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[Seite der Druckausg.: 55]



Dr. Przemyslaw Deszcynski

Universität Posen, Polen

Die Ost-West- und Nord-Süd-Beziehungen und ihre gegenseitige Bedingtheit

Die internationalen Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg wurden prinzipiell durch zweierlei Konflikte bestimmt: durch den Ost-West- und den Nord-Süd-Konflikt. Die Entstehung der Konflikte beruht zwar auf anderen Voraussetzungen, aber diese Konflikte waren miteinander verflochten und bedingten einander sogar. Die Sowjetunion und zusammen mit ihr auch die übrigen kommunistischen Staaten werteten den Verfall des Kolonialsystems und die Durchsetzung der politischen Unabhängigkeit beinahe aller Kolonialgebiete als eine bedeutende Schwächung des kapitalistischen Systems. Aus diesen Gründen wurde die Solidarität mit den um ihre soziale und nationale Befreiung kämpfenden Völkern, wie auch die Zusammenarbeit mit den neu-befreiten Ländern zu einem der Grundprinzipien der Außenpolitik der Ostblockstaaten. Die kommunistischen Länder erwiesen also den nationalen Befreiungsbewegungen politische und auch materielle Unterstützung, im Falle der Sowjetunion hauptsächlich in Form von Militärausrüstung.

Die Vereinigten Staaten dagegen betrachteten (unter den Bedingungen eines scharfen Konflikts mit der UdSSR) die nationalen Befreiungskämpfe nicht so sehr als eine Fortsetzung des Dekolonisationsprozesses der Nachkriegszeit, sondern eher als eine Ausdehnung des Kalten Krieges auf die Entwicklungsländer. In Washington wurde man in der Regel erst auf die Endphase der politischen Wandlungen im jeweiligen Entwicklungsland aufmerksam, wenn sie vom Standpunkt der globalen Interessen der USA ungünstig waren (z.B. Chile, Nicaragua). Weniger Aufmerksamkeit widmete man den inneren (sub-

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jektiven und objektiven) Faktoren, und der Entstehung des Kampfes.

Die Entwicklungsländer wurden also zum Gebiet der oft rücksichtslosen Konfrontation zweier Supermächte. Diese Konfrontation begann immer gefährlichere Formen anzunehmen, als sich die Breschnew-Doktrin auf die kommunistischen Staaten und auch auf die Staaten mit sozialistischer Orientierung erstreckte, die nicht zum Warschauer Pakt oder zum Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe gehörten. Das spektakulärste Beispiel dafür war die Militär-Intervention der UdSSR in Afghanistan im Jahre 1978.

Die Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität kommunistischer Staaten, die ihre Quelle in der Konzeption des sozialistischen Internationalismus hat, wurde auf dem 5. Parteitag der PVAP im November 1968 formuliert. Nach Breschnew war eine Militärintervention gerechtfertigt, wenn der Kommunismus in einem Land durch unmittelbare Aktivitäten der inneren und äußeren Feinde bedroht war, weil das eine Gefahr für das kommunistische Lager darstellte.

Kern der Breschnew-Doktrin war die These, daß das Wohl des Kommunismus eine unerschütterliche Einheit der kommunistischen Staaten erfordert. Eine Verletzung dieser Einheit in irgendeinem Staat der kommunistischen Gemeinschaft berechtigte nach Breschnew die übrigen Staaten dazu, Unterstützung in Form der sog. "brüderlichen Hilfe" zu leisten, unabhängig davon, ob etwa die Verfassungsorgane dieses Staates gegen die "Unterstützung" protestierten. Die Ausbreitung dieser Doktrin über die Staaten des Warschauer Vertrages und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe hinaus bedeutete in der Praxis einen Revolutions-Export in die Entwicklungsländer: Man konnte der Avantgarde der Arbeiterklasse "brüderliche Hilfe" zuteil werden lassen, wenn sie die Führung im Staat nicht auf dem parlamentarischen Weg übernehmen wollte.

Die kommunistischen Staaten mit der UdSSR an der Spitze unterstützten die Bestrebungen der Entwicklungsländer, die internationale Wirtschaftsordnung zu ändern, sie fühlten sich aber nicht verpflichtet, bedeutende wirtschaftliche Hilfe zu leisten (mit Ausnahme von Staaten,

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die dem kommunistischen System eng verbunden waren, z.B. Kuba, Vietnam oder auch Ägypten zur Regierungszeit von Nasser). Die UdSSR war der Meinung, daß diese Art Hilfe vor allem die Staaten mit kolonialer Vergangenheit leisten sollten, auch diejenigen, die aus der neokolonialen Ausbeutung der Entwicklungsländer Nutzen zogen, also die entwickelten kapitalistischen Staaten. Den Politikern im Westen mangelte es aber an Bewußtsein für die Probleme der Entwicklungsländer. Heroische Versuche von Erhard Eppler in der BRD, diesen Zustand zu verändern, brachten, wie bekannt, nur teilweise Ergebnisse.

Heute, nahe der Wende des Jahres 1991 zum Jahr 1992, befinden wir uns in einer völlig neuen internationalen Lage. Das System der internationalen Beziehungen, in dem der Ost-West-Konflikt die Schlüsselrolle gespielt hat, ist Geschichte, und es gibt keinen Grund mehr für seine Wiederbelebung in früherer Gestalt. Das ist ein großer Erfolg der internationalen Gemeinschaft, den wir hunderttausenden Menschen aus vielen Ländern verdanken, die hartnäckig Freiheit und die gleichen Rechte für jeden anstrebten. Eine entscheidende Bedeutung für die Auflösung dieses Konflikts hatten jedoch drei Faktoren: Die Politik der Perestrojka und der Glasnost von M. Gorbatschow, die Tätigkeit der Gewerkschaft "Solidarnosc" und die Ostpolitik der SPD.

Bereits 1963 formulierte Egon Bahr die These: "Wenn die Vereinigung Deutschlands bei den jetzigen Bedingungen nicht erreicht werden kann, soll man durch die erweiterten zwischenmenschlichen Kontakte zur Aufrechterhaltung der nationalen Einheit streben, und zwecks der Verwirklichung dieses Ziels die existierenden Grenzen anerkennen, um sie durchlässig zu machen, und anschließend die Aufhebung der Konfrontationslinie, die Europa und die zwei deutschen Staaten teilt, anstreben." Willy Brandt stellte sich positiv zu dieser Theorie der friedlichen Koexistenz, und sie fand ihren Niederschlag in der neuen Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel. Die Ostverträge ermöglichten die Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte in Helsinki, in der sich, wie bekannt, die Signatarstaaten im sog. III. Korb verpflichteten, die Menschen- und Bürgerrechte einzuhalten. Es wurde also ein wesentlicher Schritt in

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Richtung einer Erosion des kommunistischen Systems gemacht: Die bisherige Maschine der Angst und des Zwangs hörte auf, erfolgreich zu funktionieren.

Heute braucht man eine neue Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, diesmal nicht für Europa, sondern für die ganze Welt. Diese Konferenz würde auf eine komplexe Art und Weise u.a. das Problem der Verschuldung regeln, die Tilgungsbedingungen, die Ecokonversion, die Handelspräferenzen usw. Vor allem aber würde sie uns von dem bisherigen Schema der Entwicklungspolitik befreien, in der die Geber/Donatoren vortäuschen, daß sie selbstlos schenken, und die Empfänger/Benefizienten vortäuschen, daß diese Hilfe der Entwicklung ihrer Länder dienen wird.

Die Signatare dieser Konferenz sollten sich u.a. auf folgende Leistungen festlegen:

  • Die reichsten, aber auch die weniger wohlhabenden Staaten verpflichten sich, Gelder gemäß den erworbenen Einkommen pro Kopf (eine kleinere Kennziffer für die nächsten 5-10 Jahre und eine größere in der ferneren Zukunft) zu transferieren und ein internationales Kuratorium zu bilden, das z.B. im Rahmen der Weltbank oder auch des Internationalen Währungsfonds diesen neu entstandenen Fonds verwalten würde;
  • Die Staaten, die diesen Fonds benutzen, sollten ihre Ausgaben für Militärzwecke reduzieren oder sie streichen, die Bürger- und Menschenrechte einhalten, insbesondere das Recht auf ein freies Spiel der politischen Kräfte, auf funktionierende Gewerkschaften und die Gleichberechtigung der Frauen.

Die zwei oben genannten Postulate sind einzig und allein Anhaltspunkte, die die Intentionen und die Richtung der Verhandlungspartner betreffen. Konkrete institutionelle Schritte zur Vorbereitung dieser Konferenz sollten möglichst schnell vorgenommen werden. Es ist nicht viel Zeit übrig geblieben. Die massive Armutswanderung von Süden nach Norden kann jeden Tag beginnen.

Den Sozialdemokraten wurde der Verrat von Klasseninteressen (dieser Meinung waren die Linken) oder der Verrat von Nationalinteressen

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(dieser Meinung waren die Rechten) vorgeworfen. In den letzten Jahren wirft man ihnen vor allem Idealismus vor. Für einen Menschen mit kleinem Vorstellungsvermögen, der ausgehend von den Perspektiven des heutigen Tages spricht, können die Ansichten eines Menschen mit großem Vorstellungsvermögen, der in die Zukunft schauen kann, tatsächlich zu idealistisch erscheinen. Die Geschichte zeigt aber klar, wer Recht hatte. Ich möchte gern, daß die SPD einen gleich großen Beitrag für die Lösung des Nord-Süd-Konflikts leistet. Es ist wirklich nicht viel Zeit übrig geblieben.

[Seite der Druckausg.: 60 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2002

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