FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 17]



Barbara Hahn
In der Fremde.
Zur Emigration von Wissenschaftlern[*]


Als ich 1994 von der University von Michigan in Ann Arbor zu einem Gastsemester eingeladen wurde, bekam ich gleichzeitig auch Einladungen zu Vorträgen von Universitäten aus allen Ecken des Landes. Bei meinen Reisen zu Staats- und Privatuniversitäten im Mittleren Westen und an der Ostküste fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Überall traf ich auf Frauen aus Deutschland. Einige waren gleich nach dem Studium weggegangen, um in den Vereinigten Staaten zu promovieren, andere hatten nach der Promotion in Deutschland lange vergeblich versucht, dort eine Stelle zu finden. Sie alle erzählten mir dieselbe Geschichte: in Deutschland Professorin werden – unmöglich. Mich konnte das nicht treffen. Ich hatte 1993 habilitiert; in Deutschland gab es damals Stellen über Stellen. In den Monaten vor meiner Abreise in die USA hatte ich manchmal drei Bewerbungen pro Woche in den Briefkasten gesteckt. Schließlich wurden gerade alle Universitäten in Deutschlands Osten umstrukturiert. Die Monate gingen dahin, und irgendwann fiel mir auf, dass auf meine Bewerbungen keine Anfragen nach Publikationen und schon gar keine Einladungen zu Vorträgen erfolgten. Stattdessen bekam ich eine Anfrage aus Princeton, ob ich für ein Gastsemester zur Verfügung stände. Und nach diesen Semestern in Amerika von beiden Universitäten ein Stellenangebot.

Eine fatale Situation. Ich war vorher nie auf die Idee gekommen, dass meine berufliche Zukunft in den Vereinigten Staaten liegen könnte. Nie hatte ich auch nur ein Semester außerhalb Deutschlands studiert. Meine Forschungsarbeiten hatten mich nach Frankreich, Polen und Italien geführt, aber immer nur für Monate, für eingegrenzte Zeiträume. Und nun Amerika – ein völlig anderes Universitätssystem, das ich bisher nur aus der Perspektive eines Gastes wahrgenommen hatte, der mit Verwaltung, Kommissionen und all den anderen unangenehmen Seiten einer Bildungsinstitution nicht belangt worden war. Plötzlich tat sich ausgerechnet hier eine Lebensperspektive auf. Ich nahm Princetons Angebot an – auch deshalb, weil in Deutschland nur Arbeitslosigkeit winkte. Keine Alternative.

In den fünf Jahren hier in den Vereinigten Staaten habe ich ganz andere Emigranten kennengelernt. In meinen "undergraduate" Seminaren sitzen Studenten aus Polen, Bulgarien, Russland und dem früheren Jugoslawien, denen Princeton das Studium bezahlt. Immerhin 36 000 Dollar pro Jahr. Sehr kluge und motivierte junge Menschen, die sehr viele Geschichte mit sich herumschleppen und unglaubliche

[Seite der Druckausg.: 18]

Geschichten zu erzählen haben. Daneben aber auch die Kinder der Reichen aus Germany. Die Eltern sind in der CDU oder der SPD; sie leiten Betriebe, die wir alle kennen, oder sitzen zumindest in deren Aufsichtsräten. Wir haben "graduate" Studenten aus Indien, China und Singapur. Niemanden aus Afrika oder Lateinamerika. Studenten aus diesen Kontinenten haben sich in den letzten Jahren oder Jahrzehnten nicht für deutsche Literatur und Kultur als berufliche Perspektive interessiert. Sie sind eher in den technischen, ökonomischen und naturwissenschaftlichen Fächern zu finden.

Und dann natürlich die Kollegen. Wenn ich mit Naturwissenschaftlern zusammenkomme, treffe ich auf viele Deutsche. Meistens sind es junge Männer, die in den USA arbeiten, weil hier die Arbeitsbedingungen so unendlich viel besser sind als in "good old Germany". Sie würden nicht im Traum daran denken, nach Deutschland zurückzukehren. Warum sollten sie? Im Unterschied zu den Frauen an den "German departments", die ich bei meinen Vortragsreisen traf, sind sie nicht alleine hierher gekommen, sondern mit ihren Gattinnen, die meistens nicht an der Universität arbeiten. Mit anderen Worten – sie haben die Arbeitsteilung, die in Deutschland immer noch so gut funktioniert, auch hierher exportiert.

Wer also findet in Deutschland keinen Platz? Eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Die Lage in den einzelnen Fächern ist sehr unterschiedlich. Während die Germanistik in Deutschland große Schwierigkeiten hat, Frauen zu integrieren – so gingen zum Beispiel alle Lehrstühle im Osten bis auf zwei in Leipzig an Männer – ist die Lage in der Geschichtswissenschaft völlig anders. In den anderen Philologien ähnelt das Bild dem in der Geschichte, nicht dem in der Germanistik. Leisten wir uns immer noch eine "nationale" Wissenschaft, die von Männern repräsentiert werden muss?

Fragen wir, ob bestimmte theoretische Richtungen in den einzelnen Fächern nicht integriert werden, wird die Lage noch komplizierter, und die Trennung nach Geschlechtern scheint ihre Bedeutung völlig zu verlieren. So weit ich es übersehe, ist diese Frage in den Kulturwissenschaften eindeutig mit Nein zu beantworten. Ich kann kein Muster erkennen, keine bestimmte theoretische Richtung, die in Deutschland ausgeschlossen würde. Die Auswanderer in meinem Fach sind unter keinen Hut zu bringen. Auch politisch nicht, was für die Emigranten, die jetzt auf das Pensionsalter zugehen, noch ganz anders war. Unter ihnen dominieren die Linken.

Wer also emigriert heute? Sortiert uns der "wilde Hazard", von dem Max Weber sprach, als er akademische Integrationsriten analysierte? Ich weiß es nicht. Die Unbeweglichkeit deutscher Staatsuniversitäten, die oft Jahre für eine Berufung brauchen, spielt sicher eine wichtige Rolle. Eine Eliteuniversität in unserer Nachbarschaft hat gerade einen hervorragenden Literaturwissenschaftler angestellt, der in Deutschland unendlich lange auf den Ruf vom Ministerium gewartet hatte. Das amerikanische Angebot kam viel schneller und war außerdem viel besser. Eine Rolle spielt auch, dass sich deutsche Universitäten immer noch nach dem genealogischen

[Seite der Druckausg.: 19]

Modell reproduzieren. Starke Doktor- und Habilitationsväter scheinen bei vielen Karrieren wichtiger gewesen zu sein als die Leistung des Kindes. Ob das System des nationalen "Concours", der Wettbewerbsprüfung, die in Frankreich und Italien praktiziert wird, wirklich gerechter ist, weiß ich nicht. In Amerika wird anders rekrutiert. Hier haben auch "Waisenkinder" eine Chance. Die amerikanischen Universitäten scheinen alles integrieren zu können. Das Prinzip der freien Konkurrenz aller Bildungsinstitutionen lässt am Ende nur ein Kriterium übrig – was man tut, was man schreibt, muss "gut", muss ungewöhnlich sein. Über die Leere des Wortes "excellence" ist in den letzten Jahren heftig debattiert worden. In der Reflexion verwandelt es sich in eine schlichte Tautologie: "excellent" ist, was "excellent" ist. Insofern spiegelt es die gesellschaftliche Bedeutung amerikanischer Universitäten wieder, zumindest auf der Ebene der Ausbildung von "undergraduates". Der Name der Institution, an der man studiert, ist wichtig, nicht was man dort genau betreibt. In Heirats- und Todesanzeigen dienen diese Namen zur Konstruktion einer Biographie, alles andere ist dem untergeordnet.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal zum Anfang meiner Überlegungen zurückkommen. Emigration von Wissenschaftlern. Das Wort "Emigration" ist, abgesehen von unseren eigenen verschlungenen Pfaden durch verschiedene Länder, mit etwas ganz anderem verbunden: es gab viele vor uns, die aus ganz anderen Gründen aus Deutschland weggegangen sind. Auch wenn die Entscheidung fürs Ausland oft sicher nicht ganz freiwillig war – wir mussten nicht weg, wir sind nicht geflohen. Das Leben in einem anderen Land, in einer anderen Sprache hat sicher nicht nur mir ganz Neues eröffnet. Es war ein Gewinn und gleichzeitig ein merkwürdiger Verlust. Ich war Mitte vierzig, als ich in die Vereinigten Staaten zog. In diesem Alter ist die andere Sprache eine Barriere. Auch wenn man sie recht gut beherrscht – den eigenen Ton findet man wohl nicht mehr. Witzig sein und ironisch, das ist das Schwerste. Dabei ist im Umgang mit institutionellen Anforderungen nichts wichtiger. Bei Debatten auf "faculty meetings", bei Telefonaten mit der Verwaltung. Wie soll man sich ärgern über bürokratischen Widersinn oder unkluge Entscheidungen, wenn man den Ärger nicht ironisch abfedern kann? "Es gibt keinen Ersatz für die Muttersprache," sagte Hannah Arendt im Interview mit Günter Gaus, "ich schreibe in Englisch, aber ich habe die Distanz nie verloren."

Ich wünsche Ihnen aus großer räumlicher, aber ohne sprachliche Distanz eine gute und produktive Tagung. Dort drüben in Deutschland, wo ich gerne geblieben wäre.


    [Fußnote]

    * - Dieser Beitrag wurde auf der Tagung verlesen, da Frau Hahn wegen der internationalen Spannungen nach den Terrorakten des 11. September 2001 nicht nach Bonn kommen konnte.


[Seite der Druckausg.: 20 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | July 2003

Previous Page TOC Next Page