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Arbeitgeberbeiträge zur sozialen Absicherung sind dysfunktional geworden / [Alfred Pfaller] - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 2 Bl. = 20 KB, Text
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




Die Regelung, dass die soziale Absicherung zum Teil (im Prinzip hälftig) aus Arbeitgeberbeiträgen zu finanzieren ist, erschwert vernünftige Lösungen für die unter Anpassungsdruck stehenden Sozialversicherungssysteme. Die Frage, wie viel man aufwenden muss, um den Lebensabend finanziell abzusichern oder um die Möglichkeiten der Medizintechnik im Krankheitsfall voll auszunutzen, wird in misslicher Weise vermengt mit der Frage, wie Unternehmenserlöse zwischen Arbeitnehmern und Kapitaleignern aufzuteilen sind. Ließe man die – ohnehin illusionäre – Vorstellung fallen, die Arbeitgeber bezahlten zusätzlich zum Lohn noch einen Teil der sozialen Absicherung ihrer Arbeitnehmer, wäre es leichter, die soziale Absicherung rational zu gestalten. Rational heißt dabei: den veränderten ökonomischen Realitäten ebenso Rechnung tragend wie den Präferenzen der abzusichernden ArbeitnehmerInnen (oder auch StaatsbürgerInnen). Das jetzt in Deutschland praktizierte System führt zu zweierlei

  • dass die Arbeitskosten tendenziell stärker steigen als gesamtwirtschaftlich angebracht wäre;
  • dass die soziale Absicherung stärker beschnitten wird, als es die Arbeitnehmer eigentlich möchten.


In der Sache geht es um die Aufteilung des Lohneinkommens

In unserer Gesellschaft müssen die Menschen das Einkommen, das ihnen zur Verfügung steht, für die folgenden Zwecke aufteilen:

  • den laufenden Lebensunterhalt für sich selbst und gegebenenfalls ihre Familie,
  • die Vorsorge fürs Alter, den Krankheitsfall und andere Lebensrisiken,
  • die Beteiligung an den Gemeinschaftsaufgaben der Nation (der Gemeinde, des Landes) und
  • die Unterstützung einkommensmäßig benachteiligter Mit-bürgerInnen (Solidarität)

Der „normale" Arbeitnehmerhaushalt muss all dies traditionell aus dem Lohn bestreiten, den Mann und Frau von ihren jeweiligen Arbeitgebern bekommen. Je höher der Lohn, desto mehr Geld steht ihm prinzipiell für alle die genannten Zwecke zur Verfügung. Eigentlich läge es am Lohnempfänger selbst, wie er sein Einkommen aufteilt. In der Realität ist es ihm allerdings – aus guten Gründen – nicht völlig freigestellt. Das Gesetz zwingt ihn dazu, bestimmte Anteile seines Einkommens für die Zwecke der Vorsorge, der Solidarität und der Mitwirkung an den Gemeinschaftsaufgaben abzuzweigen.

Wie hoch der Lohn des Arbeitnehmers ist, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die sich auf zwei wesentliche Bestimmungsgründe zurückführen lassen, nämlich

  • erstens den Nutzen, den seine Arbeitsleistung für den Arbeitgeber bringt (also vor allem seine Produktivität, aber auch die Konkurrenz, der das Unternehmen ausgesetzt ist)
  • zweitens seine Verhandlungsmacht gegenüber dem Arbeitgeber (für die Dinge wie Konjunkturlage, gewerkschaftliche Organisation und staatliche Unterstützung ins Spiel kommen).

Die Faktoren, die die Höhe des Lohneinkommens bestimmen, haben aber nichts mit der Frage zu tun, wie es hinterher zwischen privatem Konsum, Vorsorge, Solidarität und Gemeinschaftsaufgaben aufgeteilt wird.


In der politischen Realität bedeuten höhere Sozialbeiträge höhere Arbeitskosten

In Deutschland, wie in vielen anderen Ländern, zahlt der Arbeitgeber seinen Angestellten nun allerdings nicht einfach einen Lohn, dessen Höhe bei uns in der Regel mit den Gewerkschaften ausgehandelt wird. Er trägt auch sogenannte Lohnnebenkosten. Die gesamten Arbeitskosten, die er zu tragen hat, setzen sich aus den beiden Teilkomponenten Lohn und Lohnnebenkosten zusammen. Für das unternehmerische Kalkül ist die Relation zwischen diesen Komponenten irrelevant. Wichtig ist allein die Gesamtsumme „Arbeitskosten". Der Arbeitgeber bräuchte sich um die Unterscheidung auch nicht zu kümmern, wenn er mit den Arbeitnehmern und ihren Organisationen die Gesamtkosten pro Arbeitsstunde/Ar-beitstag/Arbeitsjahr aushandeln würde. In Wirklichkeit handelt er jedoch nur den Teil aus, der als „Bruttolohn" bezeichnet wird. Darüber hinaus werden ihm von ganz anderer Seite noch lohnbezogene Zusatzkosten aufgebrummt. Ein Großteil dieser nicht tariflich ausgehandelten Zusatzkosten besteht aus den Arbeitgeberbeiträgen zu den diversen Sozialversicherungssystemen sowie aus der Verpflichtung zur – freilich nicht unbegrenzten – Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die Höhe der entsprechenden Lohnzusatzkosten leitet sich im wesentlichen aus dem Bedarf der sozialen Sicherungssysteme ab. Diese Kosten erhöhen sich automatisch,

  • wenn – bei konstanter Rentenformel – die Zahl der Rentenempfänger im Verhältnis zu den Beitragszahlern steigt (also wenn die Menschen immer länger leben, aber die Erwerbsbevölkerung nicht entsprechend wächst; oder auch wenn die Arbeitnehmer früher in Rente gehen);
  • wenn die Medizintechnik immer aufwendigere Methoden zur Bekämpfung und Verhütung von Krankheit bereitstellt, ohne dass das Recht auf Nutzung zunehmend eingeschränkt wird;
  • wenn die Arbeitslosenquote steigt.


Arbeitnehmer betrachten Sozialbeiträge nicht als Teil des Einkommens, sondern als Abgaben

Den Arbeitgebern könnten wachsende Beiträge zu den sozialen Sicherungssystemen relativ egal sein, wenn sie die Kosten in der nächsten Tarifrunde an die Arbeitnehmer weitergeben, d.h. auf die Tariflöhne anrechnen könnten. So entspräche es ja auch der eingangs dargelegten Logik der Einkommensaufteilung zwischen den verschiedenen Verwendungszwecken: Da die Vorsorgeaufwendungen steigen, bleibt eben entsprechend weniger für den unmittelbaren Konsum übrig. Aber auch die Gewerkschaften behandeln die Lohnnebenkosten tendenziell als „Zusatzkosten", nicht als Bestandteil jenes Lohnes, über den sie mit den Arbeitgebern verhandeln. Sie wollen für ihre Mitglieder einen möglichst hohen Nettolohn erzielen, auf keinen Fall aber eine Verringerung des Nettolohns akzeptieren. Auch wenn immer wieder Kompromisse zustande kommen (Beispiel: Feiertag gegen Pflegeversicherung), so sind diese doch Ergebnis äußerst mühsamer Verhandlungsprozesse, da das Prinzip der Arbeitgeberbeteiligung selbst nicht infrage gestellt – die Illusion erhalten – werden soll.

Über all dies wäre solange kein Wort zu verlieren, solange der Verteilungsschlüssel zwischen Nettolohn und Zusatzkosten einigermaßen konstant bleibt und im Hintergrund mitgedacht wird. Schwierig wird es dann, wenn (aus den oben erwähnten drei Gründen) an dem Verteilungsschlüssel erhebliche Veränderungen vorgenommen werden und die Arbeitskosten sich für die Unternehmen zu einem beträchtlichen Teil und gleichsam autonom über die Schiene der Zusatzkosten erhöhen. Für die Gesamtarbeitskosten, auf die es den Arbeitgebern letzten Endes allein ankommt, verlieren die Tarifverhandlungen dann ihre einst alles überragende Bedeutung. Denn dort wird ja nur die schrumpfende Teilgröße „Brut-tolohn" verhandelt.


Das unangemessene Konzept der „Lohnzusatzkosten" blockiert vernünftige Anpassungen in der Aufteilung des Lohneinkommens

Die Tatsache, dass die Aufwendungen für die Vorsorge (weniger die für Solidarität) ständig höher werden, ist nicht erfreulich. Aber sie entspricht letztlich dem hohen Stellenwert, den die Bürgerinnen und Bürger der Vorsorge fürs Alter und der Sorge für ihre Gesundheit beimessen. Wenn man einen immer geringeren Teil der Lebenszeit der Erwerbsarbeit widmet, wird die Altersvorsorge eben teurer. Und wenn die Medizintechnik immer wirksamere – aber auch aufwendigere – Methoden bereit stellt, einen der wichtigsten Wünsche fast aller Menschen, den nach Gesundheit und längerem Leben, zu erfüllen, dann ist das rundum positiv. Es kann zwar nicht bestritten werden, dass unsere sozialen Sicherungssysteme viele Ungereimtheiten aufweisen, die die Kosten unnötig in die Höhe treiben. Dennoch bleibt die Grundaussage richtig, dass höhere Aufwendungen für die soziale Absicherung den Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger entsprechen.

Was ist also dann grundsätzlich dagegen einzuwenden, dass der Anteil der Lohnnebenkosten an den Gesamtarbeitskosten immer höher wird? Die Antwort lautet: weil durch diese Anteilsverschiebung auch die Gesamtarbeitskosten stärker steigen, als es sonst der Fall wäre. Dagegen aber wehren sich die Arbeitgeber aus den bekannten Gründen (Stichworte „Wettbewerbsfähigkeit", „Beschäftigung", „Preisstabilität"). Ob die permanente Klage der Arbeitgeber über zu hohe Arbeitskosten nun in jedem Fall berechtigt ist oder nicht, mag dahingestellt bleiben. Immerhin ist der Lohnanteil am deutschen Volkseinkommen in den letzten Jahrzehnten drastisch gesunken (eine Rechnung, die freilich die Abgaben, mit denen sich die Arbeitnehmer Anrechte auf Rente, Pflege, ärztliche Behandlung etc. erwerben, nur unzureichend mit berücksichtigt). Der Punkt ist, dass das Kostenargument grundsätzlich bei allen Gehör findet, denen es um das Wohl der Volkswirtschaft geht. Dass es irgendwo Grenzen gibt, die besser nicht überschritten werden sollten, lässt sich wohl auch nicht abstreiten. Und genau diese Grenzen sind – unausweichlich, könnte man sagen – Gegen-stand permanenten Disputs.

In der politischen Realität muss nun zur Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Inflation (wie natürlich auch der Unternehmergewinne) immer stärker jene Teilgröße der Gesamtkosten herhalten, die der Finanzierung von Vorsorge gegen die Lebensrisiken (sowie zum weitaus geringeren Teil von Solidarität mit den wirtschaftlich Schwachen) gewidmet ist. Dabei werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer stillschweigend zu Komplizen. Letztere kämpfen um die Nettolöhne, für erstere werden die Lohnnebenkosten ein immer gefährlicherer, weil tariflich kaum kontrollierbarer, Kostenfaktor.

Fazit: Alles läuft auf den Imperativ hinaus, die Lohnnebenkosten dürfen nicht weiter steigen. Den Arbeitgebern und den „gesamtwirtschaftlich Verantwortlichen" ist’s ein Bedürfnis, die Arbeitnehmer lassen’s geschehen. Die Frage aber, was der Nation/Bevölkerung die soziale Sicherung unter den veränderten Bedingungen wert ist, tritt hierbei in den Hintergrund. Kostenbegrenzung geht vor.

Doch wie jedes verdrängte Problem tritt auch dieses durch die Hintertür wieder herein. Denn natürlich wollen die Bürgerinnen und Bürger im Alter ihren Lebensstandard möglichst aufrechterhalten und natürlich wollen sie im Falle einer schweren Krankheit alles tun, um wieder gesund zu werden. Da es aber aus den dargelegten Gründen nicht über die Lohnnebenkosten finanziert werden darf, müssen andere Konstruktionen her. „Eigenvorsorge" ist das Zauberwort. Die kostet zwar auch etwas, vielfach ist sie teurer und riskanter als die kollektive (aber letztlich auch aus dem „eigenen" Einkommen finanzierten) Vorsorge, die man sich nicht mehr leisten zu können glaubt. Aber es klebt ein anderes Etikett an ihr. Die für sie nötigen Aufwendungen fallen nicht unter die Rubrik „Lohnnebenkosten". Der Arbeitnehmer muss sie schlichtweg aus seinem Lohneinkommen bezahlen. Dass dann weniger für Essen, Miete, Auto, Vergnügen etc. übrig bleibt, wird nicht zum Politikum.

Wenn Abstriche am verfügbaren Nettoeinkommen schon die unausweichliche Konsequenz sind, warum sollten diese Abstriche dann nicht auch im Rahmen der kollektiven Absicherung (die wesentliche Vorzüge hat) akzeptabel sein?


Ohne die Fiktion der Arbeitgeberbeiträge wäre eine rationale Debatte um soziale Absicherung möglich

Verabschiedete man sich von der – einst durchaus sinnvollen – Figur der Arbeitgeberbeiträge und schlüge diese dem Bruttolohn zu, wäre die Debatte um die soziale Sicherung wesentlich einfacher. Sie würde nicht ständig von der Standortdebatte überlagert. Dann könnte man ohne Umschweife über die zentralen Fragen sprechen:

  • Wie viel Vorsorge will/soll man sich leisten?
  • Wieweit soll man den wirtschaftlich Schwachen (und den Familien) unter die Arme greifen?
  • Wie kann das am effizientesten organisiert werden?

Die beiden ersten Fragen würden immer so zu lesen sein: Auf wie viel laufenden Konsum (und Vermögensbildung) will man zugunsten von Vorsorge und Solidarität verzichten? In einer derartigen rationalen Debatte lassen sich auch Fragen nach Zwang und Freiwilligkeit und nach Optionenvielfalt aufwerfen.

Die Frage, wie das Volkseinkommen zwischen Arbeit und Kapital aufzuteilen ist, hat damit prinzipiell nichts zu tun. Dies ist eine Frage von wirtschaftlicher und politischer Macht, nicht von individuellen und kollektiven Präferenzen. Dass der Arbeitgeber die Hälfte der gesetzlichen Vorsorgeaufwendungen trägt, entspricht einer absolut oberflächlichen Vorstellung von Gerechtigkeit. Gerecht im Sinne des Arbeitnehmers ist es, dass er angemessen am wirtschaftlichen Ergebnis der gemeinsamen Produktion beteiligt wird. Was er davon heute ausgibt und was er für die Risiken des Lebens beiseite stellt, hat damit nichts zu tun.

Es gäbe noch eine andere Alternative, die Finanzierung der sozialen Absicherung aus der Geiselhaft der Standortdebatte zu befreien, nämlich sie aus dem allgemeinen Steuertopf zu bezahlen. Dies wird in radikaler Form in Dänemark praktiziert. Wieweit dabei die Unternehmen zur Kasse gebeten werden, dem setzen sowohl der internationale Steuerwettbewerb als auch generelle ordnungspolitische Überlegungen Grenzen. Steigt der Finanzbedarf für die soziale Absicherung, müssen deshalb die Bürger tiefer in die Tasche greifen – sei es auf dem Wege der Einkommens/Lohn-steuer, sei es auf dem Wege der Verbrauchssteuern. Darüber aber lässt sich demokratisch rational, im Sinne mehrheitlicher Präferenzen, entscheiden. Freilich hat ein derartiges System den Nachteil, dass die Finanzierung von Versorgungsansprüchen ständig mit generellen steuer- und finanzpolitischen Fragen vermengt wird. Ein beitragsfinanziertes System ist besser – wenn auch keineswegs vollständig – abgeschirmt gegen haushaltspolitische Tur-bulenzen.

Alfred Pfaller

Friedrich-Ebert-Stiftung, 5310 Bonn, fax: 0228 / 883 625, e-mail: PfallerA@fes.de


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