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Die Chancen für eine europäische Lösung des Zypern-Konflikts / Niels Kadritzke - [Electronic ed.] - Bonn, 2003 - 13 S. = 81 KB, Text . - (Europäische Politik)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT



Das Zypern-Problem steht in seiner heutigen Form seit 1974 auf der internationalen Tagesordnung.(1) Da seitdem alle Lösungsinitiativen versandet sind, schien das ungelöste zu einem unlösbaren Problem geworden zu sein. Doch seit Ende 2002 ist in die Zypernfrage eine überraschende Dynamik hineingekommen, die sich aus drei Entwicklungen auf internationaler Ebene speist:

  • dem EU-Beitritt der Republik Zypern, der im Dezember 2002 auf dem Kopenhagener EU-Gipfel beschlossen wurde und im Jahre 2004 wirksam wird;
  • der Vorlage eines UN-Planes durch Generalsekretär Kofi Annan (im folgenden Annan-Plan bzw. AP) am 11. November 2002, der zwar im ersten Anlauf gescheitert ist, aber immer noch auf dem Verhandlungstisch liegt;
  • dem Sieg der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) bei den türkischen Parlamentswahlen am 3. November 2002 und der Bildung der Regierung Erdogan, die für eine Zypern-Lösung offener zu sein scheint als frühere Regierungen und die kemalistischen Machtzentren in Bürokratie und Armee.

Die neue politische Dynamik wird auch durch neue Entwicklungen im geteilten Zypern beeinflusst:

  • Im Norden hat sich der seit Jahren virulente Widerstand gegen das Denktasch-Regime dramatisch verstärkt; heute repräsentiert die Opposition mit ihrem Bekenntnis zur EU-Perspektive und zum Annan-Plan eine klare Mehrheit der türkischen Zyprioten.
  • Im Süden wurde im Februar 2003 mit Tassos Papadopoulos ein neuer Präsident gewählt, der den Annan-Plan zwar als Basis für weitere Verhandlungen akzeptiert, als Lösungsmodell aber in zentralen Punkten ablehnt.
  • Seit dem 23. April 2003 hat das Denktasch-Regime seine jahrelange Politik der Kontaktblockade aufgegeben. Seitdem gestattet die Bewegungsfreiheit zwischen Süden und Norden täglich tausendfache Kontakte zwischen griechischen und türkischen Zyprioten.

Insbesondere diese neue Bewegungsfreiheit hat die Möglichkeit einer politischen Lösung schlagartig erhellt. Damit wurde endgültig der - durch ideologische Wahrnehmungen und Absichten genährte - Mythos zerstört, die beiden Volksgruppen könnten nie wieder in einem gemeinsamen Staat leben. Allerdings muss jede Zypern-Lösung nach wie vor komplizierte und historisch vorbelastete Probleme bewältigen (Rückkehr von Flüchtlingen, Regelung von Besitzrechten, Status der türkischen Siedler im Norden), bedarf daher eines institutionellen, beiderseits als legitim empfundenen Rahmens. Schon deshalb ist der Annan-Plan, der eine bi-zonale Föderation vorsieht, der einzige - und einzig realistische - Grundriss für eine Zweite Republik, der sowohl die völkerrechtliche Kontinuität des Inselstaates sichern als auch einen ehrlichen Neubeginn ermöglichen könnte.

Historische Skizze

Entscheidend für die neuere Geschichte der Insel, die faktisch seit 1878 eine britische Kolonie war, sind zwei Phasen, die das kollektive Bewusstsein beider Volksgruppen bis heute prägen.

Unabhängigkeit und Krise der Ersten Republik (1955-1964)

Die 1960 gegründete Republik ging aus dem Kampf der griechischen Bevölkerungsmehrheit (ca. 78 %) gegen die britische Kolonialmacht hervor. Da aber dieser Kampf explizit zum Anschluss an Griechenland (griechisch: enosis) führen sollte, schloss er die türkische Minderheit automatisch aus. Deren Führung stellte, von Ankara inspiriert, dem enosis-Ziel die Forderung nach Teilung der Insel (türkisch: taksim) entgegen. Die Verträge von London und Zürich etablierten eine bi-kommunale Republik, die 1960 unabhängig wurde und deren Existenz und Verfassung durch Griechenland, die Türkei und Großbritannien garantiert wurden. Doch die Führungseliten beider Gruppen sahen in diesem Staat nur eine Etappe auf dem Weg zu den alten Zielen enosis und taksim.

Theoretisch aufgekündigt wurde die "Erste Republik" von griechischer Seite, als Staatspräsident Makarios (orthodoxer Erzbischof und "Ethnarch" der griechischen Zyprioten) Ende 1963 eine Verfassungsrevision zu Lasten der türkischen Volksgruppe vorschlug. Faktisch zerstört wurde die Erste Republik durch den Bürgerkrieg von 1963/64, der von den griechischen Zyprioten begonnen wurde, der aber auch der türkischen Seite gelegen kam, weil er ihre separatistischen Pläne begünstigte. Die Krise endete mit einem fragilen Waffenstillstand, der durch eine UN-Truppe stabilisiert wurde. Durch Vertreibung und Umsiedlung Zehntausender türkischer Zyprioten entstanden mehrere kleine und eine große Enklave, in der ab Sommer 1964 über 60 Prozent der türkischen Bevölkerung lebten.

Auf griechischer Seite wurde die Verantwortung für den Zusammenbruch der Ersten Republik schlicht geleugnet. Auf türkischer Seite wurde die taksim-Politik der eigenen Führung (unter dem Nationalisten Rauf Denktasch) als bloße Reaktion auf die drohende enosis heruntergespielt. Die gespaltene historische Wahrneh-mung hat ein kluger ausländischer Diplomat so charakterisiert: Die türkischen Zyprioten können die Ereignisse von 1963/64 nicht vergessen, die griechischen Zyprioten können sich nicht erinnern.

Putsch und Invasion von 1974

Seit 1964 war die Republik Zypern durch den Ausbau der türkischen Enklaven und den Auszug der türkischen Zyprioten aus den Staatsorganen auf einen von der griechischen Volksgruppe konfiszierten Staat geschrumpft. Ab 1968 wurde allerdings über einen neuen Verfassungskompromiss verhandelt. Eine Einigung scheiterte am fehlenden Willen, aber auch aufgrund der Obstruktionspolitik beider "Mutterländer". Insbesondere die Versuche der Athener Junta, die Regierung Makarios zu destabilisieren, beschränkte deren Spielraum für Konzessionen an die türkischen Zyprioten. Am 15. Juli 1974 inszenierte die Athener Junta des Obersten Ioannides einen Putsch gegen Makarios, den die türkische Volksgruppe als existentielle Bedrohung sehen musste. Mit dem erklärten Ziel, die Inseltürken zu schützen, landete eine türkische Invasionsarmee am 20. Juli im Norden Zyperns. Sie eroberte bis Mitte August fast 40 Prozent des Inselterritorium und trieb 160.000 griechische Zyprioten in den Süden. Im Gegenzug vollzog sich bis Sommer 1975 die Umsiedlung der im Süden verbliebenen türkischen Bevölkerung nach Norden.

Auch die Erinnerung an 1974 ist auf beiden Seiten höchst selektiv. Im Süden werden Invasion und Vertreibung bis heute als nationale Katastrophe empfunden, im Norden spricht man nach wie vor von einer "Friedensoperation", die der türkischen Volksgruppe die ersehnte "Sicherheit" verschafft habe. Die Leiden der griechischen Landsleute werden teils geleugnet, teils mit dem Hinweis auf die eigenen Opfer von 1964 aufgerechnet.

Die historischen Lehren

Die völkerrechtliche Legitimation für das türkische Eingreifen war spätestens mit dem Rücktritt der Athener Junta am 23. Juli hinfällig, denn laut Garantievertrag durfte Ankara nur zur "Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" intervenieren. Deshalb fordern seit 1974 zahlreiche UN-Resolutionen den Rückzug der türkischen Truppen und die Wiedervereinigung der Insel in Form einer bi-kommunalen und bi-zonalen Föderation. Diese Lösungsformel ist inzwischen in beiden Teilen Zyperns mehrheitsfähig, weil sich auf beiden Seiten seit 1974 nachhaltige Einsichten vollzogen haben:

  • Die griechischen Zyprioten haben verstanden, dass jeder Versuch, den Anschluss an Griechenland zu erzwingen, angesichts der Nähe und militärischen Überlegenheit der Türkei nur zur Teilung führt.
  • Die türkischen Zyprioten haben verstanden, dass die türkische Armee 1974 nicht etwa ihre Landsleute in Zypern retten, sondern eine geostrategische Basis erobern wollte, die angeblich dem Schutz des "weichen Unterleibs" von Anatolien dient.

Diese historischen Lehren prägen heute das Bewusstsein der Zyprioten. Während aber im Süden die Legitimität der - nunmehr rein griechischen - Republik nie in Frage stand, hat die Legitimität des Separatstaates in dem Maße gelitten, in dem die türkischen Zyprioten ihre Identität bedroht fühlen. Heute sieht sich die Mehrheit im Norden durch das türkische "Protektorat" und 35.000 anatolischer Soldaten weniger beschützt als gegängelt, entmündigt, und demographisch majorisiert: Die Ansiedlung türkischer Einwanderer, die das Regime stärken, drängte die autochthone Bevölkerung in die Defensive und zunehmend in die Emigration. Die Auswanderung Zehntausender türkischer Zyprioten (v.a. nach Großbritannien) hat dazu geführt, dass die Siedler im Norden heute die Einheimischen majorisieren.

Dies und die ökonomische Dauerkrise brachten die Behauptung von Denktasch, das Zypern-Problem sei seit 1974 gelöst, in Widerspruch zum Lebensgefühl seiner Untertanen. Diese wollen zwar immer noch "in Sicherheit" leben und "ihre eigenen Herren" sein. Gerade dieses Bedürfnis wird aber durch das türkische Protektorat bzw. die "Türkische Republik Nordzypern", TRNC, nicht bedient.

Im Süden brachten die griechischen Zyprioten seit 1974 ein Wirtschaftswunder zustande, das ihre Identifikation mit dem Rumpfstaat gefestigt hat. Der ökonomische Boom ging aber mit einer Urbanisierung und sozialen Mobilität einher, in deren Gefolge die Erinnerungen an die "verlorene Heimat" selbst bei älteren Flüchtlingen zu nostalgischen Abziehbildern verblassten, die wenig mit der persönlichen Lebenswirklichkeit zu tun haben. Der Wohlstand konnte allerdings nicht das Defizit an Sicherheit kompensieren, die man durch die türkische Armee im Norden bedroht fühlte. Deshalb wurde die Idee, die Aufnahme in die Europäische Union anzustreben, viel weniger als ökonomisches Projekt gesehen denn als "politische Versicherung" gegenüber der Bedrohung aus dem Norden.

Die europäische Perspektive für Zypern wurde 1990 vom damaligen Präsidenten Vassiliou vorgeschlagen, der damit die EG für eine Lösung des Zypern-Problems einzuspannen gedachte, weil er davon ausging, dass die EG/EU sich kein geteiltes Zypern leisten wolle. Diese Strategie war aber nur stimmig, wenn die Union für eine aktive Türkei-Politik zu gewinnen war. Denn nur eine Beitrittsperspektive bot der Türkei den Anreiz, zu einer Zypern-Lösung beizutragen. Die Öffnung der EU gegenüber Ankara erforderte allerdings die Zustimmung Athens, die erst auf dem EU-Gipfel von Helsinki im Dezember 1999 erfolgte. Hier erreichte die Regierung Simitis - als Gegenleistung für ihre Zustimmung zum Kandidatenstatus der Türkei -, dass der Beitritts Zyperns von der Bedingung einer vorherigen Lösung entkoppelt wurde. Seitdem kann Ankara den EU-Beitritt der Insel nicht mehr durch Obstruktion einer politischen Lösung blockieren.

Die griechischen Zyprioten feierten Helsinki als großen Erfolg. Allerdings sahen sie die EU-Perspektive 1999 nicht mehr als Hebel für eine "Wiedervereinigung": Der EU-Beitritt nur von "Griechisch-Zypern" war zum Selbstzweck geworden. Für den Norden dagegen gewann die EU eine immer existentiellere Bedeutung: Da die von Ankara kontrollierte, international nicht anerkannte und ökonomisch isolierte TRNC keine Perspektive bietet, gilt der "Ausweg nach Europa" als letzte Chance, eine autonome zypro-türkische Gesellschaft zu bewahren. Das setzt allerdings voraus, dass vor dem EU-Beitritt eine politische Lösung gefunden wird, denn die Mitgliedschaft nur des Südens erhöht die Gefahr, dass der Norden faktisch zu einer türkischen Provinz wird. Das ist der tiefere Grund, warum die Opposition im Norden verzweifelt auf eine neue UN-Initiative zur Überwindung der Teilung hoffte.

Der Annan-Plan und sein vorläufiges Scheitern

Mit der Vorlage des Annan-Plans am 11. November 2002 versuchte der UN-Generalsekretär - einen Monat vor dem Kopenhagener Gipfel - alle Faktoren zu aktivieren, die an einer Zypern-Lösung noch vor der EU-Erweiterung interessiert waren, insbesondere also die EU und die USA. Ermutigt wurde Annan auch durch das Wahlergebnis in der Türkei, das am 3. November der gemäßigt islamischen AK-Partei eine absolute Mehrheit im Parlament verschafft hatte, denn der AKP-Vorsitzende Erdogan ließ eine flexiblere Haltung in Sachen Zypern erkennen.

Dass eine Zypern-Vereinbarung noch vor oder in Kopenhagen nicht zustande kam, lag vor allem an der türkischen Seite. Auf Druck der AKP-Führung akzeptierte Denktasch zwar den AP als Verhandlungsgrundlage. Aber indem er ihn als politische "Falle" , ja als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnete, machte er alle Verhandlungen aussichtslos. Das konnte er nur mit Rückendeckung der Militärführung in Ankara, wo er viele Freunde hat, die zuvor Befehlshaber der türkischen Truppen in Nordzypern waren. Da der Generalstab Zypern als Problem der nationalen Sicherheit definierte, konnte und wollte die AKP-Regierung keinen Konflikt mit dem Militär riskieren.

Die Reaktion der türkischen Seite bewahrte die Regierung Klerides vor einem ernsten Dilemma. Die akzeptierte den AP zwar als Verhandlungsgrundlage, war aber nicht bereit, ihn ohne substantielle Änderungen zu unterschreiben. Klerides musste diese Position jedoch nicht zu Protokoll geben, weil Denktasch erst gar nicht nach Kopenhagen anreiste. So konnten sich die griechischen Zyprioten gegenüber der EU als die gesprächsbereite Partei darstellen. Zu dieser Haltung hatte auch die Regierung Simitis in Athen gedrängt, die den Annan-Plan weit positiver beurteilte als die Regierung Klerides. Doch die Einwirkungsmöglichkeiten der griechischen Regierung im Süden Zyperns sind ungleich schwächer als die Hebel, über die das türkische Militär in seinem Protektorat im Norden verfügt.

Ungeachtet des asymmetrischen Einflusses der "Mutterländer" auf die zypriotischen Verhältnisse gilt nach wie vor, dass das politische Klima zwischen Athen und Ankara zu den wichtigsten Parametern des Zypern-Konflikts gehört. Wenn es heute eine Lösungschance gibt, ist dies vor allem ein Verdienst der Entspannungspolitik der Athener Regierung und vor allem von Außenministers Papandreou. Dabei beruht die Entscheidung Athens, die EU-Perspektive der Türkei zu unterstützen, auf der höchst plausiblen Überlegung, dass eine auf "EU-Standards" verpflichtete Türkei für Griechenland ein besserer Nachbar ist. Umgekehrt gilt freilich, dass ohne eine Lösung der Zypern-Frage die griechisch-türkische Entspannungspolitik langfristig gefährdet ist.

Für die große Mehrheit der türkischen Zyprioten war der AP ihre letzte Hoffnung. Als Denktasch diese Hoffnung in Kopenhagen zunichte machte, ging die Opposition einen verzweifelten Schritt weiter. Im Januar und Februar 2003 demonstrierten 60.000, vielleicht sogar 80.000 türkische Zyprioten unter EU-Fahnen für die sofortige Annahme des Annan-Plans ("Denktasch, unterschreib oder tritt zurück!"). Damit war aller Welt - und der türkischen Öffentlichkeit - vor Augen geführt, dass Denktasch die türkischen Zyprioten nicht mehr repräsentiert. Zumal die Demonstrationen von einer gesellschaftlichen Dynamik zeugten, die weit über die Oppositionsparteien hinausreichte. Ihre treibende Kraft war das Komitee "Dieses Land ist unser", in dem die Gewerkschaften und die Türkische Handelskammer eine führende Rolle spielten.(2)

Im Süden reagierte die Bevölkerung auf den Annan-Plan zunächst skeptisch bis negativ. Das lag auch am Fehlen einer öffentlichen Debatte, die den komplexen und komplizierten AP verständlich gemacht hätte.(3) Vor der Präsidentenwahl am 16. Februar 2003 wollte kein Kandidat durch Eintreten für den AP seine Chancen mindern. Eine klare Stellung bezogen nur die Kräfte der "Ablehnungsfront" wie etwa die Orthodoxe Kirche.

Die Skepsis rührte aber auch von einem jahrzehntelangen Versäumnis der politischen Klasse. So lange keine Lösung in Sicht war, brauchte man über die Bedingungen - und Zumutungen - einer realistischen Lösung nicht nachzudenken und konnte die alte selbstbemitleidende oder nationalistisch gefärbte Rhetorik pflegen. Die Unsicherheit über den AP und das mangelnde Engagement der Befürworter begünstigten im Wahlkampf den Herausforderer Papadopoulos, der als Kandidat eines Parteienbündnisses seiner Demokratischen Partei (Diko) mit der Akel (der ehemals moskautreuen "kommunistischen" Partei) und der sozialdemokratischen Kisos-Edek gegen den amtierenden Präsidenten Klerides antrat. Auch Papadopoulos akzeptierte den AP als Verhandlungsbasis. Doch seine Wähler wussten, dass sie einen Hardliner unterstützten, der überdies aus Sicht der türkischen Zyprioten das griechische Pendant zu Denktasch darstellt. Deshalb kam die Entscheidung für einen Präsidenten Papadopoulos - von dem fast alle Wähler wussten, dass die Athener Regierung über seine Kandidatur höchst unglücklich war - einem verkappten Plebiszit der griechischen Zyprioten gegen den Annan-Plan und einer Absage an die Hoffnungen der Opposition im Norden gleich.

Die kritischen Punkte des Annan-Plans

Die komplizierten Bestimmungen des Annan-Plans lassen sich in neun Punkten zusammenfassen:

  • Das neue Zypern ist eine bi-zonale Föderation, also ein Staat mit ungeteilter Souveränität und einheitlicher Staatsbürgerschaft.
  • Die Föderation besteht aus zwei Teilstaaten (constituent states) mit weitgehender innerer Autonomie; für den Norden ist eine klare türkische, für den Süden eine griechische Bevölkerungsmehrheit festgeschrieben, die durch Rückwanderung von Flüchtlingen nicht gefährdet werden darf.
  • Das Regierungssystem soll "die politische Gleichheit von griechischen und türkischen Zyprioten (...) garantieren, zugleich aber auf demokratische Weise die erheblich größere Zahl griechisch-zypriotischer Bürger berücksichtigen", aber auch die "Dominanz" einer Volksgruppe über die andere verhindern, ohne das effektive Funktionieren der Regierung zu gefährden.(4) Die politische Gleichheit der Teilstaaten garantiert eine föderative Verfassung mit starker zweiter Kammer; eine Dominanz der griechischen soll die überproportionale Repräsentation der türkischen Seite auf der Ebene des Gesamtstaates verhindern; das Funktionieren auf der föderativen Ebene wird durch institutionellen Zwang zur Kooperation gewährleistet.
  • Der südliche Teilstaat ist so zugeschnitten, dass ca. 54 Prozent der griechischen Flüchtlinge von 1974 zurückkehren können, weil ihre alten Wohnorte an den südlichen Teilstaat fallen (der 71 Prozent statt bisher 64 Prozent des Inselterritoriums umfasst).
  • Die Niederlassungsfreiheit ist doppelt eingeschränkt: Die Zahl der Rückkehrer (d.h. Flüchtlinge) ist nach zeitlichen Phasen kontingentiert, aber auch absolut gedeckelt: In beiden Teilstaaten sollen maximal 15 Prozent der Einwohner zur anderen Volksgruppe gehören. Volle Freizügigkeit gibt es erst dann, wenn die Türkei der EU beitritt.
  • Die Eigentümer von Grundstücken oder Häusern im jeweils "anderen" Teilstaat müssen zwischen Rückforderung und Entschädigung wählen. Das Rückforderungsrecht ist insofern eingeschränkt, als Flüchtlinge, die ihr Eigentum auf der "anderen Seite" nicht beanspruchen, ein relatives Vorrecht auf ihren jetzigen Besitz genießen. Auch bei den Rückforderungen gibt es eine absolute Obergrenze: Maximal 10 Prozent des Landes in einem Teilstaat (20 Prozent auf Gemeindeebene) dürfen Angehörigen der anderen Volksgruppe gehören.
  • Der Status der türkischen "Siedler" im Norden wird nach Kriterien geregelt, die maximal 45 000 von ihnen (etwa der Hälfte) die zypriotische Staatsbürgerschaft zugestehen. Für strittige Fälle gibt es eine Schiedsstelle.
  • Die Militärkontingente der Garantiemächte Griechenland (im Süden) und Türkei (im Norden) werden auf je 6000 Mann begrenzt.(5) Sie werden spätestens mit dem EU-Beitritt der Türkei abgezogen.
  • Eine von der Führung beider Volksgruppen ausgehandelte Fassung des Plans soll in einem getrennten Referendum im Norden und im Süden zur Abstimmung gestellt werden.

Ablehnung im Norden

Für die Führung im Norden - und die herrschende Meinung in Ankara - ist die türkische Volksgruppe eine separate Nation mit eigenem Recht auf Selbstbestimmung. Das begründet die Forderung nach Anerkennung der TRNC, die mit dem "Südstaat" allenfalls eine Konföderation eingehen könne. Abgelehnt wird damit auch die völkerrechtliche Kontinuität der Republik und die "single indivisible sovereignity",(6) die den Kern des Annan-Plans ausmachen. Aus dieser Fundamentalopposition gegen die von UN und EU befürworteten Prinzipien ergibt sich die Ablehnung aller zentralen Punkte des Annan-Plans:

  • Selbst die beschränkten Rücksiedlung griechischer Flüchtlinge wird abgelehnt, da sie die türkischen Zyprioten "auszulöschen" drohe.
  • Die Aufgabe von sieben Prozent Territorium gilt als unzumutbar, sie bedeute die interne Umsiedlung von ca. 100.000 Menschen.(7)
  • Dass Flüchtlinge ihre Eigentumsansprüche durch Rückgabe geltend machen können, wird prinzipiell abgelehnt, man besteht auf einem pauschalen Besitzaustausch zwischen beiden "Staaten".
  • Die Existenz der Siedlerfrage wird geleugnet, weil man das souveräne Recht auf Vergabe einer eigenen Staatsbürgerschaft beansprucht.
  • Dasselbe gilt für die Präsenz des türkischen Militärs, über die habe nur der türkische Teilstaat in Absprache mit Ankara zu befinden.

Diesen negativen Bewertungen der TRNC-Regierung widerspricht die Opposition in fast allen Punkten. Sie hat allenfalls graduelle Einwände gegen den Plan, im Fall eines Referendums (wie im AP vorgesehen) würde sich die Opposition für den AP in seiner vorliegenden Fassung einsetzen. Fast alle Beobachter glauben, dass sich dabei eine klare Mehrheit für das UN-Konzept ergeben würde.

Einwände aus dem Süden

Für die griechische Seite hatte die Regierung Klerides den Annan-Plan als Verhandlungsgrundlage akzeptiert. Doch gegenüber den UN-Vermittlern brachte Klerides gravierende Einwände vor:

  • Das Rückkehrrecht wurde als zu restriktiv kritisiert, v.a. die absolute Beschränkung der Rückkehrerzahl.
  • Die Regelung der Eigentumsansprüche wird bemängelt, da weit mehr griechischer Besitz im Norden zurückgeblieben ist als türkischer Besitz im Süden.
  • Starke Bedenken hat man gegen die Konstruktion der Zentralregierung, die als nicht funktionsfähig kritisiert wird.
  • Die Präsenz türkischer Soldaten im Norden wird akzeptiert, man will diese jedoch in eine internationale Friedenstruppe einbinden. Die Fortexistenz von drei Garantiemächte wird abgelehnt, denn sie bedeute eine Beschränkung der Souveränität, die für einen EU-Staat völlig unangebracht sei.

Obwohl diese Einwände zentrale Punkte des Plans betrafen, bewegten sie sich "innerhalb der Parameter" des Annan-Plans, wie der Generalsekretär in seinem Bericht an den UN-Sicherheitsrat vom 1. April 2003 feststellte. Zum Teil waren sie auch als Verbesserungsvorschläge, etwa an der Verfassung, formuliert. Klerides kam jedoch dank der Haltung Denktaschs nie in die Verlegenheit, klar sagen zu müssen, ob er den AP ohne substantielle Änderungen unterschreiben würde. Annan vermerkt dazu: "Mr. Clerides indicated that, should they not be able to agree on changes by the end of February, he would be prepared to sign the plan as it stood."(8)

Ebenfalls zweifelhaft ist, ob ein von Klerides unterzeichneter Plan von den griechischen Zyprioten in einem Referendum abgesegnet worden wäre. Die politisch-publizistische "Ablehnungsfront" bombardierte den AP jedenfalls mit Argumenten, die ebenso grundsätzlich und nationalistisch gefärbt waren wie die Denktasch-Propaganda im Norden. Sie scheuten auch nicht vor dem absurden Argument zurück, über die föderativen Strukturen könnten die "Agenten Ankaras" die Kontrolle über ganz Zypern erlangen. Vor allem forderten sie die unverzügliche Rückkehr aller Flüchtlinge und die volle Restitutierung ihrer Eigentumsrechte, sowie den Abzug aller türkischen Soldaten und Siedler von der Insel.

Das Urteil der Regierung Papadopoulos

Die demagogischen Argumente der Gegner waren nur durch Verweis auf die grundsätzlichen Vorzüge des Planes zu entkräften. Ein solcher Diskurs war vor den Präsidentschaftswahlen im Süden nicht möglich, weil die AP-Befürworter die Köpfe einzogen. Der Wahlsieg von Papadopoulos hat die Skepsis zur offiziellen Position gemacht. Obwohl der neue Präsident zu weiteren Gesprächen auf Basis des Plans bereit ist, bleibt seine Haltung durch prinzipielle Bedenken geprägt:

  • Papadopoulos hat alle früheren Lösungspläne der UN vehement zurückgewiesen, zum Teil mit Argumenten der Ablehnungsfront; 1999 kritisierte er sogar den EU-Beschluss von Helsinki, weil er Ankara den EU-Kandidatenstatus ohne hinreichende Gegenleistung gewährt habe.
  • Seinem Gegenspieler Klerides warf Papadopoulos vor, er habe in den Verhandlungen mit dem UN-Beauftragten de Soto zu viele Zugeständnisse gemacht, deshalb enthalte der Annan-Plan zu viele für die griechische Seite negative Punkte.
  • Auch als Präsident bekräftigte er seine Wahlkampfaussage, alle Flüchtlinge müssten sofort das Recht auf Rückkehr erhalten. Das ist ein frontaler Einwand gegen den AP, zu dessen tragenden Säulen die Beschränkung des Rückkehrrechts gehört.

Dieser Einschätzung widerspricht auf den ersten Blick, dass der neue Präsident der Einladung Kofi Annans nach Den Haag folgte, wo er und Denktasch am 10. März 2003 erklären sollten, ob sie den AP ihrer jeweiligen Volksgruppe zum Referendum vorlegen würden. Papadopoulos sagte dies zu, "wenn die andere Seite bereit ist, das gleiche zu tun".(9) Diese Zusage kostete freilich nichts, denn Denktasch hatte seine strikte Ablehnung bereits verkündet. Zudem knüpfte Papadopoulos seine eigene Bereitschaft an Bedingungen, die längere Verhandlungen erfordert hätten. Sein wichtigstes Ziel war offensichtlich, dass der EU-Beitrittsvertrag am 16. März in Athen allein von den griechischen Zyprioten unterschrieben wurde.

Dass die Hauptverantwortung für das vorläufige Scheitern des Annan-Plans bei Denktasch und seinen Freunden in Ankara liegt, steht außer Zweifel. Das hat Annan in seinem Zypern-Bericht an den Sicherheitsrat klar zu Protokoll gegeben und hinzugefügt, Denktasch habe damit auch gegen die "concrete and practical interests of the Turkish Cypriots" gehandelt.(10) Aber der Bericht macht auch klar, dass die Verantwortung nicht nur auf türkischer Seite liegt: Beide Seiten hätten die Verhandlungen als Nullsummen-Spiel gesehen, bei dem ein Gewinn der einen Seite einen Verlust für die andere bedeutet. Ein weiterer kritischer Satz ist speziell an die griechische Seite gerichtet. Diese gehe davon aus, dass es um die Wahl zwischen einem Kompromiss auf der Linie des UN-Plans und einem besseren Abkommen gehe. In Wahrheit sei die Alternative die Nicht-Lösung des Zypern-Problems, das aber habe die griechische Seite ihrem Publikum nicht klargemacht.(11)

Dieser Vorwurf trifft besonders auf den neuen Präsidenten zu. Alle Aussagen, die Papdopoulos und seine Umgebung zum AP machen, lassen die Einsicht vermissen, das dieser die voraussichtlich letzte Chance bietet, die EU-Perspektive doch noch als Katalysator für eine Lösung zu nutzen. Diese Einsicht ist von einem griechischen Nationalisten, der sich nie Gedanken über das Schicksal der türkischen Zyprioten gemacht hat, freilich kaum zu erwarten. Bei Papadopoulos kommt eine déformation professionelle hinzu, insofern er den AP offenbar durch die Brille des Juristen und zudem als worst-case-scenario liest, das voller Fallen und Fußangeln steckt.

In der Tat hängt die Bewertung des Annan-Plans ganz davon ab, ob man ihn im Lichte der Erfahrungen liest, die zur Zerstörung der Verfassung von 1960 geführt hat - an der Papadopoulos selbst maßgeblichen Anteil hatte - oder mit dem Vorsatz einer immer engeren Kooperation in der Zukunft. Wer beim Studium des APs stets an die Krise von 1963/64 zurückdenkt, wird ähnliche politische Blockaden und Verfassungskrisen befürchten, wie sie schon die Erste Republik zerstört haben. Sieht man ihn dagegen als Blaupause für einen Föderativstaat, der zur Europäischen Union gehört, erkennt man ein balanciertes Modell, das die Teilung schrittweise überwinden kann, wenn beiderseits der gute Willen dominiert. Denn der AP ist keineswegs eine hermetische Vorgabe, sondern von pragmatischer Elastizität. Eine Revision seiner Bestimmungen ist immer dann möglich, wenn sich beide Seiten auf Veränderungen einigen. Damit wird für die Bewertung des UN-Planes eine subjektive Variable entscheidend: die Fähigkeit der Zyprioten zu vernünftigem und sensiblem Zusammenwirken.

Dies ist an einem Beispiel zu illustrieren: Schwerfällig erscheint die im AP entworfene Verfassungsstruktur nur unter der Annahme, dass die politischen Kräfte auf beiden Seiten stets nationalistisch gepolt und als starre Blöcke organisiert sind. Auf mittlere Sicht ist jedoch viel wahrscheinlicher, dass sich gemischte Parteien bilden, die in beiden Teilstaaten antreten und im Gesamtparlament eine bi-kommunale Fraktion bilden. Mitte 2003 ergab eine Umfrage, dass eine griechisch-türkische Partei keine tollkühne Utopie ist. Die Vorstellung, eine solche Partei zu wählen, bejahten im Süden 55 Prozent, im Norden fast 40 Prozent der Befragten.(12)

Der 23. April und seine Folgen

Diese ermutigenden Zahlen reflektieren auch die Veränderungen, die sich in den letzten Monaten vollzogen haben. Im April beschloss die Denktasch-Regierung - auf Druck aus Ankara-, das hermetische Regime an der Demarkationslinie ("green line" genannt) aufzuheben. Seitdem können sich griechische und türkische Zyprioten über drei Übergänge beliebig oft auf "die andere Seite" begeben. Auf griechischer Seite wird bei den Besuchern aus dem Norden überprüft, ob sie Zyprioten sind (türkische Siedler und Soldaten werden nicht eingelassen). Auf türkischer Seite müssen sich die Besucher aus dem Süden mit ihrem Reisepass ausweisen.

Dass sich Denktasch und Ankara zu diesem Entspannungsschritt entschlossen haben, lässt sich auf mehrere Motive zurückführen:

  • Die Stimmung im Norden war nach dem Athener EU-Gipfel auf den Nullpunkt gesunken. Die Öffnung hatte also im Wortsinne eine Ventilfunktion.
  • Im Hinblick auf die Parlamentswahlen im Dezember will Denktasch den Parteien der Opposition den Wind aus den Segeln nehmen.
  • Die Regierung Erdogan hatte den schlechten Eindruck auszubügeln, den sie bei den EU-Partnern durch ihr Fernbleiben von der Athener Unterzeichungszeremonie hinterlassen hatte.

Die Opposition im Norden unterstellt Denktasch ein weiteres Motiv. Er habe gehofft, die griechische Seite blamieren zu können. Mit der Forderung, dass die griechischen Zyprioten an den Kontrollpunkten der TRNC ihren Pass vorlegen müssen, habe er auf den "Anerkennungskomplex" des Südens spekuliert, also gehofft, dass die Regierung die griechischen Zyprioten davon abhalten würde, ihre Freizügigkeit zum Preis des Passvorzeigens wahrzunehmen.

Diese Kalkulation war auch realistisch. Die Regierung Papadopoulos führte in den ersten Tagen eine Kampagne, die das Vorzeigen des Passes als Anerkennung des "Pseudo"-Staates qualifizierte und den Marsch über die grüne Linie in die Nähe des Verrats rückte. Doch die griechischen Zyprioten ließen sich nicht abschrecken, sie stimmten mit den Füßen ab. Damit hatte die "Volksdiplomatie" die Politiker besiegt. Heute beschränken sich Regierung und regierungsnahe Medien auf Appelle, die Besuche im Norden auf "politisch korrekte" Anlässe zu beschränken. Als unbedenklich gelten patriotische Wallfahrten: der Besuch im alten Heimatdorf, um die Gräber der Ahnen zu besuchen und in der Kirche eine Kerze anzuzünden. Als bedenklich gelten dagegen normale Ausflüge; anstößig sind Vergnügungsreisen, die mit Geldausgaben verbunden sind.

Auch diese Bedenken der Regierung werden immer weniger beachtet. Die pragmatische Taubheit gegenüber patriotischen Phrasen ist mittlerweile statistisch erfasst: Die grüne Linie wurde innerhalb der ersten vier Monate sei dem 23. April von etwa 550.000 Besucher aus dem Süden (über 450.000 aus dem Norden) überschritten, die Zahl der täglichen Besucher hat sich bei 7.000 (ca. 5.000 aus dem Norden) eingependelt.(13)

Die neue Beweglichkeit hat die Chancen für eine politische Lösung auf gesellschaftlicher Ebene dramatisch verbessert. Die tausendfachen Begegnungen zwischen griechischen und türkischen Zyprioten erlauben - nach Aussagen von beiden Seiten - ein ermutigendes Fazit:

  • Dass es zu keinerlei ernsten Zwischenfälle kam, zeigt an, dass die Menschen aus der Vergangenheit gelernt haben. Wo es zu kleineren Streitigkeiten kam, reagierte die Umgebung so besonnen, dass latente Ressentiments eher abgebaut wurden.
  • Gerade die Begegnungen zwischen Flüchtlingen tragen dazu bei, das gegenseitige Verständnis zu fördern. Wenn etwa griechische Zyprioten ihre alten Häuser aufsuchen, treffen sie in der Regel türkische Zyprioten an, die selbst ein Haus im Süden zurückgelassen haben. Zwischen solchen Familien sind Freundschaften entstanden, die eine Lösung der Besitzfrage im gegenseitigen Respekt erleichtern werden.
  • Zwischen den jüngeren Generationen verlaufen die Kontakte ähnlich problemlos wie zwischen den Älteren, die sich noch an die "gute alte Zeit" erinnern. Das offizielle Feindbild, das mangels persönlicher Kontakte unüberprüfbar war, bricht rasch zusammen, wenn die Jugendlichen bei "den Anderen" ganz ähnliche Bedürfnisse und Interessen entdecken. Auf dieser Basis beginnt sich besonders in Nicosia eine grenzübergreifende Jugendkultur zu entwickeln.
  • Die neuen Kontaktmöglichkeiten erleichtern die bi-kommunalen Aktivitäten. Eine Kommunikation, die vorher nur über Internet oder mit großem logistischen Aufwand möglich war, wird zur alltäglichen Praxis. Das ermöglicht neue gemeinsame Aktivitäten (von der ersten bi-kommunalen Modenschau bis zu Liebesbeziehungen), die vor dem 23. April undenkbar waren.
  • Die Diskussionen auf beiden Seiten werden offener geführt, seit Politiker, Unternehmer, Gewerkschafter und Journalisten in den Medien der "anderen Seite" regelmäßig zu Wort kommen.(14) Inzwischen planen Journalisten beider Seiten eine gemeinsame Zeitung, die der griechisch-türkischen Kommunikation eine völlig neue Dimension verleihen würde.

Solche Erfahrungen und Gesten summieren sich zu einem Befund von historischer Bedeutung: Eine Lösung des Zypernproblems wird nicht an den Menschen scheitern. Auf beiden Seiten will die große Mehrheit ein neues, nachbarschaftliches Zusammenleben in einer föderativen Staatsordnung. Der Mythos, dass nach den Erfahrungen von 1964 und 1974 ein gemeinsamer Neubeginn unmöglich sei, ist zerstört. Die Lebenslüge der Nationalisten beider Seiten wird von der Bevölkerung nicht mehr angenommen.

Das bedeutet freilich nicht, dass von heute auf morgen alle Probleme lösbar wären und ein Neuanfang voraussetzungslos beginnen könnte. Der sensible Umgang mit den "anderen Landsleuten" zeigt gerade, wie behutsam die Menschen das neue Vertrauenskapital pflegen. Eine dauerhafte Lösung des Zypern-Problems erfordert deshalb eine institutionelle Lösung, die von einer großen Mehrzahl auf beiden Seiten als gerecht oder zumindest als das kleinere Übel gegenüber der Teilung empfunden wird. Aber diese Lösung muss auf beiden Seiten gegen eine skeptische oder ängstliche Minderheit durchgesetzt werden.

Eine solche Minderheit gibt es im Norden wie im Süden. Sie speist sich aus Ignoranz und nationalistisch eingefärbten Informationen, aber auch aus Ängsten, die den Antagonismus der Vergangenheit in die Gegenwart verlängern und in die Zukunft projizieren. Solche Gefühle sind auch deshalb ernst zu nehmen, weil sie oft mit handfesten Interessen verknüpft sind.

Ein politisches Profil des Südens

Im Norden wehrt sich vor allem die Klientel, die vom Denktasch-Regime profitiert, sei es in Form von hinterlassenen griechischen Besitztümern, sei es durch Profitchancen, die sich aus der Präsenz der türkischen Armee ergeben (Versorgungs- oder Bauaufträge). Im Süden ist die Interessenfärbung der Opposition gegen den Annan-Plan weit weniger offensichtlich. Aber auch hier gibt es Interessengruppen, die von einem vereinigten Zypern materielle Nachteile befürchten.

So könnten gewisse Dienstleistungsbranchen Kunden an billigere Anbieter im Norden verlieren (Handwerk, Gaststättengewerbe). Konkurrenzangst herrscht vor allem im touristischen Sektor, der im Süden bereits das zweite Jahr in Folge schrumpft. Im ersten Halbjahr 2003 ging die Zahl der Touristen um 12 %, der Umsatz des Sektors sogar um 17 % zurück.(15) Am stärksten bedroht fühlen sich Regionen, die ohne die Teilung der Insel gar keinen touristischen Boom erlebt hätten. So dürften etwa geplante Marinas in Limassol und Larnaca kaum mehr gebaut werden, da nach einer Lösung selbst griechische Zyprioten ihre Yachten an die attraktivere Nordküste verlagern werden.

Wie weit die Interessen der betroffenen Kreise die Papadopoulos-Regierung beeinflussen, ist schwer zu sagen. Offensichtlich ist jedenfalls, dass die Kampagne der Regierung gegen Geldausgaben der griechischen Zyprioten im Norden im Sinne des Gaststätten- und Hotelgewerbes im Süden ist.(16) Es dürfte also kein Zufall sein, dass die Regierung nach dem 23. April ihre Einwände gegen den AP viel offener und prinzipieller formuliert. "Nach dem 23. April ist die Philosophie des Anan-Plans gestorben", formulierte es ein Spruchband auf der Kundgebung des Präsidenten am 20. Juli. Als hätte er diesen Satz zum Programm erhoben, erklärte Papadopoulos, der Annan-Plan in seiner vorliegenden Fassung sei auf keinen Fall akzeptabel, sondern "gleichbedeutend mit der Anerkennung von Invasion und Besetzung". Damit hat er die Zustimmung, die er Kofi Annan in Den Haag suggeriert hatte, drei Monate später dementiert.

In dieses Bild passt, dass Papadopoulos immer wieder auf der Rückkehr aller griechischer Flüchtlinge besteht. Damit bestärkt er die Befürchtung der türkischen Zyprioten, die griechische Seite habe die "demographische Rückeroberung" des Nordens im Auge. Dabei ist das Insistieren auf dem unbeschränkten Rückkehrrecht reine Demagogie, weil es ein nichtiges Problem zur Prinzipienfrage macht. Denn in Zypern wissen selbst die Flüchtlingsverbände, dass nur ein geringer Teil ihrer Mitglieder an ihre alten Wohnorte zurückziehen würde, wenn diese im nördlichen Teilstaat verbleiben. Nach einer Umfrage von Anfang Juni wollen derzeit nur 13 Prozent der griechischen Zyprioten unter türkischer Verwaltung leben.(17)

Die Zahl der Rückkehrer zu begrenzen, ist aber nicht nur eine realistische, sondern auch eine vernünftige Regelung. Denn damit würden zunächst nur die Menschen zurückkehren, die auf der anderen Seite leben wollen, also auch bereit sind, die andere Sprache zu lernen. Erst mit dem Wachsen einer zweisprachigen Generation kann sich eine neue, pan-zypriotische Identität entwickeln. Erst wenn sich die Erfahrungen einer neuen Symbiose akkumuliert haben, wird beiderseits die Bereitschaft wachsen, die Beschränkungen des Rückkehrrechtes zu lockern (was die im AP skizzierte Verfassung sehr wohl erlaubt). Aber dieser Prozess muss von beiden Volksgruppen über realistische Zwischenschritte "erarbeitet" werden. Wer die Annäherung dekretieren will, hat in Wirklichkeit vor, sie zu torpedieren.

Die mangelnde Bereitschaft zu ehrlichen und konstruktiven Zugeständnissen an die Menschen im Norden zeigt auch das Schicksal der Maßnahmen, die Papadopoulos am 30. April verkündet hat. Sie sollten u.a. legale Handelsbeziehungen innerhalb Zyperns wie auch den Export von Produkten des Nordens in EU- und Drittländer ermöglichen. Letzteres wurde von Denktasch verhindert, indem er die Ausfuhr über die Häfen Südens, wie von der EU gefordert, verweigert hat. Die Legalisierung des innerzypriotischen Handel scheiterte dagegen an der Weigerung der griechischen Seite, die notwendigen steuer- und zollrechtlichen Ausnahmeregelungen einzuführen.

Auch Fortschritte auf anderen Gebieten laufen sich immer wieder in kleinlichen Status- und Anerkennungsfragen fest. Da die Republik sämtliche Institutionen des "Pseudo-Staates" im Norden als illegal oder nicht existent definiert, blockiert sie z.B. auch wissenschaftliche Kontakte zwischen der Universität Nicosia im Süden und den "Pseudo-Universitäten" im Norden. Selbst die Kooperation von Nichtregierungsorganisationen scheitert oft an legalistischen Vorbehalten der griechischen Seite.

Da sich die griechischen Zyprioten oft auf das Vorbild der deutschen Vereinigung berufen, ist in diesem Punkt ein Vergleich mit der Ostpolitik der Bundesregierung angebracht. An diesem Vorbild gemessen zeigt sich die Regierung Papadopoulos geistig und praktisch unfähig, eine konstruktive "Nordpolitik" zu entwickeln. Der Grundsatz der Brandt-Bahr'schen Politik wird in Nicosia geradezu auf den Kopf gestellt: Das Beharren auf abstrakten Rechtspositionen verhindert konkrete Fortschritte für die Menschen.

Damit erweckt die Regierung Papadopoulos den Eindruck, als wolle sie dem AP ein anderes Lösungsmodell entgegensetzen: die Integration der türkischen Zyprioten als individuelle Staatsbürger in die alte Republik, die diesen freilich eine rechtliche Protektion auf EU-Niveau bieten würde. Doch damit verkennt man, dass die große Mehrheit der türkischen Zyprioten durchaus mehr will: die gleichberechtigte Mitwirkung in einer Föderation Zypern, die eine weitgehende Autonomie in ihrem eigenen Teilstaat garantiert. Sie bestehen also auf der bi-zonalen Konstruktion des gemeinsamen Staates, die zwar die völkerrechtliche Kontinuität des Staates Zypern wahren, aber staatsrechtlich einen Neuanfang setzen würde. Nur wenige Politiker im Süden treten für einen solchen Neuanfang ein.

Eine endgültige Absage an den Annan-Plan kann sich die Regierung Papadopoulos allerdings nicht leisten, weil sie bei UN und EU im Wort ist, das Konzept als Verhandlungsbasis zu akzeptierten. Doch substantielle Verhandlungen über den AP sind ihr durchaus unwillkommen. Die aber wären nicht zu vermeiden, wenn die Opposition im Norden die Parlamentswahlen gewinnen und die Regierung bilden würde. Sie könnte zwar Denktasch nicht als Präsidenten, wohl aber als Unterhändler bei den UN-Verhandlungen ablösen. Ein Sieg der Opposition im Norden würde die Regierung im Süden in ein Dilemma stürzen, vor dem Denktasch sie durch seine starre Position bislang bewahrt hat. Das erklärt, warum Papadopoulos objektiv alles tut, um Denktasch im Wahlkampf gegen die Opposition zu unterstützen. So sieht es auch die Opposition im Norden, die Papadopoulos vorwirft, dem Denktasch-Lager die Wähler zuzutreiben.

Eine politische Konstellation, in der sich die nationalistischen Kräfte über die grüne Linie hinweg die Bälle zuspielen, ist in der Geschichte Zyperns freilich eher die Regel als die Ausnahme. Aber es gab auch immer Gegenkräfte, die dem indirekten Bündnis der Nationalisten eine panzyprische Perspektive entgegensetzten: auf griechischer Seite die anti-nationalistische Linke, die sich parteipolitisch an der Akel orientierte, auf türkischer Seite die linke CTP. Beide Gruppen haben auch nach 1974 inoffizielle Kontakte gepflegt. Dass diese anti-nationalistische Achse ausgerechnet jetzt zerbrochen ist, da AP und EU-Mitgliedschaft eine gesamtzypriotische Perspektive eröffnen, ist eine besonders tragische Facette innerhalb der Tragödie der Teilungsgeschichte.

Den Bruch hat zuallererst die Akel zu verantworten, die Papadopoulos zum Präsidenten gemacht hat. Warum die Ex-Kommunisten zum Königsmacher ihres früheren Intimfeinds wurden, der zugleich der letzte einer gescheiterten Politikergeneration ist, wird im Süden immer noch heftig diskutiert. Manche sehen ein bloßes Zweckbündnis zwischen Papadopoulos und dem Akel-Vorsitzenden Christofias, der 2001 mit Hilfe der Diko zum Parlamentspräsiden gewählt wurde. Doch die Erklärung greift zu kurz. Christofias repräsentiert vielmehr eine Schicht qualifizierter Technokraten, die sich im öffentlichen Dienst gegenüber Kollegen mit bürgerlichem "Stallgeruch" diskriminiert fühlten. Diese neue Akel-Generation wollte noch vor dem EU-Beitritt unbedingt an die Futterkrippen, wenn neue Posten im Staatsapparat und das zypriotische Stellenkontingent in Brüssel besetzt werden.

Heute äußert sich Akel-Chef Christofias zum Annan-Plan ebenso kritisch wie sein Präsident und der dritte Koalitionspartner Kisos-Edek.(18) Und auch in der Regierung ist patriotischer Schulterschluss angesagt. Im Juli stimmten beide "linken" Parteien einem Rüstungsprojekt zu, das überhaupt nicht in die politische Landschaft passt: Für 60 Millionen Pfund (100 Millionen Euro) werden die Exorcet-Raketen des Südens umgerüstet, damit sie ein paar Kilometer weiter nach Norden fliegen können - im Ernstfall auf die Köpfe der türkischen Zyprioten. Auch deshalb fühlen sich die Denktasch-Gegner von der Akel im Stich gelassen.

Die Parlamentswahlen im Norden

Die Opposition im Norden hat gute Aussichten, die Parlamentswahlen im Dezember zu gewinnen, die sie zum Plebiszit über den Annan-Plan machen will. Um die Proteststimmen gegen Denktasch und seine Politik bewerben sich allerdings drei Wahllisten:

  • Die Republikanische Partei (CTP) von Mehmet Ali Talat als stärkste Oppositionspartei, die seit Juni 2002 die Bürgermeister der größten Städte des Nordens stellt;
  • die Bewegung für Frieden und Demokratie (BDP) mit dem Spitzenkandidaten Mustafa Akinci, Ex-Bürgermeister von Nicosia;
  • das Wahlbündnis "Lösung und Europäische Union" (CAP), gegründet von Ali Erel, der als Präsident der türkisch-zypriotischen Handelskammer für die EU-Perspektive kämpft.

Das Wählerpotential dieser drei Listen, die nach der Wahl eine Koalition gegen Denktasch bilden wollen, liegt nach Umfragen von Mitte August bei 60 Prozent. Ali Erel rechnet sogar mit 70 Prozent, will er doch mit seiner CAP viele Wähler von der Demokratischen Partei (DP) des Präsidentensohnes Serdar Denktasch abziehen. Auch die CTP wirbt gezielt um ein Segment des Denktasch-Lagers: Sie will Siedler gewinnen, indem sie ihnen verspricht, dass viele von ihnen auch nach einer Lösung in Zypern bleiben können, und zwar mit einem legalisierten Status.

Diese drei oppositionellen Gruppen haben im September ein Protokoll unterzeichnet, das einem vorweggenommenen Koalitionsvertrag gleichkommt. Darin verpflichten sie sich,

  • auf der Basis des Annan-Plans eine neue Föderative Republik anzustreben, in der die "politische Gleichheit" der beiden "constituent states" garantiert ist;
  • keine Koalition mit den "Status-quo-Parteien", also dem Denktasch-Lager einzugehen;
  • Denktasch als Verhandlungsführer durch ein "neues Team von Unterhändlern" abzulösen;
  • sich energisch jeder Einmischung in die Wahlen durch "Anti-EU-Kräfte in der Türkei" wie auch Versuchen zu widersetzen, den Wählerwillen durch "demographische Manipulationen" zu verzerren.

Diesen letzten Punkt betont insbesondere die BDP. Ihr Spitzenmann Akinci hat den Europarat in einem Brief aufgefordert, im Norden eine Volkszählung durchzuführen, um die Einbürgerung neuer Wähler vor dem Dezembertermin zu verhindern. Noch radikaler ist in dieser Frage die kleinste Oppositionspartei Patriotische Vereinigungsbewegung (YBH). Sie tritt gar nicht zu den Wahlen an, aus Protest gegen das Wahlrecht der ca. 50.000 bereits eingebürgerten Siedler.(19) Die YBH hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beantragt, diesen Siedlern das Wahlrecht abzuerkennen. Die Klage wird aber nicht vor 2004 behandelt werden. Dennoch könnte die YBH-Aktion das Denktasch-Lager davon abhalten, eine wachsame EU durch den Import neuer Wähler zu provozieren.

Aber auch ohne offene Manipulation wird Denktasch vor den Wahlen im Dezember alle Register ziehen, um eine Niederlage abzuwenden. Die entscheidende Frage ist dabei, wie sich die Agenturen Ankaras in Nord-Zypern verhalten, also die türkische Botschaft, die Armee und die Geheimdienste Ankaras. Die Opposition setzt zwar auf die Zusage der Regierung Erdogan, sie wolle sich nicht in die Wahlen einmischen. Doch das kemalistische Establishment und die türkischen Generäle zeigen deutlich, dass sie den Sieg der Kräfte wünschen, die "den gesunden Menschenverstand und das nationale Bewusstsein" repräsentieren, wie es General Kilinc am 20. Juli in Nicosia ausdrückte. Mit seiner Ausssage, man werde "die TRNC niemals allein lassen",(20) hat der Ex-Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats daran erinnert, dass das Militär schon mehrfach in die Regierungsbildung im Norden eingegriffen hat. Auf diese Möglichkeit spielt auch Denktasch mit seiner Drohung an, er werde im Fall eines Wahlsieg der Opposition seinen Kampf mit Hilfe "des Volks von Anatolien" fortzusetzen.(21)

Es wird also fast alles davon abhängen, ob das militärische und zivile Establishment der Türkei zu Denktasch hält, der noch stets als ihr Frontman auf Zypern funktioniert hat. Die Frage, ob ein Sieg der Opposition im Norden eine Wende herbeiführen kann, wird also nicht in Zypern, sondern in Ankara entschieden.

Der Schlüssel liegt in Ankara

In Ankara ist die Zypern-Politik zwischen der AKP-Regierung und dem traditionellem kemalistischen Establishment kein offener Streitpunkt mehr, denn rhetorisch sind Ministerpräsident Erdogan und Außenminister Gül auf die Denktasch-Linie eingeschwenkt. Auch Erdogan fordert heute, die "Souveränität der TRNC" anzuerkennen. Aber in der Substanz gibt es nach wie vor eine Differenz: Erdogan akzeptiert den Annan-Plan auch weiterhin als "Rahmen für weitere Verhandlungen".(22) Vieles spricht dafür, dass die Regierung in Ankara zu einer Zypern-Lösung bereit wäre, wenn sie dafür Ende 2004 einen Termin für den Beginn der eigenen EU-Beitrittsgespräche bekommen würde.

Dass Erdogan nur rhetorisch auf die Linie Denktasch eingeschwenkt ist, läßt auch seine verhaltene Reaktion auf den EU-Beitritts Zyperns erkennen. Während die Regierung Ecevit für diesen Fall noch mit der Annexion von Nord-Zypern gedroht hatte, begnügte sich die AKP-Regierung mit einem "Rahmenabkommen" über eine Zollunion Türkei-TRNC, das wohl nie in Kraft treten wird. Da eine solche Zollunion eine ernste Provokation der EU wäre, wird es mindestens bis Ende 2004 auf Eis liegen.(23)

Dass die Regierung Erdogan ihre Zypern-Rhetorik verschärft hat, ist taktisch durchaus nachvollziehbar. So lange das Verhältnis zum Militär noch durch andere Differenzen belastet ist, will sie nicht auch noch deren Definitionsmacht Fragen der "nationaler Sicherheit" ausgerechnet am Beispiel Zypern in Frage stellen. Vielmehr setzt die Regierung offenbar auf Entwicklungen, die Denktasch und die Militärs in Ankara auf mittlere Sicht um so wirksamer schwächen könnten: Das ist neben einem Wahlsieg der Opposition im Dezember die erhoffte Wirkung der im Juli verabschiedeten Reformgesetze, die den Einfluss des Militärs innerhalb des politischen Systems der Türkei zurückdrängen sollen.

Die Bedeutung dieser Reformen ist nicht zu unterschätzen. Die Herabstufung des Nationalen Sicherheitsrats (GMK) zu einem beratenden Organ, und die Vorschrift, dass die mächtige Figur des Generalsekretärs des GMK kein Militär mehr sein darf, wären vor zwei Jahren noch undenkbar waren. Allerdings bleibt abzuwarten, wann und wie diese Reformen gegen hinhaltenden Widerstand aus dem Militär umgesetzt werden. In puncto GMK-Generalsekretär hat sich Erdogan bereits auf das Zugeständnis eingelassen, dass ein Zivilist den Posten erst in einem Jahr übenehmen wird. Und wie bei anderen Reformgesetzen (Folterverbot, Minderheitenrechte, Entschärfung "politischer" Strafparagraphen) muss sich auch hier noch erweisen, ob die "Herrschaft des Gesetzes" das "Gesetz der Herrschenden" wirklich abgelöst hat.(24)

Die Militärspitze wird sich auch ohne das Instrument GMK berufen fühlen, die "absolute sicherheitspolitische Definitionsmacht" auszuüben.(25) Doch die Wirksamkeit dieser Macht wird aus zwei Gründen tendenziell abnehmen: Zum einen ist die militärische Klasse im Hinblick auf eine EU-Perspektive gespalten, zum anderen wird ihr Einfluss als Folge innen- und außenpolitischer Entwicklungen weiter schrumpfen. Ihre traditionelle Rolle als über-konstitutioneller "Hüter der nationalen Interessen" ist ein Resultat der türkischen Variante von "nation building", die von der kemalistischen Elite mittels Kurdenkonflikt und einer aufgebauschten "islamistischen Gefahr" konserviert werden konnte. Aber diese Rolle wird die Gesellschaft nicht auf ewig hinnehmen - zumal dann nicht, wenn sie zum Haupthindernis für die EU-Perspektive des Landes wird.

Aus Sicht der Europäischen Union ist die politische Rolle des Militärs heute das wichtigste Kopenhagener "Unterkriterium", an dem sich die Beitrittsfähigkeit der Türkei entscheidet. Inzwischen hat sich in der EU auch herumgesprochen, dass der Vetoanspruch des Militärs auch für die Haltung Ankaras in der Zypernfrage verantwortlich ist. Seit dem Helsinki-Gipfel von 1999 hat das Thema Zypern in der Beitrittsdiskussion sukzessiv an Gewicht gewonnen, und im neuen Fortschrittsbericht der Kommission, der Anfang November fällig ist, werden Zypern und der Annan-Plan eine zentrale Rolle spielen. Die Bedeutung dieses Themas wird nicht nur in der internationalen, sondern auch in der türkischen Öffentlichkeit immer klarer gesehen.

Genau das könnte allerdings auch die EU-skeptische Fraktion im türkischen Militär, die unter dem Druck der Kopenhagener Kriterien ihre Macht und ihre Privilegen schwinden sehen, für ihre Zwecke nutzen. Es ist kein Zufall, dass Denktasch-Freunde wie General Kilinc zugleich explizit Kritik an den Reformgesetzen üben.(26) Diese Kräfte haben politische Verbündete nicht nur in den kemalistischen Machtzentren, sondern auch im Parlament; und hier nicht nur in der Oppositionspartei CHP, sondern auch in der AKP-Fraktion.

Die AKP-Regierung kann diesen Kräften nur entgegentreten, wenn die öffentliche Meinung sich in der Zypernfrage zugunsten einer Lösung dreht, was wie gesagt unter dem Eindruck der Wahlen in Zypern und einem positiven EU-Fortschrittsbericht geschehen könnte. Das heißt aber, dass vor Anfang 2004 keine Initiative aus Ankara zu erwarten ist. Wahrscheinlicher ist sogar, dass die Regierung noch länger auf Zeit spielen wird. Sie wird eine Wende in der Zypern-Politik innenpolitisch besser verkaufen können, wenn sie auf klare Signale aus Brüssel über den Beginn der eigenen Beitrittsverhandlungen verweisen kann. Die aber wird es Anfang 2004 noch nicht geben. Die EU muss über einen Termin für einen Verhandlungsbeginn erst im Dezember 2004 befinden, vorher wird die Regierung Erdogan ihr Zypern-Pulver kaum verschießen wollen. Das "window of opportunity" für eine neue UN-Initiative auf der Basis des Annan-Plans dürfte sich erst im zweiten Halbjahr 2004 wieder auftun.

Zypern und die Beziehungen Türkei-EU

So lange wird Zypern leider Geisel der türkischen EU-Politik bleiben - damit aber auch Geisel der Türkei-Politik der EU-Europäer. Denn selbst wenn die Brüsseler Kommission im November 2004 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Ankara empfehlen sollte, bedeutet dies noch nicht, dass die Union der 25 dies auch beschließen wird. Zwar wurde die türkischen Beitrittsperspektive seit 1999 von Gipfel zu Gipfel immer verbindlicher zugesagt, aber in den Mitgliedsländern gibt es die bekannten Vorbehalte, die bis Dezember 2004 durch öffentliche Stimmungen noch verstärkt werden könnten. Das gilt nicht nur für die alten EU-Länder wie Deutschland, wo die Türkei-Skepsis von der Opposition gezielt bedient und wahltaktisch instrumentalisiert wird. Auch in den neuen Mitgliedsstaaten könnte sich die öffentliche Meinung gegen einen neuen Beitrittskandidaten wenden, der schon seiner Größe wegen als Konkurrent um künftige Fördermittel auftritt.

Eine für Ankara negative Entscheidung der EU würde gewiß eine Krise im Verhältnis zwischen der Türkei und der Union auslösen. Dieses worst-case-scenario wurde häufig durchgespielt, auch und vor allem im Hinblick auf die türkische Innenpolitik. Dabei wurden jedoch in der Regel die Folgen für das Zypern-Problem ignoriert. Am gravierendsten wären diese zweifellos für die türkischen Zyprioten. Denn ohne EU-Perspektive für das ganze Zypern würde der Norden - auch ohne formelle Annexion - in eine Türkei integriert, in der das nationalistisch-militärische Lager zunächst wieder Oberwasser gewinnen könnte. Das würde vor allem junge Leute verstärkt in die Emigration drängen, zumal sich Zehntausende türkischer Zyprioten seit dem 23. April im Süden einen Pass der Republik besorgt haben, mit dem sie ab Mai 2004 EU-Bürger sind und die entsprechende Freizügigkeit genießen. Das Vakuum, das sie in Nord-Zypern zurücklassen, würde die Türkei durch weitere Siedler auffüllen. Damit würde auch den griechischen Zyprioten, die in den letzten Monaten ihr Herz für die "anderen Zyprioten" entdeckt haben, der Wunsch vergehen, sich mit einem "anatolisierten" Norden zu vereinigen.

Diese Szenario sollte die EU motivieren, noch entschiedener auf eine Umsetzung des Annan-Plans zu dringen, und dies nicht nur gegenüber Ankara. Ebenso wichtig wäre es, auf die Regierung Papadopoulos einzuwirken, um deren Haltung zum AP auf ihre Ehrlichkeit zu testen. Das wäre schon deshalb geboten, weil der zypriotische Präsident seine Abneigung gegen das UN-Konzept neuerdings in die Aussage kleidet, der EU-Beitritt Zyperns mache eine "europäischen Adaption" des APs nötig. Die EU sollte der Regierung in Nicosia nicht gestatten, mit dieser Formel ihre negative Haltung mit der EU-Fahne zu drapieren.

Ein EU-Engagement für den AP ist aber nicht nur vernünftig, weil der UN-Plan die absehbar letzte Chance bietet, ein vereinigtes Zypern in die Union aufzunehmen. Es ist auch moralisch geboten: als eine Art Fürsorgepflicht für diejenigen Zyprioten, die von der Teilung am härtesten betroffen sind. Spätestens seitdem Zehntausende von türkischen Zyprioten unter EU-Fahnen für den Annan-Plan demonstriert haben, ist offensichtlich, dass die allermeisten türkischen Zyprioten sich nicht nur als Europäer fühlen, sondern existentiell auf die EU angewiesen sind.

Diese Demonstranten haben eine Dynamik angestoßen, die dem alten, manipulierten und manipulierenden Hass mit einem verzweifelten Zukunftsoptimismus entgegentritt, der die Kräfte der Verständigung auf beiden Seiten verstärkt und ermutigt hat. Diesen Prozess kann die EU fördern, indem sie alle Seiten drängt, den Annan-Plan als realistischem Ausgangspunkt für eine zypriotische Föderation nicht nur verbal, sondern tatsächlich ernst zu nehmen. Eine politische Lösung des Problems würde auch für die Union selbst einen enormen politischen Zugewinn bringen. Denn nirgends ließe sich die integrierende Kraft der europäischen Identität überzeugender demonstrieren als in einem Zypern, das unter EU-Ägide immer enger zusammenwächst.

[Zusammenfassung von der Rück-Umschlagseite]

Niels Kadritzke

Die Chancen für eine europäische Lösung des Zypern-Konflikts

Für die Republik Zypern gibt es erstmals seit 1974 eine realistische Hoffnung auf Überwindung der Teilung. Zwar ist der Plan von UN-Generalsekretär Kofi Annan, der eine bi-zonale Föderation vorsieht, zunächst gescheitert. Aber der im Jahre 2004 wirksam werdende EU-Beitritt Zyperns kann immer noch zum Katalysator einer fairen Lösung werden. Jedoch müssen noch erhebliche Widerstände in Zypern selbst - sowohl im Norden als auch im Süden - sowie in der Türkei überwunden werden.

Auf gesellschaftlicher Ebene haben sich die Bedingungen für eine föderative Lösung in den letzten Monaten erheblich verbessert. Die neue Bewegungsfreiheit ermöglicht Kontakte zwischen den beiden Volksgruppen, die den Wunsch belegen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Im Norden artikuliert sich dieser Wunsch als explizite Forderung nach Annahme des Annan-Plans und einem EU-Beitritt auch der türkischen Zyprioten. Als Träger dieser Forderungen haben die Oppositionsparteien gute Aussichten, die Parlamentswahlen im Dezember zu gewinnen und das Haupthindernis einer Lösung, den "Präsidenten" Denktasch, als Verhandlungsführer abzulösen.

Eine Niederlage des Denktasch-Lagers könnte auch die Regierung Erdogan ermutigen, der türkischen Öffentlichkeit klarzumachen, dass eine Zypern-Lösung zu den wichtigsten Voraussetzungen für einen EU-Beitritt der Türkei gehört. Doch die Widerstände gegen diese Interpretation der türkischen Interessen - zumal in der militärischen Führung - kann die Regierung Erdogan nur überwinden, wenn ein Termin für den Beginn der eigenen Beitrittsverhandlungen absehbar ist.

Die EU kann entscheidend zu einer Zypern-Lösung beitragen. Sie sollte gegenüber Erdogan und Denktasch, aber auch der Regierung Papadopoulos auf dem Annan-Plan als Verhandlungsbasis bestehen. Entscheidend wird jedoch sein, dass die EU ihre Zusage einhält, nach dem EU-Gipfel im Dezember 2004 - die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien vorausgesetzt - "ohne Verzug" in Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzutreten. Die Verlässlichkeit der europäischen Türkei-Politik ist der Schlüssel zur Lösung des Zypern-Problem.



Fussnoten:

    1 - Im folgenden werden die beiden Gebiete des geteilten Zypern als "Norden" und "Süden" bezeichnet. Völkerrechtlich gesehen umfaßt die 1960 gegründete "Republik Zypern" nach wie vor das gesamte Inselterritorium. Faktisch kontrolliert die Regierung der Republik derzeit aber nur den südlichen Teil, der fast ausschließlich von griechischen Zyprioten bewohnt ist. Der nördliche Teil (ca. 36 Prozent des Territoriums) wurde 1974 von der türkischen Armee erobert und ist noch immer von ca. 35.000 türkischen Soldaten besetzt. In dem fast ausschließlich von türkischen Zyprioten bewohnten Gebiet wurde 1983 die "Türkische Republik Nordzypern" (TRNC) ausgerufen, die aber nur von Ankara, d.h. der eigenen Besatzungsmacht, anerkannt wird. Für die UN wie für die EU (und ihre Gerichte) ist die TRNC nach wie vor der besetzte Teil der Republik Zypern.

    2 - Die Handelskammer und ihr Vorsitzender Ali Erel setzen voll auf die EU-Perspektive und arbeiten eng mit der Vertretung der EU-Kommission in Zypern zusammen.

    3 - Der "Annan Plan For Cyprus Settlement" kann im Detail eingesehen werden unter: http://www.tcea.org.uk/Annan-Plan-For-Cyprus-Settlement.htm

    4 - Siehe "Report of the Secretary-General on his mission of good offices in Cyprus", Nummer S/2003/398 vom 1. April 2003, Zff. 82. Im folgenden wird dieser Bericht als Annan-Report zitiert.

    5 - Der Status der beiden britischen Militärbasen Dhekelia und Akrotiri bleibt vom AP unberührt.

    6 - Siehe Ergün Olgun, Paper für eine Konferenz mit dem Titel: "The Annan Plan - Myths and Realities", am 17. Juli 2003 in Istanbul. Als "Under-Secretary, TRNC-Presidency" repräsentiert der Autor die Position von Rauf Denktasch.

    7 - Darin ist auch die maximale Zahl der Menschen enthalten, die in einem territorial reduzierten Nordstaat verbleiben, aber durch griechische Rückkehrer "verdrängt" werden könnten; die UN schätzt die Zahl der Betroffenen dagegen nur auf maximal 65.000; siehe Olgun, a.a.O. S.5.

    8 - Annan-Report, Zff. 49 (Hervorhebung von mir).

    9 - Annan-Report, Zff. 56

    10 - Annan-Report, Zff. 130. Unter Zff. 65 wird exemplarisch die Verweigerungsstrategie der türkischen Seite geschildert: "Mr. Denktash withdrew a proposal he had made after Mr. Clerides accepted it."

    11 - Annan-Report, Zff. 143 und 13.

    12 - Politis (Nicosia) vom 13. Juni 2003.

    13- Diese Zahlen besagen nicht, dass fast alle 650.000 griechischen Zyprioten den Norden besucht hätten; man schätzt, dass es aber immerhin 60 Prozent waren. Um die Casino-Besucher abzuschrecken, registriert die Polizei seit 20. August die griechischen Zyprioten, die nach Mitternacht aus dem Norden zurückkehren.

    14 - Die griechisch-zypriotische Zeitung Politis, die türkisch-zypriotische Kolumnisten zu Wort kommen lässt, konnte ihre Auflage stark erhöhen. Und der Chefredakteur der Zeitung, der in einem TV-Programm des Nordens sein Bedauern über die Verbrechen der griechischen Seite im Bürgerkrieg von 1964 ausgedrückt hat, ist für die türkischen Zyprioten ein regelrechter Held geworden.

    15 - Cyprus Mail, 31. 7. 2003.

    16 - Die Regierung unterstellt, dass alle Hotels und Restaurants im Norden "geraubtes" griechisches Eigentum darstellen. Aber selbst ein Hotel, das seit 1969 einem türkischen Zyprioten gehört, konnte bislang in den Zeitungen des Südens nicht inserieren.

    17 - Politis vom 13. Juni 2003. Von den türkischen Zyprioten gaben 33 Prozent an, "auf der anderen Seite" leben zu können.

    18 - Der Parteigründer und Ehrenvorsitzende Vassos Lyssarides hat den Annan-Plan von Anfang an entschiedener abgelehnt als jeder andere Politiker.

    19 - Cyprus Mail vom 20. August 2003. Kibris berichtete am 2. Juni 2003, seit 1974 hätten über 52.000 Einwanderer die TRNC-Staatsbürgerschaft erhalten.

    20 - Zitate nach Turkish Daily News, 2. Juli 2003.

    21 - Turkish Daily News, 1. September 2003.

    22- So bei einem Vortrag vor der Friedrich-Ebert Stiftung in Berlin am 3. September 2003.

    23 - Siehe die Analyse des ehemaligen türkischen Außenministers Ilter Turkmen in Hurriyet, 16. 8. 2003.

    24 - The Economist, 2. August 2003, S.27.

    25 - Heinz Kramer, "Die Türkei und die Kopenhagener Kriterien", Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin, November 2002, S.20 ff.

    26 - Turkish Daily News, 27. August 2003. Siehe auch die Analyse der beiden ehemaligen US-Diplomaten Morton Abramowitz und James Wilkinson: "A Cypriot threat to Turkey's Revolution", Financial Times, 2. September 2003.


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