Globalisierung und Gerechtigkeit
Materialien zur Modernisierung sozialer Demokratie


Michael Ehrke

Der Dritte Weg und die europäische Sozialdemokratie
Ein politisches Programm für die Informationsgesellschaft?

 

Das Schröder-Blair-Papier hat in Deutschland eine heftige Diskussion ausgelöst. Gerhard Schröder und Tony Blair fordern die Modernisierung sozialdemokratischer Politik. Sie bedienen sie dabei der Terminologie des Dritten Weges, eines politischen Programms, das sich als Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung und als Alternative zum Neoliberalismus wie zur traditionellen Sozialdemokratie präsentiert.

Kritiker haben beklagt, daß die Politik des Dritten Weges die soziale Gerechtigkeit vernachlässige und die Unterschiede zwischen Sozialdemokratie und Neoliberalismus aufhebe.Kann die Politik des Dritten Weges die notwendige wirtschaftliche und soziale Modernisierung mit den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit in Einklang bringen?



"In truth, the parties of the Whig and Tory are those of nature. They exist in all countries, whether called by those names, or by those of Aristocrats and Democrats, Cote Droite and Cote Gauche, Ultras and Radicals, Serviles and Liberals".
Thomas Jefferson an den Marquis de Lafayette, 1823

"The name is wrong, the program vague, the use often opportunist; but it is becoming more and more popular because it seeks to answer the large questions".
John Lloyd, New Statesman, 19. Mai 1999

 

Schon wieder ein Gespenst?

Die Diskussion um den Dritten Weg und die Neue Mitte ist von einem Paradox geprägt: Auf der einen Seite hat diese neueste politische Philosophie in den USA wie in Europa eine für eine politische Grundsatzdebatte erstaunlich breite öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Die Allgegenwärtigkeit des Themas hat manchen Beobachter verführt, seinen Kommentar mit "Ein Gespenst geht um ..." einzuleiten. Auf der anderen Seite sind sich die meisten Kommentatoren darin einig, daß das herausragende Charakteristikum des Dritten Weges der Mangel an konkreten Aussagen ist. Halt biete nur die Selbstverortung "zwischen" oder "jenseits von" neoliberalem Konservatismus (der Neuen Rechten) und der politischen Vergangenheit derjenigen, die für den Dritten Weg stehen (der "alten Linken"). Das öffentliche Interesse, das die Debatte bislang gefunden hat, geht auf die Erwartung zurück, der Dritte Weg gebe eine erste nicht-defensive Antwort der Linken auf Probleme, die mit dem weniger exakt analysierten als vage und mit Verunsicherung gespürten Übergang von der traditionellen Industriegesellschaft zu einer (wie immer zu definierenden) postindustriellen gesellschaftlichen Ordnung verbunden sind. Dieser Übergang wird in der schleichenden Auflösung einer ganzen Reihe von Arrangements, Institutionen und Traditionen der Industriegesellschaft sichtbar: Das Normalarbeitsverhältnis, kollektiv normierte Arbeitszeiten, die Alterssicherung, die normale Beschäftigungsbiographie, die keynesianische Globalsteuerung, die Rolle der Gewerkschaften. In der Konsequenz wird die Politik gezwungen, neue Arrangements zu entwickeln, neue Institutionen zu begründen und Traditionen neu zu definieren - oder dazu verurteilt, in Form einer permanenten Krisenfeuerwehr immer neue Reparaturen von begrenzter Haltbarkeit vorzunehmen. Erwartet werden von der Politik des Dritten Weges zum einen konkrete Antworten auf konkrete Fragen: Wie soll das System der Alterssicherung beschaffen sein? Wie ist das Steuersystem zu reformieren? Wie können die Kosten des öffentlichen Gesundheitswesens unter Kontrolle gehalten werden? Erwartet - und vom Dritten Weg angeboten - wird aber auch eine zusammenhängende Interpretation der Tendenzen, die uns verunsichern, eine (wie immer vage) Skizze der Gesellschaft, auf die wir hinsteuern oder -treiben, und eine Definition der politischen Ziele, die wir unter veränderten Bedingungen anstreben sollten und können. Der Neoliberalismus hat diese Antworten im Prinzip bereits gefunden: Wir erleben die Auflösung der Institutionen und Traditionen, die die Geltung der Marktgesetze einschränken. Die Industriegesellschaft, die die Arbeit den Gesetzen des Marktes unterwarf und damit die traditionellen Sozialbeziehungen radikal transformierte, hat gleichwohl eine Reihe vorindustrieller Traditionen beibehalten und ihrem Bedarf angeglichen (u.a. die Familie), aber auch neue Institutionen geschaffen (u.a. den Sozialstaat), die heute zur Disposition zu stehen scheinen. Die Verteidigung der verbliebenen oder neu gebildeten Marktbarrieren sei nicht nur ein Akt der Donquichotterie, der sich einem natürlichem Evolutionsgesetz widersetzte, sie sei auch moralisch anfechtbar, da nur der Markt ein Optimum bei der Allokation von Ressourcen und der Erzeugung und Verteilung von Gütern garantiert. Die neoliberale Perspektive steht allerdings im Widerspruch zur intuitiven Gewißheit, daß der Markt allein keine Gesellschaft zusammenzuhalten vermag, daß es ein Minimum an generell akzeptierten Normen und Strukturen geben muß, wenn das Auseinanderbrechen der Gesellschaft oder ihre Rückentwicklung in einen Zustand der Anomie verhindert werden soll. Auch die neoliberalen Politiker wissen, daß sie politisch nur dann wirksam werden, wenn sie ihren Marktfundamentalismus mit anderen "gemeinschaftlichen" Fundamentalismen verbinden. Die Wahlerfolge Reagans und Thatchers gehen nicht nur auf ihr Wirtschaftsprogramm zurück, sondern auch darauf, daß sie sich als glühende Anhänger der Familie, stramme Patrioten und fromme Christen präsentierten. Sie nahmen damit Traditionen in ihren Dienst, die von ihrer eigenen Wirtschaftspolitik systematisch unterminiert wurden - Anthony Giddens zufolge ein logischer Widerspruch, der sich politisch freilich als durchaus ertragreich erwies.

*New Economy, New Welfare State, New Governance

Der Dritte Weg verspricht, eine zusammenhängende politische Interpretation der derzeitigen gesellschaftlichen Transformation anzubieten und diese mit der Lösung der konkreten Probleme unserer Gesellschaften zu verbinden. Diesem umfassenden Anspruch stehen bislang aber eher dürre Konzepte gegenüber, die weniger durch ihre Neuigkeit als durch ihre Deklaration als Neugkeit herausragen. Diese Konzepte sind grob zusammengefaßt:

* New Economy: Die positive Besetzung oder zumindest Akzeptanz der "Globalisierung", einschließlich der aus ihr sich ergebenden Zunahme sozialer Unleichheit;
* New Welfare State: Die Absage an traditionelle Wohlfahrtskonzeptionen und der Ersatz von Wohlfahrtsleistungen in der Form der materiellen Absicherung durch die Herstellung der "Beschäftigungsfähigkeit" der Individuen (der "aktivierende Staat");
* New Governance: Der Ersatz materieller Verpflichtungen des Staates durch das Angebot neuer Formen der Teilhabe. Als entscheidende Differenz zum Neoliberalismus wird meist die aktive Rolle des (materiell weitgehend entlasteten) Staates hervorgehoben ("der Staat soll steuern, nicht rudern") .

Dies läßt offen, wofür der Staat seine Steuerungsinsrumente einsetzen soll. Die entscheidende Frage dagegen, die die Protagonisten des Dritten Weges bislang offen gelassen haben, liegt in der Definition sozialer Gerechtigkeit. Für den Neoliberalismus ist Gerechtigkeit kein Problem: Die Primärverteilung von Gütern, Macht und Chancen durch den Markt ist per definitionem gerecht, ihre politische Korrektur sinnlos und schädlich. Der Dritte Weg präsentiert sich als Abkehr von den Gerechtigkeitsvorstellungen, die die amerikanischen Demokraten und europäischen Sozialdemokraten in der Vergangenheit entwickelt hatten, hält aber am "Wert" der sozialen Gerechtigkeit fest. Es ist offen, ob dies den Verzicht auf die Definition von eigenständigen Gerechtigkeitskonzept nur verschleiern soll, oder ab man noch auf der Suche ist.

*Ein amerikanisches Importprodukt

Die Philosophie des Dritten Weges hat ihren Ursprung in den USA. Sie wurde von den think tanks des konservativen Flügels der Demokratischen Partei, der New Democrats, entwickelt und fand ihren Niederschlag in programmatischen (intellektuell oft wenig überzeugenden) Schriften wie The Third Way: A Political Philosophy for the Information Age2 oder in den Blueprints for a New Century3. Wichtiger als die Analyse und die politischen Programmangebote sind die positiv besetzten Begriffe (opportunity, responsibility, community) bzw. die Rhetorik, die sich auf ihnen aufbauen läßt. Der Dritte Weg leitete in Großbritannien den Übergang von Labour zu New Labour an und erfuhr eine gewisse intellektuelle Vertiefung (etwa durch die Analysen von Anthony Giddens) und Verbreiterung. Die Neue Mitte in Deutschland wurde im Grund erst ex post - d.h. nach dem Wahlsieg der SPD - als kontinentaleuropäische Spielart des Dritten Weges adoptiert. Die Reformdiskussion innerhalb der und um die SPD, in der viele Beiträge (wie die Arbeiten der Zukunftskommission und des Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung) eine gewisse Nähe zu den Postulaten des Dritten Weges aufweisen, wurde unter anderen Voraussetzungen und in einer anderen Terminologie geführt. Der Wahlsieg Gerhard Schröders bot dann aber die doppelte Chance, den Dritten Weg aus seiner angelsächsischen Isolation herauszuführen und die deutsche "Neue Mitte" an die internationale Debatte anzubinden. Obwohl die von der Philosophie des Dritten Weges besetzten Begriffe und Themen in den USA, Großbritannien und Kontinentaleuropa ähnlich sind, ist doch auf zwei Unterschiede in den Voraussetzungen hinzuweisen: Erstens haben die USA im Vergleich zu Europa einen Vorsprung, der sich in hohen Wachstums- und niedrigen Inflationsraten, einem hohen Beschäftigungsstand sowie Technologie- und Innovationsvorsprüngen niedergeschlagen hat. Die USA gelten (wieder) als Vorbild. Die Politik des Dritten Weges und der Neuen Mitte in Europa verfolgt u.a. das Ziel, diesen Vorsprung wettzumachen, sie ist daher durch einen reformerischen Impuls bestimmt, der in den USA, die schon dort angekommen sind, wo die anderen erst hinwollen, weniger ausgeprägt ist. Zweitens sind die Unterschiede der politischen Kulturen zu berücksichtigen. Der Träger der Philosophie des Dritten Weges in den USA, die Demokratische Partei, ist keine politische Kraft, die sich der Linken im europäischen Sinne zuordnen ließe. Die Demokraten sind keine weltanschauliche Partei, die ihren historischen Ursprung in den Klassenkämpfen des 19. Jahrhunderts hätte und sich in dieser Tradition interpretierte. Dies gilt aber für die meisten europäischen Parteien und in ganz besonderer Weise für die Sozialdemokratie, die historisch als politische Vertretung der Unterprivilegierten - der Industriearbeiter oder, breiter und vager, der Arbeitnehmer - angetreten ist. Die mit dem Dritten Weg angestrebte Enttraditionalisierung der Politik bedeutet für die europäische Sozialdemokratie daher etwas Anderes als für die amerikanischen Demokraten. Sie ist Teil eines säkularen Prozesses, der unter den Oberbegriff des Revisionismus gestellt werden kann: Sie ist, wie Donald Sassoon es vorausschauend nannte, die "zweite Revision".


Die erste Revision: Modernisierung und soziale Gerechtigkeit

*Eine Geschichte der Revisionen: Werte und Programme

Die Geschichte der europäischen Sozialdemokratie ist eine Geschichte der Revisionen. Schon der Begriff des Revisionismus ist für linke Gegner der Sozialdemokratie gleichbedeutend mit einer Anklage. In einer sich verändernden Welt ist die Veränderung eines politischen Programms jedoch keine Todsünde, sondern eine Bedingung des Überlebens. "The only left that’s left" ist die Sozialdemokratie, gerade weil sie flexibel genug war, die Transformationen ihres gesellschaftlichen Umfeldes in ihrer Politik zu berücksichtigen. Die Frage ist jedoch, ob es über alle Revisionen hinweg eine Konstante sozialdemokratischer Politik gibt, die es erlaubt, von einer "sozialdemokratischen Identität" zu sprechen. Die Befürworter des Dritten Weges, allen voran Tony Blair, haben diese Konstante in den Werten ausgemacht: Die Werte sind zeitlos, während sich die Mittel ihrer Realisierung wandeln. Als Werterepertoire nennt Blair "democracy, liberty, justice, mutual obligation and internationalism", im von Tony Blair und Gerhard Schröder herausgegebenen "Vorschlag für Europas Sozialdemokraten" sind es "Fairneß, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Chancengleichheit, Solidarität und Verantwortung für andere". Auf dem gewählten Abstraktionsniveau handelt es sich um einen Wertekatalog, dem wohl jedermann zustimmen würde (wer wird schon offen für Un-Fairness, soziale Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Privilegien, Egoismus und Verantwortungslosigkeit eintreten?), und der daher für die Bestimmung einer politischen Position unbestimmt bleibt. Politisch relevant werden Werte, wenn sie mit einer Bewertung der gesellschaftlichen Wirklichkeit verbunden werden. Die Bewertung der gesellschaftlichen Realität ist der Punkt, an dem sich politische Optionen in Europa seit der Französischen Revolution unterscheiden. Die konservative Position behauptet, in dieser Realität sei das angesichts der gegebenen wirtschaftlichen Zwänge oder der menschlichen Natur mögliche Optimum an Wertrealisierung im Prinzip erreicht. Die Gegenposition besagt, daß es an der Verwirklichung von Werten mangelt und daß diesem Mangel politisch begegnet werden muß und kann. Die Identität der Sozialdemokratie liegt m.a.W. nicht darin, daß sie "Fairneß, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Chancengleichheit, Solidarität und Verantwortung für andere" gut findet, sondern darin, daß sie diese Werte in der Realität nicht oder angesichts der bestehenden Möglichkeiten nicht ausreichend verwirklicht sieht und deshalb die Veränderung dieser Realität anstrebt. Die traditionelle Polarisierung der europäischen Spektrums schließt nicht aus, daß es Themen gibt, die quer zur Haupt-Konfliktlinie liegen (ein Beispiel ist die ökologische Problematik). Doch die Behauptung, daß "rechts" und "links" von der Geschichte überwundene Kategorien seien, enthält die Annahme, daß die gegebene Verteilung von Chancen, Macht und Ressourcen nicht mehr verbessert werden kann, und daß sie niemand mehr verbessern will. Solange die Sozialdemokratie aber bestreitet, daß im Hinblick auf die Gerechtigkeit das Ende der Geschichte erreicht sei, wird ihre Politik an zumindest an zwei Prinzipien festhalten müssen. Beide Prinzipien sind nicht logisch miteinander verbunden, sondern ergeben sich historisch daraus, daß die Sozialdemokratie sowohl aus der Arbeiterbewegung hervorging als auch an die Tradition der Aufklärung anknüpfte. Das erste Prinzip ist das erwähnte Engagement für die Benachteiligten. Sozialdemokratische Politik ging in der Vergangenheit davon aus, daß es soziale (und nicht nur individuelle) Unterschiede gibt, daß die Chancen, Macht und Einkommen ungleich verteilt sind, und daß es besonderer politischer Anstrengungen bedarf, um die Position der weniger Begünstigten absolut und relativ zu verbessern. Die Parteinahme für die weniger Privilegierten bedeutet automatisch die Thematisierung gesellschaftlicher Gleichheit und Ungleichheit. Ungleichheit kann nicht als Datum hingenommen werden, sondern muß durch Gründe, die allen Beteiligten einsichtig sind, gerechtfertigt werden können (etwa durch ungleiche Leistungen der Individuen, oder dadurch, daß in einer Situation gesellschaftlicher Ungleichheit die Lage der schlechter Gestellten schneller verbessert werden kann als die der Privilegierten). Das zweite Prinzip liegt in der Annahme, daß Wirtschaft und Gesellschaft rationaler politischer Beeinflussung zugänglich, daß wir den Gesetzen des Marktes nicht wie Naturgesetzen ausgeliefert sind. Natürlich veränderte sich der Spielraum wahrgenommener Steuerungschancen mit der Entwicklung des Kapitalismus selbst. In einer Frühphase, in denen periodische Krisen und Massenelend als konstitutiv für den Kapitalismus galten, schien die Planung der Wirtschaft die einzige Alternative zur Anarchie des Marktes zu bieten, was bedeutete, daß die gesamte Wirtschaft politisch zu steuern, zu verstaatlichen und damit als eigenständige Sphäre abzuschaffen war. In dem Maße, in dem der Kapitalismus die Arbeitnehmer an der wirtschaftlichen Dynamik teilhaben und sich gleichzeitig so steuern ließ, daß Wirtschaftskrisen präventiv verhindert oder in ihren Wirkungen begrenzt werden konnten, ließ sich das Rationalitätsprinzip auch ohne umfassende Wirtschaftsplanung aufrechterhalten. Der Anspruch auf rationale Steuerung verlagerte sich aus dem wirtschaftlichen Entscheidungsprozeß im engeren Sinne heraus in die Gestaltung der Rahmenbedingungen, unter denen Marktentscheidungen getroffen werden.

*Die erste Revision: Die Sozialdemokratie im Goldenen Zeitalter

Der Revisionismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts bereinigte die sozialdemokratische Programmatik um die Vorstellung vom Sozialismus als "Endzustand". Eduard Bernsteins berühmtes Diktum "Der Weg ist das Ziel" eröffnete die Möglichkeit eines kontinuierlichen Reformprozesses, bei dem der "Sozialismus als Zustand" auf unbestimmte Zeit vertagt und auf seine konkrete Ausgestaltung explizit verzichtet wurde. Bernstein konnte sich zu seiner Zeit nicht gegen die Orthodoxie durchsetzen: Für sie galt als ausgemacht, daß der Kapitalismus auf eine finale Krise zusteuerte, in der die Sozialdemokratie den Sozialismus als neue gesellschaftliche Ordnung einführen würde. Erst in den 30er Jahren entwickelte die skandinavische Sozialdemokratie eine explizit revisionistische Politik, die sich auf Reformen innerhalb eines als langfristig gegeben angesehenen Wirtschaftssystems konzentrierte. Die anderen sozialdemokratischen Parteien Europas folgten nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Revisionismus der europäischen Sozialdemokratie reagierte auf den beeindruckenden Wirtschaftsaufschwung der ersten Nachkriegsjahrzehnte, das Goldene Zeitalter des Kapitalismus, in dem hohe Wachstumsraten und Vollbeschäftigung eine dramatische Steigerung des Lebensstandards der Klientel der Sozialdemokratie möglich machten. Dabei setzten sich zwei parallele Gleichheits- und Gerechtigkeitskonzepte durch. Erstens das Wohlfahrts- oder Sozialstaatsprinzip, dem zufolge allen Bürgern in allen Lebenslagen auch in materieller Hinsicht ein "Leben in Würde" (wenn auch definiert als Minimalniveau) möglich sein mußte. Zu diesem Zweck führten die Nachkriegsregierungen der Labour Party ein umfassendes System staatlicher Wohlfahrtsleistungen ("from the cradle to the grave") ein, das weite und grundlegende Lebensbereiche der Arbeitnehmer dem Markt entzog; die SPD setzte auf das bereits bestehende (und von den christdemokratischen Regierungen in den 50er und frühen 60er Jahren weiter entwickelte) Sozialversicherungssystem. Zweitens wurden alle Bürger, auch die bislang Benachteiligten, in materieller Hinsicht zu gesellschaftlichen Teilhabern, indem sie Zugang zu Konsumgütern gewannen, die zuvor einer kleinen Minderheit vorbehalten waren. Die Verteilungsfrage wurde dynamisch gelöst: Die statische Verteilung der Einkommen und Vermögen mußte gar nicht thematisiert werden, da alle an der Dynamik einer scheinbar endlos prosperierenden Konsumgesellschaft teilhatten. Alle hatten die Aussicht, in Zukunft mehr und bessere Konsumgüter genießen zu können. Damit verlor das Problem einer Unterschicht schlechter Gestellter seine Virulenz, unter den Bedingungen des Goldenen Zeitalters konnte die Sozialdemokratie glaubwürdig die Bewahrung der bestehenden Ordnung anstreben, ohne ihr Engagement für die Unterprivilegierten aufzukündigen. Wenn alle an der Prosperität teilhatten, konnte man sich von der sozialistischen Vorstellung vom Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln als der grundlegenden gesellschaftlichen Konfliktlinie lösen. Die Bedingungen der Nachkriegsprosperität ermöglichten es auch, die Wirtschaft "rational" zu steuern. Der Kapitalismus hatte - so schien es - die Eierschalen seiner marktmäßig-anarchischen Organisation abgestreift und war in einen höheren Organisationszustand übergegangen (insofern bestätigte sich die von Rudolf Hilferding bereits in den 20er Jahren vorgenommene Analyse des "organisierten Kapitalismus"). In einem zunehmend konzentrierten und zentralisierten Produktionssystem wurden die privaten Unternehmer durch eine technokratische Managerkaste verdrängt, die, wie es schien, Rationalitätskriterien im Sinne gesamtgesellschaftlicher Steuerung zugänglicher war als die Produktionsmittelbesitzer des Konkurrenzkapitalismus. Die "Revolution der Manager" separierte das Eigentum an Produktionsmitteln formell von der wirtschaftlichen Entscheidungsmacht. Die Gewerkschaften erhielten formelle oder informelle Mitbestimmungsrechte, und für einen großen und wachsenden Teil des Sozialprodukts war der Staat zuständig, der, mit dem Instrumentarium der Globalsteuerung ausgestattet, den Konjunkturverlauf stabilisieren konnte. Wirtschaftliche Modernisierung und soziale Gerechtigkeit waren in den 50er und 60er Jahren miteinander vereinbar, weil die Primärverteilung der Einkommen durch den Markt eine kontinuierliche Besserstellung der Benachteiligten ermöglichte. Grundlage war die Auflösung des traditionellen Sektors und die Wanderung der in ihm Beschäftigten (deren Anteil in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch bei 50% des Gesamtbeschäftigung gelegen hatte) in die verarbeitende Industrie und den modernen Dienstleistungssektor, deren höhere Produktivität höhere Löhne ermöglichte4 . Auf der Nachfrageseite entsprach dieser Wanderungsbewegung die Industrialisierung des Massenkonsums: Während normale Arbeitnehmerhaushalte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vergleichsweise wenig Industrieprodukte konsumierten und einen hohen Anteil ihrer Verbrauchsgüter aus dem traditionellen Sektor bezogen, erhielten die Arbeitnehmer nun Zugang zur einer wachsenden Palette industriell gefertigter Konsumgüter. Die sekundäre Verteilung durch staatliche Maßnahmen war im Grunde nur eine wenig problematische Korrektur einer insgesamt akzeptablen und akzeptierten Primärverteilung.

 

Der Übergang zur postindustriellen Gesellschaft: Grundlage der "zweiten Revision"

Die Politik des Dritten Weges versteht sich als Kritik der Sozialdemokratie des Goldenen Zeitalters. Wie der Revisionismus der Nachkriegssozialdemokratie antwortet sie auf Veränderungen der Gesellschaft mit einer Veränderung des politischen Programms. Diese Veränderungen sind kaum exakt zu definieren, da wir uns in einer unübersichtlichen Übergangssituation befinden, in der sich das "Neue" allenfalls in vagen Umrissen abzeichnet. Es gibt eine Reihe von Trends, die eine Richtung anzeigen, die jedoch überinterpretiert, linear verlängert und als irreversibel gedacht werden müssen, wenn sie im Hinblick auf die Zukunft aussagekräftig sein sollen. Es handelt sich daher um Annahmen über einen Übergang, die sich zum Teil auf populärwissenschaftlich begründete Situationsdeutungen stützen können, und die in den Medien eine gewisse Resonanz gefunden haben. Diese Einschränkung vorausgesetzt, verdichtet sich eine Mischung aus Trendaussagen und Zustandsbeschreibungen zum noch konturschwachen Bild einer "wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft" (so das Schröder-Blair-Papier), "Informationsgesellschaft" oder "reflexiven Moderne" (Anthony Giddens und Ulrich Beck), die - wenn man dem Diskurs des Dritten Weges folgt - die folgenden Merkmale hat:

1. Globalisierung
Die Globalisierung ist zum Markenzeichen der gegenwärtigen Epoche geworden (dabei spielt eine sekundäre Rolle, zu welchem Anteil Güter und Dienstleistungen heute wirklich international gehandelt werden bzw. wie hoch der Anteil grenzüberschreitender Kapitalbewegungen wirklich ist). Der Begriff der Globalisierung und das mit ihm Gemeinte enthält eine Dramatisierung des seit Marx’ Kommunistischem Manifest bekannten Sachverhalts, daß der Kapitalismus nationale Grenzen zu überschreiten tendiert. Die neue Dramatik der Globalisierung läßt sich auf zwei Sachverhalte zurückführen. Zum einen ist mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus das letzte größere Refugium einer nicht-kapitalistischen und dennoch von ihrem Anspruch her modernen Wirtschaftsweise in Trümmer zerfallen. Zum andern wird die Globalisierung als Prozeß interpretiert, der in den fortgeschrittenen Ländern einige zentrale industriegesellschaftliche Arrangements zur Disposition stellt. Ein globalisierter Geld- und Kapitalmarkt, so die Überzeugung, setzt der nationalen Geld- und Fiskalpolitik enge Grenzen, ebenso wie eine globale Allokationsstrategie der Unternehmen beschäftigungs- und strukturpolitische Eingriffe unwirksam macht. Im Zeitalter der Globalisierung sind die zu Standorten geschrumpften Nationen und deren Regierungen darauf beschränkt, die Entscheidungen der Märkte zu akzeptieren bzw. sie vorausschauend vorwegzunehmen. In sozialer Hinsicht trägt die Globalisierung bei zur Vertiefung der Spaltung zwischen denen, die ihre Ressourcen (Kapital oder hochqualifizierte Arbeitskraft) über nationale Grenzen hinweg transferieren und dorthin bewegen können, wo die Nachfrage am stärksten ist, und denjenigen, die dies nicht oder in nur begrenztem Maße - etwa durch Migration - können (die Besitzer einfacher Arbeitskraft).

2. Informationsgesellschaft
Der Begriff der "Informations- oder Wissensgesellschaft" ist ähnlich vage wie der der Globalisierung. Er verweist auf die zunehmende Bedeutung von Information als wirtschaftlichem Input (im Vergleich zu Arbeitskraft, Kapital und Rohstoffen). Dieser Trend läßt sich am zunehmenden Anteil der Branchen und Unternehmen ablesen, die (a) keine physischen Güter, sondern Informationen produzieren (Software, Gentechnologie usw.); oder (b) Informationen verarbeiten, versenden, bearbeiten, in physische Güter einbauen usw. Der Fortschritt der Informationsgesellschaft läßt sich u.a. auf den Aktienmärkten in der Bewertung von Unternehmen ablesen: In den 90er Jahren ist die (vom Markt vermutete) Innovationskraft von Unternehmen (anstelle ihrer fixen assets) zum wichtigstem Bewertungskriterium geworden. Microsoft, das Unternehmen mit dem weltweit höchsten Marktwert, steht weit vor General Motors, ein kalifornisches Internet-Auktionshaus wird so hoch gehandelt wie BMW. Die intangibles, die intellektuellen Aktivposten von Unternehmen, haben die Bedeutung der Unternehmensgröße, des Umsatzes, des fixen Kapitals und der Beschäftigung relativiert, wenn nicht in ihr Gegenteil verkehrt. Der Input neuen Wissens ist von einem sporadisch auftretenden Begleitphänomen der wirtschaftlichen Entwicklung zur Bestimmungsgröße des Marktwerts von Unternehmen und damit zur Dauerbedingung erfolgreicher Unternehmenstätigkeit geworden. Damit verändert sich auch die Bewertung der Arbeitskraft. Tätigkeiten, die zur Innovation beitragen, werden höher bewertet und entlohnt als Routinetätigkeiten. Robert Reich hat den Begriff der "Symbolanalytiker" geprägt, also der in Management, Forschung, Entwicklung, Beratung, Finanzierung, Information oder Marketing Beschäftigten, die den Beschäftigten in der Fertigung und in den traditionellen Dienstleistungen gegenübergestellt werden - eine Polarisierung, die sich mit der zwischen den Besitzern mobiler und immobiler Ressourcen zum Teil überschneidet. Reich zufolge tut sich in den USA eine wachsende Einkommensschere zwischen Symbolanalytikern und Routinearbeitern auf. Natürlich ist die Prognose der zunehmenden Polarisierung zwischen einer Minderheit prosperierender Modernisierungsgewinner und einer Mehrheit von Verlierern etwas holzschnittartig. Sie thematisiert aber ein neues Schema der Ungleichheit, das sich nicht ausschließlich am Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln festmachen, aber auch nicht mehr problemlos auf unterschiedliche Leistungen zurückführen läßt. Die Honorierung von Leistungen in der Informationsgesellschaft mißt sich nicht allein nach Qualifikation und Arbeitseinsatz, sondern erhält eine Zufallskomponente: Der Bonus, den der Markt für "Erfolg" zahlt (man denke an das Einkommen eines Fußballspielers oder Managergehälter) ist als Anteil des Einkommens weitaus höher als in den 50er oder 60er Jahren.

3. Shareholder Value

Voraussagen der 60er Jahre, die Produktion werde zunehmend von Großunternehmen dominiert, und die Figur des technokratischen Managers werde die des Unternehmers verdrängen, haben sich nicht erfüllt. Die wirtschaftliche Dynamik der 80er und 90er Jahre wurde von vergleichsweise kleinen Unternehmen getragen. Die Bürokratisierung der Wirtschaft durch corporate giants ist nicht eingetreten; statt dessen haben Großunternehmen die Dynamik von Kleinunternehmen zu imitieren versucht, indem sie sich selbst in voneinander unabhängige und miteinander konkurrierende profit center aufspalteten. Vor allem aber hat sich die "Revolution der Manager" (sofern sie je stattfand) nicht gegen die Unternehmer durchgesetzt, der managerial capitalism ist einer neuen Betonung des "Unternehmerischen" - im Sinne der absoluten Priorität der Gewinnerwirtschaftung - gewichen. Die Sorge Josef Schumpeters, die Bürokratisierung der Großunternehmen werde auf lange Sicht die kreativ-zerstörerische Dynamik des privaten Unternehmertums ersticken, hat sich nicht bewahrheitet, ebenso wenig wie die Hoffnung mancher Sozialdemokraten, die Revolution der Manager werde eine neue, rationalere Organisationsform des Kapitalismus einleiten und die Anarchie des Marktes eindämmen. Die von den sozialdemokratischen Revisionisten vorgenommene Abwertung des Besitzes an Produktionsmitteln als zentraler gesellschaftlicher Konfliktlinie wurde von den shareholders selber wieder rückgängig gemacht. Die Renaissance des "Unternehmerischen" spiegelt sich wider in der neuen Betonung des shareholder value als einzigem Unternehmensziel, dem die Sonderinteressen des Managements, der Belegschaft und anderer "stakeholder" unterzuordnen sind.

4. Neue Unterschicht

Die neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen produzieren eine neue Unterschicht der Arbeitslosen, working poor, "Scheinselbständigen", "prekär Beschäftigten" usw. Neue Exklusionsmechanismen setzten sich durch, die bewirken, daß der Fortschritt des "Ganzen" nicht mehr gleichbedeutend für den Fortschritt aller oder der großen Mehrheit ist. Die in den 50er und 60er Jahren begründete Hoffnung der Sozialdemokraten, Modernisierung und soziale Gerechtigkeit seien zwei Seiten derselben Medaille, erweist sich unter den neuen Bedingungen als Schimäre. Das Aufkommen einer neuen, von der wirtschaftlichen Dynamik ausgeschlossenen Unterschicht geht vielen Beobachtern zufolge auf technologische und organisatorische Innovationen in den Unternehmen (und zunehmend auch im öffentlichen Sektor) zurück, die darauf abzielen, "slack", also nicht oder nicht voll ausgelastete Ressourcen, systematisch abzubauen bzw. durch neue organisatorische Arrangements zu verbilligen. Andere argumentieren, daß die Globalisierung die Einkommen der weniger Qualifizierten unter Druck setze und die Beschäftigungsverhältnisse instabiler werden lasse. In dieser Situation kann Ungleichheit nicht mehr wie im Goldenen Zeitalter dadurch gerechtfertigt werden, daß sie die Situation der schlechter Gestellten zu verbessern erlaube. Im Vergleich zur Dynamik der Wirtschaftssektoren in den 50er und 60er Jahren liegt eine umgekehrte Bewegung vor: Die verarbeitende Industrie mit ihrer hohen Produktivität und potentiell hohen Löhnen schafft immer weniger Beschäftigung. Diese Entwicklung löst eine doppelte Wanderungsbewegung der Arbeitskräfte aus: Einigen gelingt es, in die höheren Etagen der "wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft" aufzusteigen, sich also in Symbolanalytiker im Sinne Robert Reichs zu verwandeln; einer weitaus größeren Gruppe dagegen bleibt keine Möglichkeit, als in den wenig produktiven Sektor einfacher Dienstleistungen abzusteigen. Auf der Nachfrageseite ist dieser Trend mit dem zunehmenden Konsum einfacher Dienstleistungen verbunden; damit diese Dienstleistungen privat finanzierbar werden - so könnte man jedenfalls argumentieren - müssen sich die Einkommen derer, die diese Leistungen erbringen, in der Tendenz von denen derjenigen entkoppeln, die sie nachfragen. Für soziale Gerechtigkeit im Sinne des materiellen Fortschritts (d.h. immer mehr und immer bessere Konsumgüter) für alle bietet die veränderte Primärverteilung keinen Spielraum mehr.

5. Neuer Wirtschaftskonsens

In den Industrieländern hat sich ein wirtschaftspolitischer Konsens durchgesetzt, der sich unter den konservativen Regierungen der 80er Jahre bildete und den man für nicht reversibel hält. Dieser Konsens schließt ein, daß Inflation um jeden Preis zu vermeiden ist, und daß Steuern und staatliche Verschuldung nicht steigen dürfen. Er legt jede, auch jede sozialdemokratische Regierung, auf eine stabilitätsorientierte Geld- und Fiskalpolitik fest. Wirtschaftspolitik folgt immer weniger dem Imperativ der Steigerung der Einkommen und immer mehr von dem der Sicherung der Vermögen. Den vom globalen Wirtschafts- und Finanzsystem ausgehenden constraints fügt sich damit die Wahrnehmung innen- und wahlpolitisch bedingter Einschränkungen hinzu, die in dieselbe Richtung gehen: Die Gestaltungsmöglichkeiten des Staates reduzieren sich unter diesem Gesichtspunkt auf den Spielraum, der vereinbar ist mit der Garantie finanzieller Stabilität und einer sinkenden, auf keinen Fall aber steigenden Steuerlast. Von dieser Seite her ist auch der Spielraum für die Korrektur der Primärverteilung begrenzt.

6. Individualisierung

In den modernen Industrie- oder Informationsgesellschaften läßt sich ein fast allgegenwärtiger Auflösungs- oder Zersetzungsprozeß beobachten: Von Traditionen, Lebensformen, Werthaltungen, Sozialmileus, Gemeinschaften und Normalarbeitsverhältnissen. Theoretiker der Moderne wir Ulrich Beck und Anthony Giddens haben diesen Prozeß als "reflexive Modernisierung" oder Enttraditionalisierung beschrieben. Die Auflösung von Traditionen erweitert den Spielraum individueller Möglichkeiten; was früher durch Tradition vorgegeben war, ist heute Option; Biographien sind weniger als in der Vergangenheit durch Traditionen genormt, weniger vorhersehbar; ob jemand Topmanager oder Müllsortierer wird, liegt ebenso in seiner eigenen Verantwortung wie die Auswahl der für ihn angemessenen Lebensform: auch die Familie ist nur noch eine mehrerer Optionen. Allerdings hat die Individualisierung der Lebensverhältnisse nicht (wie die Theoretiker der neuen Moderne manchmal nahelegen) die "alte soziale Frage" gelöst, sondern sie nur überdeckt. Den vielfach höheren Freiheitsgraden kontrastiert ein vom Arbeitsmarkt gesetzter Zwang zur individuellen Flexibilität, d.h. zur Wahl der Optionen, die mit der eignen employability vereinbar sind. Für sozialdemokratische Politik ist der Prozeß der Individualisierung in doppelter Hinsicht relevant: Zum einen sind politische Haltungen nicht mehr durch Traditionen oder kollektive Normen vorgeprägt; die Folgen der Auflösung traditioneller Arbeitermilieus für die Wahlaussichten der Sozialdemokratie sind oft beklagt worden. Soziale Lage und politische Orientierung scheinen generell nicht mehr in einem vorhersagbaren Entsprechungsverhältnis zu stehen; das Schicksal abhängiger Beschäftigung prädisponiert nicht mehr zu einer Präferenz für die Linke; wenn jemand Auto fährt oder Kampfhunde züchtet, kann dies für dessen Wahlentscheidung wichtiger sein als seine soziale Lage. Wenn die soziale Lage aber keine bestimmte politische Option mehr nahelegt, ist es für eine Partei, die Wahlen gewinnen will, nicht mehr unbedingt sinnvoll, sich vorrangig den abhängig Beschäftigten zuzuwenden. Im Gegenteil könnte das Ansprechen der potentiellen Wähler in ihrer Position als sozialer Verlierer eher negative Reaktionen auslösen. Zweitens kann sich die Sozialdemokratie als Regierungspartei nicht mehr eindeutig an Großkollektive mit mehr oder weniger normierten Biographien wenden kann. Der gesamte Sozialstaat basiert aber auf vorhersagbaren Lebensläufen der Bevölkerungsmehrheit.

 

Der Dritte Weg: Sozialdemokratische Politik im Zeitalter der Ungleichheit

*Modernisierung und Amerikanisierung

Die Politik des Dritten Weges ist ein Modernisierungsprogramm (man mache sich einmal die Mühe, das Wort "modern" im Schröder-Blair-Papier zu zählen) und in gewisser Hinsicht ein Amerikanisierungsprogramm. Daß die Sozialdemokratie als Partei der Modernisierung und Amerikanisierung auftritt, ist nicht neu. Dies gilt auch für den Revisionismus der 50er und 60er Jahre. Die Labour-Regierungen unter Harold Wilson (1964-71) und James Callaghan (1974-79) waren mit dem selbstgesetzten Ziel angetreten, den Modernisierungsrückstand Großbritanniens aufzuholen, und auch im "Modell Deutschland" der SPD klingt dieses Motiv an. Neu sind die inhaltlichen Assoziationen, die im Begriff des "Modernen" mitschwingen:
(1) In den 50er und 60er Jahren konnten wirtschaftliche Modernisierung und soziale Gerechtigkeit wie erwähnt als zwei Seiten derselben Medaille angesehen werden. Heute hat sich dieser Zusammenhang entkoppelt. Die Entstehung einer Unterschicht der Arbeitslosen (in Westeuropa) oder working poor (in den USA) belegt, daß an der wirtschaftlichen Dynamik nicht mehr alle teilhaben. Soziale Gerechtigkeit bleibt zwar ein "Wert", der auch im Schröder-Blair-Papier erwähnt wird, die Sachaussagen laufen aber eher auf den Abbau sozialer Sicherungsmechanismen hinaus. In den Programmaussagen der Protagonisten des Dritten Weges begibt sich der Staat weitgehend der Instrumente, durch deren Einsatz er in der Vergangenheit für soziale Gerechtigkeit zu sorgen versucht hatte: Er verzichtet darauf, in die Entscheidungsräume der privaten Wirtschaft einzugreifen, und unter dem Zwang zur finanziellen Stabilität kann er auch nicht mehr die materiellen Verpflichtungen eingehen, die in der Vergangenheit mit der Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit einhergingen. Die Verteilungsfrage, die eng mit der Gerechtigkeitsfrage verknüpft ist, wird nur noch insofern thematisiert, als "traditionelle" Umverteilungskonzepte der Kritik verfallen.
(2) In den 50er und 60er Jahren war das Vorbild Amerika das Vorbild einer fortgeschrittenen und weitgehend egalitären Konsumgesellschaft. Als wichtigstes Kennzeichen des amerikanischen Modells dieser Zeit galten hohe Löhne, wie sie in Europa noch lange nicht gezahlt werden konnten. Der Ausbau des europäischen Wohlfahrtsstaats in den 50er Jahren diente zum Teil auch als Kompensation dafür, daß die europäischen Volkswirtschaften (noch) kein amerikanisches Lohnniveau bieten konnten. Heute liegt das amerikanische Vorbild für viele in der Ungleichheit der Einkommen (bei hoher Beschäftigung), der Flexibilität des Arbeitsmarktes und des hohen privaten Anteil an der sozialen Sicherung. Die Entkopplung von Modernisierung und sozialer Gerechtigkeit wird in den Dokumenten des Dritten Weges so deutlich verkündet, wie dies in politischen Programmaussagen möglich ist. Wir haben es - so wird zumindest angedeutet - in Zukunft mit zunehmender Ungleichheit zu tun, aus der kein sozialdemokratisches Harmonisierungsprogramm herausführt. Die (eingeschränkte) Form von Egalität, die in der Industriegesellschaft des Goldenen Zeitalters möglich war, läßt sich in der postindustriellen Gesellschaft nicht mehr aufrechterhalten.

*Pflicht, Teilhabe, Chance, Gemeinschaft

Damit stellt sich ein neues Legitimationsproblem: Ohne ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit bzw. ohne die Überzeugung eines ausreichend großen Teil der Gesellschaft, es gehe mehr oder weniger gerecht zu, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt auf Dauer gefährdet. Es besteht die Möglichkeit eines massiven Kooperationsentzugs, bis hin zu bewußtem Mißbrauch staatlicher Leistungen, Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit und Kriminalität. Welches legitimatorische Äquivalent bietet die Politik des Dritten Weges an, wenn Gleichheit und Gerechtigkeit im traditionellen Sinne nicht mehr thematisiert werden? Eine erste Antwort, die der New Democrats und insbesondere Tony Blairs, ist die Aufwertung der Moral bzw. die Moralisierung der Politik. Wenn die Verteilung in der bestehenden Gesellschaft politisch nicht mehr optimiert werden kann - also unter den gegebenen Bedingungen optimal ist -, können Defizite nicht mehr auf behebbare Mängel der Gesellschaft zurückgeführt werden, sondern nur noch auf moralische Defizite der Individuen. Der moralische Imperativ richtet sich dabei in erster Linie an die prospektiven Opfer der Modernisierung, die Empfänger von Sozialleistungen, deren Pflicht zur Annahme einer Ausbildung oder eines Jobs immer wieder hervorgehoben wird. Diese Pflicht wird um so stärker betont, je weniger wahrscheinlich es ist, daß "gute Jobs" (d.h. halbwegs sichere und akzeptabel entlohnte Beschäftigungen) in Aussicht gestellt werden können Die Rhetorik der Pflicht visiert auch die Sozialisationsleistung geregelter Arbeit an. Ihre Kehrseite ist daher die ebenfalls in Aussicht gestellte "Härte gegen das Verbrechen und gegen seine Ursachen" - also für die Fälle, in denen die Sozialisation durch Erwerbsarbeit nicht gelingt. Eine zweite Antwort ist eine neue Emphase der Teilhabe. Wenn den Arbeitslosen keine "guten Jobs" mit "gerechter" Entlohnung in Aussicht gestellt werden können, ist ihre Teilhabe am Erwerbsleben wenigstens mit einer Art immaterieller Gratifikation verbunden, die in der Zugehörigkeit zur Erwerbswelt selbst liegt. Aber nicht nur die Bezieher von Sozialeinkommen sollen zu Teilhabern werden, das Angebot wird auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt. Verstärkte Teilhabe, etwa auf der lokalen Ebene oder - wie in Großbritannien in der Form der Devolution von Kompetenzen an Schottland und Wales - soll die Einschränkung der materiellen Verpflichtungen des Staates zum Teil kompensieren. Die materielle Entstaatlichung erweitert die Kompetenzen der berühmten "Zivilgesellschaft" und kann daher auch als Demokratisierungsschritt interpretiert werden.Eine dritte Antwort liegt in der Betonung der Chance. Da sich soziale Gerechtigkeit im traditionellen Sinne und "Gleichheit im Ergebnis" erst recht nicht herstellen läßt, bleibt nur noch das liberale Gerechtigkeitsprinzip der Chancengleichheit und - in der Folge - der legitimen Ungleichheit als Resultat ungleicher Leistung. Wenn alle dieselben Chancen haben, tragen auch alle die individuelle Verantwortung für das, was sie aus ihren Chancen gemacht haben. Zusätzlicher Ausgleichsmechanismen bedarf es nicht. Dieses meritokratische Prinzip kann in der Tat eine starke gesellschaftliche Legitimation erzeugen. Das Problem liegt jedoch darin, daß Chancengleichheit immer nur behauptet wird, aber nicht verwirklicht ist. Es gibt keine Chancengleichheit, wenn einige Leute Millionen erben und andere nicht. Thomas Jefferson wollte noch alle 40 Jahre alles bebaubare Land neu verteilen, um jeder Generation dieselben Chancen zu geben; etwas weniger radikal hat Bruce Ackerman gefordert, jedem volljährigen Amerikaner eine Starthilfe von 80.000 Dollar (finanziert aus einer Steuer auf die größten Vermögen) zukommen zu lassen, um der Chancengleichheit näher zu kommen. In Wirklichkeit haben sich die Liberalen und Neoliberalen aber damit abgefunden, daß ihrem Gerechtigkeitsprinzip der Chancengleichheit in der Realität nichts entspricht. Eine vierte Antwort liegt, vor allem wieder in den angelsächsischen Ländern, in einer neuen Emphase der Gemeinschaft. Der Dritte Weg hat hier Impulse der kommunitären Bewegung aufgenommen, die sowohl den emanzipatorischen Individualismus im Gefolge der Bewegungen der 60er Jahre als auch den im neoliberalen Programm enthaltenen kalkulierenden Egoismus der Marktsubjekte einer grundlegenden Kritik unterzogen hatte. Der Kommunitarismus und die Philosophie des Dritten Weges treffen sich in ihrer Ablehnung der Verstaatlichung von Gemeinschaftsbeziehungen durch anonyme staatliche Bürokratien, differieren aber hinsichtlich der Bewertung des Marktes. Im Schröder-Blair-Papier heißt es eher lapidar: "Wir wollen eine Marktwirtschaft, aber keine Marktgesellschaft", es bleibt aber unklar, wo die Jurisdiktion des Marktes aufhört und die der Gesellschaft beginnt, und durch welche Prinzipien letztere bestimmt sein soll.

Fahrspuren auf dem Dritten Weg:

* Effizienz, Beschäftigung, Gerechtigkeit

Der Dritte Weg visiert zwei Ziele an: Erstens die Steigerung der volkswirtschaftlichen Effizienz. Dies ist für die europäische Sozialdemokratie nicht neu, neu ist nur erstens die Dramatik, mit der diese Aufgabe beschworen wird, eine Dramatik, die sich aus der Realität oder Wahrnehmung der Globalisierung ergibt. Effizienzsteigerung wird in erster Linie als Aufgabe der privaten Unternehmen angesehen, die unter dem Druck des Marktes keine andere Möglichkeit haben, als ihre Effizienz zu steigern. Neu ist damit zweitens Vertrauen, das manche Sozialdemokraten in die privaten Unternehmen und den Markt als "Effizienzmaschinen" setzen. Hier liegt eine deutliche Differenz zur Politik sozialdemokratischer Regierungen in den 60er und 70er Jahren (die gilt insbesondere für die Labour-Regierungen Wilson und Callaghan), die noch davon ausgegangen waren, der Staat müsse durch die Gestaltung der Rahmenbedingungen die Unternehmen zwingen, Produktivität und Effizienz zu steigern. Im "Modell Deutschland" der SPD lag dieser Zwang u.a. in hohen und industrieweit ausgehandelten Löhnen, der es den Unternehmen unmöglich machte, die Produktivität zu vernachlässigen. Im Konzept des Dritten Weges muß der Staat in erster Linie dafür sorgen, daß Management und Shareholder nicht durch zu hohe Kosten und Defizite in der Infrastruktur oder dem Ausbildungssystem beeinträchtigt werden. Das zweite Ziel ist die Steigerung der Beschäftigung. Dabei haben sich aber die Protagonisten des Dritten Weges der wichtigsten traditionellen Instrumente der Beschäftigungspolitik entledigt:


(1) Ein Nachfragemanagement, das hohe Wachstumsraten und eine Zunahme der Beschäftigung herbeiführt, gilt als problematisch; zwar wird der Globalsteuerung nach wie vor zugetraut, sie könne extreme konjunkturelle Schwankungen ausgleichen (so auch das Schröder-Blair-Papier), die Hoffnung, durch Nachfragemanagement ließe sich die Volkswirtschaft dauerhaft dynamisieren, wird aber durch den Zwang zur Wahrung der finanziellen Stabilität und durch die Abhängigkeit des Binnenwachstums von externen Faktoren entkräftet.
(2) Der Staat als employer of last resort fällt ebenfalls aus, da die anfallenden Ausgaben durch höhere Steuern und/ oder Staatsverschuldung finanziert werden müßten. Da die Unternehmen nicht gezwungen werden können, ihre Beschäftigung zu steigern, bleibt als Ausweg nur die Senkung der Löhne und Lohnnebenkosten. Die (insbesondere in Deutschland gültige) sozialdemokratische Zauberformel des Goldenen Zeitalters, hohe Löhne und hohe Produktivität (und damit hohe Gewinne) als einander bedingend anzusehen, hat ausgedient. Die Unternehmen brauchen die "Produktivitätspeitsche" hoher Löhne nicht mehr, weil der globale Wettbewerb nationale Schutzzonen beseitigt und alle Unternehmen zur Produktivitätssteigerung zwingt; und die Arbeiter brauchen nicht mehr den Anreiz hoher Löhne, da der Druck der Arbeitslosigkeit für eine Leistungsmotivation sorgt, die besondere monetäre Anreize überflüssig macht. Zugleich bietet der Dritte Weg Ausbildungsmaßnahmen und eine Reform der Sicherung gegen Arbeitslosigkeit, die die Anreize zur Annahme eines Arbeitsverhältnisses auch ohne monetäre Komponente stärken und die Arbeitnehmer beschäftigungsfähig und -willig machen. Das Konzept des Dritten Weges - so legt dessen Kritik des sozialdemokratischen "Traditionalismus" nahe - akzeptiert die Segmentierung der Gesellschaft in (a) Kapitalbesitzer (einschließlich der kapitalbesitzenden Arbeitnehmer) und die Besitzer vom Markt hoch bewerteter Qualifikationen, und (b) diejenigen, die nur über leicht substituierbare, von ihrer Qualifikation her veraltete, "einfache" Arbeitskraft verfügen - wobei entscheidend ist, daß die Einkommen in beiden Segmenten nicht mehr dynamisch miteinander verbunden sind. Während die Einkommen der Kapitalbesitzer bzw. der Besitzer hoch bewerteter Qualifikationen nicht zur Diskussion stehen, wird den Besitzern "einfacher" Arbeitskraft zugemutet, daß ihr Wohlstand (einschließlich sozialer Sicherheit) entweder abnimmt, zumindest aber nicht mehr im Rhythmus der allgemeinen Wohlstandssteigerung zunimmt. Den Mobilen bietet das Konzept des Dritten Weges ein Gratifikationsprogramm, es erweitert Entscheidungsspielräume und entlastet von den Einschränkungen der industriegesellschaftlichen Institutionen und Traditionen; für die weniger Mobilen ist es ein Erziehungsprogramm, d.h. sie bemüht sich, eine unzureichend mobile und flexible Bevölkerung den neuen Bedingungen anzupassen. Die zentralen Themen des Dritten Weges - die herausragende Bedeutung der Ausbildung als Weg zur Verbesserung der employability, die Betonung der Verantwortung und Pflichten (der Bezieher von Sozialleistungen) und die propagierte "Kultur der Selbständigkeit" - sind Elemente einer modernisierenden Volkspädagogik. Als Modernisierungshemmnis gelten nicht die privaten Unternehmen, sondern eine Bevölkerung, die durch veraltete Institutionen geschützt wird, sich neuen Chancen und Zumutungen verschließt, zu stark durch Traditionen gebunden ist, m.a.W. nicht für den jeweils effizientesten Einsatz zur Verfügung steht. Da die Flexibilisierung der Bevölkerung nicht mehr durch den Anreiz hoher und steigender Einkommen erzielt werden kann, wird dieser Anreiz durch eine Rhetorik der Pflicht, der harten Fakten und u.U. auch der unausgesprochenen Drohung ersetzt. Das Konzept (wenn auch nicht unbedingt die Praxis) des Dritten Weges stellt das Prinzip sozialer Gerechtigkeit, so weit es an die Verteilung von Einkommen gebunden ist, zur Disposition, auch wenn der "Wert" im Katalog verbleibt. Das industriegesellschaftliche Gerechtigkeitskonzept, von dem Abschied genommen wird - die steigende Verfügbarkeit von Konsumgütern für alle und eine (minimale) materielle Absicherung in allen Lebenslagen -, ist allerdings zeitbedingt und keineswegs die Verkörperung von Gerechtigkeit schlechthin. Die Frage ist, ob der Dritte Weg ein neues Angebot machen kann und will, das sich nicht nur negativ auf das traditionelle Angebot der "alten" Industriegesellschaft bezieht, sondern es unter veränderten Bedingungen neu formuliert. Da der Dritte Weg nicht als geschlossenes Theoriegebäude präsentiert wird, sondern als unabgeschlossener Prozeß, ist nicht alles verloren. Ob sich der Dritte Weg als realistischer Ansatz zur Modernisierung sozialdemokratischer Politik oder als Rückfall hinter den Neoliberalismus (insofern er dessen potentiell libertäre Komponente durch die Rhetorik eines autoritären Erziehungsstaats ersetzt), hängt von der Beantwortung von vier zentralen Fragen ab.

1. Interessen

Wie ordnet sich die Politik des Dritten Weges gesellschaftlichen Interessen zu? Es gibt bislang kein Dokument, in dem sich Politiker des Dritten Weges explizit als Vertreter bestimmter Interessen definieren. Angesprochen werden nicht bestimmte Interessen, sondern das "Wir" einer zur Standortgemeinschaft transformierten Volksgemeinschaft, die von der Globalisierung zusammengeschweißt wird. Die innere Grenze zwischen denen, die dazugehören, und denen, die dies nicht tun, verläuft zwischen den Tüchtigen, Mobilen, zur Flexibilität bereiten, Risikofreudigen und Verantwortungsbewußten auf der einen und den Müßiggängern und Empfängern von Sozialleistungen auf der anderen Seite (traditionelle sozialdemokratische oder gewerkschaftliche Interessenvertretung dagegen wird mit dem Verdikt des Veralteten belegt). Die von Schröder und Blair zitierten Werte allerdings ("soziale Gerechtigkeit" und "Solidarität") enthalten die implizite Anerkennung, daß es zumindest "Stärkere" und "Schwächere" und damit auch eine innergesellschaftliche Konfliktlinie gibt. Wie sich die Politiker der Dritten Weges zu dieser Konfliktlinie in ihrem Programm wie in ihrer Praxis stellen, ist noch nicht abzusehen. Die brutale Abschaffung staatlicher Wohlfahrtsleistungen ("welfare as we know it") in den USA ist nicht unbedingt ein Präzedenzfall, da die Initiative vom konservativ beherrschten Kongreß und nicht von der Regierung ausging. In Großbritannien scheint die politische Praxis der Regierung Blair eher traditionell sozialdemokratischen Konzepten zu folgen als die Rhetorik des Dritten Weges dies nahelegt. Hier gibt es, wie so oft, eine Spannung zwischen Programm und Wirklichkeit, wobei aber das übliche Mißverhältnis - die Praxis fällt hinter die hehren Ziele des Programms zurück - in gewisser Weise umgekehrt wird: Die Praxis ist nicht so schlimm, wie das Programm es eigentlich nahelegte.

2. Pragmatismus oder Populismus?

Wie wird die Spannung zwischen populistischer Rhetorik und radikalem Pragmatismus, die viele Dokumente des Dritten Weges kennzeichnet, aufgelöst? Der kritische Umgang mit der sozialdemokratischen Tradition enthält das Element einer notwendigen Entlastung der Politik. Neue Problemlagen erzwingen die Erwägung neuer Lösungsansätze, wobei der Blick nicht durch die Scheuklappen der Tradition eingeengt werden darf. Auch Lösungen, die in der Vergangenheit mit dem politischen Gegner identifiziert wurden, müssen auf ihre Angemessenheit hin überprüft, internationale Erfahrungen müssen aufgenommen werden. Unter diesem pragmatischen Gesichtspunkt ist der Dritte Weg ein "permanenter Revisionismus" (Tony Blair), ein langwieriges trial and error-Verfahren, in dem unterschiedliche Politikansätze ausprobiert und evaluiert werden. Gleichzeitig wird jedoch der von der Situation erzwungene Pragmatismus durch populistischen Dogmatismus überformt und unterhöhlt. Diese populistische Variante (die etwa in der religiös inspirierten Rhetorik Tony Blairs sichtbar wird6 ) bemüht sich, den Widerspruch zwischen Modernisierung und Gerechtigkeit zu übertünchen. Der Dritte Weg in dieser Version folgt dem Neoliberalismus in zweierlei Hinsicht, indem er dessen Marktfundamentalismus übernimmt und diesen mit anderen Fundamentalismen (der Familie, der Nation, der Gemeinschaft usw.) verschmilzt. In Deutschland dominiert nicht der schrille Populismus höherer Entitäten, sondern der der Standortgemeinschaft, die ihren Wohlstand gegen die Ansprüche anderer Nationen zu verteidigen hat.

3. Noch einmal: Pflicht, Teilhabe, Chance, Gemeinschaft

Wenn soziale Gerechtigkeit über traditionelle Umverteilung nicht mehr hergestellt werden kann: Wie ernst ist es den Politikern des Dritten Weges mit den oben aufgeführten Äquivalenten Moral, Teilhabe, Chance, Gemeinschaft?


(a) Die Moralisierung der Politik, die Betonung der Pflichten und der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, richtet sich nicht an die Reichen und Mächtigen (die haben ihre Pflicht schon getan), sondern an die vom Sozialstaat Abhängigen. Im Grunde handelt es sich um die uralte Botschaft an die schlechter Gestellten, ihre materielle Benachteiligung hinzunehmen und eine Art sekundärer Gratifikation in der Pflichterfüllung zu suchen. Die wichtigste Pflicht ist die Erwerbsarbeit, zu der weder attraktive materielle Gegenleistungen noch ein befriedigender Arbeitsinhalt anreizen - sondern die Pflicht. Die Moralisierung der Politik in dieser Hinsicht ist ein Rückfall nicht nur hinter die sozialdemokratische Tradition (die immer eher die Rechte gerade der Benachteiligten hervorhob), sondern auch hinter den politischen Liberalismus, der die Individuen mit unveräußerlichen Rechten ausstattete, ihre Moral aber zur Privatsache erklärte. Die Moralisierung der Politik läßt im Diskurs des Dritten Weges einen autoritären Unterton anklingen, der sich eher gegen die (möglicherweise ambivalenten) Ergebnisse der Emanzipationsbewegung der 60er und 70er Jahre (der sich viele Politiker des Dritten Weges zurechneten) richtet als gegen den Egoismus des kalkulierenden Marktsubjekts.
(b) Das Angebot der Teilhabe ist doppeldeutig. Demokratische Teilhaberechte sind per Verfassung festgelegt, Aufgabe des Staates ist es, sie zu schützen, möglicherweise auszuweiten, nicht aber, sie als Ersatz für materielle Leistungen anzubieten. Natürlich kann es in einem zentralisierten Staatswesen sinnvoll und notwendig sein, Verantwortung an lokale und regionale Einheiten abzugeben und diese mit mehr Rechten und mehr Mitteln auszustatten; auch gibt es wohl viele Probleme, die in der spontanen Kooperation der Bürger besser zu bewältigen sind als durch die staatliche Verwaltung. Teilhabe kann aber nicht Ersatz für Einkommen sein. Die aktiven Teilhaber der "Zivilgesellschaft" sind in der Regel die, die ihre materiellen Probleme mehr oder weniger gelöst haben, also eher beamtete Lehrer als scheinselbständige Lastwagenfahrer. Eine Politik, die dazu tendiert, Beschäftigungssicherheit abzubauen und einen Niedriglohnsektor in Kauf zu nehmen, unterminiert indirekt auch die Rahmenbedingungen einer funktionierenden Zivilgesellschaft, die den Staat von sozialen Aufgaben entlasten soll.
(c) Im Angebot der Chancengleichheit liegt möglicherweise das wichtigste Potential des Dritten Weges. Chancengleichheit ist das Gleichheitskonzept des (Neo)-Liberalismus, "Ungleichheit im Ergebnis" als Resultat ungleicher Leistungen ist gerecht, wenn Chancen und Ausgangspositionen wirklich gleich waren. Dieses Gerechtigkeitsversprechen wird aber allenfalls insofern eingelöst, als formelle Zugangsbarrieren zum Ausbildungssystem und zu gut honorierten Erwerbspositionen abgebaut werden. In der Realität kann und will auch eine radikale neoliberale Politik nicht verhindern, daß sich Oligarchien bilden, die Chancen, Einfluß und Einkommen unabhängig von der Leistung nach dem Kriterium der "Zugehörigkeit" verteilen. Wie angemerkt schafft bereits das Erbrecht extrem unterschiedliche Ausgangssituationen, indem es einer Minderheit mit Vermögen versieht und von dem Zwang entlastet, eine Erwerbstätigkeit einzugehen. In Japan haben eine prohibitiv hohe Erbschaftssteuer, ein leistungsorientiertes Ausbildungssystem und die direkte Verknüpfung der Erwerbschancen an die meßbare Ausbildungsleistung zumindest den Schein eines meritokratischen Verteilungsmodus erzeugt, dessen Ergebnisse von einem starken Konsens getragen werden. Auch in der Bundesrepublik entstand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Währungsreform der Eindruck weitgehend vergleichbarer Startbedingungen (der natürlich von der ungleichen Verteilung der Sachvermögen absah). Dieser Ursprungsmythos gleicher Startbedingungen, der wahrscheinlich viel zum sozialen Konsens der Nachkriegsjahrzente beigetragen hat, hat sich in dem Maße verflüchtigt, in dem sich die ungleichen Leistungen der ersten in ungleiche Ausgangspositionen der zweiten Generation verwandelt haben. Natürlich läßt sich weder das japanische Modell nachahmen, noch läßt sich die deutsche Nachkriegssituation simulieren. Man wird sich gleichwohl fragen müssen, wie zumindest der Eindruck gleicher oder vergleichbarer Startbedingungen erzeugt werden kann, so daß die Differenzen im Einfluß und Einkommen nachvollziehbar auf Unterschiede in der Leistung zurückgeführt werden können. Die Realisierung des erwähnten Vorschlags von Bruce Ackerman, jedem Bürger zum Zeitpunkt seiner Volljährigkeit eine Geldsumme zukommen zu lassen, die groß genug ist, um den Grundstein eines Vermögens zu legen, würde die realen Verteilungsverhältnisse kaum tangieren, sie würde aber diesen Eindruck gleicher Ausgangspositionen und damit eine Schicht überzeugter "Teilhaber" schaffen. Sollten die Politiker des Dritten Weges sich zu solchen oder ähnlich radikalen Reformen durchringen (d.h. sollten sie, anders als die Liberalen, das Gerechtigkeitsversprechen des Liberalismus ernst nehmen) würde dies den Abschied von den traditionellen Gerechtigkeitsvorstellungen u.U. mehr als aufwiegen.
(d) Die von den Protagonisten des Dritten Weges immer wieder proklamierte Gemeinschaftsorientierung trifft das zentrale Problem einer Gesellschaft, die sich unter den selbst gesetzten Imperativ der Flexibilisierung gestellt hat. Richard Sennet hat gezeigt, daß das flexible Leben selbst die Modernisierungsgewinner in eine Situation führt, in der sie ihre Biographien nicht mehr zusammenhängend interpretieren, geschweige denn ihren Kindern eine kongruente Interpretation weitergeben können. Die Flexibilisierung steht jeder Gemeinschaftsbildung, auch und gerade der familiären, entgegen. Anthony Giddens hat es zur vorrangigen politischen Aufgabe erklärt, Solidaritätsbeziehungen jeder Art zu bewahren, zu entwickeln und u.U. auch zu erfinden (oder wieder zu erfinden). Der Dritte Weg, so Giddens, müsse hier die Aufgabe der Konservativen mit übernehmen, indem er auch traditionelle Gemeinschaften (aber in nicht-traditioneller Weise) bewahren hilft. Das Problem ist zu grundlegend, als daß es sich durch ein neues Vereinsgesetz oder mehr Kindergeld lösen ließe. In der Betonung der Gemeinschaft und der inclusion erkennen die die Protagonisten des Dritten Weges an, daß die gemeinschaftlichen Grundlagen unserer Gesellschaften bedroht sind. Sie propagieren aber meist eine Politik, die - unter dem Diktat der Globalisierung - die Zersetzung von Gemeinschaften beschleunigt.

4. Rationalität und Steuerung

Wie stellen sich die Protagonisten des Dritten Weges zum Rationalitätsprinzip, das (neben der Thematisierung von Gleichheit und Ungleichheit) in der Vergangenheit eine Konstante sozialdemokratischer Politik gewesen war? Die Vordenker des Dritten Weges rufen dazu auf, auf die Steuerung durch den Markt zu setzen - jedenfalls mehr, als Sozialdemokraten dies üblicherweise taten. Die Hinwendung zum Markt erfolgt paradoxerweise in einer Situation, in der das Vertrauen in die Vernunft des Marktes (u.a. im Gefolge der Asienkrise) nachhaltig erschüttert ist und die Notwendigkeit von Regulierungen auf die Tagesordnung der internationalen Wirtschaftsdiplomatie gesetzt wurde. Deflationäre Entwicklungen in mehreren Ländern haben die Kathedralen der marktwirtschaftlichen Orthodoxie erschüttert und die von vielen vorschnell in den Mülleimer der Geschichte beförderte keynesianische makroökonomische Steuerung wieder zum Thema gemacht. Es wäre ein Witz der Geschichte, wenn sozialdemokratische Regierungen heute aus ideologischen Gründen darauf verzichteten, Krisentendenzen entgegenzuwirken (bzw. diese durch eine orthodoxe Politik noch verschärfen), deren Bekämpfung mit Hilfe des makroökonomischen Instrumentariums einst zu den Kernforderungen ihrer Politik gehörten. Dies soll nicht heißen, daß die makroökonomische Steuerung ein Heilmittel gegen alle Übel wäre (sie war es auch nicht in den 70er Jahren). Auf der anderen Seite ist das Mißtrauen in die höhere Rationalität des Staates, zu dem die Politiker des Dritten Weges auffordern, durchaus begründet. Die Vorstellung, staatliche Steuerung sei rationaler als der Markt und diesem prinzipiell überlegen, wird durch den Zustand widerlegt, in dem sich auch in den westlichen Demokratien die wichtigsten Steuerungsinstrumente (wie Steuersystem und Sozialausgaben) beinden: Nicht nur unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Effizienz, sonern auch dem der politischen Ziele, denen sie ursprünglich dienen sollen (der Herstellung sozialer Gerechtigkeit), funktionieren diese Instrumente im besten Falle suboptimal. Sozial- und Steuersystem haben sich in einen undurchdringlichen Dschungel von Vorschriften verwandelt, in dem sich allenfalls professionelle Navigatoren zurecht finden. Den größten Nutzen aus diesen System ziehen eher die, die sich die Assistenz professioneller Navigatoren leisten können, als die, zu deren Schutz es eigentlich erdacht wurde. Die Frage ist, ob es den Politikern des Dritten Weges gelingt, die Grenze zwischen staatlicher Steuerung und Markt pragmatisch und nicht ideologisch zu ziehen. Im Eifer, sich von den Konzepten der sozialdemokratischen Tradition abzusetzen, haben sich viele seiner Protagonisten unter den Druck gesetzt, nun auch den Beweis für ihre Glaubwürdigkeit (im Sinne der marktwirtschaftlichen Orthodoxie) anzutreten. Dieses Bestreben könnte zu einem überflüssigen und schädlichen Verzicht auf den Einsatz staatlicher Steuerungsinstrumente führen.

5. Die Selbstabschaffung der Politik?

Dem Diskurs des Dritten Weges kommt ein Verdienst zu: Er hat der notwendigen Debatte um die Modernisierung sozialdemokratischer Politik eine Aufmerksamkeit verschafft, die ihr unter anderen Bedingungen nicht beschieden gewesen wäre. Er hat dazu beigetragen, daß diese Diskussion aus engen und zum Teil selbstreferentiellen Programmzirkeln heraus in die Öffentlichkeit gebracht wurde. Selbst die intellektuellen und sozialen Zumutungen, die dieser Diskurs enthält, können aufklärend wirken, da sie in fast naiver Offenheit darlegen, worum es geht. Der Dritte Weg spricht es so offen wie möglich aus: Die Zeiten sind so, daß wir uns vom Ziel sozialer Gerechtigkeit, so wie es traditionell formuliert wurde, auf absehbare Zeit zu verabschieden haben - und damit von der Sozialdemokratie "so wie wir sie kennen". Die Gegenthese wäre: Die Einsicht, daß das Gerechtigkeitsmodell des Goldenen Zeitalters unter den Bedingungen der Globalisierung nicht aufrechterhalten werden kann, macht die Frage, wie die Lage der Benachteiligten absolut und relativ verbessert werden kann, nicht obsolet, sondern nur noch dringlicher. Wenn Politik nur noch darauf hinausliefe, wirtschaftliche Effizienzsteigerung herbeizuführen, könnte sie von konkurrierenden Management-Teams betrieben werden, die sich nicht mehr unter historisch belastete Parteinamen stellen müßten, sondern sich ebenso FC oder Borussia nennen könnten. Der Dritte Weg führt dann in die Irre, wenn er die Sachzwänge der "wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft" so definiert, daß politische Optionen ausgeschlossen sind, Politik sich allenfalls auf den Wettkampf darum reduzierte, wer der jeweils willigere Erfüllungsgehilfe unwandelbarer Zwänge ist. Politik hätte sich dann selbst abgeschafft. So lange es aber noch Optionen gibt, führt der Name "Dritter Weg" in die Irre: Entweder ist die Welt mit politischen Mitteln nicht zu verbessern (die konservative Option), oder Regierungen können und müssen sich für die Belange der Benachteiligten einsetzen (die sozialdemokratische Option). Der Dritte Weg ist entweder der erste oder der zweite.