Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um zwölf neue Mitglieder weiterhin besondere

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Aufmerksamkeit erhalten. Die Beinahe-Verdopplung der Mitgliederzahl wird eine gewaltige Herausforderung für die bisherigen Strukturen und Arbeitsweisen der Union sein. Es ist durchaus vorstellbar, daß bereits 1997 osteuropäische Staaten am Verhandlungstisch sitzen und mit darüber diskutieren, wie die europäische Entwicklungszusammenarbeit in Zukunft aussehen wird. Angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Situation in den Staaten des ehemaligen Ostblocks betrachtet, kann man davon ausgehen, daß diese Länder nur wenig Interesse an einer Entwicklungszusammenarbeit mit dem Süden haben. Das Bestreben wird vielmehr dahin gehen, sich dem Lebensstandard der westlichen Mitgliedstaaten anzunähern.

Wenn es der EU gelingt, im Zuge der Erweiterung auch die europäische Integration dahingehend zu fördern, daß die gemeinsame Außenpolitik und die gemeinsame Sicherheitspolitik gefestigt werden, ist es vornehmliche Aufgabe der NRO, die Beachtung der im Maastrichter Vertrag festgehaltenen Ziele und Prinzipien für die Entwicklungspolitik einzufordern. Falls die europäische Einigung in der nahen Zukunft nicht zustande kommt, besteht die Gefahr einer 'Renationalisierung' der Entwicklungsarbeit.

EUROSTEP hat sich auf die Beziehungen der europäischen Staaten zu den Ländern im Süden auf sozialpolitischer Ebene konzentriert. Auf den ersten Blick stimmen die propagierten Ziele sozialer Entwicklung im Süden und in Europa überein, der Ministerrat hat in diesem Zusammenhang Entscheidungen getroffen, die den Beschlüssen von Kopenhagen sehr nahe kommen. Bemühungen um Sozialklauseln, soziale Rechte und umweltverträgliche Arbeitsbedingungen, um die u.a. in der WTO gerungen wird, scheinen jedoch vielmehr dem potentiellen Protektionismus in Europa Vorschub zu leisten.

Eine einheitliche und kohärente europäische Entwicklungspolitik zeichnet sich noch nicht ab. Eine schwache Kommission schützt die Eigeninteressen der nationalen Regierungen. Die OECD hat der Kommission gravierende fachliche und personelle Mängel vorgeworfen. Hier bietet sich den einzelnen Mitgliedsstaaten (noch), eine passende Entschuldigung, sich aus der gemeinsamen Entwicklungspolitik zurückzuziehen, anstatt sie zu unterstützen. Wenn es nicht zu einer Änderung dieser Haltung kommt, und darauf sollten die NRO drängen, kann die notwendige Politik nicht umgesetzt werden.

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Forum 2
Internationale Steuern - Tobin Tax


Auf der Suche nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten für internationale Aufgaben beschäftigt sich das Office of Development Studies (ODS) des UNDP mit globalen Steuern, u.a. mit der sogenannten Tobin Tax. Inge Kaul, Leiterin des ODS in New York, stellt die bisherigen Ergebnisse einer Reihe von systematischen 'Feasability'-Studien vor.

Bereits im Vorbereitungsprozeß zum Kopenhagener Weltsozialgipfel wollten die Delegationen den Schwierigkeiten begegnen, von denen das Follow-up anderer großer UN-Gipfel bislang betroffen war: der schleppenden Implementierung . einer detaillierten und ehrgeizigen Agenda und nicht vorhandener Mittel zu deren Umsetzung.

Die Finanzierungsdiskussion bekam neuen Anschub. So veranstaltete u.a. die Deutsche Stiftung für Entwicklung (DSE) im Vorfeld von Kopenhagen eine Fachtagung zum Thema 'Innovatives Ressourcen-Management' und auch die Commission for Sustainable Development (CSD), die sich mit der Nachfolge des Erdgipfels von ,Rio befaßt, diskutiert neue Möglichkeiten der Finanzierung, beispielsweise aus privater Hand oder kommunalen Anleihen. Anleihen dieser Art sollen nicht das Wirtschaftswachstum fördern, sondern zielgerichteten Investitionen im Umwelt- und Sozialbereich dienen. UNDP hat in diesem Zusammenhang eine Initiative mit dem Titel 'Money Matters' gestartet, um private Anlagen für Entwicklungsprojekte nutzbar zu machen. Dies soll die Kapitalmärkte m Entwicklungsländern stärken und dadurch Kapital für Kleinkredite etc. schaffen.

Eine weitere Möglichkeit der Finanzierung von Entwicklung läge in globalen Steuern, so z.B. in einer Energiesteuer, deren Erhebung neue Mittel freimacht und Umweltschäden bereits im Vorfeld begrenzt. Da ein Alleingang einzelner Staaten keine große Wirkung hätte, bietet sich der Rückgriff auf bereits bestehende supranationale Strukturen zur Erhebung einer globalen Steuer an. Andere Steuern könnten im selben Zug eingefroren oder gar abgeschafft werden.

Eine weitere Möglichkeit, neue finanzielle Quellen zu erschließen, wären Nutzungsgebühren für sogenannte Public Goods, gemeinschaftliche Ressourcen, wie die Ozeane, das Weltall, die (Reinheit der) Luft usw.

Den dritten Weg weist die Tobin-Steuer (Tobin Tax), benannt nach dem amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträger James Tobin, mit der internationale Devisentransaktionen global mit einem einheitlichen Steuerbetrag belegt werden könnten. Bereits 1972 hatte Tobin angesichts der zunehmenden Flexibilität von Wechselkursen und der Liberalisierung der Märkte diesen Vorschlag entwickelt, um der dadurch entstehenden Volatilität und dem schwindenden Einfluß der Regierungen auf Finanz- und Geldpolitik entgegenzuwirken.

Seit 1972 hat sich nun das Volumen der Devisentransaktionen etwa vervierzehnfacht, seit 1992 ist es noch einmal um 50% angestiegen. Pro Tag werden weltweit 1,3 Milliarden Dollar über internationale Grenzen und über Währungsgrenzen hinweg bewegt, dabei dient nur jede achte dieser Transaktionen Zahlungszwecken und Zahlungen von Gütern und Dienstleistungen im eigentlichen Sinne, bei den übrigen Bewegungen handelt es sich um reine Spekulationen. Ein Großteil der Spekulanten ist an schnellen und kurzfristigen Kapitalgewinnen interessiert; so durchlaufen 80% der gehandelten Devisen einen Round Trip von einer Währung in die andere innerhalb von 7 Tagen, 40% innerhalb von zwei Tagen, die meisten in einem Zyklus von wenigen Stunden.

Aus diesem Wechselverhalten ergibt sich natürlich die Frage, wie solche Transaktionen von staatlicher Seite aufgezeichnet und verfolgt werden können. Wenn beispielsweise jede Aktion mit einem Steuersatz von 0,1% belegt und notiert würde, verlängerte sich gleichzeitig die Dauer einer Transaktion. Dies gäbe wiederum den Regierungen mehr Spielraum für die Veränderung von Zinssätzen, diverse Länder wie Chile, Kolumbien, Südkorea oder Spanien könn-

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ten sich gezielter vor sogenannten currency runs schützen.

Das Office of Development Studies ODS untersucht zur Zeit Modelle, die mit sehr niedrigen Steuersätzen von 0,05%, 0,1% oder 0,25% arbeiten. Selbst mit diesen moderaten Sätzen würden sich enorme Steuergewinne ergeben, die weit über der 100-Milliarden- Grenze liegen. Eine solche Steuer kann jedoch nur im globalen Rahmen wirklich greifen, daher müssen entsprechende Anreize zu ihrer Umsetzung gegeben sein. Nach den Fallbeispielen von UNDP sollten die Regierungen mit einem Teil der Einnahmen zunächst ihre Haushaltsdefizite ausgleichen, auch dadurch würden zusätzliche Mittel für die Entwicklungshilfe frei. Ein bestimmter Prozentsatz der Transaktionssteuer würde dann für internationale Zwecke abgeführt, zur Finanzierung von Gemeinschaftsgütern wie Sicherheit und Umwelt. Im Zuge der weiteren Öffnung der Märkte und der zunehmenden Mobilität des Kapitals könnten in Zukunft viele Regierungen, zum Beispiel innerhalb der Europäischen Union, bereit sein, sich auf solche Gemeinschaftssteuern einzulassen.

Das ODS hat sich auch mit der Praktikabilität der Tobin-Steuer auseinandergesetzt und Rechenmodelle mit Zinssätzen und Anlagezeiten erarbeitet. Würde der von Tobin ursprünglich vorgeschlagene Steuersatz von 0,5% pro Transaktion angesetzt, könnte der Steuerverlust ohne Kursgewinne oder andere Anlagen allein durch Zinsdifferentiale in einer Anlagezeit von drei Monaten zu 4% p.a. ausgeglichen werden. Bei einem geringeren Steuersatz wären die Anlagezeiten oder die zu vereinbarenden Zinssätze entsprechend kürzer bzw. niedriger.

Auch unter technischen Gesichtspunkten sollte die Tobin-Steuer problemlos einzuführen sein. Sie könnte ähnlich wie die Gebühren, die bereits heute von den Banken für Finanztransaktionen anfallen, eingezogen werden.

Zu klären bliebe aber die Frage der Umverteilung. Ein Großteil der Finanztransaktionen vollzieht sich in den reichen Industrieländern des Nordens und den aufstrebenden Wirtschaften in Asien; diese hätten einen hohen Anteil an den Einnahmen durch die Tobin-Steuer, finanzschwache Länder und Ökonomien einen entsprechend niedrigeren. Eine Umverteilungsformel, die, analog zur progressiven Einkommenssteuer, desto mehr von den Einnahmen der Transaktionssteuer einbehält, je höher die Gewinne eines Landes sind, könnte hier Abhilfe schaffen.

Entscheidend für die tatsächliche Einführung und Umsetzung der Tobin-Steuer ist jedoch der politische Wille der Kernländer, in denen Transaktionen vorgenommen werden.

Prof. Dr. Kunibert Raffer von der Universität Wien wies darauf hin, daß die Idee einer internationalen Steuer weit älter ist als der Vorschlag von Tobin. Bereits in den 30er Jahren hatte der englische Ökonom Keynes eine solche Möglichkeit entworfen und bei der Gründung der Bretton Woods-Institutionen eine Steuer auf Zahlungsbilanzüberschüsse gefordert. Diese Initiative scheiterte schon deshalb, weil die USA die einzige betroffenen Nation gewesen wären. Darüber hinaus hat es u.a. im Rahmen der Seerechtskonvention die Vorstellung einer internationalen Abgabe für die Nutzung der Meeresböden gegeben, die Tobin-Steuer muß man auch in diesem Zusammenhang sehen, in einer Reihe von Bemühungen, internationale Mittel für internationale Zwecke aufzubringen. Tobins Hauptanliegen war der Stabilisierungseffekt der Steuer, damit sollte eine besser kalkulierbare finanzpolitische Umgebung geschaffen werden. Heute wird der Gedanke zunehmend unter dem Einkommensaspekt betrachtet, der Erschließung neuer Ressourcen für die Entwicklungszusammenarbeit.

Die beiden Effekte stehen jedoch konträr zueinander: Je stärker die Steuer greift, desto mehr wird sie die Transaktionvolumina verringern. Dadurch verliert diese Investitionsmöglichkeit an Attraktivität, die Transaktionen gehen zurück und die Steuerbasis und damit die Einnahmen durch die Steuer werden kleiner. Auch die großen spekulativen Bewegungen wird sie nicht abfangen können. Und es scheinen doch gerade diese Bewegungen zu sein, die - wie im Beispiel Mexikos - den größten Schaden anrichten. Dennoch ist die Tobin-Steuer unter technischen Gesichtspunkten durchaus ein- und umsetzbar.

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Professor Hans-Helmut Kotz, Abteilungsleiter Volkswirtschaft der Deutsche Girozentrale Frankfurt, beleuchtete als Ökonom und Praktiker die Volkswirtschaftliche Seite der Tobin-Steuer und zeichnete potentielle Hindernisse und Schwierigkeiten bei ihrer tatsächlichen Umsetzung auf.

Ökonomen wie Tobin und Keynes griffen die Idee einer Transaktionssteuer auf, um der Volatilität, der Flatterhaftigkeit von Kursabweichungen zu begegnen. Extreme Schwankungen bergen Risiken, die sich dämpfend auf den grenzüberschreitenden Handel auswirken und damit die wohlstandsmehrenden Folgen dieses Handels begrenzen.

Bei der Betrachtung der Märkte spalten sich die Volkswirte gewissermaßen in zwei Lager: Gut 2/3 gehen davon aus, daß Märkte immer effizient sind und alle kursrelevanten Informationen im laufenden Kurs verarbeiten. Das andere Drittel, zu denen sich auch Prof. Kotz zählt, ist der Ansicht, daß es in Kursen zu Abweichungen kommen kann, die nicht durch Fundamentalgrößen zu begründen sind. Hier setzt nun Tobin mit seiner Steuer-Idee an; er wollte auf eben diese Flatterhaftigkeit der Kurse dämpfenden Einfluß nehmen.

Unberücksichtigt ließen aber Tobin und auch das ODS bei ihren Berechnungen den Aspekt der Elastizität, den Prof. Dr. Raffer bereits angesprochen hatte, d.h. der Rückgang von Investitionen und damit einhergehend der Rückgang der Einnahmen bei einer Besteuerung der Finanztransaktionen. Niedrigere Margen können aber in Märkten zu einer erheblichen Veränderung der Anbieterstruktur führen und tendenziell die Marktumgebung komplett ändern; dieses Phänomen läßt sich bei allen Märkten beobachten. Das weltweite Transaktionsvolumen läßt sich eben nicht simplifizierend mit einem bestimmten Steuersatz der Tobin Tax multiplizieren, um die möglichen Einnahmen zu errechnen.

Darüber hinaus gibt es im Bankwesen bereits eine Reihe von Substituten für die Tobin Tax. Das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen überwacht die Verpflichtung der Banken, gegen offene Positionen eine bestimmte Art von Eigenkapital bereitzustellen. Diese Regulierung ist ökonomisch gesehen nichts anderes als eine Steuer im Sinne der Tobin Tax. In Deutschland besteht außerdem eine Mindestreserve, die ebenfalls wie eine Steuer auf Banktransaktionen zu betrachten ist. Die Tobin-Steuer selbst stellt eine Fixkostensteuer dar, dadurch sollen kurzfristigen Transaktionen behindert und die langfristigen tendenziell begünstigt werden. Möglicherweise könnte dies den Zeithorizont von Anlegern verlängern, nach konventionellen Wirtschaftsmodellen ergäbe sich daraus eine tendenziell höhere Wachstumsrate. Jedoch lassen sich kurz- und langfristige Anlagen nicht einfach auseinanderdividieren, auch hier gibt es Verzahnungen, die zu berücksichtigen sind.

In gewissem Sinne ist die europäische Währungsunion eine Radikallösung der Tobin-Steuer. Als Antwort auf die Volatilität - die allerdings in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat - des enorm flexiblen Wechselkurssystems, das, allen ökonomischen Modellen zum Trotz, wie die Festkurse und möglicherweise noch stärker Ungleichgewichte produziert, war Tobins eigentliche Idee nicht eine Besteuerung von Devisentransaktionen, sondern eine Welt(einheitliche)-Währung, eine Common Currency. Die Währungsunion schafft die Devisenmärkte in Europa komplett ab, die Einführung des EURO ist der erste Schritt hin zum Phänomen Common Currency, die Auswirkungen wird man in den kommenden Jahren beobachten können.

Technisch gesehen ist eine Steuer wie die Tobin Tax durchaus umsetzbar. Aus dem Blickwinkel der internationalen Entwicklungszusammenarbeit läßt sich der dadurch erzielbare Umverteilungsaspekt vor allem moralisch rechtfertigen, provokativ formuliert wäre dann die Tobin Tax gewissermaßen eine Sündensteuer für Reiche. Hier stellt sich nun nicht nur die Frage nach dem politischen Willen für die Einsetzung einer Steuer auf Devisentransaktionen, sondern die grundlegende Frage nach dem ökonomischen Willen und Besitz. So werden bsp. über 17% des britischen Bruttoinlandsprodukts in London zu erheblichen Teilen durch eben solche Finanztransaktionen erzielt. Da erscheint es wohl etwas naiv, anzunehmen, hier liege gewissermaßen Geld auf der Straße, das man guten Zwecken zuführen kann.

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Forum 3
Die Umsetzung der Beschlüsse des Weltsozialgipfels
im europäischen Vergleich


Zu Beginn seines Vortrags betonte Hugh Frazer, Leiter der Combat Poverty Agency aus Irland, daß Armut und soziale Ausgrenzung nicht bloß das Problem einiger weniger europäischer Staaten ist, sondern daß alle Ländern, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, davon betroffen sind.

Für besonders wichtig hält er daher bei der Bekämpfung der Armut auch im Norden die transnationale Vernetzung und Zusammenarbeit der NRO, um auf die nationalen Regierungen und die Europäische Union gezielt Druck ausüben zu können, damit den Aspekten der Armut und der sozialen Ausgrenzung politisch eine größere Aufmerksamkeit zukommt.

Nach einem Einkommensvergleich leben zur Zeit zwischen 20% und 30% der irischen Bevölkerung in Armut, davon sind ca. 10% - 20% dauerhaft von schwerer Armut betroffen. Aus diesem Grund waren die Armutsprogramme der EU in den vergangenen Jahren für Irland von enormer Bedeutung. Unglücklicherweise wird es keinen vierten Programmzyklus geben. Auch die deutsche Regierung hatte sich gegen eine Fortsetzung gestellt, da sie der Europäischen Kommission rechtliche Legitimation und Mandat dazu absprach.

Sofern es sich nur um eine Frage rechtlicher Kompetenzen handelt, hat Frazer die Hoffnung, daß auch die Bundesregierung eine Initiative der Iren unterstützt, einen Zusatzartikel über soziale Ausgrenzung in die Vertragstexte der EU aufzunehmen. In dieser Ergänzung heißt es: 'Die Gemeinschaft soll dazu beitragen, Strategien zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung zu entwickeln, indem sie unter Berücksichtigung der Eigenverantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten deren Kooperation fördert und ggf. deren Maßnahmen unterstützt.' [Fn 15 : „The Community shall contribute to the development of policies to combat social exclusion by encouraging cooperation between member states and, if necessary, by supporting and supplementing their action while fully respecting the primary responsibility of member states in this area."]

Der irische Vorschlag enthält des weiteren Ansätze zur Implementierung dieser Initiative, die Frage nach den rechtlichen Grundlagen für das Handeln der Kommission sollte dadurch geklärt werden.

In Irland setzt sich seit mehr als zehn Jahren die Combat Poverty Agency für die Bekämpfung der Armut ein. Die CPA, 1986 als staatliche Einrichtung durch einen Parlamentsbeschluß gegründet, fungiert mit ihren 17 Mitarbeitern und einem Jahresbudget von 2 Millionen irischen Pfund als Mittler zwischen der Regierung, den Kommunen und den caritativen Diensten. Zu ihren Aufgaben gehören die Beratung der Regierung, die Erprobung neuer Programme und Ansätze der Armutsbekämpfung und die Unterstützung der kommunalen Einrichtungen und Hilfsdienste. Darüber hinaus initiiert sie Studien und Forschungsprojekte und leistet entsprechende Öffentlichkeitsarbeit, um das Bewußtsein über das Ausmaß von Armut in der irischen Bevölkerung zu vertiefen.

Die irische Regierung hat inzwischen eine unabhängige Studie über die Arbeit der CPS erstellt, die die Agency als kompetente Institution der Armutsforschung und -bekämpfung ausweist. Sie hat das Problem Armut erfolgreich zum politischen Thema gemacht und die nationale Politik beispielsweise in den Bereichen der Wohlfahrtspflege und der Ausbildungsförderung mitgeprägt.

Als konkretes Ergebnis der langjährigen konsequenten Arbeit diverser Organisationen gegen Armut kann die Ankündigung einer 'Nationalen Anti-Armuts-Strategie' des irischen Sozialministers (Minister for Social Welfare) in seiner Rede auf dem Weltgipfel für Sozial Entwicklung gewertet werden. Darin verpflichtet sich der Minister, daß Irland umfassende Maßnahmen zur Reduzierung der Armut und der Verminderung) sozialer Ungleichen; in möglichst kurzer Zeit ergreifen werde. Die Verminderung von Armut soll erstes Ziel einer kohärenten Politik werden

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und in allen Regierungsprogrammen an erster Stelle stehen. Mit dem Premierminister, seinem Stellvertreter und dem Sozialminister unterstützen zudem die Führer der drei Koalitionsparteien diese Initiative. Mit der Umsetzung der Strategie bis zum Ende des Jahres wurde ein Komitee mit hochrangigen Vertretern aus allen Ressorts betraut. Dabei sind die folgenden sechs Stufen geplant: 1) die Erfassung von Art und Ausmaß der Armut und Ausgrenzung in Irland, 2) die Identifizierung von Schlüsselfragen und -themen, 3) die Auswahl von Sektoren, 4) die Erarbeitung von Empfehlungen zur Kooperation der beteiligten Regierungsstellen und Ministerien 5) die Begleitung einer strategischen Management-Initiative, die zur Zeit im öffentlichen Dienst erprobt wird und 6) die Beteiligung der von Armut betroffenen Menschen und ihren Vertretern in den NRO an der Erarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut. Das irische Kabinett hat bereits Ausbildungsmängel, Einkommensunterschiede, Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit sowie Armut in benachteiligten und strukturschwachen Gebieten als Hauptursachen für Armut im eigenen Lande benannt. Dabei sollen die Rechte von Minderheiten durch Anti-Diskriminierungsmaßnahmen gestärkt und die Benachteiligung von Frauen beseitigt werden.

Der Partizipation kommt hierbei eine besondere Rolle zu, Regierung und Kommunen wollen gemeinsam vorgehen unter aktiver Einbeziehung der Gemeinden, von caritativen Hilfsdiensten und unter Stärkung der Eigeninitiative. Hierzu wurden auch bereits bestehende Erfahrungen von Anti-Armutskampagnen in Nord-Irland, Großbritannien und Australien herangezogen. Nach dem Einsatz der Strategien sind starke Monitoring- und Reporting-Mechanismen notwendig, an dieser Stelle sind die NRO gefragt.

Auf dem bisherigen Weg zu einer gezielten nationalen Armutsminderung in Irland haben sich folgende grundlegende Erkenntnisse herauskristallisiert: Die Bekämpfung der Armut kann sich auf der politischen Agenda nur behaupten, wenn sie Unterstützung von höchster politischer Ebene erfährt, nur dadurch kann der bürokratische Widerstand überwunden werden. Darüber hinaus müssen die Ideen auch von hohen Beamten getragen werden, damit sie umgesetzt werden können. Auch die öffentliche Unterstützung ist von enormer Bedeutung.

Es bedarf des weiteren einer übergeordneten Koordinationsstelle, um die Kohärenz der Politik zu gewährleisten, was sich gerade in Irland mit seinem dezentralisierten System als oftmals schwierig erweist. Zur adäquaten Umsetzung der neuen Erkenntnisse und Aufgaben müssen die von der konkreten Umsetzung betroffenen Staatsbediensteten entsprechend geschult werden und ein Bewußtsein für die Problematik entwickelt haben.

Es reicht nicht aus, daß Strategien zur Armutsbekämpfung auf dem Papier stehen, sie müssen bei Haushaltsverhandlungen auch berücksichtigt werden und in den Etats ihre Entsprechung finden. Die Weichen für eine positive Entwicklung scheinen in Irland bereits gestellt: Das Wirtschaftswachstum hat z.T. Rekordhöhen erreicht, der Friedensprozess in Nord-Irland erweist sich als Katalysator für Aufschwung und Veränderung und die politische Geschlossenheit hat ein Niveau erreicht, das nie zuvor in dieser Art und Weise existiert hat. Die nationale Strategie gegen die Armut kann der Schlüssel zu einer grundlegenden Veränderung Irlands hin zu einer gerechteren und ausgeglicheneren Gesellschaft werden, dies war auch das ausdrückliche Ziel des Sozialministers in seiner Rede auf dem Sozialgipfel in Kopenhagen.

Herr Macioti, Europäisches Sekretariat von ATD Vierte Welt, und Isabell Guillet, GRESEA (Groupe de Recherche pour une Stratégie Economique Alternative) berichteten über die Lage in Belgien. Genau wie in Irland hat auch im belgischen Nachbarland das öffentliche Bewußtsein für die Probleme der Armut in den letzten Jahren zugenommen. Bereits in der Mitte der 80er Jahre haben öffentliche Instanzen mit der konkreten Diskussion über Strategien zur Armutsbekämpfung begonnen. In der wallonischen und der flämischen Region wurden dazu diverse parlamentarische Kommissionen gebildet, die

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Armut in einem globalen Ansatz angehen wollten und dazu zu einer kohärenten Politik und Abstimmung zwischen den einzelnen Ministerien aufriefen. Wie so oft in Belgien, gingen jedoch die positiven Ansätze in der Trennung und dem Kompetenzgerangel der beiden unterschiedlichen Regionen und Sprachgebiete unter.

Im Jahr 1987 antworteten belgische NRO, darunter ATD Vierte Welt, auf die oben genannte Initiative ihrer Regierung mit einem Bericht „Mehr Solidarität und Weniger Armut", der die Einrichtung einer interministeriellen Instanz zur Fortsetzung der Arbeit vorschlug. Darin forderten die NRO ihre aktive Beteiligung und die anderer Interessengemeinschaften ein.

In den Armutsprogrammen der EU als auch in Frankreich wurde dieser Vorschlag stark befürwortet. Dort, im Gründungsland von ATD, hat der französische Wirtschafts- und Sozialrat einstimmig einen Bericht über 'Große Armut und wirtschaftliche und soziale Unsicherheit' angenommen, der das Recht auf ein Leben ohne Armut in die Reihe der Menschenrechte stellt und anstelle von punktuellen Hilfsmaßnahmen für eine globale, strukturelle Armutspolitik plädiert. Die in diesem Bericht enthaltene Definition von Armut hat die Europäische Kommission in Kopenhagen als richtungsweisend angegeben und sich darauf berufen.

Im Mai 1987 wurde in Belgien der erste Bericht des interministeriellen Ausschusses, zur Bekämpfung von Armut, dem auch NRO, darunter ATD angehörten, fertig gestellt. Erstmalig waren Beamte der verschiedenen Ministerien zusammengekommen, um konkrete Vorschläge zur Armutsbekämpfung zu formulieren. Weitere Berichte folgten, der letzte von 1991 schloß mit der Forderung nach einer kohärenten Politik und Abstimmung auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene.

1992 mündete die gemeinsame Arbeit schließlich in einem Regierungsauftrag zur Erstellung eines allgemeinen Armutsberichts, damit machte die belgische Regierung den Kampf gegen die Armut zur Priorität ihrer Politik. Die Bewegung ATD Vierte Welt und der Belgische Städte- und Gemeindebund wurden beauftragt, in Zusammenarbeit mit der König-Baudouin-Stiftung einen solchen Bericht zu erstellen, wobei ein Flame und ein frankophoner Koordinator die Abstimmung der Aktivitäten übernehmen sollten.

Die hemmenden regionalen Kompetenzschwierigkeiten konnten auf diese Weise überwunden, ein Kooperation auf allen Ebenen und Bereichen erzielt werden. Außerdem hat die belgische Regierung mit ihrem Auftrag den Beitrag und das Mandat der NRO anerkannt, wenn sich auch das neue Verhältnis noch weiter festigen muß.

Parallel zum Armutsbericht diskutierte die Regierung mit den anerkannten Sozialpartnern, Gewerkschaften etc., über einen Sozialpakt. Darin sollten grundsätzliche Maßnahmen wie Sozialversicherung, Existenzsicherung, Fürsorge und die Rahmenbedingungen für Beschäftigung und Wettbewerb festgelegt werden.

Die tatsächlich betroffenen Gruppen der Bevölkerung, die gerade zu einer Beteiligung am Armutsbericht aufgerufen worden waren, wurden bei der Erstellung des Sozialpaktes jedoch nicht einbezogen. Der Sozialpakt ist letztendlich nicht zustande gekommen, an seine Stelle setzte die belgische Regierung einen Globalplan.

Der Ausbau der bereits bestehenden Kontakte und die intensivierte Vernetzung der einzelnen Hilfswerke, darunter auch das belgische Armutsnetzwerk, und die daraus resultierende Bündelung der Kräfte gehören zu den großen Erfolgen im Zuge der Erarbeitung des nationalen Armutsberichts. Über zwei Jahre hinweg haben hunderte von Bürgern, die selber von Armut betroffen sind, Sozialarbeiter, Freiwillige aus den verschiedensten Berufen und Gesellschaftsgruppen an dem 400 Seiten umfassenden Bericht über die soziale Lage in Belgien gearbeitet, der 1995 in flämischer und französischer Sprache der belgischen Regierung übergeben wurde.

Durch seine Arbeit und Strukturen ging ATD dabei bis zu den Basisgruppen vor Ort und schloß erstmals die Betroffenen mit in die Verhandlungen ein. In sogenannten Volksuniversitäten trafen sich die in Armut lebenden Men-

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schen, um selber ihre Prioritäten zu formulieren und nicht allein von Experten aufstellen zu lassen. Die Ergebnisse ihrer Zusammenkünfte wurden einmal monatlich nach Brüssel weitergeleitet und dort verarbeitet. Als wichtigste Lebensbereiche wurden die Sorge um die Familie, Gesundheit, Arbeit und Beschäftigung, Wohnen, Erziehung und Schule, Beziehungen zum Sozialamt und auch Kultur identifiziert.

Zur Beseitigung von Armut bedarf es nicht nur der Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse. Auch das Entdecken von Kultur als Reichtum und Möglichkeiten der Existenz, nicht nur im engeren Sinne von Kunst, und die Mitgestaltung und Anerkennung der Gesellschaft gehören für die Betroffenen dazu.

Die Orientierung an den allgemeinen Bürger- und Menschenrechten zog sich dabei wie ein roter Faden durch die Diskussion. Die Beteiligten erwarten, in Zukunft an den Debatten und Entscheidungen der anderen gesellschaftlichen Gruppen, z.B. Arbeitgeber und Gewerkschaften, beteiligt zu werden, damit der begonnene Dialog nicht abreißt und das Bewußtsein der Gesellschaft für Fragen der Armut weiter gestärkt wird. Die beteiligten Organisationen treffen sich weiter.

Die nationale Presse hat den Bericht ausführlich diskutiert, er wurde auch in anderen europäischen Ländern vorgestellt, so u.a. in München und auch in Polen. Unter dem Vorsitz des Premierministers werden seit März regelmäßig interministerielle Konferenzen zusammengerufen, Premier De Haan erntete viel Anerkennung, als er in Kopenhagen die erste Konferenz dieser Art ankündigen konnte. Auch die Regionalparlamente haben den Bericht diskutiert, ein überparteilicher informeller Ausschuß von Parlamentariern, Senatoren und Vertretern von ATD ist bereit, eine sogenannte Volksuniversität zur Weiterarbeit zu organisieren. Zur Zeit wird die Umwandlung in eine permanente Einrichtung diskutiert, dabei bietet sich ein Zusammenschluß mit dem 1993 gegründeten Zentrum für Chancengleichheit und Kampf gegen den Rassismus an. Dies ist auch eine neue Stufe in der Zusammenarbeit mit der Regierung.

Der Wille zur Bewußtseinsänderung ist durch die Arbeit vieler unterschiedlicher sozialer Gruppen bewiesen worden. Die geweckten Hoffnungen dürfen nun nicht enttäuscht werden, dann könnte der belgische Bericht ein Anstoß und eine Ermutigung für andere europäische Regierungen sein.

Caroline Wildemann (NOVIB, Niederlande) berichtete über die Situation in ihrem Land. Armut stand beim Kopenhagener Gipfel erstmals thematisch im Zentrum eines UN-Summits, diese grundlegende Feststellung verbindet Einrichtungen der Entwicklungszusammenarbeit und sozialpolitisch ausgerichtete Organisationen in den Niederlanden. Dort hat sich bei den unterschiedlichen Einrichtungen auch ein Dialog etabliert, der jedoch noch keine dem Deutschen NRO-Forum Weltsozialgipfel vergleichbare Form angenommen hat. Auch eine gemeinsame Politik oder Strategie besteht noch nicht.

Kurz nach dem Gipfel veröffentlichte die niederländische Regierung einen nationalen Plan und Bericht zur Armutsbeseitigung mit dem Titel „Die andere Seite der Niederlande". Der Plan stammte aus der Feder des Sozialministeriums und war sicherlich schon vor dem Gipfel erstellt worden. Jedoch wurde die Abschluß-Veranstaltung des Weltsozialgipfels öffentlichkeitswirksam genutzt, das Werk vorzustellen.

In den Niederlanden existiert ein Netzwerk „Arbeitsgruppe für Sozialpolitik", das sich aus Sozialverbänden, caritativen und anderen Hilfswerken zusammensetzt. Diese Gruppe erhält Unterstützung vom niederländischen Ministerium für Soziales, um den Nachfolge-Prozeß und die Umsetzung der Ergebnisse des Weltgipfels für soziale Entwicklung zu beobachten und zu begleiten. Es ist vorgesehen, daß dieses Gremium neben der Erstellung eines jährlichen Armutsberichts ebenfalls in jährlichem Abstand gemeinsam mit dem Sozialministerium eine Tagung zum Stand und Fortschritt der Armutsbekämpfung und Sozialpolitik in den Niederlanden abhält. Im Gegensatz zu Deutschland hat die niederländische Regierung das Problem und die Tragweite von Armut im eigenen Land voll anerkannt und auf die politische Agenda gesetzt.

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Dabei geht es ihr nicht um absolute Armut, aber um die sogenannte stille, relative Armut in ihrer eigenen Gesellschaft.

Auf der entwicklungspolitischen Seite nimmt die niederländische Regierung gerade bei der Umsetzung der 20:20-Vereinbarung eine aktive Rolle ein. Sie war an der Vorbereitung der Osloer Konferenz interessierter Industrie- und Entwicklungsländer maßgeblich beteiligt und leistet bei den involvierten staatlichen Stellen eine konsequente Informationspolitik. So wurden in einem offiziellen Schreiben bsp. alle niederländischen Botschaften über die Möglichkeiten und Konsequenzen der 20:20-Initiative in Kenntnis gesetzt.

Damit es bei dieser positiven Umsetzung der Kopenhagener Ergebnisse bleibt, hat sich die niederländische Organisation NOVIB gemeinsam mit anderen europäischen NRO z.B. aus Großbritannien unter dem Begriff 'Social Watch' zusammengeschlossen, um den Follow-up Prozeß kritisch zu begleiten und die Forderungen der Zivilgesellschaft mit einem jährlichen Bericht zur Lage zu untermauern. Auch das Deutsche NRO-Forum Weltsozialgipfel ist aufgerufen, zu diesem Bericht Zahlen und Fakten beizusteuern.

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Forum 4
Entwicklungspolitik nach Kopenhagen


Anstelle des wegen seiner Teilnahme an der Haushaltsausschußsitzung verhinderten Staatssekretärs Klaus-Jürgen Hedrich stellte sich Referatsleiter (411 - Armutsbekämpfung; Sozialpolitik) Dr. Gero Jentsch, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, im Anschluß an seinen Vortrag den Fragen der anwesenden NRO-Vertreter.

„Der Weltgipfel über soziale Entwicklung 1995 in Kopenhagen war der erste Weltgipfel, der sich ausschließlich und ausdrücklich mit sozialen Fragen befaßte. Er hat diesen Fragen einen neuen Stellenwert gegeben. Die Bundesregierung begrüßt seine zentrale Aussage, daß soziale Entwicklung den gleichen Rang wie Wirtschaftsentwicklung hat. Die Bundesregierung fühlt sich durch die Beschlüsse des Sozialgipfels bestätigt und gestärkt in der Ausrichtung ihrer Entwicklungspolitik und in den Schwerpunkten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit."

Anregungen des Kopenhagener Gipfels wie die Schuldenumwandlung für Entwicklung, die 20/20-Initiative und die Integrierung sozialer Ziele in Strukturanpassungsprogramme sind ebenfalls Elemente, die die Bundesregierung unterstützt. Um das deklarierte Ziel des Sozialgipfels, die Beseitigung der absoluten Armut zu erreichen, sollen die Möglichkeiten zur Selbsthilfe und Partizipation ausgebaut und verbessert werden. „Auch in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist Armutsbekämpfung vorrangiges Ziel und einer von drei Schwerpunkten." Nach Aussage von Jentsch konnten in der verhältnismäßig kurzen Zeit nach Kopenhagen natürlich nicht alle Beschlüsse des Social Summit voll umgesetzt werden, doch hat die Bundesregierung zumindest damit begonnen. So hat sie bereits im Haushalt 1996 die Kopenhagener Empfehlung umgesetzt und Schulden gegen die Bereitschaft des jeweiligen Entwicklungslandes, Landeswährungskosten für die Finanzierung von Programmen der Armutsbekämpfung einzusetzen, erlassen. Auch bei der Verwirklichung der 20/20-Initiative hat die Bundesregierung eine Vorreiterrolle übernommen. Der ursprünglich von UNDP kommende Vorschlag, 20% der Mittel der Zusammenarbeit und 20% der nationalen Budgets der Entwicklungsländer für soziale Grunddienste zu verwenden, ist in Kopenhagen nicht in bindender Form angenommen worden. Im Abschlußdokument heißt es lediglich, daß interessierte Länder sich in ihrer Zusammenarbeit darauf verständigen können.

Im Follow-up Prozeß des Weltsozialgipfels hat die Bundesregierung Bemühungen unterstützt, solche interessierten Staaten zusammenzubringen. Ende April schließlich haben sich auf Einladung der norwegischen Regierung in Zusammenarbeit mit den Niederlanden Vertreter dieser Länder in Oslo zusammengefunden. Zunächst wurde eine Definition für soziale Grunddienste aufgestellt: Dazu gehören die Grundbildung. Basisgesundheit einschließlich reproduktiver Gesundheit und Bevölkerungsprogramme, Ernährungsprogramme, Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung sowie die institutionellen Kapazitäten, um diese Dienste bereitzustellen. Der Entwicklungsausschuß der OECD wurde aufgerufen, seine Statistik zur einheitlichen Erfassung der genannten Leistungen entsprechend anzupassen. Die deutsche Regierung hatte sich in diesem Sinne zuvor bereits an den DAC gewandt.

Die in Oslo vertretenen Entwicklungsländer vereinbarten, in Weltbankberatungsgruppen und UNDP-Roundtables einen Dialog zur Umsetzung von 20/20 auf Länderebene in Gang zu bringen. „Das entwicklungspolitisch Neue und Attraktive am 20/20 Konzept ist, daß es sich um eine zweiseitige Verpflichtung sowohl der Entwicklungs- als auch der Industrieländer handelt und daß wir von den früheren, oft stereotypen Forderungen nach mehr Entwicklungshilfe weggekommen sind und eine differenziertere und partnerschaftliche Zusammenarbeit darauf aufbauen können." Jedoch handelt es sich bei 20/20 nicht um ein neues und unabhängiges Ziel, sondern einen Schwerpunkt innerhalb der Armutsbekämpfung mit dem Hintergrund der Partizipation."

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Die Einbeziehung und Beteiligung der Zivilgesellschaft wurde auch in Oslo fortgesetzt; so war eine Vertreterin des deutschen NRO-Forums Mitglied in der Regierungsdelegation. Dies entspricht der deklarierten Politik des BMZ und dem ausdrücklichen Wunsch von Bundesminister Spranger, das BMZ ist bereit, von der Erfahrung der NRO zu lernen. Darüber hinaus folgt diese Praxis auch den Beschlüssen von Kopenhagen.

Nach dem positiv gezeichneten Bericht des BMZ prangerte Dr. Carola Donner-Reichle von der Evangelischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe (EZE) für die Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienste (AGKED) im Deutschen NRO-Forum Weltsozialgipfel die Kompetenz- und Aufgaben-Zersplitterung der Bundesregierung bei der Umsetzung von UN-Gipfel-Resultaten an. So sind bsp. für den Nachfolgeprozeß von Rio verschiedene Ministerien verantwortlich, während das BMZ auf diversen UN-Gipfel-Veranstaltungen vertreten war, jedoch nie die Federführung hatte.

So kam es, daß z.T. Ministerien mit wenig internationaler Erfahrung in Kontakt mit NRO traten und dementsprechende Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit hatten. Offiziell war bisher das Arbeitsministerium für den Weltsozialgipfel zuständig, nach dem Gipfel erfolgte eine Zweiteilung der Kompetenzen. Die Federführung liegt immer noch beim BMA, aber das internationale Monitoring ist bei der Kommission für soziale Entwicklung angesiedelt. Bei der CSD-Sitzung in New York war dort erstmals seit der PrepCom-II kein NRO-Vertreter in der Regierungsdelegation. Das nun zuständige Familienministerium sah keine Veranlassung, NRO-Repräsentanten einzubeziehen. Während beim Sozialgipfel in Kopenhagen noch fünf Mitglieder des Deutschen NRO-Forums Weltsozialgipfel in der Regierungsdelegation vertreten waren, wird diese an sich schon etablierte Form der Zusammenarbeit und des Dialogs nun wieder zurückgeschraubt. „Seit das Familienministerium zuständig ist, fallen wir zurück hinter den Stand, der bereits erreicht war." Es besteht also keine einheitliche Vorgehensweise der Ministerien.

Das Familienministerium war schon vorher für die traditionellen Aufgaben der Kommission zuständig, d.h. in erster Linie Familienpolitik und Behindertenpolitik, aber eben nicht für internationales Monitoring. „D.h., die Entwicklungspolitik ist in Gefahr, eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen". Aus Sicht der Entwicklungs-NRO wäre natürlich das BMZ der adäquate Ansprechpartner und sollte die Koordinierung der Implementierung übernehmen, da sich viele Gipfelthemen überschneiden und ihre Entsprechungen im BMZ haben.

Erfolgreich waren die NRO-Vertreter jedoch in Oslo, wo sie die bereits im März vorgestellte Studie zu 20/20 'Soziale Prioritäten in der Entwicklungszusammenarbeit' von Thomas Fues in englischer Sprache vorstellten und einige Aufmerksamkeit ernteten. Kritisiert allerdings wurde die abwartende Haltung des BMZ von deutscher NRO Seite, Entwicklungsländer die Initiative ergreifen zu lassen, während andere Industrieländer eine aktivere Rolle bei der Einleitung der 20/20 Vereinbarung spielen. Dieser Kritik mußte sich auch die EU aussetzen, die vor einigen Monaten noch die Bedeutung von 20/20 betont hatte, sich in Oslo aber noch nicht einmal entschuldigen ließ.

Über die von Herrn Jentsch angeführten drei in Kopenhagen angeregten Hauptziele - Schuldenumwandlung, 20/20 und die Beachtung sozialer Zielsetzung bei Strukturanpassungsmaßnahmen - hinaus, vermißte Michael Windfuhr, FoodFirst - Information and Action Network, weitergehende Verpflichtungen des BMZ. So findet bsp. die Regelung in Commitment 2 keine Beachtung, die nicht nur von sozialen Ansprüchen sondern vielmehr von sozialen Rechten redet, In Commitment 1 umfaßt die Überschrift Partizipation nicht nur die politische Beteiligung an Programmen, sondern auch und gerade ökonomische Partizipation. Diese Aspekte waren bereits im entwicklungspolitischen Konzept des BMZ von 1991 enthalten, nach Kopenhagen hätte sie eigentlich noch eine Stärkung erfahren sollen, doch dies geschah nicht.

Die Politik muß auch dahingehend kritisch überprüft werden, welche negativen Impulse von ihr

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ausgehen, daß z.B. die sozialen Menschenrechte nicht in Anspruch genommen werden können. Hier ist eine qualitative Veränderung vonnöten.

Im Zusammenhang mit Strukturanpassungsmaßnahmen ist es nicht damit getan, die Berücksichtigung von sozialen Zielen zu postulieren. Bsp. wurde in Honduras ein Agrarmodernisierungsprogramm trotz der ausdrücklichen Warnung der GTZ durchgeführt, in dessen Zug 100.000 Familien vom Land vertrieben wurden. In solchen Fällen geht es um die Rechtsfrage des Zugangs zu produktiven Ressourcen.

Windfuhr nennt als dritten Punkt das sogenannte Empowerment, das für ihn nicht nur die Ausbildung der Menschen umfaßt, eine bestimmte Aufgabe eigenständig umzusetzen, sondern auch die Einforderung ihrer Rechte beinhaltet. Soziale Rechte bedeuten zunächst einmal Schutz vor Übergriffen des Staates, also keine Zwangsvertreibung, und weitergehende gesetzliche Absicherung, daß andere Gruppen wie Großgrundbesitzer die Menschen nicht vertreiben. In einem letzten Schritt müßten die Betroffenen in die Lage versetzt werden, selber für sich zu sorgen. Sicher würden trotz dieser Enabling-Maßnahmen immer noch nicht alle Menschen erreicht. Dies darf jedoch nicht dazu führen, daß sich die Debatte über Armutsbekämpfung zu sehr polarisiert: auf der einen Seite zur Betonung der reinen Selbsthilfekräfte, wobei versucht wird, den produktiven Zugang zu Ressourcen eher mikroökonomisch zu lösen, auf der anderen Seite die Verfolgung eines Assitenzialismuskonzepts mit Sozialprogrammen wie bsp. in Mexiko.

Eine Begrenzung der Armutsdiskussion auf die bloße Prozentzahl 20/20 würde der Vereinbarung nicht gerecht. „Es ist gerade diese Mischung, die gefunden werden müßte zwischen der Förderung des Zugangs zu produktiven Ressourcen und natürlich auch von Programmen, die die Menschen in die Lage versetzen, dies einzufordern, die ich auch im weiteren Sinn als Armutsbekämpfung verstehen würde."

Hier setzt ein qualitativer Wandel ein, der, wenn man das Programm von Kopenhagen ernst nimmt, politische wie ökonomische Partizipation berücksichtigt und die sozialen Menschenrechte und die besondere Betonung der Armutsbekämpfung zusammennimmt. Es ist nicht damit getan, die bisherigen Konzepte zu durchforsten, um zu sehen und zu streiten, ob man schon 14%, 15% oder 18% der 20/20 Vereinbarung erreicht hat.

Die Rahmenbedingungen, die den Spielraum der Länder im Süden abstecken, selber Armutsbekämpfung zu leisten, wollte Barbara Unmüßig, Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung (WEED), vorstellen. Dazu gehören auch die quantitative und die qualitative Seite der Umweltpolitik der BRD. Fünf Jahre nach Rio und drei nach Wien ist ein dramatischer Rückgang der Entwicklungshilfe zu verzeichnen. Nach den letzten Zahlen von UNICEF im Weltsozialbericht ist die internationale Entwicklungshilfe heute auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Ein Land wie Dänemark gibt pro Kopf ca. 278 $ aus, Deutschland gerade einmal 84 $ pro Kopf und die USA 38 $ pro Kopf, das ist weit unter dem 0,7%-Niveau. Zur selben Zeit wie der Kopenhagener Gipfel wurden Verhandlungen geführt, die IDA (das ist die Weltbanktochter, die gerade für die ärmsten Länder der Dritten Welt hochkonzessionäre Kredite zur Verfügung stellt) wieder aufzufüllen. Das Ergebnis war jedoch eine drastische Kürzung der Kredit-Möglichkeiten für die ärmsten Ländern und eine Rückführung in den Bundeshaushalt von einer Milliarde DM in den nächsten drei Jahren. Diese Summe umfaßt einen hohen Prozentsatz der gesamten FZ, denn Deutschland gibt pro Jahr 3-4 Milliarden dafür aus. Für den Einzelplan 23 des BMZ bedeutet dies in den nächsten drei Jahren immerhin 330 Millionen DM, die wieder frei zur Verfügung stehen. WEED hat sich intensiv dafür eingesetzt, daß diese Mittel dem BMZ erhalten bleiben, aber natürlich auch für Strukturmaßnahmen ausgegeben werden, wie z.B. den Schuldenerlaß, was auch eine entsprechende Forderung des Weltsozialgipfels war.

In der Diskussion zwischen dem BMZ und dem BMF, ob denn nun die wieder frei gewordene Milliarde im Bundeshaushalt verbleiben oder dem Etat des BMZ zugeführt werden sollte, reagierte das Entwicklungsministerium schnell

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und legte ein entsprechendes Programm zur Nutzung der aus den IDA-Verhandlungen übrig geblichenen Gelder vor.

Nach Ansicht von Frau Unmüßig erreicht das Konzept des für die nächsten drei Jahre mit einer Summe von exakt einer Milliarde veranschlagten Programms unter dem Titel „Zukunftssicherung durch Umweltschutz" die eigentliche Zielgruppe der IDA, die Ärmsten der Armen nicht. Der Entwurf dieser Zukunftssicherung und Umweltinitiative beschreibt die Förderung von Massenverkehrsmitteln, - in diesem Zusammenhang war häufig das Stichwort 'U-Bahnen' zu hören. Dies ist ein zynisches Beispiel für die Haltung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, da das zuständige Ministerium einerseits von Armutsbekämpfung spricht und gleichzeitig diese Prioritäten verrät, indem man mit Mitteln der Entwicklungshilfe deutsche Unternehmen subventioniert und so im Technologiebereich den Standort Deutschland sichert.

Ein solches Programm kommt in der Tat nur solchen Ländern zugute, die bereits weiterentwickelt sind und Kapazitäten für solche Technologien haben, sprich Großstädte, in denen die Bundesrepublik über die deutsche Entwicklungszusammenarbeit für Siemens einen entsprechenden U-Bahn-Bau finanzieren kann: „Von Armutsbekämpfung, Sicherung der Lebensgrundlagen für die Ärmsten der Armen ist nicht mehr viel übrig geblieben, weil Exportförderung und Sicherung der Arbeitsplätze in Deutschland für den Export deutscher Umwelttechnologie klar im Zentrum steht."

Entschuldung wäre ein lohnender Alternativ-Einsatz für die frei gewordenen IDA Mittel gewesen; hier setzt sich das BMZ gegenüber dem BMF und auch der Öffentlichkeit viel zu wenig dafür ein. Die Schulden der armen Länder bei den Industriestaaten belaufen sich auf 230 Milliarden $. Im Zeitraum von 1990 bis 1994 sind diesen Ländern lediglich 10,8 Milliarden $ erlassen worden, von der Bundesrepublik in dieser Zeit gerade einmal 1,78 Mrd. Das ist jedoch nur ein minimaler Anteil dessen, was diese Länder pro Jahr allein an Schuldendiensten leisten müssen, um alte Schulden über Zinsen und Tilgungen zu bedienen.

Besonders die Länder Afrikas sind bei IWF und Weltbank verschuldet. Daher ist es umso erfreulicher, daß die Weltbank mit einer Initiative zur Entschuldung einen Vorstoß unternommen hat, diesen Ländern wieder ökonomischen Spielraum für Entwicklung zu verschaffen. Zu den größten Bremsern gehört nun aber das BMF, einige kleine Schuldenumwandlungen in Form von debt-to-develpopment-swaps sind völlig unzureichend, um diesen Ländern finanzielle Erleichterung zu verschaffen.

Die aktuelle Situation in der Entwicklungszusammenarbeit verzeichnet einen quantitativen Rückgang des staatlichen Engagements und eine verstärkte Wiederhinwendung zu einer Arbeitsplatz- und Exportförderungspolitik. Durch fehlende Kohärenz und ungenutzte Möglichkeiten im Schuldenbereich, bei Umwelt- und Sozialstandards im Kontext von Direktinvestitionen und fehlenden Rahmenbedingungen für Armutsbekämpfung wird die Nord-Süd-Politik weitet marginalisiert.

Moderator Kurt Gerhardt, WDR, dämpfte zu Beginn der anschließenden offenen Diskussion die hohen Erwartungen an die Entwicklungspolitik mit dem Hinweis auf programmatische Überdehnung des politisch Durchsetzbaren. Ihn interessierte aber die konkrete Einbeziehung von 20/20 in bilaterale Verhandlungen.

Jentsch betonte, daß sich in Oslo die interessierten Länder und Gremien sowohl im Norden wie im Süden herauskristallisiert haben, die auch über bilaterale Verhandlungen hinaus in dieselbe Richtung gehen und initiativ werden.

Gerhardt kritisierte jedoch die zögernde Haltung des BMZ und zu starke Ausrichtung an internationalen Roundtables anstelle eines aktiven Vorstoßes von bundesdeutscher Seite. Jentsch verwies auf Beschlüsse gegen einen nationalen Alleingang und auf noch nicht ausreichendes statistisches Datenmaterial. Carola Donner-Reichle entgegnete mit einem Hinweis auf die niederländische Initiative, die bereits alle

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ihre Botschaften im Ausland über das 20/20 Vorhaben informiert und aktiv mit einbezieht.

Wie aus der Studie von Thomas Fues hervorgeht, fehlt es außerdem an gemeinsamen Indikatoren für eine Definition von 20/20.

Michael Windfuhr forderte die Beachtung der Menschenrechte bei Verhandlungen über die 20/20 Regelung mit interessierten Ländern und verwies auf ethnische 'Säuberungen' in Kenia im vergangenen Jahr. Barbara Unmüßig verwies erneut auf die Schuldendramatik, die am Beispiel Ugandas besonders deutlich wurde: 17 $ pro Kopf gehen allein für den Schuldendienst an IWF und Weltbank, gerade 3 $ pro Kopf bleiben im Haushalt für soziale Grunddienste übrig. Wenn sich an den Rahmenbedingungen nichts ändert, sind solche Länder finanziell gar nicht in der Lage, sich auf 20/20 einzulassen. Einen anderen Aspekt der Verschuldung sprach Christiane Overkamp mit der Verlagerung von Aufgaben an; genuine Staatsaufgaben können aufgrund der desolaten öffentlichen Haushaltslage der Länder des Südens nicht (mehr) erfüllt werden und werden unter dem Deckmantel der Selbsthilfe an die Zivilgesellschaft übergeben.

Im Gegenzug plädierte aber Werner Schuster, Mitglied des AWZ, für die Unterstützung der parlamentarischen Arbeit durch die deutschen NRO. Positiv sei auch zu vermerken, daß sich das BMZ der Expertise der Nichtregierungsorganisationen weiter öffnen will - wie der parlamentarische Staatssekretär in einem Treffen mit VENRO-Vorstandsmitgliedern betonte - und sie auch an Länderkonzepten beteiligen möchte. Trotz dieser Dialogbereitschaft von staatlicher Seite hält Schuster die beiden Einrichtungen GTZ und KfW jedoch nicht für die geeigneten Durchführungsinstrumente für eine Armutsbekämpfung im Sinne der 20/20-Vereinbarung.

Michael Nienhaus, GTZ, und Gero Jentsch betonten, daß das BMZ sich gerade in den vergangenen fünf Jahren verstärkt weg von der punktuellen projektbezogenen Arbeit hin zu einer programmatischeren Linie bewegt hat. Einigkeit besteht über hemmenden Auswirkungen der Verschuldung auf Armutsbekämpfung und soziale Entwicklung. Aus diesem Grund hat das BMZ einer Reihe von Ländern Schulden erlassen, den Least Developed Countries sogar vollständig. Nichtsdestoweniger sind die Strömungen und Meinungen im Bezug auf Entwicklungszusammenarbeit in Gesellschaft und Parlament sehr unterschiedlich. Dies spiegelt sich auch in der Politik des BMZ wider. Nebenbei ist der U-Bahnbau in Schanghai vom gesamten Parlament beschlossen worden und nicht allein von der Regierung. „Ideale werden nicht immer voll erreicht, aber wir haben unsere Ziele konsistent zueinander aufgebaut und verfahren entsprechend" erläuterte Dr. Jentsch abschließend.

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Forum 5
Globaler Wettbewerb - Das Ende der Sozialen Marktwirtschaft?


Das Deutsche NRO-Forum Weltsozialgipfel besteht aus einem Bündnis von Entwicklungsorganisationen und Sozialverbänden. Diese befassen sich mit der Globalisierung und ihren Effekten auf Entwicklungs- und auf Industrieländer und versuchen, gemeinsame Bezüge herauszuarbeiten. Kann Wirtschaft soziale und auch ökologische Ziele miteinander verbinden und daraus Gewinne erzielen? In Commitment 3 hatten sich die Teilnehmer von Kopenhagen verpflichtet: „das Ziel der Vollbeschäftigung als grundlegende Priorität unserer Wirtschafts- und Sozialpolitik zu fördern."

Vor diesem Hintergrund waren je ein Mitglied der Regierungskoalition und der Opposition sowie ein Arbeitgeber- und ein Arbeitnehmervertreter in der letzten Runde des Hearings zusammengekommen, um über ihre Sicht der sozialen Marktwirtschaft im Rahmen einer immer stärker zunehmenden Globalisierung zu sprechen.

„Wer sich der Thematik im Detail widmet, der kann nicht zu dem Ergebnis kommen, daß das mit dem Stichwort Globalisierung verbundene Angstsyndrom objektiven Tatbeständen standhält." Nach Ansicht von Rudolf Dressler, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Fraktion und deren sozialpolitischer Sprecher, ist es nicht korrekt, die Arbeitslosigkeit in Europa oder in Deutschland auf die Globalisierung zurückzuführen oder für Deutschland von einer Standortschwäche zu reden. Die ökonomischen Fakten besagen das genaue Gegenteil, nur läßt die aktuelle Politik die darin liegenden Chancen - auch in der Entwicklungspolitik - ungenutzt.

Es existiert natürlich kein Gesetz, das Unternehmen daran hindert, ihre Produktion aus marktpolitischen oder aus Kostengründen in ein anderes Land zu verlegen. Die Konsumenten in den entsprechenden Ländern werden aber durch ihre Einkünfte, die sie bei deutschen Firmen erzielen, auch in die Lage versetzt, deutsche Produkte zu kaufen. Wenn deutsche Unternehmen im Zuge der Globalisierung von einer deutschen Region in eine andere wechseln, entstehen hier im Lande strukturelle Probleme, die in der Debatte um Globalisierung oft außen vor gelassen werden.

Gut zweieinhalb Millionen Arbeitnehmer sind in deutschen Firmen im Ausland tätig, doch bestätigte das Hamburger HWWA-Institut, daß diese Beschäftigung für die deutsche Wirtschaft nicht schädlich ist, ergänzte Moderator Dr. Rudi Mews vom Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB).

Mit der Globalisierung wurde ein Prozeß eingeläutet, der in der nächsten Generation 1,2 Milliarden Arbeiter in der dritten Welt in den weltweiten Produkt- und Arbeitsmarkt einführt. Mehr als eine Milliarde dieser Arbeitnehmer verdient weniger als drei Dollar am Tag, während 250 Millionen Arbeitnehmer in den USA und der EU 85 Dollar pro Tag verdienen, so Dr. Irmgard Schwaetzer, MdB der FPD, ehemalige Bauministerin und ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt sowie AWZ-Mitglied.

Globalisierung bedeutet in erster Linie Freizügigkeit für Kapital, aber auch für Dienstleistungen und Waren, nicht jedoch für Menschen. Die Standortdebatte muß dies berücksichtigen, es geht dabei um Standortbedingungen, die längs nicht mehr nur von Deutschland bestimmt werden. Um einen Sozialstaat und eine Demokratie zu erhalten, reicht es nicht, sich im System weit offener Märkte wirtschaftlich optimal zu verhalten. Ohne ein Auffangen der Globalisierung in einen Rahmen von Regeln würden höchstwahrscheinlich weiter Arbeitsplätze in preiswertere Produktionen verlegt.

„Wenn diese Entwicklung ohne Gestaltung einer Weltordnungspolitik vonstatten ginge, wären die Konsequenzen für unseren Sozialstaat und auch für unsere Demokratie unabsehbar."

Unter diesen Bedingungen muß der Sozialvertrag neu formuliert werden. Weltweit erforderlich sind daher Regeln, die nicht nur die Handelsmöglichkeiten gestalten, sondern auch Sozial- und Umweltdumping verhindern. Globalisierung kann so gestaltet werden, daß sie nicht

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das Ende der sozialen Marktwirtschaft bedeutet.

Den Arbeitgebern wird in dieser Situation vorgeworfen, sie mißbrauchten die derzeitige Lage, um nicht nur die Löhne zu drücken, sondern auch die sozialen Leistungen, so Rudi Mews gegenüber Jürgen Husmann, Mitglied im Hauptvorstand der Bundesdeutschen Arbeitgeberverbände, Vorstandsvorsitzender der Selbstverwaltung des Verbands deutscher Rentenversicherungsträger (VDR).

Dieser stimmt nicht mit Rudolf Dressler überein und diagnostiziert angesichts der aufgrund hoher Personalkosten und Steuern ausbleibenden Investoren für die Bundesrepublik sehr wohl eine Standortschwäche.

„Die Standortschwäche ist nun mal eine zentrale Schwäche in der BRD, Standortschwäche führt zu Investitionschwäche und damit zum Problem für die Beschäftigung. Die Beschäftigungsbasis wird kleiner werden, damit die Einkommensbasis, es wird immer weniger zu verteilen geben."

Muß sich vor diesem Hintergrund eine Volkswirtschaft eine Sozialquote von 33% des Bruttoinlandsprodukts leisten oder genügte nicht auch eine Sozialquote von unter 30%, wie sie bis Mitte der 70er Jahre bestand? Denn der internationale Wettbewerb schließt heute auch die Sozialsysteme mit ein. Weltweit stellen sich die gleichen Fragen, kann eine soziale Absicherung allein über Zwangsabgaben erhalten werden oder wären Mischformen mit einer Ergänzung durch die in den letzten Jahrzehnten immer wohlhabender gewordenen Bürgern sinnvoller?

Zwischen 1980 und 1995 sind die Bruttoeinkommen pro Kopf um 23.000 DM auf über 60.000 DM gestiegen, von diesem Personalkostenanstieg für die Unternehmen ist netto real fast nichts übriggeblieben. Damit die Transfereinkommen und Abgabenbelastung nicht weiter steigen, müssen Steuern und Sozialabgaben gemindert werden, diese Spiralbewegung läßt sich nur mit schmerzhaften Eingriffen aufhalten, z.Zt. erleben wir die Anfänge. Und hierbei geht es nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition, die Notwendigkeit zu Einsparungen wird parteiübergreifend gesehen.

Zum Stichwort Selbstverwaltung, die in der Bundesrepublik zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaftsvertretern als bewährt gilt. Sie ist gewissermaßen eine 'Schönwetter-Veranstaltung', die funktionierte, als/weil es etwas zu verteilen gab. Jetzt sind Einsparungen vonnöten, der DGB war jedoch nicht in der Lage, konkrete Vorschläge zu machen.

Horst Schmitthenner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied für die Bereiche Sozialpolitik, Arbeitsrecht sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz der IG-Metall, der größten Einzelgewerkschaft in Deutschland und in der Welt, sieht die Einfallslosigkeit eher auf Seiten der Arbeitgeber mit der Parole „den Gürtel enger schnallen", der Senkung der Sozialversicherungsleistungen zur Entlastung der Kapitalseite in der vagen Hoffnung auf arbeitsplatzschaffende Investitionen.

„Seit 1982 haben wir in der BRD diese angebotsorientierte Politik, seit 1982 schneiden wir in die sozialen Sicherungsnetze ein, seit 1982 haben wir Druck auf die Löhne, ... und das Ergebnis ist eben nicht eine blühende Volkswirtschaft, sondern über vier Millionen Arbeitslose, sieben Millionen fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten, fünf Millionen Menschen, die ganz oder teilweise auf Sozialhilfe angewiesen sind."

Diesen Kurs wollen die Arbeitgeber weiterverfolgen, damit werden sie jedoch die bisher herrschende Arbeitslosigkeit und Armut nur weiter verstärken. Zudem ist es nicht redlich - auch dies an die Adresse von Jürgen Husmann - den Stand der Sozialleistungen der 70er Jahre zurückzufordern. Zum einen ist der Lohnkostenanteil als Gesamtzahl mit 30% noch genauso hoch wie vor zehn Jahren, er ist konstant geblieben, weil die Unternehmen soviele Arbeitskräfte freigesetzt haben. Zum anderen müssen sie in einem objektiven Vergleich den westlichen Teil der heutigen Bundesrepublik berücksichtigen. Die Sozialleistungsquote von 1977 lag bei über 33%, heute steht sie bei 29,2%, d.h. sie ist definitiv gesunken. Wenn man aber die Quote in den ostdeutschen Ländern hinzurechnet, die bei etwa 64% liegt, verschiebt sich

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natürlich der Schnitt. Es dürfte jedoch Einigkeit darüber bestehen, daß es sich hierbei um die besonderen Bedingungen der Transformation und der Wiedervereinigung handelt.

Die Globalisierungsdiskussion ist mittlerweile zum Mythos geworden, „mit der Globalisierung werden uns Sachzwänge eingeredet, denen wir uns wirtschaftlich zu beugen haben, der Standort Deutschland muß eben fit gemacht werden." Seine Funktion besteht darin, die gesamt Bevölkerung darauf einzustimmen, weiteren Einschnitten in soziale Sicherungssysteme keinen Widerstand entgegenzusetzen. Dabei ist die Globalisierung mit ihren Sachzwängen ein hausgemachtes ökonomisch-politisches Projekt. Der Sachzwang Weltmarkt ist danach ein Resultat von Politik, der Politik seiner zentralen Akteure, der internationalen Banken und transnationalen Konzerne, die vor den Restriktionen der nationalen Regulierungssysteme fliehen. Ebenso Resultat einer Politik der beispiellosen Deregulierung der internationalen Handels- und Finanzbeziehungen unter Ausnutzung der unterschiedlichen Sozialstandards.

Wo aber die Politik die Weichen stellt, sind auch Alternativen möglich. In der Diskussion um den allgemeinen Gestaltungsverlust nationalstaatlicher Politik geht unter, daß den Nationalstaaten eine äußerst wichtige Scharnierfunktion zwischen Weltmarktzwängen und sozialer Binnenentwicklung zukommt. Es gibt nach innen und außen durchaus Spielräume für eine soziale Finanz- und Fiskalpolitik: durch eine ökonomisch produktive Einkommensumverteilung, über regionale Branchen- und Strukturpolitik oder die Bestimmung der Zugangskriterien zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.

Frau Schwaetzer hält es nicht für möglich, mit nationalen Entscheidungen die Folgen der Globalisierung in den Griff zu bekommen, die deutschen Gewerkschaften scheinen in dieser Hinsicht noch einige Denkblockaden zu haben.

Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen, daß die weitverbreitete Vorstellung, die Industriestaaten des Nordens seien durch den Konkurrenzdruck des Südens gezwungen, ihre Produktivität zu steigern und gleichzeitig die Kosten zu senken, so pauschal nicht stimmt, entgegnete Rudolf Dressler. 1992 hat die jetzige Bundesregierung bewiesen, daß man durch ABM, Umschulungen und Fort- und Weiterbildung Arbeit finanzieren kann, indem sie 2,8 Millionen Menschen beschäftigte. Heute werden stattdessen 1,8 Millionen Arbeitslose finanziert.

„Das wir zwischen unseren Parteien sicherlich eine unterschiedliche Einschätzung dessen haben, was wir für akzeptabel halten an Gestaltung von Sozialstaat, das ist überhaupt keine Frage", so Frau Schwaetzer. Es müssen Voraussetzungen für Arbeit geschaffen werden, z.T. über Steuermittel, aber im Prinzip über den Arbeitsmarkt, d.h. über eine stärkere Lohnspreizung, und ein Bürgergeld, das die Einkommenslücke auffüllt, wie sie in vergleichbarer Situation in den USA entstanden ist.

Genau diese Politik hat aber seit 1982 nicht weniger, sondern mehr Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung verursacht, warf Horst Schmitthenner Frau Schwaetzer vor. Globalisierung kann doch nicht der Grund dafür sein, daß in Deutschland 143 Milliarden DM im Jahr, die die Arbeitslosigkeit kostet, nicht sinnvoll zur Finanzierung von Beschäftigung umgewandelt werden können.

Argumente gegen den Standort Deutschland sind die hohen Lohnkosten. Aber über 60% des Welthandelsvolumens werden in der Triade Europa, USA und asiatischer Raum betrieben. Dabei handelt es sich um Staaten mit sozialstaatlichen Regeln. Denn in diesen Ländern herrschen auch stabile Verhältnisse und eben eine entsprechende Kaufkraft.

In dieser erwartungsgemäß eher innenpolitisch als international geprägten Diskussion verwies Husmann auf Investitionsentscheidungen bsp. von Daimler-Benz, ein neues Werk im Elsaß zu eröffnen; natürlich stehen diese und ähnliche Entscheidungen im Zusammenhang mit der Standortfrage. Es gibt keine monokausalen Erklärungen, aber die bisherigen Vorteile der Bundesrepublik bröckeln ab, auch andere Länder haben heute eine hohe Qualität der Produkte. Dienstleistungen werden in großem Ausmaß importiert, nun muß wenigstens in den Groß-

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unternehmen die industrielle Fertigungsbasis erhalten bleiben, weil sich daraus in Forschung, Entwicklung und Zulieferung Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben.

Die Pflegeversicherung wird, besonders unter den aktuellen demographischen Entwicklungen, die Belastungen bei Steuern und Abgaben weiter erhöhen. Als Ausweichventil bietet sich den Unternehmern verstärkt die Auslandsinvestition, über die heute bereits Mittelständler nachdenken. Der Grundfehler der deutschen Sozialpolitik liegt nach Jürgen Husmann in den Ausgaben, die am Bedarf vorbeigehen. Z.B. kommt der Einkommensmillionär trotz seiner finanziellen Möglichkeiten in den Genuß der Pflegeversicherung; hier besteht Erneuerungsbedarf

Die Vertreterin der EKD, Frau Hanfstengl, wies in der anschließenden Plenumsdiskussion darauf hin, daß Investitionen weniger als erhofft in den produktiven Sektor gehen denn in Wertpapiere und Versicherungen. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint die Abschaffung der Vermögenssteuer sozial unverträglich.

Bei der Vermögenssteuer frißt die Verwaltung inzwischen die Gewinne, d.h. die Einnahmen auf. Eine Neugestaltung der Erbschaftssteuer könnte die Verluste möglicherweise ausgleichen, entgegnete Frau Schwaetzer.

Im Gegensatz zur Finanzierung der Wiedervereinigung hat Ludwig Erhard die Kriegsfolgekosten durch Lastenausgleich finanziert, und zwar aus Vermögen und nicht über einen Solidarbeitrag, ergänzte Rudi Mews. Das Problem der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen sieht auch Horst Schmitthenner. Wenn man die Rentenversicherung von ihren nicht originären Leistungen befreite, läge der Versicherungsbeitrag bei 17%. In den anderen Sozialversicherungssystemen erbrächte dies eine Beitragssenkung von 6-7 Prozentpunkten. Über 30 Milliarden DM könnten steuerfinanziert werden. Die Absenkung der Bundeszuschüsse in die sozialen Sicherungssysteme in den letzten 15 Jahren allerdings verschärft den Druck weiter. Der Anteil des Bundes an der Sozialquote lag in der Vergangenheit einmal bei 40%, heute steht er bei 32%. Darüber hinaus besteht schlichtweg ein Aufkommensproblem.

Die Tobin-Steuer, über die am Morgen gesprochen wurde, könnte auch hier ein neues Mittel zur Finanzierung sein, denn es gibt inzwischen Betriebe, die über solche Finanzergebnisse mehr Gewinne erzielen als über ihre Produktion.

Zur scheinbar naheliegenden Befreiung der Rentenversicherung von fremden Leistungen wies Jürgen Husmann daraufhin, daß stattdessen eine höhere Besteuerung notwendig wäre, d.h. hier fände lediglich eine Umschichtung statt, die Gesamtabgabenquote bliebe gleich.

Staatliche Hoheitsaufgaben können doch nicht von Sozialversicherungssystemen getragen werden, entgegnete Rudolf Dressler Frau Schwaetzer; nur dadurch stehen die Systeme kurz vor dem Scheitern.

„Sie bezahlen nichts, ich bezahle nichts, wir zahlen keine Abgaben in die Sozialversicherungssysteme, Sie zahlen keine Renten- und Arbeitslosenversicherung, d.h. Sie sind an der Finanzierung dieses Teils nicht beteiligt, und wir beide gehören zu einer Erwerbstätigengruppe von 20% der Bevölkerung, wir gucken zu, wie die Arbeiter, die Angestellten und die Unternehmen das finanzieren."


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