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Lettlands Beitrag zur EU: 500.000 aliens? : Zur Situation der russischsprachigen Bevölkerung / Eduard Franz - [Electronic ed.] - Bonn, 2003 - 8 S. = 54 KB, Text . - (Europäische Politik / Politikinformtion Osteuropa ; 114) - ISBN 3-89892-224-3
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


Eine gute Nachricht?

Der Staatsbürger, die Schule, die Sprache

... alles nur noch ein praktisches Problem ?

Lettische Staatsbürgerschaft gefällig?

Bilingualer Unterricht an russischen Schulen

Identitäten, Animositäten - vom Umgang miteinander

Bewertung

Das Ziel: Schaffung einer integrierten Gesellschaft

Integration durch Stärkung der Identität und Steigerung der Motivation

[Umschlag-Rückseite:]
Eduard Franz: Lettlands Beitrag zur EU: 500.000 aliens?
Zur Situation der russischsprachigen Bevölkerung

Die Europäische Union wächst um zehn neue Mitgliedstaaten. Eine besondere historische Dimension erhält diese Erweiterung dadurch, dass sieben Staaten vor nicht allzu langer Zeit dem inzwischen aufgelösten Warschauer Pakt angehörten. Von diesen sieben Staaten waren drei sogar unselbständige Republiken der einstmals mächtigen Sowjetunion - die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland.

Wie in vielen westeuropäischen gibt es auch in fast allen osteuropäischen Staaten nennenswerte ethnische, sprachliche und kulturelle Minderheiten. Ihr Platz ist in der erweiterten EU noch nicht ausreichend definiert worden. In den wohlhabenden westeuropäischen Staaten hat sich die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten durch eine stetige Einwanderung aus aller Welt stark diversifiziert. Die Probleme von und mit Minderheiten, bisher eher in dem klassischen Einwanderungsland USA von Bedeutung, werden auch in der Europäischen Union zunehmen.

Die Sowjetunion verstand sich als ein Vielvölkerstaat, in dem jedoch die russische Bevölkerung eine dominante Stellung besaß. Innerhalb der Sowjetunion bestand ein relativ reger Migrationsfluss, der dazu führte, dass die wirtschaftlich und kulturell weit entwickelten baltischen Staaten eine starke Zuwanderung erlebten, die ihre Bevölkerungsstruktur nachhaltig veränderte und bis heute bestimmt. Aus diesem Grund bieten sich die baltischen Staaten als ein interessantes Laboratorium für eine europäische Minderheitenpolitik an. Lettland, von jeher ein multiethnisches Land, war von der Zuwanderung russisch sprechender Sowjetbürger besonders stark betroffen. Lettlands Erfahrungen, Probleme und Lösungsansätze mit seinen heutigen Minderheiten sollen daher exemplarisch durchleuchtet werden.1

Eine gute Nachricht?

Minderheitenprobleme und Integration stehen im Lettland des Jahres 2003 nicht mehr auf der Haupttagesordnung. Klare Priorität haben heute der EU-Beitritt und die damit einhergehende Harmonisierung der lettischen Gesetze an die Normen der Europäschen Union, der Beitritt zur NATO2 sowie die Weiterverfolgung des in den letzten sieben Jahren ungewöhnlich erfolgreich verlaufenden wirtschaftlichen Aufbaus des Landes.3

Die oftmals emotional geführten Auseinandersetzungen um den Status und die Rechte der Minderheiten, insbesondere der russischsprachigen Bevölkerung haben sich entspannt und besitzen nicht mehr einen so stark polarisierenden Charakter in der gesellschaftlichen Diskussion wie in den 1990er Jahren. Diese positive Entwicklung spiegelt sich wieder in der Beendigung der OSZE-Mission in Lettland zum 31.12.2001, die sich gerade mit Fragen der Staatsbürgerschaft, Integration, Sprachenpolitik und Minderheitenrechte beschäftigte; laut einer offiziellen Erklärung sei nämlich "eine besondere Beobachtung der Lage der nicht-lettischen Minderheit nicht mehr notwendig".

Doch Lettland hat seine Probleme mit den im Land lebenden Minderheiten, insbesondere dem russischsprachigen Bevölkerungsanteil nicht gelöst und ist von einer für alle Seiten akzeptablen Lösung noch weit entfernt. Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre, verbunden mit einer für viele spürbaren Verbesserung der Lebensbedingungen, sowie eine erstmals verhältnismäßig integrationsfreundliche Regierung4 haben die nach wie vor bestehenden Probleme bei Einbürgerung, Minderheitenintegration und Minderheitenschutz lediglich in den Hintergrund gedrängt. Ungelöst bleiben diese Aufgaben aber eine Hypothek, die den jungen lettischen Staat im Falle einer abnehmenden wirtschaftlichen Dynamik und wieder zunehmender sozialer Probleme5 teuer zu stehen kommen kann. Denn soziale Verwerfungen würden in erster Linie die russischsprachige Bevölkerung treffen und könnten dann zu Protestreaktionen dieser Gruppe führen. Eine große nicht-integrierte russische Bevölkerungsgruppe stellt somit nach wie vor ein ernstzunehmendes Destabilisierungspotenzial dar, durch das die nördliche baltische Region der erweiterten und unmittelbar an Russland angrenzenden EU zu einem Unsicherheitsfaktor in der europäischen Sicherheitsarchitektur werden kann. So ist es nicht verwunderlich, wenn innerhalb der EU das Unbehangen hinsichtlich der 750.000 staatenlosen russisch sprechenden Bewohner Lettlands und Estlands zunimmt.

Der Staatsbürger, die Schule, die Sprache

Der Minderheitenkonflikt wird heute in der Diskussion um Staatsbürgerschaft, Schulen-/Bildungsreform sowie Sprachen-/Kulturpolitik sichtbar. Dabei geht es vor allem um den Gegensatz zwischen der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe (Russen, Weißrussen, in eingeschränktem Maße Ukrainer) und ethnischen Letten. Ein allgemeines Minderheitenproblem bezogen auf andere Minderheiten (Polen, Litauer, Juden, Deutsche etc.) gibt es dagegen so gut wie nicht.6

Doch schon im Begriff der ethnischen Minderheit liegt das erste Verständnisproblem. Während diese Bezeichnung sich auf die im Land lebenden ethnischen Polen, Litauer, Juden und Deutschen, die zusammen gerade mal 4,4 % der Gesamtbevölkerung ausmachen, ohne weiteres anwenden lässt und von diesen auch akzeptiert wird, sieht es bei der russischsprachigen Bevölkerung ganz anders aus. Diese besteht aus verschiedenen Ethnien, Kulturen und Schichten, die außer der russischen Sprache wenig gemeinsam haben, aber fast 40 % der Bevölkerung ausmachen und in den größten Städten sogar die Mehrheit darstellen. Sie selber - und das ist entscheidend - sehen sich größtenteils nicht als eine ethnische Minderheit, wollen nicht als eine solche behandelt werden und fühlen sich daher von einer wie auch immer gearteten Minderheitenpolitik letztlich nicht angesprochen. Was es bedeutet, wenn ein großer Teil der Bevölkerung eines Landes sich nicht angesprochen fühlt, soll mit diesem Bericht deutlich werden.

Doch zuerst ein kurzer Rückblick in das Jahr 1991: Mit der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit entschied sich die neue ethnisch lettische Elite auch zur Wiederherstellung des lettischen Nationalstaates mit einer lettischen Titularnation an der Spitze. Nachdem die ethnischen Letten aber aufgrund der von Moskau aufgezwungenen Russifizierungs- und Besiedlungspolitik im Jahr 1989 gerade noch 52 % der Gesamtbevölkerung Lettlands ausmachten, stellte sich die grundsätzliche Frage, was mit den Nichtletten geschehen solle. Aufgrund der tragischen Geschichte Lettlands und der durchaus realen Verdrängungsangst der Letten nur zu gut verständlich ging die neue lettische Regierung davon aus, dass die 1920 gegründete lettische Republik auch nach der zweiten sowjetischen Eroberung 1944 nie untergegangen sei.7 Die über 4 Jahrzehnte andauernde unrechtmäßige sowjetische Besatzung versuchten viele Letten gleich einem bösen Alptraum abzuschütteln, um dort wieder aufzuwachen, wo die erste unabhängige lettische Republik 1939/40 gewaltsam beendet wurde: einem Staat mit zwar lebendigen Minderheiten, zu denen auch Russen, Weißrussen und Ukrainer zählen, 8 in dem aber die Letten die klare Mehrheit bilden und die Geschicke ihres Landes selbst bestimmen können. Viele Gesetze und Bestimmungen wurden lediglich wieder in Kraft gesetzt, so auch durch Beschluss des Obersten Lettischen Rates vom 15. Oktober 1991 das lettische Staatsbürgerschaftsrecht aus der Zeit der ersten Unabhängigkeit. Alle in der Zeit des ,,bösen Alptraums Sowjetherrschaft" Zugezogenen galten somit fortan als unrechtmäßig Eingewanderte.9 Die Staatsbürgerschaft wurde ihnen verwehrt und viele hofften, dass diese Leute wieder dorthin gehen würden, woher sie gekommen waren.10 Staatsbürger wurde nur, wer dies bis 1944 war bzw. deren Nachkommen, also auch alle so genannten Exilletten im Ausland, die vor der einrückenden sowjetischen Armee geflohen waren.11

Diese Politik war auf Dauer nicht durchzuhalten: Die meisten Russen, Weißrussen u.a., die in den 50-80er Jahren zugezogen waren, kamen wegen des sehr viel höheren Lebensstandards nach Lettland und wurden in die begehrten und nach sowjetischen Maßstäben komfortablen Wohnungen der neu gebauten Trabantenstädten am Rande Rigas und anderer Städte eingewiesen.12 Dort lebt auch heute noch der überwiegende Teil der russischsprachigen Bevölkerung, der nie lettisch gelernt hat, aber auch nicht die Absicht hat, den im Vergleich zu den GUS-Staaten hohen Lebensstandard aufzugeben und aus Lettland wegzuziehen.

Das früh erklärte Ziel Lettlands, den europäischen Institutionen (Europäischer Rat, EU) und der NATO beizutreten, zwang die jeweiligen Regierungen, die völkerrechtlich problematische Vorenthaltung der Staatsbürgerschaft und Ausgrenzung der nicht-lettischen Bevölkerung wenn nicht gänzlich und sofort aufzugeben, so doch schrittweise zu lockern.

Es sollte aber auch nicht übersehen werden, dass innerhalb der ethnisch-lettischen Bevölkerung sich wohl nie eine Mehrheit für die oben beschriebene Ausgrenzung fand. Das hängt schon mit der relativ hohen Anzahl gemischter Ehen und Familien zusammen sowie den verhältnismäßig häufig vorkommenden persönlichen Beziehungen zu Russen. So wird der westliche Besucher häufig überrascht feststellen, dass auf dem großen Rigaer Zentralmarkt die lettische und die russische Verkäuferin einträchtig nebeneinander stehen und Volkszugehörigkeit keine Rolle spielt.13

... alles nur noch ein praktisches Problem ?

Die Minderheiten- und Integrationssituation Lettlands hat sich von einem grundsätzlichen Problem zu einem praktischen Problem der Implementierung der gesetzlich festgelegten Grundsatzentscheidungen gewandelt, dessen Lösung nur noch eine Frage der Zeit ist. Das wird zumindest von offizieller Seite gerne behauptet - doch ist das so ?

Einen Tag vor der Austragung des prestigeträchtigen Eurovision Schlagerwettbewerbs in Riga fand am 23. Mai 2003 vor dem Denkmal des lettischen Nationaldichters Janis Rainis die größte politische Demonstration seit der Unabhängigkeit statt. Teilnehmer waren russischsprachige Einwohner, die offiziell gegen die Einführung des bilingualen Unterrichts demonstrierten,14 nach der ab 2004 in russischen und anderen Minderheitenschulen der Unterricht ab der Oberstufe (10-12 Klasse) zu 60% in lettisch und zu 40% in russisch stattfinden muss. Bisher existierte in Lettland ein aus der Sowjetzeit übernommenes ethnisch getrenntes Schulsystem, so dass in russischen Schulen ausschließlich russisch und in lettischen Schulen ausschließlich lettisch unterrichtet wurde.15 Schon über die Größe der Demonstration gingen die Meinungen weit auseinander. Während lettische Medien von gerade mal über 4.000-6.000 Teilnehmern berichteten, stellte man bei russischen Medien stolz 16.000 Teilnehmer fest. Die wahre Zahl lag wohl in der Mitte. Das zeigt auch das Grunddilemma der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe: Über die letzten Jahre hat sie sich in eine Parallelgesellschaft mit eigenen Medien, Schulen, Geschäften, Wohnvierteln und Datschenvororten zurückgezogen und sich dort einigermaßen bequem eingerichtet und erwartet vom offiziellen Lettland, in ihrem Refugium in Ruhe gelassen zu werden. Der schrittweise Austausch des Russischen durch das Lettische im öffentlichen Leben wird frustriert hingenommen. Doch ein Projekt wie die Einführung des bilingualen Unterrichts wird als ein willkommener Anlass genommen, um aus der Lethargie auszubrechen und der aufgestauten allgemeinen Unzufriedenheit über den eigenen Bedeutungsverlust Luft zu machen.

Lettische Staatsbürgerschaft gefällig?

Durch die Vorenthaltung der lettischen Staatsbürgerschaft sahen und sehen sich sehr viele Russen deklassifiziert. Nach sowjetischem Staatsbürgerrecht gab es zwar nur eine Staatsangehörigkeit - die der UdSSR -, in Inlandspässen musste aber die jeweilige Nationalität angegeben werden, die auch im Alltag eine große Rolle spielte. Wer die Nationalität ,,Russe" in seinem Pass hatte, war in der sowjetischen Gesellschaft privilegiert und meist auch besonders stolz darauf. Akzeptabel waren Nationalitäten wie die ukrainische oder lettische. Drittklassig galten die Einträge ,,Jude" oder ,,Deutscher".

Auch wenn auf Druck der internationalen Gemeinschaft das im Juli 1994 in Kraft getretene lettische Gesetz über die Staatsbürgerschaft heute so weit entschärft ist, dass der Einbürgerung Staatenloser eigentlich keine unüberwindbaren Hindernisse mehr entgegen stehen, läuft der Prozess der Naturalisation sehr schleppend voran. Heute leben in Lettland 500.000 Staatenlose (21% der Bevölkerung), 400.000 davon sind Russen und Weißrussen. Sie besitzen Reisedokumente, in denen unter dem Eintrag Staatsangehörigkeit ,,alien" - Fremder - steht. Rechtlich, wirtschaftlich und im Alltag sind sie den lettischen Staatsbürgern im Inland weitest gehend gleich gestellt.16 Was fehlt, sind das Wahlrecht und die Möglichkeit, in den Staatsdienst einzutreten (sowie die Pflicht, Wehrdienst zu leisten).

Vielleicht liegt der Grund, dass die Anträge auf Einbürgerung trotz wesentlich erleichterter Voraussetzungen zurückgehen, gerade darin, dass in der Einbürgerung keine wesentliche Verbesserung des Status gesehen wird. Das würde bedeuten, dass Wahlrecht und persönliche Beteiligung am Staatswesen Lettlands von den meisten staatenlosen Nichtletten nicht als etwas Erstrebenswertes angesehen werden. Auch die Einbürgerungsvoraussetzungen, zu denen neben einem inzwischen einfachen Sprachtest auch Grundkenntnisse der lettischen Geschichte gehören, werden von vielen Russen als erniedrigend und entwürdigend angesehen. Zur Zeit stellen pro Monat ca. 800 Menschen einen Antrag auf Einbürgerung. Im ersten Halbjahr 2003 wurden 3.300 Menschen eingebürgert. Bei gleichbleibender Quote und unter Berücksichtigung der Sterberate älterer Staatenloser würde es danach noch 30-40 Jahre dauern, bis alle Staatenlosen Lettlands naturalisiert sind.

Bilingualer Unterricht an russischen Schulen

,,Unsere Schulen sind unser Stalingrad" hieß es auf der Demonstration gegen die Einführung des bilingualen Unterrichts am 23. Mai 2003. Psychologisch sagt dieser Vergleich einiges über das Selbstverständnis vieler Teilnehmer der Demonstration aus. Während die Möglichkeit eines bilingualen Unterrichts bis in die Oberstufe hinein in anderen Ländern als ein großes Zugeständnis an die Minderheiten gesehen werden würde, ist er für einen Großteil der russischsprachigen Bevölkerung Lettlands ein Angriff auf die Grundlagen ihrer Kultur und Sprache sowie ein dreister Assimilierungsversuch. Sie befürchten eine Verschlechterung des Unterrichtsniveaus, wenn russische Lehrer, die selbst kaum lettisch sprechen, russischen Kindern Mathematik und Physik auf lettisch beibringen müssten.

Von offizieller lettischer Seite heißt es dagegen, dass nur durch bilingualen Unterricht russische Schüler so gut lettisch lernen können, dass sie später auf dem Arbeitsmarkt und bei der Eingliederung in die Gesellschaft die gleichen Chancen haben wie lettische Schüler. Zudem können die Schulen frei wählen, welches Unterrichtsfach in welcher Sprache gelehrt wird, so dass letztlich kein altes, nur russisch sprechendes Physiklehrergenie plötzlich seine Kinder auf lettisch unterrichten muss.

Doch der eigentliche Grund für die Aufregung ist: Russische Schulen sind in Lettland die letzten staatlichen Institutionen, in denen man vom Lettischen weitest gehend ,,verschont" bleibt. Lettisch wird an russischen Schulen lediglich als Fremdsprache unterrichtet. Mit der Einführung eines Pflichtkontingents Lettisch an russischen Schulen wäre diese letzte Bastion eines offiziellen ausschließlich russischen Raumes in Lettland gefallen. Bilingualität, bei fast allen Letten sowie allen anderen Minderheiten Lettlands eine Selbstverständlichkeit, wird nicht als Chance, sondern als Bedrohung verstanden.

Identitäten, Animositäten - vom Umgang miteinander

Lettland versteht sich offiziell als ein multi-ethnischer Staat.17 Für die Förderung und Unterstützung der einzelnen Minderheiten, ihrer Sprachen und Kulturen wurde kürzlich ein eigenes Integrationsministerium geschaffen und der frühere Direktor des unabhängigen ,,Latvian Center for Human Rights and Ethnic Studies", Nils Muiznieks, zum zuständigen Minister ernannt. Spricht man von der polnischen, litauischen, jüdischen oder gar deutschen Minderheit, kann die lettische Minderheitenpolitik im großen und ganzen als vorbildlich angesehen werden.18 Die erfreuliche Situation dieser Minderheiten lässt sich womöglich auf deren ausgeprägtes ethnisches Selbstbewusstsein und deren Selbstverständnis als Minderheit in Lettland zurückführen, was sicherlich die Integration erleichtert. Mit anderen Worten: Sie wissen, wer sie sind, wo sie sind und was sie wollen. Ähnlich verhält es sich auch mit den russischen und weißrussischen Minderheiten, die schon vor dem 2. Weltkrieg in Lettland lebten.19 Bi- oder sogar Trilingualität20 war für sie auch immer eine Chance. Als Nachkommen lettischer Staatsbürger mit lediglich anderer Nationalität erhielten diese Volksgruppen meist schon 1991 die lettische Staatsbürgerschaft.21 Heute sind sie größtenteils erfolgreich in die lettische Gesellschaft integriert, ohne dass sie ihre nationale Identität abgelegt haben.22

Die Einwanderer der Sowjetzeit kamen mit dem sowjetischen Selbstverständnis, sich innerhalb eines einheitlichen, ihnen gehörenden Landes zu bewegen, zu dem auch Lettland gehört, nachdem sie es von faschistischer Barbarei und bürgerlicher Unterdrückung befreit hatten. Die wahre Geschichte Lettlands und seiner schmerzlichen Besatzung war ihnen fremd und ist es auch teilweise noch heute. Lettische Kultur und Sprache wurde als folkloristisches Überbleibsel einer längst vergangenen, überwundenen bürgerlichen Zeit verstanden. Die Dominanz der russischen Sprache und Kultur in Lettland bei gleichzeitiger Verdrängung alles Lettischen auf belächelte ländliche Folklorefestivals wurde als selbstverständlich betrachtet und nicht hinterfragt.

Nach 1990 fing dieses Selbstverständnis an zu bröckeln. Mit der geschichtlichen Aufklärung in der Sowjetunion und der Entdeckung im Westen seit langem bekannter geschichtlicher Tatsachen sahen sich die meisten Einwanderer der Sowjetzeit zum ersten Mal mit der Legitimität ihrer Anwesenheit in Lettland konfrontiert. Waren sie tatsächlich ,,Okkupanten und Koloniesatoren", wie viele Letten früher heimlich und heute offen behaupten? Hier liegt der Keim für das heutige Identitätsproblem dieses großen Teils der russischsprachigen Bevölkerung Lettlands, das Auslöser für alle seine weiteren Probleme mit der Naturalisation und Integration ist. Ein Großteil der russischsprachigen Bevölkerung fühlt sich von der wiedererstandenen lettischen Nation auf eine abstrakte und diffuse Weise bedroht. Als Antwort entstand eine russischsprachige Parallelgesellschaft in Abschottung zur seit 1991 ,,offiziellen" lettischen, was aufgrund der räumlichen und mentalen Trennung von Russen und Letten auch nicht besonders schwer fiel. Jeglicher Versuch, diese Parallelgesellschaft aufzubrechen und mit der lettischen zusammenzuführen, wird nun von vielen Vertretern der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe als Angriff und Assimilierungsversuch gedeutet. Zwar funktionieren Beziehungen zwischen Letten und Nichtletten im privaten, wenn es sie gibt, meistens gut. Ein großer Teil der russischsprachigen Bevölkerung wirft aber dem lettischen Staat vor, eine Ausgrenzungspolitik mit dem Ziel einer Spaltung der Gesellschaft zu betreiben.

Bewertung

Die Situation der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe in Lettland stellt den noch nicht gelösten Teil der ansonsten im großen und ganzen erfolgreich verlaufenden allgemeinen Minderheitenpolitik Lettlands dar. Die Lösung dieses besonderen Problems bewegt sich dabei im Spannungsfeld zwischen wenig vorhandener eigener Motivation zur Integration auf Seiten der russischsprachigen Bevölkerung und der unzureichenden Formulierung eines ehrlichen und ernst gemeinsten Angebots zur Integration von ethnisch-lettischer Seite. Zu häufig verärgern hochrangige lettische Politiker mit populistischen Aussagen die russischsprachige Bevölkerung, indem sie drohen, russische Schulen ganz schließen zu wollen oder sie öffentlich auffordern, Lettland zu verlassen und nach Russland zurückzugehen. Zu selten gehen gemäßigte lettische Kräfte öffentlich auf deutliche Distanz zu Ausfällen gegen die russischsprachige Bevölkerung. Beide Seiten sollten daher bestimmte Fakten und Grundentscheidungen akzeptieren.

Lettland ist in die westeuropäischen und nordatlantischen Strukturen fest eingebunden.

Die Grenze zwischen Europa und Russland wird an den Ostgrenzen von Estland, Lettland und Litauen verlaufen. Damit ist Lettland der russischen Interessenhemisphäre entzogen und wird sich in den nächsten Jahren von Russland wegentwickeln. Die baltischen Russen werden sich immer weniger an Russland orientieren können.

Die automatische Staatsbürgerschaft für alle, die in Lettland leben (ius soli), wird es nicht geben.

Die staatsbürgerrechtliche Integration führt nur über die Naturalisation. Diese Entscheidung verdient angesichts der leidvollen Erfahrung der Letten mit fremder Besatzung, ihrer daraus resultierenden Angst vor Überfremdung und ihres Rechts auf Selbstbestimmung Respekt. Ausnahmen können und werden gemacht bei Kindern, die staatenlose Eltern haben und nach 1990 in Lettland geboren wurden. Diese Durchbrechung des ius sangui ist wegen der Vielzahl der sonst staatenlosen Kinder geboten und angemessen und verhindert ein Anwachsen der Zahl der Staatenlosen.

Die Naturalisation ist heute an durchaus zumutbare gesetzliche Voraussetzungen geknüpft.

Grundsätzlich kann heute jeder Staatenlose die gesetzlich vorgegebenen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, praktische Hindernisse kommen kaum noch vor. Über vereinfachte Voraussetzungen für Alte und Kranke sowie finanzielle Erleichterungen für Bedürftige wird nachgedacht; zum Teil wurde und wird dort bereits nachgebessert.

Bilingualer Unterricht an Minderheitenschulen ist ein ernst gemeintes Angebot zur gesellschaftlichen Integration.

Die konkrete Ausgestaltung des bilingualen Unterrichts und seiner Zukunft sollte aber konkret und verlässlich erfolgen. Hier gab es von lettischer Seite durchaus Versäumnisse bei der Vermittlung von Ziel und Inhalt der Reform an die betroffenen Gruppen.

Eine Assimilierung der russischsprachigen Bevölkerung durch die lettische Kultur wird es nicht geben.

Russische bzw. russischsprachige Medien sind in Lettland so stark vertreten, dass russische Sprache und Kultur in absehbarer Zeit nicht aus Lettland verschwinden werden. Als wirtschaftlicher EU-Brückenkopf zum russischen Markt wird für das lettische Geschäftsleben Russisch auch weiterhin eine bedeutende Rolle spielen. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es auch heute kaum Letten, die nicht russisch sprechen können.

Auch die in der Sowjetzeit eingewanderten Russen, Weißrussen u.a. werden in Lettland bleiben.

Spätestens ihre Kinder sehen in Lettland ihre einzige Heimat und unterscheiden sich von ihren Altersgenossen in den GUS-Staaten wesentlich in Sprache, Umgang und sozialem Umfeld. Eine Perspektive außerhalb Lettlands werden sie kaum haben.

Integrationsprobleme haben nicht nur die Alten.

Die häufig anzutreffende Meinung, die Integration funktioniere bei der jüngeren Generation, während sich das Integrationsproblem bei älteren Staatenlosen auf ,,biologische Weise" von selbst lösen wird, ist nur zum Teil richtig. Auch wenn die meisten jungen Nichtletten es leichter haben, sich zu integrieren, wird es ihnen oftmals schwer gemacht, ihr russischsprachiges Umfeld zu verlassen und sich an der offiziellen lettischen Gesellschaft zu beteiligen. Das fängt schon damit an, dass viele Letten aus Gewohnheit mit ihnen nur russisch sprechen. Von den ca. 500.000 Staatenlosen sind nach Angaben des Integrationsministers Nils Muiznieks 110.000 jünger als 27 Jahre.23

Das Ziel: Schaffung einer integrierten Gesellschaft

Lettland ist heute eine gespaltene Gesellschaft. Es existiert die von ethnisch-lettischer Kultur dominierte offizielle Gesellschaft, die sich nach außen gerne nordisch folkloristisch zeigt, wobei alles slawisch-östliche bewusst ausgeblendet wird. Mit neugewonnenem nationalen Selbstbewusstsein bestimmen ethnische Letten trotz ihrer Minderzahl in der Hauptstadt Riga das städtische Bild der Innenstadt. Gleichzeitig existiert in derselben Stadt eine Parallelgesellschaft mit russischer Sprache, Kultur und Gebräuchen, die sich bewusst von der lettischen Kultur isoliert und den offiziellen lettischen Institutionen, ja dem Staat selbst stark misstraut, in dem sie kaum repräsentiert ist. Da diese beiden Gesellschaften zu weiten Teilen voneinander unabhängig sind, können die meisten Menschen beider Gesellschaften überleben, ohne die andere Gesellschaft wahrnehmen zu müssen. Ein kleines Land wie Lettland mit seinen 2,4 Millionen Einwohnern, von denen 40% im Großraum der Hauptstadt Riga leben, kann sich auf Dauer eine gespaltene Gesellschaft aber nicht leisten. Irgendwann werden die ungelösten Probleme zurückschlagen - der Riss, der dann durch das Land geht, wird das Land erschüttern. Nur eine lettische Gesellschaft, in der sich alle wiederfinden können, wird auch turbulenten Zeiten standhalten können.

Häufig wird aus einem west-europäischen Blickwinkel heraus diskutiert, ob nicht das belgische Modell eines multiethnisches Staates auf Lettland (bzw. Estland) übertragen werden könnte. Sehr viele Argumente sprechen dagegen. Belgien entstand als ein künstlicher Pufferstaat zwischen den protestantischen Niederlanden und dem katholischen Frankreich. Das Land besaß und besitzt keine gewachsene nationale Identität, sondern definiert sich im wesentlichen über die Wallonen und Flamen. Lettland hat dagegen im Anschluss an sein nationales Erwachen im 19.Jahrhundert seine Unabhängigkeit sowohl Russland als auch Deutschland unter schmerzlichen Verlusten abgetrotzt. In Belgien sind die Siedlungsgebiete von Wallonen und Flamen voneinander getrennt und es besteht eine exakte Sprachengrenze. Überschneidungen kommen höchstens in der Hauptstadt Brüssel vor. Räumlich getrennte Siedlungsgebiete von Letten und Russen sind in Lettland eher die Ausnahme. Trotz getrennter Gesellschaften leben diese sehr nah beieinander. Doch ein Grund verbietet schlechthin eine ,,Lösung wie in Belgien": Während Flamen und Wallonen schon immer im heutigen Belgien lebten und sich nebeneinander entwickeln konnten, würde die Aufteilung Lettlands in einen lettischen und einen russischen Teil mit gleichberichtigtem Nebeneinander von Russisch und Lettisch in Staat, Politik und Gesellschaft langfristig nicht nur das Ende der lettischen Sprache und Kultur bedeuten, es wäre vor allem die späte Legitimierung der verbrecherischen Nationalitätenpolitik der stalinistischen Sowjetunion und die Manifestierung der Ziele der sowjetischen Besatzung, nämlich die Russifizierung des Baltikums. Nur ein einheitlicher lettischer Staat ist historisch gerecht.

Integration durch Stärkung der Identität und Steigerung der Motivation

Erleichterungen bei den Einbürgerungsvoraussetzungen, Einführung des bilingualen Unterrichts an Minderheitenschulen und eine an sich lobenswerte allgemeine Minderheitenpolitik reichen in Lettland nicht aus, um die russischsprachige Bevölkerungsgruppe in eine gemeinsame Gesellschaft zu integrieren. Dies sind rein technische Maßnahmen, welche die inneren Befindlichkeiten der meisten Russen, Weißrussen u.a. unberücksichtigt lassen. Die lettische Seite muss klar machen, dass sie die Einladung zur Integration ernst meint und nicht lediglich auf Druck von außen zögerlich zulässt. Nur so wird die Motivation, sich an der lettischen Gesellschaft zu beteiligen, wachsen. Erst wenn der russischsprachigen Bevölkerung signalisiert wird, dass sie als Teil der lettischen Gesellschaft von den ethnischen Letten auch tatsächlich gewollt wird, wird sie keine Probleme mehr damit haben, deren Sprache zu lernen und Staatsbürger des gemeinsamen Staates zu werden.

Gezielte Werbung für lettische Staatsbürgerschaft und für lettische Sprachkurse unter der Prämisse, dass Lettland ein Land mit vielen Ethnien ist, von denen die slawischen nun einmal die größten nach den Letten sind und ebenso dazu gehören, ist ein erster Schritt. Lettland hat Beispiele für die gelungene Integration von Russen, so z.B. die ethnisch russische Popsängerin Maria N., die 2002 für Lettland den Eurovision Schlagerwettbewerb gewonnen hat und sowohl von Letten als von Russen voll akzeptiert wird. Trotzdem fällt es vielen ethnischen Letten noch schwer, die slawische Seite Lettlands anzuerkennen.

Bei der Frage nach der Identität der russischsprachigen Bevölkerung ist es wichtig zu erkennen, dass diese nicht als ethnische Minderheit(en) gleich den im Land lebenden Polen, Litauern, Juden, Deutschen etc. verstanden und behandelt werden kann und auch nicht will. Jeder Versuch, sie durch eine an Förderung von Volkstumskultur und Bräuchen orientierte Minderheitenpolitik zu organisieren, wird scheitern, da sich die russischsprachige Bevölkerung darüber nicht definiert; sie sieht sich gerade nicht als ethnische Minderheit an. Schon aufgrund ihrer Größe verdient sie aber besondere Aufmerksamkeit. Dies heißt aber nicht, dass ihnen deshalb automatisch besondere Rechte erwachsen. Ihre Größe hängt unmittelbar mit der expansorischen Geschichte der ehemaligen Sowjetunion zusammen und kann nicht getrennt davon beurteilt werden. Der unrechtmäßigen Okkupation Lettlands und dem Selbstbestimmungsrecht der Letten muss Rechnung getragen werden.

Ein zunehmender Teil der russischsprachigen Bevölkerung steht der Integration in die lettische Gesellschaft grundsätzlich positiv gegenüber. Viele sind der Meinung, dass die Integration auf persönlicher Ebene oder im Berufsleben bereits funktioniert. Staatenlosigkeit wird zunehmend als ein Nachteil angesehen, während die Verbindung zu Russland - häufig ein Grund, sich gegen die lettische Staatsbürgerschaft zu entscheiden - schwächer wird. Immer mehr Russen sehen ein, dass die lettische Unabhängigkeit von Bestand ist und es eine Rückkehr in ein russisch dominiertes Lettland nicht mehr geben wird. Auffällig ist aber das immer noch sehr starke Misstrauen gegenüber dem lettischen Staat als Institution. Unter der russischsprachigen Bevölkerung besteht ein Konsens, dass vor allem der Staat die Gesellschaft spaltet. Hier zeigt sich eine gefährliche Negation gegenüber dem lettischen Staatswesen, das nur durch stärkere Partizipation der russischsprachigen Bevölkerung gemildert werden kann.

Es ist im eigensten Interesse der ethnischen Letten, der russischsprachigen Bevölkerung ein Forum zu geben, in dem sie sich selbst definieren und feststellen kann, was sie will und wie sie sich ihre Zukunft in Lettland vorstellt. Dem größten Teil der russischsprachigen Bevölkerung ist das Verhältnis zur ehemaligen Sowjetunion, zu Russland, zu Sowjet-Lettland und zum unabhängigen Lettland unklar. Eine Loyalitätsbeziehung zum heutigen Lettland hat sich häufig nicht ausreichend entwickelt. Auf beiden Seiten existieren viele und gern gepflegte Vorurteile über die jeweils anderen. Fest steht, dass auch die russischsprachige Bevölkerung in erster Linie - ob gewollt oder ungewollt - von ihrem Leben in Lettland geprägt ist, sich daher von ihren ,,ethnischen Verwandten" in den GUS-Staaten in Sprache, Kultur und Sozialverhalten bereits stark unterscheidet und sich dort zumeist fremd fühlt.24 Diese Entfremdung wird mit der Einbindung Lettlands in Europa noch weiter zunehmen. Lettland dagegen ist ihr zu Hause, ohne dass sie sich schon eingestehen mögen, dass es auch ihre Heimat ist.

Ein erster Schritt zur Integration könnte die Bildung und Förderung von Brückenidentitäten sein. Dies sind Identitäten, die in einem bestimmten Bereich sowohl Letten als auch Nichtletten verbinden. Ein Beispiel hierfür ist die Identifizierung mit der Stadt Riga. Sowohl Letten als auch Russen, sprechen gerne und voller Stolz davon, Bürger dieser Stadt zu sein, unabhängig davon, dass sie womöglich in jeweils zwei von einander getrennten Gesellschaften innerhalb dieser Stadt leben. Denn sobald sie die Stadt verlassen, sehen sie sich in erster Linie als Riganer. Ähnliches könnte sich über eine gemeinsame ,,baltische" Kunst und Kultur (siehe Maria N.) ergeben, die sowohl Letten als auch Nichtletten anspricht.

[Umschlag-Rückseite:]
Eduard Franz: Lettlands Beitrag zur EU: 500.000 aliens?
Zur Situation der russischsprachigen Bevölkerung

Auf dem Gebiet der Europäischen Union werden bald 500.000 fast ausschließlich russischsprachige Staatenlose aus Lettland, die zum Land nicht richtig dazugehören, leben. Darüber hinaus fühlen sich viele russischsprachige Nichtletten auch nach Erwerb der lettischen Staatsbürgerschaft in dem Land nicht ausreichend beachtet und verbleiben trotz formal-rechtlicher Integration häufig in ihrer russischsprachigen Sozialisation. Diese Situation ist für keine Seite akzeptabel und birgt die Gefahr künftiger Konflikte.

Als künftiges EU-Mitglied werden Konflikte in der lettischen Gesellschaft (ähnliches gilt auch für Estland) Europa stärker und direkter betreffen als bisher. Wenn das Problem der Staatenlosigkeit in Lettland und Estland nicht gelöst wird, wird daraus ein europäisches Problem.

Zwar sehen wir heute in Lettland zwischen Letten und der russischsprachigen Bevölkerung keine Konflikte, die konkret und akut besorgniserregend wären, was vor allem der erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung zu verdanken ist. Doch wie sieht es morgen aus?

Die Situation in Deutschland zeigt, was es für eine als stabil bewertete Gesellschaft bedeuten kann, wenn wirtschaftliche Prosperität nicht mehr selbstverständlich ist: Chancenlosigkeit, andauernde ökonomische Depression für ganze Gesellschaftsteile und daraus resultierende Isolierung und Ausgrenzung. Gute Konfliktprävention muss Vorsorge treffen und hinter die ruhigen Kulissen einer angeblich stabilen Gesellschaft schauen. In Lettland versteckt sich hinter der ruhigen Fassade ein ungelöster Konflikt der gesellschaftlichen Integration, der sehr schnell hoch kochen kann.

    Fußnoten:

    1 - Die Analyse basiert v.a. auf Studien vor Ort sowie Interviews mit Repräsentanten verschiedener lettischer Institutionen, Journalisten und Bewohnern Lettlands im Juni und Juli 2003.

    2 - Die Beitrittsdokumente wurden von allen drei baltischen Staaten am 26. März 2003 unterzeichnet.

    3 - Seit 1996 ist das Bruttosozialprodukt um durchschnittlich 5,6% p.a. gestiegen. 2001 betrug das Bruttosozialprodukt pro Einwohner mit 7700 € allerdings erst ein Drittel des EU-Durchschnitts. Hinzu kommt eine Inflationsrate von unter 3%, ein Haushaltsdefizit von ebenfalls unter 3%, eine akzeptable Staatsverschuldung sowie eine stabile Währung, der Lat. http://europa.eu.int/comm/enlargement/latvia/index.htm

    4 - http://www.mk.gov.lv/index.php/en

    5 - Trotz starken Wirtschaftswachstums beträgt die Arbeitslosenquote immer noch 13-14%; http://europa.eu.int/comm/enlargement/latvia/index.htm

    6 - Problematisch ist die Situation der über 8000 Roma und Sinti.

    7 - Auch die viele ausländische Regierungen stellten klar, dass sie lediglich die diplomatischen Beziehungen zu Lettland wieder aufnehmen und nicht etwa die Unabhängigkeit eines neu geschaffenen Staates anerkennen.

    8 - 1935 betrug der Anteil der Russen 10%, der Weißrussen 1,4% und der Ukrainer 0,1% an der Bevölkerung. 1989 betrug ihr Anteil insgesamt 42%. ,,National and Ethnic Groups in Latvia", Ministry of Justice of the Republic of Latvia, 1996

    9 - Die in der Sowjetzeit zugezogenen Russen und Weißrussen wurden von der lettischen Bevölkerung bis ca. 1989 noch hinter vorgehaltener Hand, später offen als Kolonisatoren oder Okkupanten bezeichnet.

    10 - Zwischen 1991 und 2001 haben insgesamt 240.000 Menschen Lettland verlassen, 50.000 sind zugezogen. ,,National and Ethnic Groups in Latvia", Ministry of Justice of the Republic of Latvia, 1996.

    11 - Die heutige Präsidentin Lettlands Vaira Vike-Freiberga wurde 1937 in Riga geboren und floh mit ihren Eltern vor der sowjetischen Armee zuerst nach Deutschland und lebte später in Marokko und Kanada.

    12 - Letten wurden bei der Vergabe dieser Wohnungen grundsätzlich benachteiligt, so dass z.B. in Riga Letten eher in der Innenstadt und in den alten Wohnvierteln leben und sich selten in den Trabantenstädten am Stadtrand bewegen.

    13 - Laut einer Studie des European Values Study Programms sind Letten gegenüber anderen Nationalitäten, Religionen und Völkern überdurchschnittlich tolerant. 2001. The European Values Study: A Third Wave. Source Book of the 1999/2000 European Values Study Surveys. [compiled by] Loek Halman, Tilburg: European Values Study.

    14 - Das Gesetz ist seit Juni 1999 in Kraft. Man einigte sich auf eine Übergangsphase von 5 Jahren, also auf das Jahr 2004.

    15 - An polnischen, litauischen, jüdischen und ukrainischen Minderheitenschulen findet bilingualer Unterricht bereits seit einigen Jahren statt.

    16 - Siehe dazu das ,,Gesetz über den Status der Bürger der ehemaligen Sowjetunion, die nicht Bürger Lettlands oder eines anderen Staates sind" vom 12.04.1995.

    17 - "Cultural Diversity and Tolerance in Latvia, Data / Facts / Opinions", Secretariat of the Special Task Minister for Social Integration, Riga 2003.

    18 - Verbesserungsbedarf besteht höchstens bei dem 1991 verabschiedetem ,,Gesetz über die ungehinderte Entwicklung und das Recht zu kultureller Autonomie für Lettland's Völker und Volksgruppen", das nur einen deklaratorischen Charakter hat, aber keine Rechte festschreibt.

    19 - Z.B. die so genannten Altgläubigen, die sich schon vor 200 Jahren um die lettische Stadt Daugavpils angesiedelt haben, um der religiösen Verfolgung in Russland zu entgehen.

    20 - Llettisch, russisch und deutsch.

    21 - Vor Beginn der gesetzlichen Naturalisationsmöglichkeit 1995 waren bereits über 20% der Staatsbürger keine ethnischen Letten.

    22 - Ein gutes Beispiel bietet das Ministerium für Soziale Integration, in dem viele ethnische Russen in gehobenen Positionen arbeiten.

    23 - www.policy.lv, Integration Monitor vom 19. Juni 2003.

    24 - Obwohl es in der russischen Sprache kaum Dialektunterschiede gibt, werden baltische Russen in Russland schon anhand ihrer Aussprache meist schnell als solche erkannt.


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