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Der Fall Liberia
Klaus Schlichte




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Staatszerfall und Krieg in Liberia

Somalia, Afghanistan, Liberia - die Namen dieser drei Länder stehen schon seit einigen Jahren in den Diskussionen um Zukunft und Entwicklungschancen der sogenannten "Dritten Welt" als Metaphern für die drohende Katastrophe, für den völligen Zerfall von Staat und Gesellschaft. So ist auch der westafrikanische Staat Liberia durch einen seit 1989 andauernden Bürgerkrieg zerfallen. Denn legt man die Staatsdefinition Max Webers zugrunde, wonach der Staat der Inhaber des Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit auf einem abgrenzbaren Territorium ist, so hat der Staat Liberia 1990 aufgehört zu existieren. Alle Versuche, ihn als das Territorium umgreifende Gebietsherrschaft wieder zu etablieren, sind bisher fehlgeschlagen.

Doch um was für einen Staat handelte es sich? Der Staat Liberia hatte für die Mehrheit der Bevölkerung jenseits willkürlicher Übergriffe und unregelmäßiger Besteuerung nichts zu bieten. Auf dem Lande hatte er nur in der Verformung traditionaler Herrschaftsformen Bestand, zugleich war er jedoch der größte Arbeitgeber im Lande. Vor allem für die Beschäftigten des öffentlichen Sektors hatte der liberianische Staat deshalb eine hohe Bedeutung. Und doch war dieser Staat kein rationaler Anstaltsstaat in modernen Sinne, sondern eine von Klientelgruppen umkämpfte Bereicherungsagentur. Dieses hochfragile Gebilde brach unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Niedergangs schnell zusammen, weil es im Inneren nur soweit Legitimität besaß, wie wenigstens das materielle Interesse einer gewissen Zahl von Bediensteten erfüllt werden konnte und so die bestehenden klientelistischen Strukturen fortexistieren konnten.

Der Zerfall des liberianischen Staates und die Schwierigkeiten, ihn wieder zu etablieren, sind neben den verheerenden Wirkungen des Krieges vor allem auf solche grundlegenden Schwächen politischer Herrschaft in Liberia zurückzuführen, die sich in der Geschichte dieses peripheren Staates herausbildeten. Die hohe Abhängigkeit des liberianischen Staates von den Bewegungen des Weltmarkts und vom guten Willen der internationalen Finanzorganisationen machten dieses politische Gebilde so verwundbar. Der entscheidende Grund für den raschen Zerfall dieses Staates liegt jedoch in seiner neopatrimonialen Struktur, die wiederum Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung Liberias ist.

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Von der Sklavenkolonie zum souveränen Staat

Die politische Geschichte Liberias läßt sich grob in drei Phasen einteilen: Aus der von den USA unterhaltenen Siedlerkolonie ging 1847 ein zwar formal unabhängiger, aber kaum handlungsfähiger Staat hervor. Erst in der zweiten Phase, als Liberia ab den 30er Jahren unseres Jahrhunderts durch ausländische Investitionen "in Wert gesetzt" wurde, konsolidierte sich die Herrschaft der Ameriko-Liberianer. Der Putsch 1980 markiert den Beginn der dritten Phase: Mit dem Militärregime Samuel Does übernahmen erstmals afrikanische Liberianer die Macht.

Liberia ist eine Schöpfung mehr oder weniger philanthropischer Bewegungen in den USA, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts freigelassene Sklaven nach Afrika repatriierten. Der Name des Landes reflektiert noch heute den amerikanischen Freiheitsmythos. 1847 wurde Liberia unabhängig. Doch damals bestand der Staat Liberia aus nicht viel mehr als aus den Siedlerkolonien an der Küste. Den aus den USA stammenden Siedlern und ihren Nachkommen gelang es jedoch erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, eine halbwegs dauerhafte Kontrolle des Territoriums zu erlangen, und dies nicht ohne Hilfe britischer Truppen, die die erste liberianische Armee ausbildeten. Auch die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien brachten erst um 1920 die an Liberia grenzenden Gebiete gewaltsam unter ihre Kontrolle. Der Staat Liberia ist also ein vergleichsweise junges politisches Gebilde, dessen innere Strukturen sich von denen anderer nachkolonialer Staaten nicht grundsätzlich unterscheiden, auch wenn Liberia formell niemals eine Kolonie gewesen ist. Von der Gründung der Kolonie Liberia im Jahre 1822 bis 1980 wurde das Land politisch von der Minderheit der sogenannten Ameriko-Liberianer dominiert. In ihr Herrschaftssystem wurden die traditionellen Autoritäten des Hinterlandes nach und nach lose integriert.

Erst 1980 fand die Vorherrschaft der Ameriko-Liberianer nach mehr als 150 Jahren ein vorläufiges Ende, als das Regime des damaligen Präsidenten Tolbert durch einen blutigen Putsch beendet wurde. Die Anführer des Putsches waren entweder Unteroffiziere oder einfache Soldaten und entstammten alle der autochthonen afrikanischen Mehrheit. Sie waren sozusagen "Ur-Afrikaner", die von der ameriko-liberianischen Lebenswelt weit entfernt waren. An ihre Spitze setzte sich der Sergeant Samuel Kanyon Doe, der indes bei der Stabilisierung seiner Herrschaft wieder auf Teile der ameriko-liberianischen "Elite" zurückgreifen mußte. Doch auch der von der Bevölkerung enthusiastisch begrüßte Putsch 1980 bedeutete für Liberia keine Trendwende. Wie seine Vorgänger nutzte der neue Präsident Doe die Staatsgewalt vorwiegend zur persönlichen Bereicherung. Daran änderte sich auch nichts, als er sein Militärregime 1985 mit gefälschten Wahlergebnissen in ein ziviles umwandelte. Dieses zivile Regime währte indes keine fünf Jahre. Genau am Heiligen Abend 1989 begann in Liberia der bis heute andauernde Bürgerkrieg, in dessen Verlauf Doe gefangengenommen und getötet wurde. Welche Personen und Institutionen den liberianischen Staat repräsentieren, ist seitdem eine ebenso offene wie umkämpfte Frage.

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Liberia von 1944 bis 1989: Neo-patrimoniale Herrschaft im Rentenstaat

Unter der ameriko-liberianischen Ägide bildete sich in Liberia eine für das nachkoloniale Afrika typische Herrschaftsform heraus, die der französische Politologe Jean-Francois Médard als "neo-patrimonialen Staat" bezeichnet. Das bedeutet konkret, daß eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre weder in der Verwaltung noch in der Regierung existiert. Die Person des Herrschers verschwimmt mit seinem Amt, die Staatskasse mit dem Privathaushalt des Präsidenten. Der von 1944 bis 1971 amtierende Präsident William Tubman war zugleich oberster Richter, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Präsident und oberster Personalchef und Versorger seiner umfangreichen Familie. Diese Familie war jedoch zugleich eine wesentliche Basis seiner Herrschaft, weil die Verwandten politisch wichtige Positionen einnahmen und über strategische Heiraten, ganz wie im absolutistischen Europa, Machtbalancen innerhalb der ameriko-liberianischen Schicht geschaffen wurden. Die materielle Basis dieses Staates waren die Besteuerungen der Exporte von Eisenerz und von Naturkautschuk, der in Liberia auf großen Plantagen produziert wurde. Diese Renten erlaubten der regierenden Schicht, zu einem gewissen Grade neben der Gesellschaft zu existieren. Eine politische Partizipation der Bevölkerungsmehrheit war deshalb überflüssig. Präsident Tubman integrierte statt dessen entweder die traditionellen Chiefs der afrikanischen Bevölkerung oder schuf neue Gebietseinheiten, deren Leiter er selbst einsetzte. Von der Basis bis zur politischen Spitze bestanden der liberianische Staat und das kaum darüber hinausgehende politische System Liberias aus konkurrierenden klientelistischen Verbänden. An ihrer Spitze standen zumeist die führenden Familien der Ameriko-Liberianer. Der Präsident als oberster Patron hatte die Balance zwischen diesen Gruppen zu halten.

Zwischen 1970 und 1980, in der Regierungszeit von William Tolbert, Tubmans Nachfolger, änderte sich nichts an dieser Grundstruktur. William Tolberts Regime fand 1980 ein Ende, weil die Ameriko-Liberianer auf entstehende Opposition nur mit repressiven Maßnahmen zu reagieren wußten und weil der Tolbert-Clan die eigene Bereicherung bei einer sich gleichzeitig verschärfenden wirtschaftliche Lage übertrieben hatte. Durch die Unruhen wegen der Erhöhung der Reispreise geriet das Regime 1979 erstmals ins Wanken.

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Die politische Entwicklung 1980-1989

Von der Mitte der siebziger Jahre an bis 1989 erlebte Liberias Wirtschaft einen sich verschärfenden Niedergang, der die politische Herrschaft immer schwieriger machte, zumal den Regimen auch nicht an einer gerechten Verteilung der Lasten gelegen war. Der Ausdruck "Wirtschaft" bezieht sich dabei nur auf den monetarisierten Bereich, auf die exportrelevante Produktion von Eisenerz, Naturkautschuk und Tropenholz. Die abgeschöpften Renten aus diesen Exporten bildeten neben beträchtlicher Auslandshilfe die materielle Basis des liberianischen Staates. Aber auch die Subsistenzlandwirtschaft bekam den Niedergang zu spüren. Mit Veränderungen auf den Weltmärkten für Kautschuk und Eisenerz verloren im Liberia der siebziger und achtziger Jahre Tausende ihre Arbeitsplätze.

Mit dem Nachlassen der Wirtschaftskraft entwickelte sich Mitte der achtziger Jahre die sogenannte "Ethnisierung der Politik". Mehr und mehr Menschen verloren ihr Einkommen und gingen auf Distanz zum Staat. Neue Bindungen mußten das Regime stabilisieren. Präsident Samuel Doe, 1980 an die Macht gelangt, verließ sich mehr und mehr auf Angehörige seiner eigenen Sprachgruppe. Je kleiner der zu verteilende Kuchen wurde, desto mehr mußte Doe auf die Zusammenhänge seiner eigenen Verwandtschaftsgruppe zurückgreifen. In Militär und Verwaltung fanden sich auf den entscheidenden Posten bald nur noch Mitglieder dieser ethnischen Gruppe. Andere Gruppen wurden zunehmend von der politischen Macht und damit auch von den Zugangschancen zu ökonomischen Vorteilen ausgeschlossen. Dies betraf vor allem zwei Gruppen, die politisierten Dan im Nordwesten Liberias und die alte Elite der Ameriko-Liberianer. Aus diesen Kreisen stammt auch Charles Taylor, der mit wenigen hundert Mann den Krieg am Weihnachtsabend 1989 begann und heute als Warlord einen großen Teil des Landes kontrolliert.

1987 verhängten IWF, Weltbank und die Afrikanische Entwicklungsbank schließlich eine Kreditsperre über Liberia. Als dann auch noch die USA 1988 ihre beträchtliche Militärhilfe auf ein Zehntel kürzten, verlor das Regime seine letzte äußere Stütze. Die sich 1989 andeutende wirtschaftliche Erholung kam zu spät. Mutmaßlich wollte Charles Taylor die Konsolidierung des Doe-Regimes nicht abwarten und schlug deshalb zu. Innerhalb weniger Monate war das Land ins Chaos gestürzt.

Doch politisch motivierte Gewalt hat in Liberia eine lange Tradition: In der Regierungszeit Does, also zwischen 1980 und 1990, lassen sich über zwanzig wirkliche oder vermeintliche Anschläge und Komplotte gegen Doe zählen, die alle mit Todesstrafen geahndet wurden. Der häufig wahllose Rückgriff auf repressive Gewalt gegenüber der politischen Opposition gehörte lange vor Kriegsbeginn zum Kanon liberianischer Herrschaft.

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Der Zerfall des politischen Systems im Krieg

Der Krieg hat das ehedem schon instabile politische System Liberias weiter aufgelöst. Im Krieg wurde Politik auf linguistische Kompetenz reduziert: Wer an der Straßensperre bestimmter Milizen nicht die nachgefragte Sprache glaubhaft als seine Muttersprache nachweisen konnte, wurde erschossen. Dabei ist dieser Krieg kein Kulturkampf und auch kein Konflikt zwischen Ethnien. In existenziellen Situtationen orientieren sich Menschen entlang der einfachsten und zugleich fragwürdigsten Unterscheidungen. Die vielfältigen kulturellen Unterschiede sind jedoch die Ursachen des Krieges.

Die blanke militärische Macht bestimmt gegenwärtig über die Politik in Liberia. Verhandlungen und Friedensabschlüsse sind deshalb so schwierig, weil die militärischen Führer ihre Kämpfer offenbar nur begrenzt kontrollieren und es immer wieder zu neuen Spaltungen kommt. Zudem hat es zahlreiche Koalitionswechsel zwischen den mittlerweile acht Kriegsparteien gegeben. Damit haben sich die Aussichten, durch eine friedliche Lösung den Krieg zu beenden, immer mehr verschlechtert. Kaum eine westafrikanische Hauptstadt, kaum ein westafrikanischer Präsident, der in den vergangenen fünf Jahren nicht eine Friedenskonferenz mit den Kriegsparteien organisiert, unterstützt oder moderiert hätte. Aber nicht alle westafrikanischen Länder arbeiteten dabei in dieselbe Richtung. So brechen durch den Krieg in Liberia mittlerweile in der Subregion Westafrika längst überwunden geglaubte Konkurrenzen wieder hervor. Die westafrikanische Interventionstruppe wird von den anglophonen Staaten Nigeria und Ghana dominiert, während den frankophonen Staaten Elfenbeinküste und Burkina Faso heimliche Unterstützung von Taylors Fraktion nachgesagt wird. Um die inneren Frakturen Liberias legt sich folglich in der Subregion ein Kranz von widerstreitenden Interessen und Ambitionen der Regierungen in den Nachbarstaaten.

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Die gegenwärtige politische Konstellation

Politisch ist Liberia völlig zersplittert. Neben den Milizen existieren deren politische Flügel und zahlreiche ältere und jüngere politische Parteien, deren Progammatiken diffus sind und die häufig nichts anderes darstellen als alte und neue Klientelgruppen, die sich ihren Anteil am neuen Liberia sichern wollen. So beruhen die Hoffnungen auf eine baldiges Ende des Krieges auf der Einsichtsfähigkeit der Warlords, daß sie die Kontrolle über den liberianischen Staat nicht mit gewaltsamen Mitteln erlangen werden. Insbesondere Charles Taylor hat es lange an dieser Einsichtsfähigkeit fehlen lassen, zumal er sich durch die Intervention der westafrikanischen Staaten unter Führung Nigerias um den Gewinn "seines" Krieges gebracht sah. über Jahre hinweg wurde in Verhandlungen um die Modalitäten von Neuwahlen und um die Besetzung der Interimsregierung gepokert. Im August 1995 konnte erneut ein Waffenstillstand erzielt werden, dessen Dauerhaftigkeit sich erst noch erweisen muß.

So stehen sich in Liberia acht bewaffnete Parteien gegenüber, wobei unklar ist, ob sie von ihren politischen Führern tatsächlich kontrolliert werden. Da ist zunächst die größte Rebellengruppe unter Charles Taylor. Sie kontrolliert nach einigen Rückschlägen den größten Teil des Landes. Von ihr hat sich eine kleine Gruppe abgespalten, die mit Taylors wichtigstem Gegner, der westafrikanischen Eingreiftruppe ECOMOG, kooperiert. Die ehemalige Armee Liberias hat sich in zwei Gruppen aufgespalten, die teils zögerlich, teils allzu bereitwillig mit der ECOMOG kooperieren. Aus der Gemeinschaft der unter Doe einflußreichen Mandingos hat sich eine weitere Miliz herausgebildet. Jeweils im äußersten Osten und im äußersten Westen des Landes haben sich dann 1993 noch zwei neue Milizen gebildet, die entweder gegen die Mandingos oder gegen Taylors Verbände kämpfen. Schließlich kontrolliert die ECOMOG die Hauptstadt Monrovia samt Umgebung. Inklusive dieser Interventionstruppen stehen in Liberia schätzungsweise 60.000 Männer und Kinder unter Waffen. Keine der Kriegsparteien ist in der Lage, eine militärische Lösung zu erzwingen.

Zur Zeit geht der Streit zwischen den Fraktionen um die Aufteilung der Sitze in Interimsorganen. Wahlen sind in den zahlreichen Friedensabkommen schon mehrfach vorgesehen gewesen, sie wurden aber immer wieder verschoben. Alle Friedensvereinbarungen sind bisher vor allen Dingen daran gescheitert, daß die Milizenführer sich der Unterstützung ihrer Kämpfer nicht sicher sein können: Gelingt es ihnen nicht, mit den Verhandlungsergebnissen die Erwartungen ihrer Kämpfer zu erfüllen, spalten sich neue Gruppen ab, die ihrerseits erneut zu kämpfen beginnen und eine Entwaffnung unmöglich machen. Dazu kommen die persönlichen Erwartungen der Milizenführer: Charles Taylor etwa sieht sich durch die westafrikanische Intervention um den Gewinn in Gestalt der Kontrolle des Staates betrogen. Bisher war er nicht bereit, seine mit militärischen Mitteln gewonnene Position durch freie Wahlen aufs Spiel zu setzen.

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Literatur

Ellis, Stephen 1995: Liberia: Wer zähmt die Macht der Masken?, in: der überblick 2/95, S. 11-15

Liebenow, J. Gus 1987: Liberia. Quest for Democracy, Indianapolis: Indiana University Press

Médard, Jean-Francois 1992: L'Etat postcoloniale en Afrique Noire: L'interprétation néo-patrimoniale de l'Etat, Studia Africana, Barcelona: Sendai

Schlichte, Klaus 1992: Der Krieg in Liberia seit 1989. Eine Ursachenanalyse, Arbeitspapier Nr. 59 d. Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg


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