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Wirtschaftsaufschwung, Modernisierung und Elitenwandel in Russland / Peter W. Schulze - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 15 S. = 57 KB, Text . - (Politikinformation Osteuropa ; 103) - ISBN 3-89892-075-5
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

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INHALT



Das Ende der post-sozialistischen Depression

Jegor Gaidar hat kürzlich, rückblickend auf die zehnjährige Reformperiode, die These vertreten, dass die post-sozialistische Depressionsperiode in allen GUS Ländern nun beendet sei. In Russland seien Öl und Rohstoffe wichtige Beschleunigungsfaktoren gewesen, um die Depression hinter sich zu bringen, aber wesentlicher seien die mit Demokratie und Marktwirtschaft freigesetzten Hebel und die neu geschaffenen Rahmenbedingungen gewesen. Russland habe sich radikal verändert. Vor zehn Jahren hätte Russland nicht gehabt, was es jetzt habe: es hätte keinen Staat mit Grenzen, keinen Zoll, keine Banken, kein Geld, kein Steuersystem und keine Armee gegeben. Heute gäbe es all diese Institutionen. Sie seien zwar nicht perfekt, "but they are working" (Anm. 1) .

Die Scheidelinie zwischen alter und neuer Ökonomie hat sicher die Finanz- oder Bereinigungskrise vom August 1998 gezogen, die den russischen Kasinokapitalismus der Anfangsphase beendete und eine Neuorientierung der Politik anmahnte. Das Ende der Ära Jelzin war eingeleitet und die Neuformierung einer neuen Machtelite begann noch in der Hülle der alten Machtverhältnisse. Mit Primakow, Stepaschin und schließlich Putin, die alle biographisch mit Strukturen und Diensten der Sicherheit verwoben waren, deutete sich bereits 1999 ein Wandel in der Herrschaftselite an. Gleichzeitig fand ein Paradigmenwechsel in der russischen Politik statt: Die Konstitution staatlicher Autorität und die Wiederherstellung Russlands als Akteur der internationalen Politik lösten sukzessive demokratische und marktwirtschaftliche Ziele aus der frühen Transformationsperiode ab. Seit Mai 2000 wurden diese Tendenzen manifest.

Ab 1999 begann eine bis heute andauernde Phase der wirtschaftlichen Erholung. Die russische Wirtschaft zeigte 2000 erstaunliche Wachstumsraten. Die Konjunktur schwächte sich zwar im Jahre 2001 fühlbar ab, und das erwartete Wachstumsziel wurde nicht erreicht, aber dennoch wurden reale Zuwächse in allen Wirtschaftsbereichen erzielt, die deutlich über dem europäischen Durchschnitt lagen. Sorge bereitet allerdings die konjunkturelle Entwicklung seit dem zweiten Halbjahr 2001, denn seither verlangsamt sich das Wachstumstempo der Wirtschaft erheblich. Ungeachtet der rezessiven Tendenzen in der Weltwirtschaft und bei den europäischen Haupthandelspartnern und trotz des Preisverfalls bei Rohstoffen und Energieträgern erwies sich die extrem außenhandelsabhängige russische Wirtschaft als bemerkenswert widerstandsfähig. Folgende Zahlen sollen dies belegen:

Das Bruttosozialprodukt wuchs im Vergleich zum Vorjahr um 5,2% (Januar bis November 2001). 2000 wurde noch ein gewaltiger Wachstumssprung von 8,3% erzielt. Für 2002 wird ein Wachstum von ca. 5% erwartet. Die Wachstumsrate der industriellen Produktion fiel zwar von 11.9% im Jahre 2000 auf ca. 4,9% im Jahre 2001. Dabei war allerdings erfreulich, dass die landwirtschaftliche Produktion um 6,8% wuchs. Für 2002 wird mit einem durchschnittlichen industriellen Wachstum von 3 bis 4% gerechnet. Allerdings schwächten sich die Kapitalinvestitionen ab. Erreichten sie 2000 einen Rekordzuwachs von 17,7%, so verzeichneten sie 2001 nur einen Zuwachs um 8,7%. Von der als Folge von Einkommenssteigerungen und Steuererleichterungen wachsenden Binnennachfrage profitierte auch der Handel. Innerhalb des ersten Halbjahres hat sich der Einzelhandelsumsatz um mehr als 10 Prozent erhöht.

Der Motor der russischen Wirtschaft, der Export, fiel gegenüber 2000 um ca. 0,5% (Januar bis November) und lag bei 94,8 Mrd. US Dollar. Die Importe stiegen dank der indirekten Rubelaufwertung gegenüber europäischen Währungen um 19,5% und lagen bei 47,7 Mrd. US Dollar. Gegenüber dem Boomjahr 2000, als die Russische Föderation ca. 55,3 Mrd. US Dollar aus dem Außenhandelsgeschäft für sich verbuchen konnte, fiel der Überschuss im Jahre 2001 um 11,5% auf immerhin noch beachtliche 47,1 Mrd. US Dollar (Anm. 2). Davon wurden mit Ländern außerhalb der GUS-Staaten 52,8 Mrd. US Dollar erzielt und im Handel mit den GUS-Staaten lediglich 2,9 Mrd. US Dollar. Die Ölexporte spielen nach wie vor eine wichtige Rolle im Außenhandel mit der EU und anderen westlichen Ländern (Anm. 3). Russland exportierte Öl im Werte von 20,088 Mrd. US Dollar und steigerte die Öllieferungen um 7,2%. Öl im Werte von 1,407 Mrd. US Dollar wurde in die GUS-Staaten exportiert. Hingegen fielen die Gasexporte in Länder außerhalb der GUS im Jahre 2001 um 13,7%. Exporte in die GUS-Länder gingen sogar um 28% zurück.

Im Jahre 2001 hat sich der Handel Russlands mit China beträchtlich, nämlich um 33%, erhöht und liegt bei ca. 10 Mrd. US Dollar. Zählt man zu diesen Angaben noch den ambulanten Kleinhandel, so können nochmals, je nach Schätzungen, zwischen 3 und 10 Mrd. US Dollar dazu addiert werden. Trotz eines eindrucksvollen Aufschwungs im Warenverkehr mit China bleibt die Europäische Union und hier besonders Deutschland der wichtigste Handelspartner Russlands. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind zum wichtigen Faktor für die Außenorientierung des Landes geworden.

Weil Öl und Politik in die gleiche Richtung strömen, ist nicht von der Hand zu weisen, dass insbesondere die Ölkonzerne sich zu einem äußerst einflussreichen Faktor der russischen Außenwirtschafts- und Sicherheitspolitik entwickelt haben. Seit mehreren Jahren betreiben sie eine dezidierte internationale Strategie der Marktpenetration in Süd- und Zentraleuropa und sind an der Ausweitung des Handels mit China beteiligt. Im kaspischen Raum spielen sie eine zunehmend wichtigere Rolle und haben sich nach den Ereignissen vom September in die Pipeline-Diskussion gut einbringen können. Beispielsweise hat der russische LUKoil Konzern in die Ölexploration im Irak (West Quarna Feld) investiert und hat Explorationsabkommen mit Algerien, dem Sudan und Libyen abgeschlossen. Mit Venezuela sind Abkommen in Vorbereitung.

Die Gold- und Devisenreserven der russischen Zentralbank wuchsen kontinuierlich. Sie betrugen im Dezember 2001 ca. 38 Milliarden US-Dollar. Allerdings war die Zentralbank Ende Dezember 2001 gezwungen, mit ca. 3 Mrd. US Dollar in die Devisenmärkte zu intervenieren, um den Rubel zu stützen, weil in der russischen Geschäftswelt Befürchtungen grassierten, dass die schwächelnde Konjunktur zur Rubelabwertung führen könnte. Die Interventionen sollten bewirken, dass der Rubel nicht unter die psychologisch wichtige Marke von 30 Rubel zum US Dollar rutschen würde. Über das Jahr betrachtet, zeigte sich der Rubel relativ stabil und verlor gegenüber dem Dollar nur geringfügig. Nach anfänglichen Konfusionen hat Russland im Jahre 2001 recht aktiv seine Außenschulden bedient, in erster Linie IMF-Kredite. Die Außenverschuldung gegenüber dem IMF sank vom Mai 2000, von 12 Milliarden US Dollar auf 8.3 Milliarden US Dollar im November 2001. Die gesamte Außenverschuldung, die in den Jahren 1992 bis 1998 sich auf ca. 138 bis 140% des Bruttosozialproduktes belief, konnte auf ca. 55 bis 60% des russischen Bruttosozialproduktes verringert werden. Ließe sich diese Entwicklung auch im Jahre 2002 fortsetzen, so könnten Besorgnisse über die immens hohe Tilgung von ca. 18 Mrd. US Dollar, die allein 2003 anfällt, vermindert werden. Gegenwärtig, so bekundet auch der IMF, gebe es keine Notwendigkeit für die Aufnahme von weiteren Auslandskrediten durch Russland.

Das ambitiöse Ziel, die Inflation unter 15% zu senken, ist 2001 nicht erreicht worden. Die Inflationsrate lag bei 18,7% und wird sich auch im nächsten Jahr nicht unter 15% drücken lassen. Obwohl 2001 die realen Löhne und Gehälter, amtlichen Angaben zufolge, schneller stiegen als die Inflation, ist der Reallohnanstieg nicht die Hauptursache für die Inflation. Größeren Anteil daran tragen, wie Mikhail Delyangin, Direktor des Institutes für die Probleme der Globalisierung, ausführt, die noch ungenügende De-Monopolisierung und De-Kartellisierung der großen russischen Holdings (Anm. 4) und der sog. "natürlichen Monopole", also der Energiebetriebe, der Eisenbahn oder Gazprom. Der Staat hat dieses Dilemma bislang nicht lösen wollen und können, da der Widerstand der Interessengruppen und ihre erfolgreiche Lobbytätigkeit in der Duma und im Föderationsrat dies bislang verhindert hat. Konsequenz war das Ausbleiben von technologisch erforderlichen Rationalisierungs- und Erneuerungsinvestitionen. Gleichzeitig stiegen die Produktions- und Instandhaltungskosten und diese wurden auf die Tarife weitergereicht. Ohne die Deregulierung der Märkte der "natürlichen" Monopole der russischen Wirtschaft werden diese Sektoren aufgrund fehlender Konkurrenz immer wieder versuchen, den Kostendruck über Tariferhöhungen an die Konsumenten weiter zu geben.

Im allgemeinen verlief im Jahre 2001 die Entwicklung im Sozialbereich recht positiv. So hat sich das Realeinkommen der Bevölkerung im ersten Halbjahr 2001 um 5,9% erhöht. Der durchschnittliche Reallohn eines Arbeitnehmers stieg um 19,8%. Die Arbeitslosenzahl betrug 6,4 Millionen. Amtlichen Statistiken zufolge ist die Arbeitslosenzahl in der ersten Jahreshälfte 2001 im Vergleich zum Vorjahr 2000 um 18 Prozent zurückgegangen. Die Arbeitslosenrate betrug insgesamt 9%. Hinter diesen Durchschnittszahlen verbergen sich jedoch extreme wirtschaftliche und soziale Unterschiede:

  • Extrem hohe und zudem noch versteckte Arbeitslosigkeit herrscht nach wie vor in den einstigen industriell monostrukturierten und in den geographisch und klimatisch benachteiligten Regionen des Landes, also im hohen Norden, in einigen Regionen Sibiriens, die an die Mongolei und an Kasachstan grenzen, aber auch in westlichen Regionen wie Karelien (Grenze zu Finnland) und Pskow, Smolensk (Grenzen zu Belarus und den Baltischen Ländern).

  • Vollbeschäftigung herrscht dagegen in Moskau oder St. Petersburg und in einigen Regionen in Zentralrussland und Westsibirien oder im Ural. Es gibt keinen Grund, der offiziellen Statistik Moskaus nicht zu trauen, wenn sie für Moskau die Arbeitslosenrate bei 0,6% sieht. Dieser Umstand macht sich bei der Suche nach qualifizierten Fachkräften bemerkbar. Der Markt ist faktisch leer gefegt. Löhne und Gehälter liegen auf einem relativ hohen Niveau, sogar im Vergleich mit einigen westeuropäischen Ländern. Es ist daher auch nur konsequent, dass Investoren auf infrastrukturell günstig gelegene Regionen ausweichen.

Dennoch leben ca. 45,2 Millionen Bürger, also nahezu ein Drittel (31,3%) der Gesamtbevölkerung, laut der russischen Statistik, unterhalb des Existenzminimums, das im zweiten Quartal des Jahres 2001 1507 Rubel ( ca. 120 DM) betrug. Was die Lage der russischen Arbeitnehmer anbetrifft, so ist die Situation der Beschäftigten im öffentlichen Bereich immer noch besorgniserregend. Die Löhne und Gehälter dieser Arbeitnehmergruppe betragen nämlich weniger als die Hälfte der Löhne der in der Industrie Beschäftigten. Dies, obwohl 2001 die Löhne und Gehälter von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zweimal erhöht wurden, was den Staatshaushalt für 2002 mit etwa 54,3 Milliarden Rubel (4 Mrd. DM) belasten wird. Während in der Privatwirtschaft die Lohnaußenstände seit 1999 kontinuierlich zurück gegangen sind, sind sie im öffentlichen Sektor teilweise noch beträchtlich. Sie betrugen, alle staatlichen Ebenen eingerechnet, am 1. Oktober 2001 noch 34.174 Millionen Rubel (ca. 1 Mrd. US Dollar). 2001 hatte Russland einen ausgeglichenen Staatshaushalt, der sogar einen moderaten Überschuss von sieben Mrd. US Dollar oder 2,4% des BSP auswies. Die Steuereinnahmen lagen 8% über dem angestrebten Ziel (Anm. 5).

Generell lässt sich sagen, dass die russische Wirtschaft nach einer langen Stagnations- und Abschwungsperiode sich seit 1999 wieder in einer Aufschwungsphase befindet. Ob die russische Wirtschaft damit allerdings ihre immense Abhängigkeit von Preisentwicklungen und der Nachfrage auf dem Weltmarkt überwunden hat, ist zu bezweifeln. Auffallend ist aber, dass sich die russische Wirtschaft trotz der Abschwächung der Nachfrage bei den Haupthandelspartnern als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen hat. Die Konjunktur ließ zwar im zweiten Halbjahr 2001 nach, glitt aber nicht in eine rezessive Phase. Die Wirtschaft konnte, wie Premierminister Michail Kasjanow in seinem Bereicht an die Staatsduma vom 30. November 2001 ausführte, im Laufe der letzten drei Jahre ihre Basis verbreitern und genügend eigene Kräfte dynamisieren, um unanfälliger gegen die Einflüsse des Weltmarktes zu werden.


Mögliche Entwicklungsperspektiven der russischen Wirtschaft und des Staatshaushaltes für 2002

Im wesentlichen drohen der russischen Wirtschaft und dem Staatshaushalt im nächsten Jahr vier Gefahren.

  1. Ein weiterer Rückgang der Erdölpreise, der auch durch die Reduzierung der Fördermengen nicht gestoppt werden kann und ein Preisverfall von Rohstoffen bei anhaltender Rezession in den westlichen Industriestaaten;

  2. Tariferhöhungen durch die "natürlichen Monopole" bei Strom, Gas und Transport und die damit verbundene Gefahr erhöhter Inflation;

  3. Zunahme sozialer Protestaktionen von Beschäftigten aufgrund von betrieblichen Restrukturierungen und Rationalisierungen im Vorgriff auf den WTO- Eintritt Russlands;

  4. Schwierigkeiten bei der Erstellung eines realistischen Staatshaushaltes, der Zukunftsinvestitionen und die Anpassung von Sozialausgaben mit den zu erwartenden Mindereinnahmen verbinden kann.

Dass Tariferhöhungen unumgänglich sind, wird auch von der Regierung nicht in Abrede gestellt und ist bereits in den Plänen zum Haushalt 2002 mit ca. 35% eingebaut worden. Eine derartige Erhöhung wäre zu verkraften und würde es ermöglichen, so Wirtschaftsminister German Gref, "die dem Haushaltsplan zugrundegelegten volkswirtschaftlichen Kenndaten zu erreichen". Vor allem würde die Inflationsrate nicht über die 13%-Latte klettern. Doch selbst bei Tariferhöhungen um 35%, die Monopole fordern erheblich höhere Tarife, würde dies einen Inflationsschub auslösen und die Inflationsrate momentan auf mindestens 15% heben.

Neben der Inflationsgefahr würde der Staatshaushalt in Schwierigkeiten geraten, die längst überfällige Anpassung der Einkommen von Staatsbediensteten vorzunehmen und die Renten und andere Sozialleistungen für sozialschwache Bevölkerungsschichten aufzubessern (Anm. 6). Sollten aber die Energiepreise auf einem niedrigen Niveau für längere Zeit verharren, dann müssen Budgetziele korrigiert werden. Dies könnte dann angesichts gestiegener Tarife und erhöhter Inflation zu Protestaktionen der Gewerkschaften und Belegschaften führen und dem Image und Popularitätsrating des Präsidenten abträglich werden.

Der mögliche WTO-Beitritt schließlich hat russische Unternehmer und Gewerkschaften in zwei Lager geteilt und sorgt für erhebliche Unruhe bei der heimischen Industrie und bei den Beschäftigten. Sorgen bestehen vor allem in der immer noch technologisch extrem rückständigen Landwirtschaft, die nur durch staatliche Subventionen überleben kann und gegen ausländische Importe nicht wettbewerbsfähig ist. Aber auch Branchen der russischen Konsumgüterindustrie, die nach 1998 wieder Marktanteile zurückgewinnen konnte, sehen Gefahren, falls protektionistische Regelungen wegfallen würden. Gegenüber ausländischen, hoch technologisierten Unternehmen haben russische Produkte kaum Wettbewerbschancen. Der Anstieg des Rubels gegenüber europäischen Währungen hat bereits die durch die Abwertung 1998 erzielten Wettbewerbsvorteile zunichte gemacht und zu einem drastischen Anstieg der Importe von Nahrungsmitteln und Textilien sowie anderen Konsumgütern geführt.


Das dritte Modernisierungsprojekt: Der Staat als Modernisierungsagentur?

Vor dem Hintergrund des dreijährigen Wirtschaftsbooms (das Bruttosozialprodukt stieg um 19,7%, die Industrieproduktion um 30,4% und die Investitionen wuchsen um 33,5%) und nach zwei Jahren Amtszeit ist in der politischen Klasse des Landes ein Streit über die Bilanz der Präsidentschaft Putin entbrannt. Kritiker, wie Mikhail Delyagin, ein Politikökonom aus dem Umfeld des früheren Premierminister Primakow, sprechen von 2001 als einem weiteren verlorenen Jahr, weil wesentliche Strukturreformen nicht realisiert wurden. Delyagin behauptet, dass die Boomphase der letzten drei Jahre vorbei sei.

Gründe für den Abschwung, der spürbar im zweiten Halbjahr 2001 einsetzte, seien nicht nur extern, in der sich abschwächenden Weltkonjunktur, zu suchen. Verantwortlich seien vor allem innere Faktoren, nämlich, dass strukturelle Hemmnisse und Barrieren zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung nicht beseitigt wurden, wie etwa:

  • der Schutz von ausländischen und heimischen Investoren gegen politische und quasi-kriminelle Übergriffe in den Regionen ist immer noch unzureichend,

  • die Deregulierung der "natürlichen" Monopole kommt gegen den Widerstand der Monopole nur schwerlich voran,

  • die Rückdrängung von Korruption und bürokratische Willkür hat nur punktuellen Erfolg,

  • die archaischen, teilweise widersprüchlichen Regelwerke und Ausführungsbestimmungen der Zoll-, Steuer– und Sozialgesetzgebung behindern die wirtschaftliche Entwicklung und schrecken mittelständische ausländische Investoren ab

  • keine erkennbaren Bemühungen, kleinen und mittleren Unternehmen die Existenzgründung und/oder den Marktzugang zu erleichtern und damit eine ausgewogene industrielle Struktur zu fördern,

  • das Fehlen staatlicher Aufsicht über das Bankwesen und der Mangel an Garantien für Spareinlagen.

Zwar seien die schlimmsten Missstände der Jelzin-Ära in den zurückliegenden zwei Jahren angesprochen und teilweise behoben worden, aber an den grundlegenden Machtverhältnissen und an den strukturellen Hemmnissen für eine forcierte Wirtschaftsentwicklung habe sich wenig geändert. In seiner Ansprache vom 19. Dezember 2001 an den Gossowiet, das neu geschaffene Gremium für die Gouverneure und Präsidenten der russischen Regionen und Republiken, hatte Präsident Putin ähnlich scharfe Worte gefunden. Putin beschuldigte die Regierung, ein System "legalisierter Korruption" geschaffen zu haben. Damit werde das Entstehen einer Mittelklasse behindert und die Gründung von kleinen und mittleren Betrieben, die für die Entwicklung des Landes unabdingbar seien, erschwert (Anm. 7). Nach wie vor habe die Oligarchie das Sagen. "Modernization in Russia can only be achieved if structural problems are resolved. However, while the government is controlled by the oligarchy - which it still is - the structural problems will not be addressed as it is not in the interests of big business. Thus Russia’s recovery is impossible without reform of the existing political system" (Anm. 8).

Gewiss, diese Oligarchie hat einschneidende Veränderungen in der Zusammensetzung über sich ergehen lassen müssen, aber ihre Interessen sind die gleichen geblieben. Sie hegt heute allerdings weniger politische Ambitionen als noch vor einigen Jahren. Aber nach wie vor verfügt sie über eigene, heute vielleicht stärker formalisierte Interessenkanäle zum Präsidenten, zur Administration des Präsidenten und zu den für ihre Interessen relevanten Ministerien. Der gravierende Unterschied zur Ära Jelzin besteht nur darin, dass diese Beziehungen derzeitig weniger sichtbar sind. Denn mit der Wiederherstellung staatlicher Autorität hat sich auch ein neuer Stil des Lobbyismus herausgebildet, der weniger sichtbar aber genau so wirkungsvoll operiert.

Weil aber eine durchgreifende Reform des Staates, die Rückdrängung von Korruption und die Eindämmung von partikularen Wirtschaftsinteressen ausblieben und auch in Zukunft nicht zu erwarten sind, sei, so die pessimistische Prognose von Delyagin, "the creation of a military-police state in such circumstances ... highly likely".

Er zieht Parallelen zu Südkorea, Chile und Indien, denn diese Länder weisen ähnliche soziale Schichtungen und extreme Unterschiede beim Einkommen auf wie Russland. Sie besitzen eine kleine Oberschicht von ca. 5% und eine Mittelklasse, die ungefähr 10 bis 25% der Bevölkerung ausmacht. Bis zu zwei Drittel der Bevölkerung dieser Länder lebt hingegen in bitterer Armut.

Dass aber in Russland, ähnlich wie in den genannten Schwellenländern, der Staat als Modernisierungsagentur auftreten könnte, wird bezweifelt. Denn im Unterschied zu den asiatischen und lateinamerikanischen Schwellenländern seien in Russland die Organe der inneren Sicherheit und die Armee am korruptesten und am ineffektivsten. Mit unterschiedlicher Akzentuierung teilt der Führer der liberalen Jabloko Partei, Grigorij Jawlinski, diese Kritik. Nach den Wahlen zur Staatsduma im Dezember 1999 und nach der Restrukturierung des Föderationsrates 2000 und 2001 haben beide Organe ihr Gewicht im politischen System verloren. Es habe sich eine "managed democracy" herausgebildet und die Entwicklung hin auf ein "administrative-bureaucratic corporatist system" sei eingeleitet worden. (Anm. 9)

Die demokratischen Institutionen seien zum Potemkinschen Dorf verkommen, während die eigentliche Macht weiterhin im Kreml konzentriert sei. Die Regierung sei technokratisch und vertrete die Interessen der "natürlichen Monopole" und der großen Konzerne, die mit dem Staat eine Symbiose eingegangen seien. In diesem Lichte müssen auch die Bemühungen des Kreml interpretiert werden, den Dialog mit der Zivilgesellschaft zu wagen. Das pompöse "Zivilforum" vom Herbst 2001 sei eine gigantische PR-Aktion gewesen, um die Dynamik der sich entfaltenden Zivilgesellschaft für Kremlzwecke einzufangen. In Wirklichkeit gehe es weder um die Stärkung der Zivilgesellschaft noch um die demokratische Entfaltung des Landes. Die Alternative laute viel mehr: entweder "managed democracy or none at all".

Ähnlich wie Delyagin beklagt Jawlinski das Ausbleiben von wirklichen Reformschritten. Russland sei nicht auf dem Weg der Modernisierung, sondern laufe Gefahr den Anschluss an Europa zu verpassen. Daher habe auch die positive Wende in der Außenpolitik des Landes nach dem 11. September 2001 keine innenpolitische Basis. Und selbst aus den Reihen der Verbandsstruktur der russischen Industrie, dem RSPP, der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer, kommt erstaunlich offene Kritik. Sie richtet sich aber weniger gegen den Kurs der Wirtschaftspolitik, wohl aber gegen die rechtliche Verfolgung von Korruptionsvorwürfen gegen zwei leitende Manager der Gazprom Tochter Sibur (Anm. 10). Beide wurden im Januar 2002 festgenommen. In einem offenen Brief an den Generalstaatsanwalt beklagt der RSPP die "heavy handed actions by the security services", die dazu beitrügen, russische Unternehmer international zu kriminalisieren. Der Brief wurde von 27 Mitgliedern (von 23 Großkonzernen) der RSPP unterzeichnet. Solche Aktionen könnten das Vertrauen der Geschäftswelt unterminieren, kritisiert RSPP Präsident Arkadi Volkskij (Anm. 11). Hinter der Kritik steht die Sorge, das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen leitende Manager könne der Auftakt für Untersuchungen aus der wilden Zeit der Privatisierung sein, als Insider- Geschäfte und das Umlenken von Gewinnen auf Auslandskonten an der Tagesordnung waren.

Im Gegensatz zu solch kritischen Äußerungen aus der russischen Politik, Geschäftswelt und Wissenschaft äußern sich deutsche Investoren und der Verband der deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation/VDW übereinstimmend positiv über die Folgen der eingeleiteten Strukturreformen (Anm. 12). Deutlich habe sich das Investitionsklima verbessert. Merkliche Verbesserungen seien im Steuer- und Zollwesen zu verspüren, obwohl die Arbeitsbedingungen ausländischer Firmen weiterhin unvergleichbar schwerer als in der EU oder den MOE –Ländern sind.

Der Jahresbericht (Anm. 13) des Verbandes der Deutschen Wirtschaft spricht sogar davon, dass von der neuen Administration der "Startschuss für die gewaltigsten Strukturreformen in der Geschichte des Landes gegeben" wurde. Der Präsident habe mit "starker Hand" die "gegenseitige Blockade von Staatsduma und Regierung überwunden" und die "politischen und wirtschaftlichen Kräfte des Landes geeint". Mehr Markt, mehr Transparenz und der Rückzug des Staates aus der Wirtschaft seien die beobachtbaren Trends. Dies würde nicht nur von der deutschen Wirtschaft gewürdigt, sondern auch die internationale Staatengemeinschaft zeige "vorsichtig aufkeimendes Vertrauen in Russland" (Anm. 14). Trotz der positiven Entwicklung und der prognostizierten Chancen für den deutschen Export, seien aber die Potentiale noch lange nicht ausgeschöpft. Die Einkommenssteuer für Privatpersonen ist auf 13% abgesenkt worden und die einheitliche Gewinnsteuer liegt nun bei 24%. Beratungen über ein Absenken der Mehrwertsteuer von 20 auf künftig 16 oder 17% dauern an.

"In Russland herrschen heute Ruhe und Stabilität. Die Wirtschaft wächst nun schon zwei Jahre in Folge", charakterisiert auch Jan Schellenberger von der Moskauer Repräsentanz der Commerzbank die Lage. Die Binnennachfrage sei stark gestiegen und begünstige dadurch den deutschen Export. Zwar sei eine Konsolidierung des russischen Bankwesens noch lange nicht in Sicht, aber größere Zusammenbrüche wie beispielsweise 1998, seien nicht zu erwarten (Anm. 15). Der Repräsentant von Thyssen Krupp charakterisiert 2001 als ein "durchwachsenes Jahr"; besonders gut liefen die Absätze bei Investitionsgütern für die russischen Nahrungs- und Verpackungsindustrien. Dieser Hinweis ist ein wichtiger Indikator für die These, dass Modernisierungsinvestitionen in der heimischen Industrie getätigt werden, wie die allgemeinen Daten der Statistik auch bestätigen. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wird zwar weiterhin vom Export der Energieträger und von Rohstoffen bestimmt, aber Wachstumseffekte in den Konsumgütersektoren, bei Dienstleistungen, Auto (Anm. 16), Chemie und bei medizinischen Technologien sind nicht von der Hand zu weisen.

Trotz der positiven Wertschätzung der vergangenen Jahre und trotz des an den Tag gelegten Optimismus für das kommende Jahr 2002 sind die bürokratischen Hürden, die weithin grassierende Korruption und die Inflexibilität der Behörden wohl die größten Investitionshemmnisse. "In das kommende Jahr gehen wir", so der Thyssen Krupp AG Repräsentant, "gebremst optimistisch. Politisch gibt es keinen Anlass für Pessimismus, die Reformen werden Schritt für Schritt umgesetzt".


Die problematische Verbindung von Westorientierung und demokratischen Reformen

Kritische russische Stimmen werden nicht nur hinsichtlich der Innen- und Wirtschaftspolitik laut. Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik mehrt sich Kritik am Kurs der Westorientierung und der bekundeten Solidarität mit den USA. Noch macht das böse Wort vom Ausverkauf russischer Interessen nicht die Runde, aber das Drängen wird lauter, angesichts einer sich verhärtenden Position der USA in punkto AMD/ABM, Vernichtung von Nuklearsprengköpfen und dem Beharren auf die nächste Runde in der NATO-Osterweiterung, nachdrücklicher russische Interessen zu formulieren und einzufordern. Parallelen zu Gorbatschow werden gezogen und die pro-westliche Politik des Präsidenten gerät beim außen- und sicherheitspolitischen Establishment des Landes mehr und mehr unter Beschuss. Für Präsident Putin könnte es politisch eng werden, wenn der auf russischer Seite eingeleitete Kurswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht vom Westen honoriert wird. Es werden zwar keine Kompensationen für die russische Bereitschaft zur Teilnahme an der anti-terroristischen Allianz eingefordert, sollten die westlichen Kerninstitutionen wie NATO, EU und WTO weiterhin für Russland geschlossen und unzugänglich bleiben, dann könnte es zu einem ähnlichen Rückschlag in der russischen Politik kommen, wie ihn erst Michael Gorbatschow und dann auch später Boris Jelzin erlebten.

Bislang sind die russische Regierung und der Präsident vor einer solchen Mechanik zurückgeschreckt, denn wird sie einmal in Bewegung gesetzt, kann sie zu einer unkontrollierbaren Spirale von Forderungen und Gegenforderungen führen. So sind bereits einmal die Chancen einer strategischen Partnerschaft mit dem Westen, wie sie sich nach 1991 boten, zunichte gemacht worden. Solange die Anerkennung der Bevölkerung zur Politik und Staatsführung Putins ungebrochen hoch bleibt (in den Umfragen liegt Putin seit März 2000 bei ca. 70% !), besteht wenig Gefahr. Sollte es aber zu wirtschaftlichen Einbrüchen kommen oder sollten sich andere nicht vorhersehbare Schicksalsschläge einstellen, dann könnte sich das Bild schnell ändern. In einem solchen Fall würde die unterschwellige Kritik an einzelnen wirtschaftlichen und außenpolitischen Fragen eine politische Dimension erhalten und auf den Präsidenten zielen.

An diesem Punkt wird das Defizit einer präsidialen Demokratie, die sich nicht auf gesellschaftlich verankerte politische Parteien und Vermittlungsinstanzen stützt, evident. Denn bis heute ist nicht klar, ob der Präsident sich zu einer politischen Partei bekennen wird und ob aus der Fusion zwischen "Edinstwo" und "Otetschestwo/Ganz Russland" wirklich eine neue "Partei der Macht" entstehen kann, wie auf dem letzten und abschließenden Vereinigungsparteitag im Dezember 2001 beschlossen. Die neue Partei mit dem umständlichen Namen "Allrussische Einheits- und Vaterlandspartei" verfügt zwar in der Staatsduma zusammen mit verbündeten Gruppen über eine deutliche Mehrheit, bleibt aber ein von oben her aufgesetztes bürokratisches Ungetüm, ganz im Sinne einer früheren Nomenklatura-Partei. Sie muss nicht nur ihre Akzeptanz bei der russischen Bevölkerung noch unter Beweis stellen, auch der russische Präsident äußerte sich vorsichtig zurückhaltend: dieses Parteienkonstrukt müsse sich den Namen "Partei der Macht" erst verdienen.


Die Konstituierung einer neuen Machtelite

Nach dem Amtsantritt des Präsidenten Putin im Mai 2000 fiel auf, wie konsequent zielgerichtet und mit welcher Entschlossenheit die Restrukturierung der politischen Landschaft angegangen und umgesetzt wurde. Eine solche Stringenz in der russischen Politik, die sich nicht so schnell von den Schatten der früheren permanenten staatlichen Autoritäts- und Führungskrise befreien konnte, setzte Beobachter des Vorgangs in Erstaunen. Sofort kamen Vermutungen auf, dies sei das Werk von Diensten, die Erfahrung und Kompetenz darin hätten, Entscheidungen umzusetzen. Denn wer sollte sonst, angesichts der heillos zerstrittenen und teilweise korrupten früheren Führungsmannschaft um Jelzin solche Kraft, Beharrlichkeit und Entschiedenheit aufbringen, als jene Kräfte, die zudem mit der Biographie des Präsidenten enger verwoben waren?

Damals noch weniger als heute war klar, auf welche Machtgruppen der Präsident sich eigentlich stützen konnte. Fest stand nur, dass die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen für strukturelle und Veränderungen so günstig wie nie zuvor waren und an dieser Einschätzung hat sich bis heute kaum etwas geändert. Ein neuer autoritativer Stil hielt Einzug in die Politik und die Paradigmen haben sich verändert: Innenpolitische Ordnung und Aufbau staatlicher Autorität wie die Wiedererlangung internationaler Handlungsfähigkeit waren als Ziele angesagt. Die russische Politik ist seitdem selbstbewusster, unabhängiger und gleichsam berechenbarer geworden. Systematisch geht der neue Präsident daran, seine Operationsbasis zu sichern und zu stärken. Als sicher galt, und das hat sich klarer im Jahre 2001 herausgeschält, dass zu den alten Fraktionen der Herrschaft neue stießen, die von Beginn an das Tempo und die Richtung der einzuleitenden Restrukturierungen bestimmten. Der nun zu beobachtende Prozess der Konstitution einer neuen Herrschaftselite ist bis heute nicht abgeschlossen. Die neue Machtelite ist nach wie vor heterogen und von scharfen Konfliktlinien durchzogen, die ab und zu aufbrechen.

Aber im Unterschied zur Jelzin–Ära werden die Konflikte nicht öffentlich ausgetragen. Kommt es dennoch zu öffentlichen Auseinandersetzungen, so wird um jeden Preis der Eindruck vermieden, es handele sich um politische Konfrontationen, wie z. B. bei der Übernahme von Gussinskijs NTV, bei der Schließung des von Beresowskij finanzierten Fernsehkanals TV-6 und bei der Entlassung von Gouverneuren, Ministern und von anderen politischen Repräsentanten, die dem alten System in der einen oder anderen Weise verbunden waren. Obschon die Heterogenität der Machtelite sich in Zukunft abschleifen wird, weil einzelne Gruppen ausgesondert werden und andere sich bedingungslos unter- oder einordnen, werden Interessendifferenzen bleiben. Aber es haben sich Vorherrschaften herausgebildet und sicherlich hat der neue pragmatische, an Konsens orientierte autoritative Stil des Präsidenten die Machtelite geprägt. "Loyalität" ist die Kurzformel für diesen Herrschaftskonsens. Folgende Gruppen lassen sich unterscheiden:

  1. Es ist fast schon zur stehenden Redewendung geworden, von der "Nordallianz", d.h. den St. Petersburgern als der dominierenden Gruppe zu sprechen, die nach und nach Schlüsselstellungen in der Kreml-Administration, in der Regierung, bei der Leitung der neu geschaffenen sieben föderalen Großregionen (federalni okrugi) und bei der Leitung des Föderationsrates wie der neuen "Partei der Macht" übernommen hat. Insbesondere die sogenannten Machtministerien (siloviki) sind in der Regierung von engen Vertrauten Putins besetzt worden. Zu nennen sind: Boris Gryslow (Innenminister), Sergej Ivanow (Verteidigungsminister), German Gref (Wirtschafts- und Handelsminister), Alexej Kudrin (Finanzminister), Ilja Klebanow (Erster Vizepremierminister und zuständig für Technologie und die Rüstungswirtschaft). Des weiteren zählen zu dieser Gruppe folgende Führungspersonen: Alexei Miller (Gazprom), Sergeij Mironow (Vorsitzender des Föderationsrates) und Alexander Bespalow (Vorsitzender des Rates der neuen "Partei der Macht"). Dieser Prozess scheint abgeschlossen, denn die Kaderressourcen von St. Petersburg sind nun wohl erschöpft.

  2. Ferner sind fast alle föderalen Großregionen mit Militärs und (früheren) Angehörigen aus den Geheimdiensten besetzt worden (Ausnahme: die Wolga-Region); Militärs kandidierten für Gouverneursposten oder wurden von Gouverneuren in den umstrukturierten Föderationsrat entsandt.

  3. Die führende Fraktion der vorherigen Machtelite, also all die schillernden Einzelpersönlichkeiten und Finanz- wie Wirtschaftsgruppen, die kurzum unter "Familie" subsumiert wurden, bestehen nach wie vor, allerdings geschwächt fort. Den "Familienmitgliedern" werden enge Beziehungen zum damaligen Spiritus rector aller machiavellistischen Winkelzüge, Beresowskij, unterstellt. Zu nennen wären die Banker Alexander Mamut und Roman Abramowitsch (zugleich Gouverneur von Tschukotka), der Aluminium- Magnat Oleg Deripaska, und wahrscheinlich auch der Chef des Präsidialamtes Alexander Woloschin sowie Premierminister Mikhail Kasyanow. Als Regierungsmitglieder werden oft der für Katastrophenfälle zuständige Minister Wladimir Ruschajlo, der Presse- und Informationsminister Michail Lessin sowie der Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow und der Vorsitzende des Rentenfonds Michail Surabow genannt. Allerdings scheint fraglich, ob diese Gruppe angesichts der Tatsache, dass eine öffentliche Kampagne gegen Beresowskij eingeläutet wurde, noch über einen inneren Zusammenhalt verfügt.

  4. Daneben gibt es kleinere Gruppen von liberalen Wirtschaftstheoretikern, die bereits in der Jelzin-Ära maßgeblich die Wirtschaftspolitik konzeptionell mitbestimmten: Sie zählen zu den weniger einflussreichen Kräften und werden durch Anatolij Tschubais und durch die politischen Kräfte aus dem konservativ-liberalen Lager der Partei
    "Union der Rechten Kräfte, SPS", gestützt. Eine weitere amorphe Gruppe bilden Intellektuelle, wie Gleb Pawlowskij u.a., die über Medien und Internet die Politik des Präsidenten normativ begründen und programmatisch öffentlich propagieren. Letztere Funktion wird angesichts des technokratischen Zuschnitts der Regierung und Kreml-Administration dann besonders wichtig, wenn sich die Parteienlandschaft nicht gemäß dem präsidialen Vorgaben entwickeln sollte. In diesem Zusammenhang hat der Dialog mit der russischen Zivilgesellschaft vom Herbst 2001 einen besonderen Stellenwert.

  5. Die Wirtschaftsführer großer Konzerne wie Gazprom, LUKoil, Yukos, Uralmasch, Interros, Avtowas oder der MIG Gruppe gehören nicht zur politischen Machtelite im engeren Sinn. Die Chefs dieser Konzerne suchen zwar die direkte Beziehung zum Kreml, haben aber auch andere, institutionalisierte Kanäle und Verbandsstrukturen, über die sie ihre Interessen vorbringen können. Das Vorgehen der staatlichen Instanzen gegen Gussinskij und Beresowskij war abschreckende Warnung genug, um sie von politischen Ambitionen abzuhalten. Gehen sie dennoch in die Politik, als Gouverneure oder Mitglieder der Duma und des Föderationsrates, dann ist das eher als Rückversicherung zu verstehen, da sie damit politische Immunität erlangen. Eine Ausnahme ist anscheinend die Alpha Bank. Deren Führungsspitze unter Michael Friedman hat sich zu einer direkten Machtinstanz im Beratungs- und Einflussumfeld des Präsidenten aufgebaut.

Im Unterschied zur Jelzin-Ära vollziehen sich Wechsel und Umstellungen in der Machtelite geräuschlos. Wie einflussreich die verbliebenen Kräfte der "Familie" noch sind, ist schwer zu sagen. Erkennbarer sind ihre Interessen. Sie wollen erstens nicht für illegales Handeln nachträglich zur Rechenschaft gezogen werden. Zweitens wollen sie Ermittlungen und Bestrafungen oder gar die Beschlagnahme von illegal erworbenem Eigentum verhindern. Drittens wollen sie von der Verteilung zukünftiger Beute, die bei der Restrukturierung der "natürlichen Monopole" anfallen wird, nicht ausgeschlossen werden.

Nach wie vor kann man davon sprechen, dass der Prozess der Herrschaftskonstitution nur in den Schlüsselbereichen abgeschlossen ist, dass sich die neue Machtelite noch im Aufbau befindet und es noch nicht gelungen ist, die gesellschaftliche Basis und Verankerung ihrer Institutionen voran zu bringen. Ob das verabschiedete Parteiengesetz dabei so hilfreich sein wird, wird sich erst zeigen. Interessenkonflikte sind vorhanden, werden allerdings durch die starke Führungsperson sowie durch den hohen Grad an Anerkennung, die der russische Präsident bei der Bevölkerung genießt, in Grenzen gehalten und kommen kaum an die Oberfläche. Als dominante Fraktion in dieser Machtstruktur scheint sich mehr und mehr eine Symbiose von Kräften aus den Bereichen der inneren Sicherheit und der großen Industrie, besonders der Ölkonzerne, die wiederum mit einigen Großbanken, wie der Alpha-Gruppe verwoben sind, herauszuschälen.

Wegen ihrer sehr spezifisch finanzpolitischen, binnen- und außenwirtschaftlichen Interessen spielen Gruppen aus den internationalisierten Wirtschaftssektoren eine wichtige Rolle in der Formierung von außen- und wirtschaftspolitischen Interessen des Landes. Sie sind zum genuinen, aber indirekten Bestandteil der neuen Herrschaft geworden. Mit diesen Gruppen hat bereits ein anderes politisches Paradigma Einzug in die russische Politik gehalten, nämlich das der Berechenbarkeit, des Pragmatismus und der politischen Verantwortung für wirtschaftliches und soziales Handeln. Denn diese Gruppen sind internationalen Bedingungen des Wettbewerbs ausgesetzt, der ihnen normative Einstellungen abverlangt und externe Rahmenbedingungen setzt, die sie bei der Realisierung ihrer Ziele beachten müssen. Diese Gruppen werden so zwangsläufig zu Mittlern und vielleicht auch Trägern einer Modernisierung, die selbst unter politisch restaurativen Bedingungen das Abgleiten in autoritäre Verhältnisse oder die Selbstisolation der russischen Politik durch ideologische Positionen verhindern könnte.

Unterstellt werden kann, dass diese Gruppen ein zunehmendes Interesse an rechtstaatlicher Konfliktregulierung und an innen- wie außenpolitischer Stabilität für einen störungsfreien Handel und Kapitalverkehr mit den Haupthandelspartnern haben, an einem Staat also, der die Rechtssicherheit garantiert und für die erforderlichen infrastrukturellen Voraussetzungen sorgt und die sozialen Probleme, die mit der fortschreitenden industriellen Strukturanpassung auftreten, durch soziale Maßnahmen abfedert.

Gelingt die Synthese zwischen diesen beiden Fraktionen, also den Technokraten des autoritativen Staates und den internationalisierten wirtschaftlichen Interessengruppen, so würde sich staatliche Autorität mit internationalem Pragmatismus und Rücksichtnahme verbinden. In diesem Falle könnte in der Tat der russische Staat, basierend auf einer so definierten Herrschaftselite, zu einer Modernisierungsagentur werden. Dass in einem solchen Staat eher korporatistische Vorstellungen der politischen und gesellschaftlichen Ordnung dominieren würden, scheint evident. Die initiierten Strukturreformen bei den Parteien, beim Föderationsrat, bei den Wirtschaftsverbänden und die tendenzielle Gleichschaltung der Medien deuten allesamt in diese Richtung. Keine dieser Institutionen hat ein autonomes Eigenleben mehr. Sie sind Teil der vertikalen Machtordnung geworden und erfüllen ihre Funktion in der korporatistischen Gesellschafts- und Herrschaftsstruktur.

Die institutionellen Grundlagen zu dieser Entwicklung sind in den vorhergehenden zehn Jahren Transformation gelegt worden. Aber im Unterschied zur vorhergegangenen Sowjetordnung haben wir es hier mit einer qualitativ anderen und neuen gesellschaftlichen und politischen Form zu tun. Denn die Gesellschaft hat sich, zwar zeitlich verzögert, aber dennoch im Takt der marktwirtschaftlichen Umgestaltung transformiert und in unterschiedliche Interessengruppen differenziert. Diese gesellschaftliche Transformation lief ohne gravierende systemische Krisen ab. Das lässt somit auf einen tief verwurzelten Konsens schließen, der ähnlich roh aber robust alle Krisen überdauert hat wie die geschaffenen Institutionen. Diese sind, wie Gaidar sagte, zwar nicht perfekt, aber immerhin funktionieren sie. Die Gesellschaft und die neuen Herrschaftseliten sind bis auf kleine Minderheiten entideologisiert und haben längst die sowjetische Haut abgestreift. Die Fraktionen der Herrschaftselite blicken auf Erfahrungen eines nahezu zehnjährigen brutalen Überlebenskampfes zurück, der ihnen die erstaunliche Fähigkeit abverlangte, sich rasch an neue Machtkonstellation anzupassen und sich jeweils erneut als Machtelite umzugruppieren oder neu zu konstituieren.

Die Staatsduma und der Föderationsrat sind in die "Machtvertikale" integriert worden. In der Duma bestehen stabile Mehrheitsverhältnisse für die Regierung. Die zur vorläufigen "Partei der Macht" fusionierten Parteien von Edinstwo und Otetschestwo sowie die dazu gewonnenen Gruppen aus "Regionen Russlands" u.a. dominieren nach wie vor die Duma. Diese Partei hat oft die Wahlfreiheit, sich zusätzliche Unterstützung bei der Linken, der Kommunistischen Partei zu holen oder mit dem liberal-konservativem Bündnis der "Rechten Kräfte"/SPS Gesetze durchzubringen. Die Kommunisten der KPRF sind in einer sehr schwierigen Lage, faktisch immobilisiert und ohne Chancen, eine gestaltende Rolle in der Duma zu spielen, geschweige denn ihre vormalige Obstruktionspolitik fortzusetzen. Unter der Oberfläche gären Fraktionskämpfe. Aber in Ermangelung einer klaren Führungsalternative und eines zukunftsweisenden Programms sowie potentieller Bündnispartner kommen weder innere Reformen in Bewegung noch wird die Führungsfrage offen thematisiert.

Die einst so publikumswirksam und schwungvoll gestartete Partei des liberalen Grigorij Jawlinski hat sich von der Niederlage bei den letzten Wahlen nicht erholt. Die Partei ist faktisch gespalten und verlor einen Teil der Deputierten an die rechte SPS. Sie hat ihre dominierende Oppositionsrolle an die SPS abgeben müssen. Ob sie es schafft, verlorenes Terrain bis zu den nächsten Wahlen wieder zugewinnen, ist angesichts der Restriktionen und Anforderungen, die das neue Parteiengesetz mit sich bringt, sehr fraglich.

Der einst so mächtige Föderationsrat, aus dem noch 1999 eine Alternative zur Präsidentschaft vorgebracht wurde, ist nach der Eliminierung der Gouverneure und Präsidenten aus der nationalen Politik zu einer Arbeitskammer der Regionen geworden, in der es auch zum ersten Mal eine politische Fraktion gibt, die ebenfalls vom Kreml geführt wird: die Fraktion "Einheit". Zwar reicht die Macht des Kreml noch nicht bis in die Regionen, aber von dort kommt kaum Widerstand.

Nach wie vor gilt, dass es trotz der eingangs illustrierten kritischen Stimmen zum politischen und wirtschaftlichen Verlauf der vergangenen zwei Jahre keine nennenswerte Opposition gibt. Darin liegt die große Chance, und sie ist auf einigen Feldern genutzt worden, strukturelle Hemmnisse für eine nachhaltige Entwicklung anzugehen und zu beseitigen. Desgleichen lebt die politische und demokratische Entwicklung eines Landes aber vom Widerspruch, von der gestaltenden kritischen Mitwirkung politischer Opposition. Ihre Schwäche oder Abwesenheit kann kumulative Effekte bei politischen Fehlentwicklungen nicht korrigieren. Was passiert also, wenn die hypnotische Starre verfliegt, die von der erreichten "Stabilisierung" ausgeht und von der die Gesellschaft und Intelligenz seit zwei Jahren gebannt ist ?




1 The Moscow Times, 14. November 2001, S. 7

2 Alle Angaben aus unterschiedlichen russischen Zeitungen und aus GOSKOMSTAT, Die sozial-ökonomische Situation Russlands, Januar bis November 2001, Nr. XI, Moskau 2002

3 Wie abhängig der Staatshaushalt von den Öl- und Gasexporten ist, belegt eine Berechnung von Rüdiger Ahrend, der im Rahmen eines Tacis Programms das Russische Ministerium für Wirtschaftsentwicklung und Handel berät. Nach seinen Berechnungen ist der Fall des Erdölpreises um einen Dollar gleichbedeutend mit einem Rückgang des Überschusses im Außenhandel um ca. 1,5 bis 2 Mrd. US Dollar, in Moscow Times 16.10.2001, S. 12, Rüdiger Ahrend, "Better low than high". Daraus könne aber keine Katastrophenszenarium abgeleitet werden. Selbst wenn die Ölpreise auf ein historisches Tief fallen und dort für eine gewisse Zeit verharren würden, könnte eine moderate Abwertung des Rubel die russische Leistungsbilanz im Plus halten: - trotz einer angenommenen Kapitalflucht von ca. 12 Mrd. US Dollar pro Jahr. Der wirtschaftliche Sonderberater des Präsidenten, Andrej Illarionow, Economic Policy vs. Oil Prices, in: The Moscow Times, 6.12.2001, S. 8 argumentiert ähnlich und vertritt die These, dass niedrige Ölpreise ein Gottesgeschenk für die russische Wirtschaft seien, denn sie stimulierten industrielles Wachstum und Arbeitsplätze. Er begründet diese These u.a. damit, dass die industriellen Wachstumsraten in den 50er und 60er Jahren der UdSSR, also der Zeit vor den "windfall profits" aus den beiden Ölkrisen der 70er Jahre, besonders hoch waren.

4 M. Delyagin, What a Waste of a Year, in: The Moscow Times,S.8; der Anteil der natürlichen Monopole am russischen Bruttosozialprodukt beträgt ca. 10%, während ihre Gewinne ca. 25% und ihre Investitionen 18% daran ausmachen.

5 Die Steuerpolizei leitet 36.000 Strafverfahren ein, eine Zunahme von 20% gegenüber dem Vorjahr, in: Moscow Times, 23.1.2002, S. 7.

6 So soll der russische Rentenfond Vorschläge erarbeiten, die Altersrenten ab dem 1. Februar 2002 zu indexieren. Davon wären 11 bis 12 Millionen Rentner (Schwerbehinderte, Senioren im Alter von über 80 Jahren, behinderte Kinder und Waisenkinder) betroffen; ihre Renten würden ab dem 1. Januar 2002 um 25 bis 30% erhöht werden. Ab 2002 soll die Mindestrente 1100 Rubel betragen. Diese Anpassung würde beachtliche Finanzmittel verschlingen. Allein für die Rentenanpassung würde der Rentenfonds 4,3 Milliarden Rubel aufbringen müssen.

7 "Administrative organizations that feed off of small business at every stage of its development, including licensing and registration bodies, the fire department and health department , have created a whole market of legalized corruption", in: The Moscow Times; 20.Dezember 2001, S. 5.

8 Mikhail Delyagin, What a Waste of a Year, in: Moscow Times, 10.1.2002, S. 8

9 Grigorij Jawlinski, Balancing the Accounts for 2001, in: The Moscow Times, 23. Januar 2002, S. 10

10 The Moscow Times, 22. Januar 2002, S. 6

11 The Moscow Times, 23. Januar 2001, S. 1

12 Folgende Gesetze haben entschieden zur Verbesserung des Wirtschaftsklimas beigetragen: am 25. Oktober 2001 tritt das neue Bodengesetz über den freien Verkauf von landwirtschaftlich nicht genutzten Bodens in Kraft; am 7. August wurde durch ein Aktiengesetz der Schutz von Minderheitsaktionären erhöht; das Devisenrecht wurde verbessert; die Registrierung von juristischen Personen wird vereinfacht und schränkt potentielle Willkürmassnahmen der Behörden ein, etc.

13 Russland 2001 – Reformen, Wachstum und Blick nach vorn, Jahresbericht des Verbandes der deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation/VDW, Moskau 10. Dezember 2001, S. 4

14 VDW, ebenda, S. 9

15 Moskauer Deutsche Zeitung Nr.25/26,Dezember 2001, S.6

16 so stieg die Autoproduktion 2001 um 4,1%; über 936.000 Autos wurden in der RF hergestellt; im gleichen Jahr ging die Produktion von Lastwagen um 6,2% zurück (siehe: Moscow Times, 10.1.2002, S.6).


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