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Was kann Europa tun, wenn Amerika tut, was es will? / [Alfred Pfaller] - [Electronic ed.] - Bonn, [2003 - 2] Bl. = 20 KB, Text
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




Politikinfo

Was kann Europa tun, wenn Amerika tut, was es will?

Zur Zeit des Kalten Krieges sorgte die sowjetische Bedrohung für eine so starke transatlantische Interessenkonvergenz, dass Europa seine relative Ohnmacht (de Gaulle hin, de Gaulle her) kaum als großes Problem ansah. Europa hing vom amerikanischen Schutz ab, aber auch die USA hatten ein „vitales" Interesse daran, dass (West)Europa westlich bleibt.

Heute geht mit Amerikas überragender globaler Machtposition ein „objektives" Interesse einher, diese Position, so lange es geht, zu erhalten und das Aufkommen von Gegenmacht frühzeitig zu verhindern. Ist dies auch im Sinne Europas? Jedenfalls kann sich der alte Kontinent nicht mehr darauf verlassen, dass der Verbündete bei der Ausübung seiner beispiellosen Macht stets das gemeinsame Interesse im Auge hat.

Aber was soll Europa tun? Drei grundlegende Optionen bieten sich an, mit der neuen Situation umzugehen:

1. Europa steht in bedingungsloser Loyalität zu den USA, deren Macht es wenig entgegenzusetzen hat, um wenigstens der Vorteile teilhaftig zu werden, die sich aus der Nähe zur Macht ergeben.

2. Europa baut seine eigene Machtposition aus, um sich amerikanischen Vorhaben gegebenenfalls wirksam zu widersetzen.

3. Europa treibt die Entwicklung einer alternativen Weltordnung voran, die das Handeln von Staaten an globale Rechtsnormen bindet und die so die Bedeutung vor allem militärischer Macht relativiert.

Daneben bleibt die „Nulloption": Europa verfolgt keines der drei strategischen Ziele, sondern beschränkt sich darauf, von Fall zu Fall den USA Gefolgschaft zu leisten oder – ohne viel Wirkung – zu verweigern.

Die genannten Optionen wären daraufhin abzuklopfen, wie weit sie den für Europa wichtigen Herausforderungen entsprechen, wie realistisch sie sind, und welche wirtschaftlichen und politischen Kosten sie verursachen.

Freundschaftliche Unterordnung: aus Zuversicht und aus Schwäche

Das Argument, Europa brauche den Schutz der US-Militärmacht, mit dem die „Unterordnungsoption" im europäischen Diskurs oft begründet wird, hat nach dem Ende des Kalten Krieges an Überzeugungskraft verloren. Auch Amerikas Einsatz in den Jugoslawienkonflikten ist bei genauer Betrachtung kein Indiz für Europas fortgesetzte Abhängigkeit von den USA. Dafür, Auseinandersetzungen mit den USA nicht eskalieren zu lassen, wenn man das amerikanische Vorgehen ablehnt, könnten hingegen drei andere Gründe sprechen:

  • erstens die Einsicht, dass dies Europa die einzige realistische Chance bietet, den inneramerikanischen Entscheidungsprozess im europäischen Sinne zu beeinflussen;

  • zweitens die Erwartung, dass die in der US-Verfassung festgeschriebenen Grundwerte, die auch die europäischen sind, die amerikanische Außenpolitik à la longue auf einem „zivilisierten" Weg halten werden;

  • drittens, über den zweiten Grund hinausreichend die Erwartung, dass europäische und amerikanische Interessen sich auch in Zukunft weitgehend decken werden und US-Weltpolitik „strukturell" auch Europa nützt.

Die letztgenannte Erwartung würde unserer Ausgangsfrage viel von ihrer Brisanz nehmen.

Für die Europäer bestünde kein ernsthafter Grund, sich einer „Pax Americana" zu widersetzen. Man könnte im Gegenteil Amerika dankbar sein, dass es seine Macht für die Schaffung einer von westlichen Werten geprägten Welt einsetzt.

Ein weiteres Argument könnte Zuversicht begründen: Die Politikfelder, in denen unilaterale Machtentfaltung sinnvoll vorstellbar ist und in denen sich ein Gegensatz Europa-USA besonders virulent entwickeln kann, nehmen tendenziell an Bedeutung ab. Irak, Nordkorea etc. sind Relikte einer Welt, die zu Ende geht. Damit verschwinden sowohl Anlass als auch Möglichkeit für kruden Unilateralismus.

Ironischer Weise könnte das wenig zimperliche amerikanische Vorgehen gegen die verbliebenen „Störenfriede" der Weltpolitik den Übergang zu einer Welt beschleunigen, die für militärischen Unilateralismus keine Verwendung mehr hat. Das Problem des Terrorismus hingegen und des diesen begünstigenden Staatszerfalls in Teilen der Welt stellt andere Herausforderungen als „Schurkenstaaten" es tun.

Allerdings bleibt die ungewisse Perspektive eines erstarkenden Chinas, welche die Weltmacht Nr. 1 zu dezidiert unilateraler Machtpolitik veranlassen könn-te. Auch in Europas Interesse?

Eine etwas pessimistischere Variante der „Unterordnungsoption" setzt weniger auf harmonierende Interessen als auf gleiche Werte. Man erkennt an, dass es künftig mehr Interessenkonflikte, u.a. wirt-chaftlicher Art, geben wird, aber man erwartet, dass sich der große Unilateralist den friedfertigen Staaten gegenüber „zivilisiert" benehmen wird.

Für die Fälle, in denen man das US-Vorgehen für falsch und gefährlich hält, etwa im Irak, setzt die Unterordnungsoption auf zwei Korrekturkräfte: die amerikanische Demokratie und den Einfluss auf die inneramerikanische Willensbildung, der mit einer sorgsam gepflegten Freundschaft einher geht. Die Pflege der Freundschaft dient auch dazu, die objektiven Interessengegensätze und die subjektiven Meinungsverschiedenheiten einzuhegen und zu verhindern, dass der große Bestand gemeinsamer Interessen aus dem Blickfeld gerät.

Aber auch wenn man überzeugt ist, dass (a) amerikanische Au-ßenpolitik de facto mehr den Interessen des US-Kapitals sowie dem Machtinteresse der politischen Klasse als den freiheitlichen Werten der US-Verfassung verpflichtet ist; (b) die US-Öffentlichkeit manipuliert wird; und (c) die realpolitischen Interessen Amerikas und Europas auseinanderdriften, kann sich freundschaftliche Unterordnung immer noch als die beste Option anbieten. Dies ist der Fall, wenn sich die Alternativen „Europäische Gegenmacht" und „Internationale Rechtsordnung" als unrealistisch oder nicht zweckdienlich darstellen.


Das Interesse der Europäer an der eigenen Ohnmacht

Der Ruf nach europäischer Gegenmacht hat Sinn, wenn die USA aus Eigeninteresse oder aus Hybris zu einer Politik tendieren, die dem Interesse Europas zuwiderläuft. Das ist nicht nur gegen Europa gerichtete, sondern auch langfristig friedensgefährdende, Weltordnung unterminierende Politik. Dann stellen sich folgende Fragen: Worauf müsste sich wirksame europäische Gegenmacht stüt-zen? Ist eine Politik, die darauf abzielt, realistisch?

Für Europa steht es nicht zur Debatte, wie weiland die Sowjetunion den USA mit Militärschlägen zu drohen. Es geht darum, einen Verbündeten „zur Ordnung zu rufen". Folglich kann es auch nicht darum gehen, der US-Militärmacht etwas Gleichwertiges entgegen zu setzen. Aber Europa müsste imstande sein, den USA einen genügend hohen Preis für unilaterales Handeln abzuverlangen. Die elementare Eingangsstufe der Druckausübung ist die effektive Verweigerung der Mithilfe bei den abgelehnten US-Initiativen. Die nächste Stufe wäre das konsequente Hinwirken auf diplomatische Sanktionen gegen die USA, etwa in der UNO. Wirtschaftssanktionen sind eine weitere Eskalationsstufe.

Um Druck dieser Art auszuüben, muss sich Europa einen ernsthaften Konflikt mit seinem Verbündeten leisten können. Hierzu sollte es objektiv in der Lage sein; denn eine spezifisch gegen Europa gerichtete Bedrohung zu erkennen ist, die – selbstlosen – amerikanischen Beistand erfordern würde, ist gegenwärtig nicht zu erkennen. Aber Europa kann von innen her nur schwer den nötigen politischen Willen aufbringen. Die große weltpolitische Schwäche Europas ist dabei seine institutionell begründete Uneinigkeit. Und es ist nicht damit zu rechnen, das es diese Schwäche überwindet.

Solange die EU die außenpolitische Entscheidungskompetenz nicht einer zentralen Instanz überträgt, wird sie nur gelegentlich mit einer Stimme sprechen. Dafür sorgen nicht nur die „natürlichen" Meinungsunterschiede zwischen einer Vielzahl von gleichberechtigten Akteuren, sondern auch deren Rivalitäten um – u.a. innenpolitisch verwertbaren – Einfluss und Prestige. Auch verbesserte Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten wird daran nur graduell etwas ändern.

Es ist auch nicht zu erwarten, dass ein klares gemeinsames Interesse an einer Emanzipation von Amerika die Europäer zur außenpolitischen Einigung treibt. Dem wird schon die amerikanische Diplomatie vor-beugen. Zwar mag immer wieder europäischer Stolz verletzt sein. Das aber kann zwei gewichtigere Faktoren nicht kompensieren, nämlich

  • das „natürliche" Interesse der Mitgliedstaaten (d.h. maßgeblichen Teilen ihrer politischen Klasse) an außenpolitischer Autonomie, und

  • die Tatsache, dass Europa weltpolitische Ordnungsaufgaben letztlich nicht ungern den USA überlässt, weil dies davon entbindet, sich selber nachhaltig zu engagieren und die entsprechenden ökonomischen und politischen Kosten zu tragen.

Die Vision „Weltmacht Europa" ist zudem gefährlich. Denn eine Welt mit wenigen Großmächten, aber ohne Hegemonen, tendiert zu destabilisierenden Positionskämpfen – eine Konstellation, wie sie dem Ersten Weltkrieg vorausging.

Ein handlungsfähigeres Europa, das weniger auf US-Beistand setzt und selbst den US mehr Beistand leistet, könnte jedoch innerhalb des transatlantischen Bündnisses mehr Gewicht haben. Dann müssten sich freilich die USA überlegen, wie weit sie in Abhängigkeit von europäischer Kooperation geraten wollen.


Recht vor Macht: illusorisch für eine Welt ohne soziale Kohäsion

Gelänge es, nationalstaatliche Willkür generell im Rahmen einer internationalen – über das bestehende Völkerrecht hinausgehenden – Rechtsordnung zu begrenzen, würde sich die Frage nach einem europäischen Gegengewicht zum amerikanischen Unilateralismus großenteils erübrigen. Außerdem würde eine derartige Ordnung, die der Staatengemeinschaft die Disziplinierung von „Stören-frieden" zuweist, die Sicherheit aller Staaten erhöhen und herkömmliche nationale Verteidigungspolitik obsolet machen. Kriegerisch eskalierenden Konflikten würde vorgebeugt. Für Europa erscheint es als attraktive Option, auf eine neue Weltordnung dieser Art hinzuarbeiten.

Aber warum sollte die alleinige Supermacht der Welt sich in ein Schema einbinden lassen, das ihren Handlungsspielraum begrenzt – zumal da die demokratische Legitimität der Staatengemeinschaft fraglich ist? Man kann die Antwort auf diese Frage schuldig bleiben und eine multilaterale Ordnung zunächst eben ohne die USA voranzubringen trachten. Dies würde – so könnte man erwarten – amerikanischem Unilateralismus zunehmend die Anlässe entziehen. Denn eine funktionierende multilaterale Weltordnung würde einen selbsternannten Weltsheriff überflüssig machen.

Trägt der Weltsheriff, wenn er „Schurkenstaaten" eliminiert, nicht selbst zu einer „zivilisierten" Weltordnung, in der Recht vor Macht geht, bei? So wie das Eingreifen in Jugoslawien dort den Weg für einen Neuaufbau nach europäischem Ideal geebnet hat? Dann wäre der europäische Einsatz für multilaterale Strukturen keine Alternativ- sondern eine Komplementärstrategie zur amerikanischen „Bereinigungsstrategie".

Es ist indes zu befürchten, dass es mit ein paar übrig gebliebenen „rogue states" nicht getan ist und der Welt neue komplexere Konflikte ins Haus stehen, für deren friedliche Bewältigung die Staatengemeinschaft eine solide Legitimitätsbasis bräuchte. Unilaterales Vorgehen der Mächtigen aber unterminiert das Prinzip „Recht geht vor Macht". Insofern steht ein europäisches Weltord-nungsprojekt in der Tat in Konkurrenz zu einem amerikanischen Weltsheriff-Modell, zumal die Eigeninteressen des Sheriff sein Eintreten für Recht und Ordnung durchaus selektiv geraten lassen.

Eine Weltordnung „erst mal ohne USA" läuft Gefahr, über ein Schönwetterprojekt nicht hinauszukommen: multilaterale Institutionen für die Bewältigung „ziviler" Konflikte, aber die Mobilisierung (wenn auch nicht sofort die Anwendung) nationaler Gewaltpotentiale und militärischer Bündnisse für die „vitalen" nationalen Interessen.

Die Erwartung, dass die Bereinigung der „Restprobleme" Irak, Nordkorea etc. nicht zu einer neuen friedlichen Weltordnung führt, setzt vor allem am Fehlen einer damit verbundenen positiven Zukunftsperspektive für weite Teile der Weltbevölkerung an. Mit neuen Alternativvisionen, die sich in aggressiver Konkurrenz zur westlichen Vision begreifen, ist zu rechnen. Denn letztere bleibt ihr globales Wohlstands- und Gerechtigkeitsversprechen eklatant schuldig. Dem ist auch kaum damit beizukommen, dass man weltweite Solidarität „endlich ernst nimmt". Denn damit ist der Westen konzeptionell und materiell überfordert. Die Vorstellung, das erfolgreiche europäische Integrationsmuster auf die („zivilisierte") Welt zu übertragen, übersieht die materiellen Voraussetzungen, auf denen dieses „Clubmodell" fußt. Schon die Osterweiterung dürfte die Grenzen aufzeigen.

Wenn die gesellschaftlichen Grundlagen einer „zivilisierten" Staatenwelt fehlen, ist auch in Zukunft mit Herausforderungen zu rechnen, die gewaltsame Antworten zumindest nahe legen. In Robert Kagans Begriffen: Mars wird auch in Zukunft kräftig mitregieren in der Welt. Ein wie immer weiterentwickeltes UN-System tut sich schwer, gegebenenfalls rasch entschlossen zu handeln – genau das, was den Unilateralismus der Starken begründet.

All das heißt nicht, dass eine multilaterale, auf Kollektiventscheidungen abstellende Weltordnung als strategisches Ziel aufzugeben sei. Aber als Mittel zur Kontrolle der Supermacht USA dient es nur sehr begrenzt.

Amerika drängen, der Versuchung der Macht zu widerstehen

Die eingangs aufgeführten großen strategischen Alternativen verflüchtigen sich bei genauer Betrachtung. Insgesamt wird Europa kaum in der Lage sein, die Parameter für die amerikanische Weltpolitik signifikant zu verändern. Die Zukunft der Weltordnung dürfte mehr vom inneramerikanischen Entschei-dungsprozess und darüber hinaus vom Geschick der US-Diplomatie abhängen als von der strategischen Vision Europas.

Folgendes Szenario erscheint nicht unplausibel: Die USA vermeiden es aus aufgeklärtem Eigeninteresse, permanent den Rest der Welt zu antagonisieren. Sie bringen von Fall zu Fall ad-hoc-Koalitionen („of the willing") zustande. Denn die Lösungen, die sie in ihrem Sinne ansteuern, kommen auch anderen Staaten zupass. Gelegentlich werden sich Allianzen in Europa gegen bestimmte US-Pläne bilden. Aber EU-weit dürften sie selten sein. Beim Schmieden der Koalitionen kommen wie eh und je unterschiedliche Druckmittel zur Geltung. Die Herausforderung für Europa wird darin bestehen, dieses Spiel möglichst gekonnt mitzuspielen und möglichst große „Zugeständnisse" der USA zu erzielen. Dazu muss Europa freilich jeweils fallbezogen seine Ziele definieren.

Eine Dauerfrontstellung USA (plus „Lakaien") vs. Staatengemeinschaft wird schon durch die zu erwartende Natur der Herausforderungen unwahrscheinlich gemacht. Einerseits wird die Aufgabe, staatliche Ordnung in vielen Teilen der Welt zu festigen, zu einer sicherheitspolitischen Priorität werden – kein polarisierendes Thema. Andererseits werden sich die Bedrohungen, die sich aus den diversen unbewältigten Verwerfungen der Modernisierung ergeben, nicht allein gegen Amerika richten. Im Vordergrund der transatlantischen Beziehungen wird deshalb nicht die Konfrontation unterschiedlicher Interessenlagen stehen, sondern die – prinzipiell – gemeinsame Suche nach den wirksamsten Lösungen für gemeinsame Probleme.

Europas Aufgabe wird es sein, die USA gegebenenfalls davon abzubringen, falsche, weil langfristig problemverschärfende Wege einzuschlagen. Man kann zwar nicht von vornherein davon ausgehen, dass Europa die richtigen Antworten hat und Amerika die falschen. Aber seine Position als Supermacht ohne ernsthaften Rivalen lässt Amerika in die Versuchung geraten, zu viel auf einseitigen Machteinsatz zu geben.

Eine wirksame Ausgleichsfunktion gegenüber Amerikas unilateralistischer Versuchung kann Europa eher aus einer Position kritischer Loyalität als aus einer Gegenmachtposition heraus wahrnehmen. Kritische Loyalität schließt dabei gelegentliche Gefolgschaftsverweigerung nicht aus. Andererseits wird ein außenpolitisch handlungsfähiges und selbstbewusstes Europa als kritischer Freund ernster genommen als eines, das sich immer wieder als weltpolitisches Leichtgewicht erweist. Diesen Übergang müsste Europa erst einmal hinbekommen.

Alfred Pfaller


Friedrich-Ebert-Stiftung, 5310 Bonn, fax: 0228 / 883 625, e-mail: PfallerA@fes.de


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