FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO


Sachzwang Weltmarkt? : Knapp daneben ; Besitzstand Wohlfahrtsstaat! / Michael Dauderstädt - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 15 S. = 58 KB, Text . - (Globalisierung und Gerechtigkeit) - ISBN 3-89892-085-2
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


Inhaltsverzeichnis
[auf Seite 3]

[Seite der Druckausg.: 1 = Titelblatt]

Michael Dauderstädt

Sachzwang Weltmarkt?
Knapp daneben.
Besitzstand Wohlfahrtsstaat!

Mai 2002

Welche der schmerzhaften Veränderungen
in unseren Gesellschaften sind von außen
verursacht und welche von innen?
Armut, Arbeitslosigkeit, Krise des Wohlfahrtsstaates – an allem
ist in den Augen der Globalisierungskritiker der Weltmarkt schuld.
Konservative und Nationalisten in Europa machen obendrein gern
die Europäische Integration für nationale Probleme verantwortlich.
Aber auch liberale Befürworter einer stärkeren Öffnung nutzen
die Globalisierung als Begründung für ihre Wunschliste
nach Abbau staatlicher Eingriffe und sozialer Besitzstände.
Eine genauere Analyse zeigt, dass der Einfluss der Globalisierung meist
überschätzt wird. Sie kann weder radikale Reformen rechtfertigen
noch Untätigkeit entschuldigen.

[Seite der Druckausg.: 2 ]

ISBN 3-89892-085-2

Kontakt:
Referat Internationale Politikanalyse
In der Abteilung Internationaler Dialog
Friedrich-Ebert-Stiftung
D-53170 Bonn
Fax: 0228-883-625
e-Mail: daudersm@fes.de

[Seite der Druckausg.: 3]

Page Top

Sachzwang Weltmarkt?
Knapp daneben.
Besitzstand Wohlfahrtsstaat!


Inhaltsverzeichnis:

Globalisierungsgegner sehen die Armen der Welt als Opfer des Weltmarkts. Europäische Nationalisten und Konservative wie LePen in Frankreich oder Margret Thatcher in Großbritannien wollen ihre Länder aus der EU führen, da sie ihre nationalen Interessen durch die Integration gefährdet sehen. Aber auch unter den Befürwortern der Integration in eine offene Weltwirtschaft kursieren Hypothesen und Paradigmen, die nationale Anpassungsleistungen fordern, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Unter Etiketten wie „Wettbewerbsfähigkeit„ oder „Standortdebatte„ fordern sie Verhaltensänderungen von Arbeitnehmern, Unternehmen und Politik, wobei häufig angebliche Kostenbelastungen durch hohe Löhne, Sozialabgaben, Steuern oder regulative Auflagen kritisiert werden. Ohne radikale Reformen sei kein wirtschaftlicher (und sozialer?) Erfolg in der globalisierten Weltwirtschaft mehr möglich. Aber was ist dran am „Sachzwang Weltmarkt„?

Im folgenden soll unter Globalisierung die Zunahme grenzüberschreitender Handels-, Kapital- und Arbeitsströme verstanden werden. Andere Dimensionen der Globalisierung wie die Entgrenzung von Kultur, Information, Politik werden nur soweit berücksichtigt, wie sie für unsere Frage bedeutsam sind. Was die Auswirkungen dieser Globalisierung auf nationale Wirtschaften betrifft, so konzentrieren wir uns zunächst auf das Wachstum und setzen dies dann mit den anderen wichtigen Bereichen der Beschäftigung, Verteilung und Wohlfahrtsstaat in Beziehung. In jedem dieser Bereiche wird der Einfluss des Weltmarkts im Vergleich und in Wechselwirkung mit anderen, meist einheimischen Faktoren analysiert, die sich in der Regel als wirkungsmächtiger und politisch entscheidender als die gern vorgeschobene Globalisierung erweisen. Reformen und Anpassungen sind oft wünschenswert – aber selten unter dem Druck des Weltmarkts, sondern ausgelöst durch demographische und technologische Veränderungen und neue gesellschaftliche und politische Präferenzen.

[Seite der Druckausg.: 4= Leerseite]
[Seite der Druckausg.: 5 ]


Wachstum in der offenen Volkswirtschaft

Wie beeinflusst die Globalisierung nationales Wachstum? Der empirische Befund ist durchwachsen. Wie so oft in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist es schwer, eine Kausalbeziehung nachzuweisen.

  • Gegen einen positiven Zusammenhang von Wachstum und Offenheit sprechen die globalen Wachstumsraten seit dem Zweiten Weltkrieg. Während die Globalisierung sich intensivierte, sank das weltweite Wachstum, das in den weniger liberalisierten 1950er und 1960er Jahren deutlich höher war als in den späteren Jahrzehnten (durchschnittliches Wachstum des Welt-BSP 1950-73: 4,91% gegenüber 3,01% zwischen 1973 und 1998) [Vgl. Angus Maddison „The World Economy. A Millennial Perspective „ OECD Paris 2001, Table B-19, S.262.].
    Bemerkenswert ist weiter, dass auch und gerade die Produktivität langsamer gewachsen ist, deren Zunahme durch eine außenwirtschaftliche Öffnung am ehesten zu erwarten gewesen wäre (zu den theoretischen Zusammenhängen vgl. unten).

  • Befürworter einer Öffnung können dem entgegenhalten, dass einmal ohne Globalisierung der Wachstumseinbruch bei Output und Produktivität noch stärker ausgefallen wäre. Überzeugender sind jedoch Ländervergleiche, bei denen offene Volkswirtschaften besser abschneiden als weniger offene. [Vgl. David Dollar und Aart Kraay „Trade, Growth and Poverty„ World Bank 2001]
    Allerdings gibt es auch dazu eine kontroverse Debatte, in der Liberalisierungsskeptiker auf die starken Wachstumserfolge relativ protektionistischer Länder wie Japan, China und Ostasien verweisen.

Hinter diesen globalen Aussagen verbergen sich gigantische Unterschiede zwischen Regionen und Ländern. Sie verweisen darauf, dass Wachstumsprozesse von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden, zu denen zwar auch die Außenwirtschaftspolitik und die durch sie ermöglichten und gestalteten internationalen Wirtschaftsbeziehungen gehören, ohne aber allein dafür verantwortlich zu sein. Daraus lässt sich also kaum eine politische Aussage im Sinne einer Schuldzuweisung oder Politikempfehlung ableiten. Statt die Daten so lange zu foltern, bis sie eine gewünschte Aussage liefern, wenden wir uns lieber den dahinter liegenden möglichen Ursache-Wirkungs-Ketten zu.

Das Wachstum einer Volkswirtschaft hängt vom – mehr oder weniger gleichzeitigen – Wachstum von Angebot und Nachfrage ab. Die maximale Angebotskapazität wächst mit dem Faktorangebot und der Produktivität. Seine Ausschöpfung hängt von der Nachfrage ab. Der Weltmarkt kann beides positiv beeinflussen. Das Faktorangebot kann durch Importe von Arbeit oder Kapital erhöht, die Produktivität durch Spezialisierung gesteigert werden. Die Auslandsnachfrage kann mangelnde Inlandsnachfrage ersetzen. Steigende Exporte erlauben ihrerseits steigende Importe, u.a. von Kapitalgütern, Technologie und Know-How, die ihrerseits wieder die Angebotskapazität erhöhen.

Umgekehrt kann der Weltmarkt entsprechend das Wachstum bremsen, wenn die Exportnachfrage nachlässt oder die Produktionsfaktoren den „Standort„ verlassen, da sie sich im Ausland einen höheren Ertrag versprechen. Selbst die Produktivität kann weltmarktbedingt sinken, wenn etwa die Preise für importierte Inputs (z.B. Erdöl) steigen; denn die Produktivität hängt als Wertschöpfung von der Differenz zwischen Kosten und Erträgen ab, und bei konstanten oder weniger leicht zu erhöhenden Preisen des Endprodukts senken steigende Kosten diese Wertschöpfung. Ein derartiger externer Schock erfordert geeignete nationale Politiken und

[Seite der Druckausg.: 6]

Institutionen zur Umverteilung der Produktivitäts- bzw. terms-of-trade-Verluste. Manche Staaten/Gesellschaften waren darin erfolgreicher als andere. [Vgl. Fritz W. Scharpf „Economic Changes, Vulnerabilities, and Institutional Capabilities„ in: Fritz W. Scharpf und Vivien E. Schmidt „Welfare and Work in the Open Economy„ (2 Bände), Oxford 2000.]

Selbst einige dieser scheinbar klaren Zusammenhänge entpuppen sich bei näherem Hinsehen als widersprüchlich. So ist ein Nettokapitalimport zwangsläufig mit einer negativen Leistungsbilanz verbunden und umgekehrt erfordert ein Exportüberschuss einen entsprechenden Kapitalexport. Was sich also nachfrageseitig positiv auswirkt, stört angebotsseitig – und umgekehrt. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich auflösen, wenn man den Prozess über einen längeren Zeitraum betrachtet. Eine durch Kapital aus dem Ausland finanzierte Expansion des Konsums (u.a. von Importen) ist auch Wachstum, aber ihm muss eine Rückzahlphase folgen, in der gespart und mehr exportiert als importiert wird. Wird dagegen das importierte Kapital produktiv investiert, so kann die Rückzahlung ohne Einschränkung der Binnennachfrage erfolgen. Umgekehrt müssen Gläubiger irgendwann Leistungsbilanzdefizite hinnehmen, wenn sie ihren Schuldnern die (reale) Rückzahlung ermöglichen wollen. [Worauf John Maynard Keynes 1919 nach dem Ersten Weltkrieg in seinen „The Economic Consequences of the Peace„ hingewiesen hat.]
Die jeweiligen Anpassungsprozesse sind oft durch Auf- und Abwertungen der jeweiligen Währungen vermittelt, die ihrerseits die terms of trade beeinflussen und darüber auch das Wachstum des Volkseinkommens.

Empirisch sind Kapitalströme über längere Zeiträume selten in deutlichem Ungleichgewicht [Vgl. als locus classicus Martin Feldstein und Charles Horioka „Domestic Saving and International Capital Flows„ in Economic Journal 90, June 1980, S.314-329; allerdings hat sich seitdem sowohl eventuell die Realität verändert als auch eine theoretische Debatte entwickelt, die die Aussagefähigkeit von Feldstein-Horioka bezweifelt. Für eine jüngere Diskussion siehe Gerald Epstein „International Capital Mobility and the Scope for National Economic Management„ in Robert Boyer and Daniel Drache (eds.) „States Against Markets. The Limits of Globalization„ London/New York 1996, S.211-224.], vor allem bei größeren Volkswirtschaften. Allerdings haben die grenzüberschreitenden Ströme insgesamt erheblich zugenommen. Sie stiegen von 6,7% des BIP in den 60er Jahren auf 46% in den 90er Jahren. Ausländische Direktinvestitionen stiegen erheblich langsamer von 1% auf 4,7% des BIP [Vgl. Duane Swank „Political Institutions and Welfare State Restructuring. The Impact of Institutions on Social Policy Change in Developed Democracies" in Paul Pierson (Hg.) „The New Politics of the Welfare State" Oxford 2001, S. 202. Zur Rolle der internationalisierten Kapitalmärkte gibt Beth A. Simmons „The Internationalization of Capital" in Herbert Kitschelt u.a.(Hg.) „Continuity and Change in Contemporary Capitalism" Cambridge 1999, S.36-69 einen vorzüglichen Überblick.].
Bei all diesen Größen werden aber Ein- und Ausflüsse summiert. Die Nettowerte liegen also deutlich niedriger. Kleinere Länder können dagegen durch ausländische Investoren deutliche Wachstumsimpulse erhalten, z.B. in jüngster Zeit Irland. Das sich daraus ergebende Wachstum erhöht allerdings zu einem beachtlichen Teil nicht das Einkommen der Bürger des Gastlandes (also in diesem Fall der Iren), sondern der ausländischen Investoren. [Vgl. Michael Dauderstädt, „Irland, der "keltische Tiger" – Vorbild oder Warnung für ein wachsendes Europa?„ in: ifo Schnelldienst 6-2001]
Misst man das Wachstum am Bruttoinlandsprodukt, so fällt dies nicht auf. Das Wachstum des Bruttosozialprodukts fällt dagegen entsprechend niedriger aus. Re-investieren die Ausländer ihre Gewinne obendrein im Gastland, so sind nicht einmal mehr grenzüberschreitende Kapitalströme zu bemerken.

[Seite der Druckausg.: 7]


Der Quell des Reichtums: Produktivitätswachstum

Von Sonderfällen abgesehen, dürfte der Kapitalzufluss also kaum das Wachstum langfristig beschleunigen bzw. der Abfluss es bremsen. Seine wichtigste Wirkung ist die Beeinflussung der Produktivitätsentwicklung – dazu gleich mehr. Zuwanderung kann zwar das Wachstum langfristig erhöhen, aber nicht zwangsläufig das Pro-Kopf-Einkommen; dem wäre mit der Beschäftigung der Arbeitslosen mehr gedient. Das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens ist aber gerade das entscheidende Ziel. Seine Entwicklung hängt letztlich ganz überwiegend von der Entwicklung der Produktivität ab. Sie ist auch die Grundlage für die immer wieder die Globalisierungsdebatte beherrschende „internationale Wettbewerbsfähigkeit„. Wenn eine Volkswirtschaft (oder genauer: einige ihrer Unternehmen) im internationalen Konkurrenzkampf zurückfällt, weil andere Anbieter günstiger sind, so verbirgt sich dahinter in der Regel schwaches Produktivitätswachstum. Aber was beeinflusst das Produktivitätswachstum?

Produktivität als Wertschöpfung pro Faktorinput hängt zunächst Preiseffekten ab, da sich die Wertschöpfung als Differenz von Kosten und Erträgen ergibt, die ihrerseits sich jeweils als Produkt von Mengen und Preisen ergeben. Auch bei konstanten Mengen steigt die Produktivität steigt (bzw. fällt sie), wenn die Inputpreise sinken (bzw. steigen) und/oder die Outputpreise steigen (bzw. fallen). Solche Preisveränderungen können sich im nationalen Binnenmarkt auch ohne Weltmarkteinfluss ergeben. Werden Inputs oder Output jedoch international gehandelt, so hängen ihre Preise vom Weltmarkt ab. So könnte ein säkularer Anstieg der Rohstoffpreise, wie sie im Zuge der Debatte um die „Grenzen des Wachstums„ erwartet wurde, die Produktivität der von Rohstoffimporten abhängigen Länder beeinträchtigen (die Exporteure profitieren dagegen). Da ein großer Teil des internationalen Handels Handel innerhalb multinationaler Unternehmen ist, reflektieren die „Weltmarkt„-Preise dort Verrechnungspreisentscheidungen der Unternehmen. Transfer pricing dient häufig dazu, Unternehmensgewinne weltweit so umzuverteilen, dass Steuern minimiert werden. Damit steigt im Land mit geringer Unternehmensbesteuerung scheinbar die Produktivität (so z.B. in Irland zu beobachten [vgl. ebenda]).

Die reale Produktivität (gemessen in Produkteinheiten pro Arbeitseinsatz) hängt vom Kapitaleinsatz, der Technologie, der Organisation der Produktion etc. ab. Soweit diese aus dem Ausland kommen (müssen), dient eine Öffnung der Volkswirtschaft dem Produktivitätsfortschritt, muss aber eventuell auch entlohnt werden (Zinsen, Lizenzgebühren, etc.). Eine weitere wichtige Komponente ist die Qualität der Arbeitskraft (Ausbildung, individuelle Leistungsfähigkeit). Deshalb kann die Produktivität gesteigert werden, indem man die weniger produktiven Arbeitskräfte entlässt (z.B. Frühverrentung). Umgekehrt führt Vollbeschäftigung zu Produktivitätsengpässen, da immer weniger leistungsfähige Menschen in den Produktionsprozess integriert werden, womit – ökonomisch formuliert – die Grenzproduktivität der Arbeit sinkt.

In einer Volkswirtschaft als ganzes finden sich ähnliche Muster. Unterschiedliche Sektoren weisen unterschiedliche Produktivität auf. Die Beteiligung am internationalen Handel erlaubt die Spezialisierung auf die produktivsten Branchen, wobei allerdings of übersehen wird, dass es dazu möglich sein muss, Kapital und – meist noch schwieriger – Arbeit von den weniger produktiven in die produktiveren Sektoren umzusetzen. Tatsächlich dürfte dieser Prozess im Bereich der handelbaren Güter stattgefunden haben. Im Ergebnis führte er zur neuen internationalen Arbeitsteilung. Der gleichzeitige Produktivitätsrückgang seit etwa 1973 scheint dem zu widersprechen. Er hat aber andere Gründe:

  • Einmal stiegen unmittelbar in den 70er Jahren die Rohstoffpreise. Dabei handelt es sich aber um einen eher kurz- bis mittelfristigen Schock.

[Seite der Druckausg.: 8]

  • Wichtiger ist der Strukturwandel in den reichen Ländern, der Deindustrialisierung [vgl. Torben Iversen „The Dynamics of Welfare State Expansion: Trade Openness, De-Industrialization, and Partisan Politics" in Paul Pierson (Hg.) a.a.O., S. 45-79 ] mit dem Wachstum des Dienstleistungssektors verbindet. Der Rückgang des Anteils der Güterproduktion (Landwirtschaft und Industrie) ist dabei weniger direkt dem Weltmarkt, sondern der unterschiedlichen Produktivitätsentwicklung geschuldet. Während die Produktivität der Güterproduktion rasch zunahm (vielleicht auch durch Teilnahme am Außenhandel), nahm die der Dienstleistungen nur durch Preiseffekte zu, wenn die Löhne im Dienstleistungssektor sich denen der produktiveren Sektoren anglichen.

Produktivitätsgewinne können dabei in unterschiedlicher Weise verteilt werden. Werden die Preise gesenkt, so erhöht sich die Nachfrage – auch des Auslands (die berühmte internationale Wettbewerbsfähigkeit steigt). Je nach Preiselastizität der Nachfrage oder deren Sättigung kann es aber schwierig sein, die Produktion im gleichen Maß auszudehnen, wie die Produktivität steigt. Dann schrumpft das relative Gewicht der hochproduktiven Sektoren, vor allem ihr Anteil an der Beschäftigung. Wird der Produktivitätsfortschritt nicht voll an die Preise weitergegeben, so steigen die Faktoreinkommen. Im Fall der Arbeit kann das auch die Form sinkender Arbeitszeiten annehmen. Statistisch scheint eine Volkswirtschaft, in der der Produktivitätsfortschritt in geringere Arbeitszeit statt in höhere Nachfrage umgesetzt wird, weniger zu wachsen.

Inwiefern schaden nun – wie von Arbeitgebern gern behauptet wird – mehr Wohlfahrtsstaat und/oder höhere Löhne der internationalen Wettbewerbsfähigkeit?

  • Höhere Löhne wären nur dann problematisch, wenn es sich um reale Lohnsteigerungen jenseits des Produktivitätswachstums handeln würde. Diese waren eher selten, wie die seit Jahrzehnten sinkenden Lohnquoten in den meisten reichen Ländern beweisen. Treten sie tatsächlich ein und wären sie auf die Preise zu überwälzen, so würden sie in der Regel zu einer Abwertung führen, die dann die Reallöhne wieder senkt. Wo dies nicht geht (z.B. im Binnenmarkt oder innerhalb von Euroland), müssen die Unternehmen die Produktion und die Beschäftigung senken, bis Preissteigerungen wegen der Verknappung des Angebots und Produktivitätssteigerungen durch Entlassung der am wenigsten produktiven Arbeitnehmer ein neues Gleichgewicht erreichen.

  • Höhere Steuern auf Einkommen beeinflussen die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit nicht unmittelbar. Sie lenken nur den Konsum auf öffentliche Güter und senken damit die übrige Nachfrage und/oder die Ersparnis und damit indirekt eventuell die Investitionen, was langfristig zu geringerem (Produktivitäts-)Wachstum führen könnte. Andererseits könnte das verbesserte Angebot öffentlicher Güter (Bildung, Infrastruktur, Forschung) auch die Produktivität steigern. Versuchen die Einkommensbezieher allerdings, ihre Nettoposition zu verteidigen, so kommt es zu einem Prozess, der vorher bezüglich Lohnsteigerungen beschrieben wurde. Werden die Steuern als Kosten der Unternehmen für den Input an öffentlichen Gütern angesehen, so bedeuten höhere derartige Kosten einen Produktivitätsverlust, der volkswirtschaftlich verteilt werden muss - unabhängig von der außenwirtschaftlichen Wettbewerbslage.

  • Schärfere Regulierungen (z.B. Umwelt- oder Sozialauflagen) senken ebenfalls die Produktivität. Historisch sind sie allerdings ein weiterer Weg gewesen, Produktivitätsfortschritte in einer Weise zu nutzen, die zu relativ geringerer Produktivität führt. Die Produktivität wäre also ohne diese Regulierungen höher gewesen. Entsprechend wäre die Produktivität bei uneingeschränkter Belastung der Umwelt und der arbeitenden Menschen kurz- bis mittelfristig (wenn auch gerade nicht nachhaltig) steigerbar. Ähn-

[Seite der Druckausg.: 9]

    lich wie bei Arbeitszeitverkürzungen erscheinen sozial und ökologisch genutzte Produktivitätsfortschritte nicht in der Wachstumsstatistik.

Produktivitätseinbußen bzw. nicht in höhere Realeinkommen (d.h. niedrigere Preise oder höhere Nominaleinkommen) umgesetzte Produktivitätsgewinne bedeuten immer ein vergleichsweise niedrigeres Volkseinkommen. Dies wird aber einem Land nicht von außen durch die produktivere Konkurrenz aufgezwungen. Eine solche würde im Gegenteil das reale Einkommen durch billigere Bezugsmöglichkeiten steigern. Die internationale Konkurrenz kann jedoch eine Umverteilung von den Produzenten zu den Konsumenten erzwingen, die im Extremfall die Produzenten veranlasst, die Produktion (an diesem Standort) ganz aufzugeben.


Beschäftigung und die Attraktivität bezahlter Nicht-Arbeit

Wachstum und Beschäftigung sind eng verknüpft. Wachstum führt zu Beschäftigung, indem es die Nachfrage nach Arbeit erhöht. Die meisten Analysen zur Massenarbeitslosigkeit seit ca. 1974 verweisen als erstes auf die gesunkenen Wachstumsraten. Umgekehrt hängt Wachstum aber vom Arbeitseinsatz ab. Unterschiedliche Einkommensniveaus verschiedener Volkswirtschaften hängen von der unterschiedlichen Mobilisierung und Ausnutzung des Arbeitskräftepotentials ab, insbesondere der Frauen (siehe auch die folgende Tabelle 1). Dabei sollte nicht übersehen werden, dass Erwerbstätigkeit (die allein in der volkswirtschaftlichen Statistik zählt) nur ein Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ist. Ebenso wie eine Verlagerung von Teilen der Gesamtarbeit (z.B. Kindererziehung oder Altenpflege) in die Erwerbswirtschaft das Wachstum und die Beschäftigung erhöht, senkt eine Rückverlagerung von Arbeit innerhalb des Haushalts oder in die Schwarzmarktökonomie zwischen Haushalten scheinbar das Wachstum und die - offiziell erfasste – Beschäftigung. Die folgende Tabelle zeigt, wie sich unterschiedliche Produktivitätsniveaus durch verschiedene sozialstaatliche Regelungen (z.B. Arbeitszeitregime, Verrentungspraxis), gesellschaftliche Entwicklungen (Frauenarbeit) und Arbeitslosigkeit in unterschiedliche Pro-Kopf-Einkommen umsetzen.

Tabelle 1: Produktivität, Arbeiteinsatz und Einkommen im Vergleich

Land

Stunden-produktivität
(OECD-Durch-schnitt =100)

Korrekturfaktoren*

Pro-Kopf-
einkommen
(OECD-Durch-
schnitt =100)

Arbeits-
volumen

Arbeits-
losigkeit

Partizipations-
rate

Alters-
struktur

Belgien

128

-5

-3

-19

-1

101

Dänemark

92

0

1

9

1

103

Deutschland

105

-5

-3

-4

2

96

Finnland

93

0

-7

2

0

88

Frankreich

123

-9

1

-6

-9

97

Griechenland

75

-4

-2

-11

1

58

Irland

108

5

-4

-12

-3

95

Italien

106

-11

-5

-1

2

91

Niederlande

121

-26

2

-4

2

96

Österreich

102

-4

3

-2

1

100

Portugal

56

2

0

1

1

60

Spanien

84

13

-14

-13

2

71

UK

100

-9

0

3

-2

92

EU

103

-5

-4

-4

0

90

USA

120

-1

3

9

-2

128

Japan

82

10

4

6

4

106

Quelle: Bert van Ark und Robert H. McGuckin „International comparisons of labor productivity and per capita income„ in Monthly Labor Review, July 1999, S.36

* Bemerkung: Summe der Spalten 2 bis 6 ergibt Spalte 7, d.h. das Einkommen erhöht sich bzw. verringert sich gegenüber der Stundenproduktivität (immer relativ zum OECD-Durchschnitt) je nach Arbeitseinsatz der Volkswirtschaft.

[Seite der Druckausg.: 10]

Der eigentliche Nexus zwischen Wachstum und Beschäftigung liegt aber in der widersprüchlichen Beziehung zwischen Produktivität und Arbeitseinsatz. Wie oben schon erwähnt, geht es beim Produktivitätswachstum primär darum, Arbeit zu sparen. Arbeitslosigkeit ist somit ein natürliches Ergebnis der Produktivitätssteigerung durch Spezialisierung, etwa in Folge der Teilnahme am internationalen Handel, wenn die Nachfrage nicht noch stärker wächst. Die Umsetzung von Produktivitätsgewinnen in mehr Freizeit, z.B. im Rahmen von Arbeitszeitregelungen (Fünftage- bzw. 35-Stundenwoche), ggf. unterstützt von Regulierungen wie Ladenschlussgesetze, setzt diesen Effekt gezielt gesellschaftspolitisch um und reduziert somit die offene Arbeitslosigkeit. Die Alternative läge in der Weitergabe in die Preise oder in Faktoreinkommen, was im Idealfall die Nachfrage stimulieren würde.

Häufig wurde vermutet, die Konkurrenz der Niedriglohnländer sei für die steigende Arbeitslosigkeit verantwortlich. Vor allem die weniger qualifizierten Arbeitskräfte sind durch diese Importkonkurrenz bzw. Verlagerung von Branchen oder Segmenten des Produktionsprozesses betroffen. In den der Weltmarktkonkurrenz ausgesetzten Sektoren der reichen Länder verbleiben somit die hochproduktiven Arbeitsplätze, die auch entsprechende Löhne erlauben. [Vgl. Timothy J.M. McKeown „The Global Economy, Post-Fordism, and Trade Policy in Advanced Capitalist Stataes" in Kitschelt u.a. (Hg.), a.a.O., S.23 ff.]
In der Tat hat sich der Handel ausgeweitet, und einschlägige Branchen (Textil, Bekleidung, Schuhe, Stahl, Schiffbau etc.) hatten in den reichen Ländern eine deutlichen Beschäftigungsrückgang zu verzeichnen. Ökonometrische Analysen [Vgl. William Cline „Trade and Income Distribution„ Washington 1996 und Adrian Wood „North-South Trade. Employment, and Inequality. Changing Fortunes in a Skill-Driven World" Oxford 1994] bestätigen diesen Zusammenhang, allerdings in einem relativ schwachen Ausmaß. Der tendenzielle Ersatz teurer Arbeit in den reichen durch billigere Arbeit in den armen Ländern muss auch keinen allgemeinen Beschäftigungsverlust bedeuten, sondern könnte auch nur eine Umschichtung auslösen, zumal die reichen Länder meist Handelsbilanzüberschüsse gegenüber den armen Ländern aufweisen.

Eine ständig – z.B. von Lohnsteigerungen – zu Produktivitätssteigerungen angespornte Wirtschaft kann (oder muss) die weniger produktiven Arbeitskräfte aus der Produktion entlassen. Weniger qualifizierte oder – aus welchen Gründen (z.B. Alter, Behinderung) auch immer - weniger produktive Arbeitnehmer finden in dieser Hochproduktivitätswirtschaft keine (Erwerbs-)Arbeit mehr. Ihre Ausgliederung in wohlfahrtsstaatliche Versorgungssysteme (Rente, Erwerbsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit) erhöht somit das Produktivitätsniveau. Ihre (Re-)Integration in die Erwerbstätigkeit könnte einmal durch Qualifizierung und/oder Rehabilitierung oder durch Übernahme in eine gering (d.h. ihrem Produktivitätsniveau entsprechend) entlohnte Beschäftigung erfolgen. Umgekehrt tendiert die Ausschöpfung des vorhandenen Arbeitskräftepotentials dazu, die durchschnittliche Produktivität zu senken, wenn immer unproduktivere Arbeitskräfte in den Produktionsprozess integriert werden.

Wäre das Lohnniveau insgesamt zu hoch, so kann durch Abwertung die Nachfrage nach heimischen Produkten im Ausland sowie im Inland durch Verdrängung dann teurer Importe erhöht werden. Das senkt zwar einerseits das Volkseinkommen durch terms-of-trade-Verluste, kann aber im Falle unausgeschöpfter Arbeitskraftreserven andererseits die Arbeitslosigkeit senken und neues Einkommen schaffen. Umgekehrt kann eine überbewertete Währung Absatzchancen und Arbeitsplätze vernichten, die später nur schwierig wiederzugewinnen sind. Derartige Effekte treten aber eher konjunkturell auf. Strukturell hängt die Massenarbeitslosigkeit bzw. ihre Bekämpfung nicht an der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, sondern an der Fähigkeit, die in den hochproduktiven Sektoren (deren Produkte tendenziell eine Nachfrage-

[Seite der Druckausg.: 11]

sättigung erreichen) frei gesetzten Arbeitskräfte in den Dienstleistungssektoren zu beschäftigen, die weiter expandieren können.

Dafür haben sich zwei Wege als gangbar erwiesen: Die Akzeptanz eines Niedriglohnsektors im Bereich der persönlichen Dienstleistungen (typisch in den USA) oder der Ausbau eines steuerfinanzierten staatlichen Dienstleistungsangebots (typisch in Skandinavien). Deutschland etwa, das im Bereich der der Weltmarktkonkurrenz ausgesetzten Fertigwarenproduktion gut abschneidet, hat auf diesem Sektor nur geringe Wachstumsraten aufzuweisen. [Vgl. Fritz W. Scharpf „Employment and the Welfare State. A continental dilemma„ in Bernhard Ebbinghaus und Philip Manow (Hg.) „Comparing Welfare Capitalism. Social policy and political economy in Europe, Japan and the USA" London 2001 und Ronald Schettkat „Die Zukunft der Beschäftigung zwischen Dienstleistungen und Güterproduktion„ in Gegenwartskunde 2/1996, S. 155-166]
Nicht zuletzt das relativ gute soziale Sicherungssystem macht die Übernahme von Niedriglohnjobs für viele Arbeitslose unattraktiv. Dieses Phänomen ist generell in Wohlfahrtsstaaten des kontinentalen Modells zu beobachten, die ihre sozialen Sicherungssysteme durch Abgaben auf den Lohn finanzieren und damit gleichzeitig die Arbeit verteuern (zumindest, solange die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften versuchen, ihre Nettolöhne zu sichern) und die Produktivitätsschraube weiterdrehen.


Einkommensverteilung: Produktivität, Erziehung, regulative Marktgestaltung oder Weltmarktkonkurrenz?

Ungleichheit und Armut, teils begleitet von steigender Arbeitslosigkeit, teils als Bedingung ihrer Reduzierung, scheinen in fast allen reichen Ländern in den letzten 30 Jahren zugenommen zu haben. Seine internationale Verursachung wäre theoretisch zu erwarten durch den Ausgleich der Faktorpreise, vermittelt über Produktions- und Nachfrageverschiebungen dank unterschiedlicher Kosten- und Preisstrukturen. Auch hier haben empirische Analysen nur begrenzt tatsächliche Effekte identifizieren können. [vgl. auch dazu Cline und Wood, a.a.O.] Sie vernachlässigen allerdings eine zweite Komponente, die Einwanderung bzw. Wanderarbeit, die in einigen Ländern, vor allem in ihrer illegalen und damit weniger erfassten Komponente, in die gleiche Richtung wirkt. Umgekehrt gibt es am oberen Ende der Qualifikationspyramide ebenfalls eine internationale Mobilität, die aber die Einkommen nach oben treibt, da die Spitzenkräfte überall gefragt sind.

Das Ausmaß der Lohnspreizung variiert erheblich zwischen den einzelnen (reichen) Ländern, was darauf hin deutet, dass es nicht primär durch internationalen Handel und Migration bedingt ist, sondern durch die Struktur der nationalen Arbeitsmärkte, u.a. der Arbeitsbeziehungen, der Organisation und Schlagkraft der Gewerkschaften, aber auch der Ausbildungssysteme, die ihrerseits eng mit der Industriestruktur und der Produktionsorganisation verbunden sind. [Vgl. den Beitrag von Margarita Estevez-Abe, Torben Iversen, and David Soskice „Social Protection and the Formation of Skills: A Reinterpretation of the Welfare State" in Peter A. Hall und David W. Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism : The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001 sowie Richard Freeman und Ronald Schettkat „Skill Compression, Wage Differentials and Employment: Germany vs. the US" NBER Working Paper 7610 Cambridge 2000.]
Das deutsche System der dualen Berufsausbildung ist mit der Tradition hoch qualifizierter Facharbeiter und der Spezialisierung auf flexible Qualitätsproduktion verknüpft, während andere Systeme (z.B. USA) eine polarisierte Qualifikationsstruktur liefern, die eine Produktionsorganisation begünstigt, ja erfordert, in der vielen weniger Qualifizierten nur noch die Perspektive im Niedriglohnbereich bleibt, während eine Creme von Spitzenkräften sehr gut verdient.

[Seite der Druckausg.: 12]

Die Verteilung der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung zwischen Arbeit und Kapital hat sich in vielen Ländern ebenfalls verschlechtert, sichtbar an einem Rückgang der Lohnquote. Auch hier ist ein internationaler Zusammenhang insofern denkbar, als Kapitaleinkommen nicht mehr unter ein internationales Vergleichsniveau zu senken sind, da sonst das mobilere Kapital an Orte mit höheren Erträgen abwandert, während die weniger mobile Arbeit keine exit-Option hat. Dagegen sprechen zwar die eingangs erwähnten Befunde einer letztlich geringen Nettokapitalbewegung, aber die großen grenzüberschreitenden Ströme dürften schon einen gewissen Druck ausüben. Allerdings bleibt dabei offen, auf welchem Niveau sich das Kapitaleinkommen einpendelt.

Schließlich hängen die Einkommen von einer Fülle von Regulierungen und Markteingriffen ab, mit der die Politik das Preisniveau in bestimmten Sektoren, etwa durch Protektionismus oder Marktzugangsbeschränkungen, beeinflusst und damit Renteneinkommen ermöglicht, die zwischen Kapital und Arbeit in den begünstigten Unternehmen und Branchen aufgeteilt werden. Dazu zählen neben dem öffentlichen Dienst im engeren Sinn die halböffentlichen Unternehmen (Verkehr, Energie, Telekommunikation, etc.). Ein wichtiger Teil der wachsenden Ungleichheit (und Empörung darüber) ist der Öffnung einiger dieser Sektoren für den Wettbewerb geschuldet. [Vgl. Herman Schwartz „Round Up the usual Suspects! Globalization , Domestic Politics and Welfare State Change" in Paul Pierson (Hg.), a.a.O., S.30 ff..]
Dabei ist es nur bedingt erheblich, ob es sich um Wettbewerb mit einheimischen oder fremden Konkurrenten handelt. Die betroffenen Unternehmen stehen vor einem „Produktivitätsrückgang„, da sich die Preise nicht mehr halten lassen. Volkswirtschaftlich kommt es zu einer Umverteilung zwischen den Konsumenten und Produzenten der entsprechenden Güter und Leistungen. Ähnliches gilt bei traditionellem Handelsprotektionismus.

Preisstrukturen definieren Einkommensstrukturen. In offenen Volkswirtschaften tendieren die Preisstrukturen, sowohl auf den Faktor- wie auf den Gütermärkten, sich den Preisstrukturen auf dem Weltmarkt anzupassen, wobei Grenzen, Transportkosten, Informationskosten etc. immer noch erhebliche Unterschiede zulassen. Aber ein riesiger Teil dieser Volkswirtschaften produziert und konsumiert nicht-handelbare Güter und Dienstleistungen, insbesondere staatliche Leistungen (Sicherheit, Gesundheit, Erziehung, etc.), deren Preis und damit Produktivität und Einkommen politisch festgelegt sind, wenn auch in Orientierung an Löhnen und Kosten im privaten, exponierten Sektor. Die davon betroffenen bzw. dadurch begünstigten Menschen bilden ein gewaltiges gesellschaftliches und politisches Potential, dass sich einer – zwangsläufig immer politisch entschiedenen und vermittelten - Verschlechterung seiner Einkommen widersetzt.

Die Privatisierung, Deregulierung und Reregulierung privatisierter, nun stärker marktorientierter Produktion und Distribution traditionell „öffentlicher„ Güter (insbesondere Gesundheit und Erziehung) kann die Verteilung des realen Einkommens, d.h. des monetären Nettoeinkommens plus Konsum dieser „öffentlichen„ Güter erheblich verändern. Im Falle weitgehender Liberalisierung würde der Zugang über den Preis gesteuert und Arme wären doppelt betroffen: Sie könnten weniger solche Leistungen in Anspruch nehmen und würden von einer mit der Liberalisierung/Privatisierung verbundenen Senkung der Steuern und Abgaben nicht profitieren. Nutznießer wären dagegen diejenigen, die statt staatlich (über Steuern und Abgaben) durchgesetztem Zwangskonsum nun selbst die gewünschten Leistungen auswählen können.

Damit verbunden wäre ein Strukturwandel innerhalb der anbietenden Sektoren. Davon erwarten die liberalen Reformer mehr Kundenorientierung, Produktivitätsgewinne und neue Ar-

[Seite der Druckausg.: 13]

beitsplätze, wobei allerdings die Einkommensspreizung innerhalb der Sektoren weiter zunehmen dürfte. Gleichzeitig mit dem „öffentlichen„ Charakter der dort produzierten Güter (Leistungen) schwinden oder drohen auch bestimmte Qualitäten des Angebots zu schwinden, wie räumliche und zeitliche Überschusskapazitäten (z.B. Flächendeckung in dünn besiedelten Gebieten, Notfallkapazitäten im Gesundheitswesen etc.).

Im Ergebnis verändert sich die reale Einkommensverteilung nicht so sehr durch außenwirtschaftliche Einflüsse (obwohl auch diese eine Rolle spielen), sondern durch Veränderungen im Wechselspiel von Produktionssystem und Erziehungswesen, der Veränderungen der Schutzniveaus in regulierten Sektoren und im Übergang vom staatlichen zum privatisierten Angebot von „öffentlichen„ Gütern. Die diesbezüglichen Reformen entwickeln – entgegen mancher Rhetorik – ihre Dynamik aber weniger aus Zwängen des globalen Wettbewerbs als aus veränderten innergesellschaftlichen Angebots- und Nachfragebedingungen. Die Wohlfahrtsstaaten fühlen sich überfordert und die (reicheren) Kunden sind unzufrieden. Tatsächlich endet die „Deregulierung„ in einer Reregulierung, die die staatliche Kontrolle von Märkten, deren Grenzen allerdings neu definiert sind, neu gestaltet. Dabei verfolgen die einzelnen Nationalstaaten unterschiedliche Konzepte je nach ideologischer und institutioneller Ausrichtung. [Vgl. Steven K.Vogel „Freer Markets, More Rules. Regulatory Reform in Advanced Industrial Countries" Ithaca/London 1996, vor allem S.1-42.]
Nur die EU übt über ihre supranationale Wettbewerbs- und Marktordnungspolitik einen unmittelbaren äußeren Zwang auf die Ausgestaltung der Regulierungssysteme und damit der Markt- und Einkommensstrukturen der Mitgliedsländer aus. Aber auch hier handelt es sich nicht um eine Unterwerfung der Politik unter den Weltmarkt, sondern um neue, transnationale Regulierungen. Dieses Muster lässt sich auch auf globaler Ebene beobachten, wo die Liberalisierung der Handelspolitik (GATT/WTO) und Währungspolitik keineswegs in ungeordneten, marktwirtschaftlichen Wildwuchs mündet, sondern sorgfältig politisch ausgehandelt wird. [Vgl. Elmar Riegel und Stephan Leibfried „Grundlagen der Globalisierung. Perspektiven des Wohlfahrtsstaates" Frankfurt a.M. 2001 ]


Die wohlfahrtsstaatliche Umverteilung:
Besitzstände gegen den (Welt-)Markt

Der Wohlfahrtsstaat schützt und beeinflusst nicht nur die Primärverteilung durch Regulierung von Märkten, sondern – und das soll in diesem Abschnitt im Vordergrund stehen – er korrigiert diese Primärverteilung durch staatliche Umverteilung. Dazu zählt einmal die Steuerpolitik, zum anderen aber die Sozialpolitik, die Menschen ohne Arbeitseinkommen mit Transfereinkommen ausstattet. Diese großen Bevölkerungsteile kommen noch zu den vorab genannten hinzu und zählen ebenfalls zu den Nutznießern und Verteidigern des Wohlfahrtsstaates. In Deutschland sind schon über 50% der Wähler [Vgl. Paul Pierson „Coping with Permanent Austerity. Welfare State Restructuring in Affluent Democracies„ in Paul Pierson (Hg.), a.a.O., S. 413.] (als Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, etc.) von Transferleistungen abhängig. Mit ca. der Hälfte des BIP stellt der staatliche Sektor einen mindest ebenso gewichtigen Teil der Gesellschaft und Wirtschaft dar wie der weltmarktorientierte Teil.

Ist dieser gewaltige Umverteilungsmechanismus durch die Globalisierung gefährdet? Entgegen weit verbreiteten Befürchtungen sehen viele Analytiker das anders. Sie vermuten – gestützt auch auf statistische Koinzidenz – eher einen positiven Zusammenhang zwischen

[Seite der Druckausg.: 14]

Weltmarktintegration und Ausbau des Wohlfahrtsstaates. [Vgl. z.B. Rieger/Leibfried, a.a.O. oder Dani Rodrik „Has Globalization Gone too Far?„ Washington 1997 und ders. „Why Do More Open Economies Have Larger Governments„ in Journal of Political Economy 106, Oktober 1998 ]
Für sie ist der Wohlfahrtsstaat eine notwendige Voraussetzung für die Öffnung, um die politische Unterstützung der Wähler/Bürger angesichts der damit verbundenen sozialen und ökonomischen Risiken zu erhalten, und ein wichtiger Mechanismus, mit den Konsequenzen der Globalisierung fertig zu werden. Selbst diese „internationalistische„ Entwarnung bzgl. der Zukunft des Wohlfahrtsstaats ist nicht unumstritten. Andere Autoren sehen den Ausbau des Wohlfahrtsstaates als Ergebnis der Deindustrialisierung [Vgl. Torben Iversen in Paul Pierson (Hg.), a.a.O.] und nicht der Globalisierung. Sie sehen in der Marktöffnung eher eine Verringerung der Risiken, da sich etwa die Absatzmärkte diversifizieren und die Produktions- und Beschäftigungsschwankungen dadurch abnehmen bzw. ausgleichen und damit das Risiko der Arbeitslosigkeit sinkt. Deindustrialisierung dagegen setzt viele Arbeitskräfte erheblichen Einkommensrisiken aus, da ihre alten Qualifizierungen entwertet werden. Was immer nun die ausschlaggebenden Ursachen für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates gewesen sein mögen, bis jetzt war er jedenfalls durchaus mit der Globalisierung verträglich.

Woraus könnten Inkompatibilitäten resultieren? Die Staatsquote als solche stellt kein außenwirtschaftliches Problem dar. Sie verlagert nur die Nachfrage von privaten auf öffentliche Güter bzw. von den Steuer- und Abgabenzahlern auf die Empfänger von Transferleistungen. Am ehesten wäre davon eine Senkung der Sparquote zu erwarten – mit der möglichen Folge niedrigerer Investitionen und daher geringeren Wachstums. Wenn die höhere Konsumnachfrage sich auf importierte Güter richtet, so könnte ein Leistungsbilanzproblem auftreten, das durch eine Abwertung zu korrigieren wäre, die durch Verteuerung der Importe die Nachfrage wieder auf einheimische Produkte umorientiert.

Ein (angeblich) größeres Problem ist die Finanzierung. Für Unternehmen stellen Steuern Kosten dar, die ihre Wettbewerbsfähigkeit belasten. Dabei wäre allerdings der Nettoeffekt zu sehen, der durch Gegenrechnung der Nutzung öffentlicher Güter entsteht. Unternehmen, die darauf nicht angewiesen sind und Trittbrettfahrer, die zwar die Vorteile guter Infrastruktur, ausgebildeter Arbeitskräfte und sozialen Friedens wahrnehmen, aber nicht mitfinanzieren wollen, werden versuchen, ihre Tätigkeit oder buchhalterisch die Gewinne (z.B. durch transfer pricing) an Orte geringerer Besteuerung zu verlagern oder die Besteuerung anders zu vermeiden. Ähnlich können und werden auch reiche Individuen versuchen, sich der Besteuerung durch Umzug zu entziehen. Empirisch ist zwar eine Umschichtung der Steuereinnahmen auf Lohnbesteuerung und indirekte Steuern festzustellen, aber ohne entscheidende Beeinträchtigung der Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates. [Vgl. Steffen Ganghof „Adjusting National Tax Policy to Economic Internationalization: Strategies and Outcomes„, in Scharpf/Schmidt (Hg.) a.a.O., S.597-645]
Etwas problematischer könnte es mit der Schuldenfinanzierung aussehen. Die Öffnung der Kapitalmärkte impliziert, dass das Zinsniveau nicht mehr national bestimmt werden kann. Die maßgeblichen globalen Finanzmärkte strafen hochverschuldete und weiter unsolide Schuldner außerdem mit erhebliche Risikoaufschlägen.

Die wirklich gravierenden Belastungen des Wohlfahrtsstaates rühren nicht von der Globalisierung her, sondern sind hausgemacht: die Alterung der Bevölkerung bei gleichem oder de facto gar sinkenden Renteneintrittsalter, die wachsenden Ansprüche an das Gesundheitssystem, die Folgekosten veränderter Haushalts- und Familienstrukturen (vor allem für Kinder- und Alten-

[Seite der Druckausg.: 15]

betreuung). [Vgl. Paul Pierson „Post-Industrial Pressures on Mature Welfare States„ in Pierson (Hg.), a.a.O., S.80-104.]
Reformen an diesen Ansprüchen sind politisch (angesichts der Mehrheit der Nutznießer) und juristisch (gegen aktive Gerichte) nur schwer durchzusetzen.


Harmloser Weltmarkt - Gefährliche Politik

Unterm Strich bleibt nicht allzu viel vom „Sachzwang Weltmarkt„ und der Globalisierung: Die wahrscheinlichen Hauptbetroffenen in den reichen Ländern sind in der Tat die gering qualifizierten Arbeitskräfte. Ob sie aber deswegen arbeitslos und/oder arm werden, wird nicht auf dem Weltmarkt, sondern in den jeweiligen Gesellschaften politisch entschieden. Der Konkurrenzdruck, der Unternehmen zu Produktivitätssteigerungen bzw. Kostensenkungen zwingt, besteht grundsätzlich auch im Binnenmarkt und ist kein Spezifikum des Weltmarkts. Verschiedene Gesellschaften haben den Unternehmen dabei allerdings - meist in Gestalt von staatlichen, sozialpartnerschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen - Regulierungen Grenzen gesetzt, um die Arbeitskräfte, die Umwelt, die Kunden usw. zu schützen. Diese Regeln haben wahrscheinlich monetäre Einkommen relativ reduziert, aber häufig auch der Wettbewerbsfähigkeit gedient, indem sie etwa Qualitätsstandards erhöht haben.

Tatsächlich zeichnen sich die fortgeschrittenen kapitalistischen Wirtschaften durch eine Verzahnung von Produktionsregimen mit Wohlfahrtsstaatsregimen [Vgl. Hall/Soskice (Hg.), a.a.O. und Herbert Kitschelt u.a. „Convergence and Divergence in Advanced capitalist Democracies„ in Kitschelt u.a., a.a.O., S. 427-460.] aus, deren symbiotische Beziehung sich schon immer unter Bedingungen der Weltmarktkonkurrenz dynamisch entwickelt hat. Sie haben zu bestimmten Spezialisierungen geführt, die aber unter wechselnden globalen Verhältnissen auch angepasst werden müssen, wobei festzuhalten ist, dass die Anpassungszwänge auch aus anderen sozialen und technologischen Prozessen herrühren. Zu den neuen Herausforderungen zählt auch die europäische Integration in ihrer doppelten Beschleunigung als Vertiefung (Binnenmarkt, Währungsunion, politische Integration) und Erweiterung um zahlreiche deutlich ärmere Länder mit einer anderen Geschichte von Produktions- und Wohlfahrtsstaatsregimen. Sie ist deswegen tiefer greifend, weil sie nicht nur die Wettbewerbsverhältnisse verschärft, sondern scheibchenweise traditionelle Schutzmechanismen außer Kraft setzt, nach Zöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen nun auch den Wechselkurs und in zunehmender Weise auch über die Wettbewerbspolitik spezifische Elemente der gewachsenen Symbiose von Produktions- und Wohlfahrtsstaatsregimen.

Gefährlicher ist aber die Politik in der globalisierten Mediendemokratie, die die nationalen Arrangements und ihre Ergebnisse einem permanenten internationalen Vergleich unterwirft, der zwar in der Substanz grundsätzlich wünschenswert ist und – z.B. durch Verbreitung von best practice - heilsam sein könnte, aber als Druckmittel instrumentalisiert und (daher) von immer mehr Menschen als Bedrohung empfunden wird. Da sich diese Vergleiche oft auf wenige statistische Daten (z.B. Wachstumsraten oder noch weniger aussagekräftige außenwirtschaftliche Daten wie Handels- und Zahlungsbilanz oder Wechselkurs) beschränken, unterschlagen sie die komplexen politökonomischen Zusammenhänge, die sich dahinter verbergen. Häufig dienen sie nur der Pseudolegitimation von Verteilungsinteressen, die globale Zwänge unterstellen, da sie den unmittelbaren gesellschaftlichen Konflikt scheuen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 2002