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Achim Wachendorfer
Opfer sind vor allem die Frauen -Zur Entwicklung der Textil- und Bekleidungsindustrie in Brasilien


Die Rolle der Textil- und Bekleidungsindustrie ist im brasilianischen Industrialisierungsprozeß historisch von großer Bedeutung. Allerdings war die Textilindustrie im Laufe ihrer Entwicklung starken Schwankungen unterworfen, wobei sich dynamische mit stagnativen Phasen abwechselten. Der letzte dynamische Zyklus für die Textil- und Bekleidungsindustrie datiert zu Beginn der 70er Jahre: Ihre Expansion basiert auf einer starken Erweiterung des internen Marktes und eines Wachstums der Exporte. In dieser Periode wurden bedeutende Investitionen vorgenommen, verbunden mit einer Modernisierung des Maschinenparks und der Auslastung der installierten Kapazität. Insgesamt jedoch verlor die Textil- und Bekleidungsindustrie an Bedeutung, wenn auch ab und an kurzfristig Erholungstendenzen beobachtet werden konnten. Doch reichten schließlich die Investitionen bei weitem nicht, um eine internationale Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Branche zu garantieren. Letztlich blieb es nur einigen Großunternehmen vorbehalten, technologisch und arbeitsorganisatorisch zu modernisieren. Folge davon war, daß sich in der Textil- und Bekleidungsindustrie eine starke Heterogenität der Unternehmensstrukturen herauskristallisierte. Auch eine seit 1984 einsetzende, vorübergehende Erholung der Branche, in deren Folge führende Unternehmen sich stärker auf den Export konzentrierten, änderte nichts an dieser Grundlage.

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Textil- und Bekleidungsindustrie heute

In der Textilindustrie bestehen heute 450.000 Arbeitsplätze in ungefähr 6.000 Betrieben, wobei nur 14 Prozent als mittlere bzw. größere Unternehmen anzusehen sind. Die meisten Betriebe sind Klein- und Kleinstunternehmen. Gut 10 Prozent der Textilindustrie werden von ausländischem Kapital kontrolliert. Die hohen Konzentrationstendenzen in dieser Branche drücken sich darin aus, daß die Großbetriebe nur 10 Prozent der Arbeitskräfte beschäftigen, aber 84 Prozent des Branchenumsatzes erzielen. Regionaler Schwerpunkt ist die südöstliche Region, in der sich 73 Prozent der Betriebe konzentrieren, wovon sich allein die Hälfte im Industriezentrum Sao Paulo befindet.

Die Bekleidungsindustrie (incl. Schuhproduktion und Textilzubehör) umfaßt 35.000 Unternehmen, in denen 650.000 Beschäftigte tätig sind. Nach dem Bauwesen ist die Bekleidungsindustrie damit der zweitgrößte Sektor Brasiliens. Gut 95 Prozent der Betriebe sind Klein- und Kleinstunternehmen, wobei sich auch hier die Mehrheit der Betriebe in Sao Paulo konzentriert.

Brasiliens Anteil am Weltmarkt für Textilien liegt bei etwa einem Prozent und in der Konfektion mit steigender Tendenz bei 0,3 Prozent. Problematisch bleibt jedoch, daß weite Teile der traditionellen Industrien (Nahrungsmittel, Textilien, Bauwesen) und der Handel von dieser Dynamik kaum erfaßt und weiterhin von der traditionellen, wenig repräsentativen Gewerkschaftsstruktur kontrolliert werden.

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Marginale Rolle von Gewerkschaften in der Textil- und Bekleidungsindustrie

Die 273 Gewerkschaften der Textil- und Bekleidungsindustrie, ein Industriebereich mit nur geringer gewerkschaftlicher Organisierung, sind kaum in der CUT (Central Unica dos Trabalhadores) oder in den weniger relevanten Konkurrenzverbänden "Forca Sindical" bzw. CGT (Confederaçao General Do Trabalho) integriert. Nur 54 Gewerkschaften sind der CUT angeschlossen, weitere zwölf werden in Kürze ihren Eintritt vollziehen. Zum weitaus größten Teil befinden sich die Organisationen der Textil- und Bekleidungsindustrie jedoch weiterhin in den Händen der "Pelegos" (volkstümliche Bezeichnung für korporative Gewerkschaftsfunktionäre), den Relikten einer Gewerkschaftstradition, die ihre Position infolge der staatlichen Zwangssteuer, die in Höhe eines Tageslohnes allen Arbeitnehmern jährlich zwangsweise abgezogen wurde, halten konnten.

Verantwortlich sind dafür mehrere Faktoren: So erschwert die Struktur der Textil- und Bekleidungsindustrie, Klein- und Kleinstbetrieben mit überwiegend unqualifizierten Arbeitskräften, die Bildung starker gewerkschaftlicher Vertretungen. Diese Betriebe beschäftigen vornehmlich Frauen, wobei diese ohnehin in der brasilianischen Gesellschaft diskriminiert werden. Die "Pelegos" haben ihrerseits keinerlei Interesse, die gewerkschaftliche Organisierung auszuweiten. Dies verbindet sich mit einem geringen Interesse der großen und gut organisierten, autonomen Gewerkschaften, sich aktiv in der Textil- und Bekleidungsindustrie zu engagieren.

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Frauen- und Gewerkschaftsstrukturen in der Textil- und Bekleidungsindustrie

Obwohl Frauen in der Textil- und Bekleidungsindustrie die Mehrheit stellen, werden die Gewerkschaftsstrukturen nahezu ausschließlich von Männern dominiert, die sich im allgemeinen wenig um die Probleme ihrer weiblichen Mitglieder kümmern. So wurde die Näherinnengewerkschaft von Sao Paulo und Osasco, die dem der Wirtschaft nahestehenden "Forca Sindical" angeschlossen ist, 49 Jahre von Männern geleitet, ehe 1989 eine Frau die Position gegen starken Widerstand übernehmen konnte. Die Problematik der Marginalisierung in den Gewerkschaftsstrukturen wiederholt sich jedoch auch bei den Gewerkschaften, die der CUT angeschlossen sind. In der Textil- und Bekleidungsgewerkschaft von Osasco, deren Mitglieder zu 80 Prozent von Frauen gestellt werden, stehen im Vorstand vier Frauen 23 Männern gegenüber. Die CUT-Gewerkschaften der Textil-, Bekleidungs-, Leder- und Schuhindustrie, deren Mitglieder ca. zwei Drittel Frauen sind, hatten sich 1989 im "Departamento Vestuário" (Abteilung für Bekleidungsindustrie) der CUT zusammengeschlossen. Doch auch hier finden sich zwischen den elf Vorstandsmitgliedern des "Departamento" nur zwei Frauen, die für die Bereiche Bildung und Frauen zuständig sind.

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Opfer sind vor allem Frauen

Das Vorherrschen von Kleinbetrieben, niedriger Qualifikation der Arbeitskräfte und geringer gewerkschaftlicher Präsenz tragen dazu bei, daß sich in der Textil- und Bekleidungsindustrie Ausbeutung und Diskriminierung vor allem gegenüber Frauen erhalten haben.

Vertreterinnen der CUT Textil- und Bekleidungsgewerkschaft in Osasco, einer Industriestadt in der Nähe von Sao Paulo, berichten über katastrophale Arbeitsbedingungen, unter denen vor allem Frauen, die 80 Prozent der Belegschaften stellen und fast alle in den unteren Lohngruppen arbeiten, leiden. So sind von den massiven Entlassungen, die das Ergebnis der schweren Rezession und des Umstrukturierungsprozesses der brasilianischen Wirtschaft sind, in der Textil- und Bekleidungsindustrie vor allem Frauen betroffen. In zahlreichen Unternehmen erhalten Frauen für gleiche Arbeit weniger Lohn als Männer. Von vielen Unternehmen werden die tarifvertraglichen Vereinbarungen nicht eingehalten. Besonders erbittert zeigen sich die Arbeiterinnen über die entwürdigenden Behandlungen und Praktiken, denen sie täglich ausgesetzt sind. In zahlreichen Betrieben ist der Toilettengang mit rigiden Kontrollen verbunden. Beim Verlassen des Werkes werden die Arbeiterinnen oft einer beschämenden Leibesvisitation unterworfen. Bei Einstellung müssen Frauen einen Urintest durchlaufen. Sexuelle Belästigungen durch Vorgesetzte sind an der Tagesordnung. Ein weibliches Vorstandsmitglied der Gewerkschaft protestierte gegen Leibesvisitation und wurde mit der Begründung der Aufhetzung und wegen ungebührlichen Verhaltens gegen Vorgesetzte fristlos entlassen. Solche Berichte sind keine Einzelfälle, sondern gängige Praxis in vielen Betrieben. Immer wieder wird von den Arbeiterinnen die Problematik der Schwangerschaft am Arbeitsplatz angesprochen: Auf Schwangere wird im Arbeitsprozeß keine Rücksicht genommen. Sie werden vielmehr gezwungen, während der Arbeit an Maschinen ihren "Bauch auf die Seite zu schieben". Ein Antrag auf Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz für die Zeit der Schwangerschaft wird in der Regel gegen die schwangere Frau beschieden.

Landesweites Aufsehen erregte 1989 ein Vorfall in der Bekleidungsfabrik De Millus, der fünftgrößten in Brasilien, in der vor allem Unterwäsche hergestellt wird. Die Mehrzahl der knapp 3.000 Beschäftigten waren Frauen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Sie wurden gezwungen, angeblich zur Verhinderung von Diebstählen, sich beim Verlassen des Betriebes einer entwürdigenden körperlichen Durchsuchung zu unterziehen. Es kam zu spontanen Streiks, in deren Folge 230 Arbeiterinnen entlassen wurden. Ein für brasilianische Verhältnisse sensationelles Gerichtsurteil erstritten 18 Frauen: Das Unternehmen wurde zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Das Gericht ging davon aus, daß die Menschenrechte nicht um den Preis der Gewinnmaximierung verletzt werden dürften.

Bereits 1978 war De Millus schon einmal ins Gerede gekommen, als das Unternehmen während der Militärdiktatur streikende Arbeiterinnen von der Polizei zusammenschlagen ließ. Auch nach Ende der Militärdiktatur lehnte das Unternehmen gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinnen ab.

Auf der untersten Stufe der Ausbeutung stehen ca. 100.000 Heimarbeiterinnen. Sie sind weder sozialversichert, profitieren von keiner betrieblichen Urlaubsregelung noch besteht für sie eine Altersversorgung. Ihre Selbständigkeit ist rein formell, da sie de facto von einem Unternehmen abhängig sind, das ihnen die Ware zuliefert und die fertigen Produkte abnimmt. Da sie jedoch keine arbeitsrechtlichen Beziehungen zum Unternehmen haben, können sie sich auch nicht gewerkschaftlich organisieren.

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Frauen begehren auf

Das gesteigerte Bewußtsein der gewerkschaftlich organisierten Frauen der Textil- und Bekleidungsbranche manifestierte sich auf einem ersten nationalen Treffen im Oktober 1990, an dem 80 weibliche Gewerkschaftsdelegierte aus CUT-Gewerkschaften ihre Situation diskutierten. Frauen der CUT-Gewerkschaft stellten zunehmend die Männerherrschaft in Frage. Die versammelten Frauen analysierten ihre Situation folgendermaßen:

"Die Frauen dieser Branche haben bislang nur eine geringe Beteiligung in der Gewerkschaftsbewegung, obwohl sie die Mehrheit in unseren Fabriken stellen. Die Fortschritte, die in einigen Gewerkschaften gemacht wurden, sind noch weit davon entfernt, den dringlichsten Problemen der Frauen zu entsprechen.

Einige Gewerkschaften erreichten bereits Fortschritte in den Tarifverhandlungen wie z.B.:

- Versetzung während der Schwangerschaft,

- täglich zwei Stunden zum Stillen,

- Kündigungsschutz nach Rückkehr aus dem 120-tägigen Mutterschaftsurlaub,

- Kindergartenzuschuß.

Es läßt sich feststellen, daß diese Errungenschaften direkt an die Mutterschaft gekoppelt sind und nicht die allgemeinen Probleme der Arbeiterinnen lösen wie:

- zu niedrige Löhne,

- fehlende Aus- und Weiterbildung,

- sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.

Die Angst, die Unterordnung unter Arbeitgeber, Ehemann und Kinder sowie der doppelte Arbeitstag für Frauen sind die hauptsächlichen Gründe, die ein größeres Engagement der Frau im Gewerkschaftskampf verhindern. Diese Bedingungen lassen sich in der Realität für alle Bereiche unserer Klasse verallgemeinern und die Probleme wie z.B. gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen und Lohndiskriminierung sind überall vergleichbar.

Spezifisch für Näherinnen und Stepperinnen ist die gesundheitliche Beeinträchtigung durch die sitzende achtstündige Beschäftigung.

Ausbeutung der Frau durch die Frau: Frauen in Führungspositionen sind genauso autoritär und "machistisch" wie männliche Chefs."

Anschließend befaßt sich der Text kritisch mit der gewerkschaftlichen Partizipation der Arbeiterinnen. In diesem Zusammenhang wird auf familiäre Belastung und gesellschaftliche Diskriminierung, auch von Kollegen aus den eigenen Betrieben verwiesen, die für die geringe gewerkschaftliche Beteiligung von Frauen verantwortlich sind. Kommt es jedoch zu einem Streik, sind gerade die Frauen äußerst aktiv und wenig kompromißbereit. Zudem würden sich Gewerkschaften als traditionell männliche Domäne an männlichen Erwartungen und Verhaltensweisen orientieren. Traditionelle Männerpositionen würden auch von daher eine verstärkte gewerkschaftliche Organisierung der Frauen blockieren, da sie als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt angesehen werden und dies im Gegensatz zu ihrer "natürlichen" Rolle als Mutter und Hausfrau steht. Trotz der schwierigen Umstände sind Frauen optimistisch und kämpferisch:

"Aber einige Sachen änderten sich - um besser zu werden. Die Kraft und die Organisation der Frauen. Die Frauenbewegung. Der Feminismus. Ein Schrei, den die ganze Welt hören müßte: Wir rebellieren. Wir haben Stimme, Körper, Bereitschaft. Und wir gehören uns selbst.

Der Arbeiterinnen-Feminismus hat die Situation der Arbeiterinnen auf die Tagesordnung gesetzt. Er warf die Frage der Lohndiskriminierung und des doppelten Arbeitstages auf, begann die Organisation der Arbeiterinnen, erforschte ihr Universum, ihre Wünsche und Frustrationen."

Forderungen, die das erste nationale Frauentreffen der CUT-Gewerkschaften in der Textil- und Bekleidungsindustrie an ihre Gewerkschaften stellten, sind zum Beispiel:

- Schaffung von Frauenkommissionen in allen CUT-Gewerkschaften,

- Aufklärungsseminare mit den Vorständen der CUT-Mitgliedsgewerkschaften, um auf die Diskriminierung der Frau aufmerksam zu machen,

- Organisation von Frauengesundheitsaktivitäten.

Als prioritär für den Kampf um Frauenrechte im Unternehmen wurden u.a. folgende Forderungen verabschiedet:

- Kindergärten, die vom Betrieb zu finanzieren sind,

- gleicher Lohn für gleiche Arbeit,

- vom Betrieb finanzierte externe Weiterbildung,

- Abschaffung der Kontrollen beim Toilletengang,

- Vorsorgeuntersuchungen,

- 30tägiger Vaterschaftsurlaub,

- zwei Stunden zum Stillen täglich,

- Verbot der Schwangerschaftsuntersuchungen durch den Betrieb.

Gegenüber den Gewerkschaften wird gefordert:

- Tarifliche Regelungen bezüglich Kindergärten,

- gleicher Lohn für gleiche Arbeit,

- Rahmenbedingungen, die es den Frauen ermöglichen, an Gewerkschaftssitzungen teilzunehmen,

- Einbeziehung von Frauenthemen in gewerkschaftliche Publikationen,

- Durchführung einer repräsentativen Befragung zur Situation der Arbeiterinnen.

Die Durchsetzung dieser Forderungen in einem eher frauenfeindlichen Umfeld wird nicht leicht sein. Jedoch ist Bewegung in die Gewerkschaften vor allem im Bereich der CUT gekommen. Auf ihrer nationalen Versammlung im Juli 1992 stand die Frage einer Frauenquote im Zentrum einer nahezu dreistündigen Diskussion, wobei unter anderem vom Präsidenten des Dachverbandes vehement die Einführung einer 30prozentigen Frauenquote in den Führungsinstanzen der CUT verteidigt wurde. Die nationale Versammlung legte fest, daß im kommenden Jahr über die Quote abgestimmt wird, wobei bei einer Probeabstimmung zwei Positionen, die sich für die Einführung einer Quote aussprachen, zusammen über die absolute Mehrheit verfügten. Würde dieser Beschluß sowie die Empfehlung an die Einzelgewerkschaften, Frauen gemäß ihres Anteils an der Mitgliedschaft in Führungsinstanzen zu beteiligen, im kommenden Jahr in die Praxis umgesetzt werden, so wäre dies ein wichtiger Schritt zur realen Integration der Frauen in die Gewerkschaftsbewegung der Textil- und Bekleidungsindustrie in Brasilien.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek | 12.1. 1998

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