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Ungarn zwischen zentralistischer Mehrheitsdemokratie und europäischer Mehrebenendemokratie / Attila Ágh - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 19 S. = 72 KB, Text . - (Politikinformation Osteuropa ; 102) - ISBN 3-89892-074-7
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung

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Referat Internationale Politikanalyse in der Abteilung Internationaler Dialog
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INHALT


[Seite der Druckausg.: 1-2 = Titelblatt]
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Der Sieg der Rechten, der früher liberalen Jungdemokraten (FIDESZ) bei den Wahlen von 1998 veränderte den Stil, in dem in Ungarn Politik betrieben wird. Die Machtübernahme durch die FIDESZ spitzte die unvermeidlichen neuen und scharfen Widersprüche der politischen und wirtschaftlichen Transformation noch weiter zu. Trotz aller zentralistischer Tendenzen der "FIDESZ-Welt" steht Ungarn in Mitteleuropa dennoch den Demokratien westlichen Typs am nächsten, und die Europäisierung ist nicht nur gelungen, sondern hat in diesem Regierungszyklus sogar Fortschritte gemacht. Vom so oft zitierten Zusammenbruch der ungarischen Demokratie kann also keine Rede sein, auch deshalb nicht, weil für eine autoritäre Restauration, vereinfacht ausgedrückt, für eine Jahrzehnte währende Konsolidierung á la Bethlen [István Bethlen von Bethlen, ungarischer Ministerpräsident von 1921- 1931] wie zu Beginn der zwanziger Jahre weder die externen, noch die internen Bedingungen vorhanden sind. Heute vollzieht sich vielmehr die mit großem Lärm betriebene Etablierung der neuen Elite, die für Ungarn sehr kostspielig ist. Schlimmer und noch kostspieliger als die Etablierung einer neuen Elite ist nur noch, wenn die rechte, alternative Elite immer wieder auseinander bricht, wie in Polen. Am schlimmsten ist die Situation wohl in Tschechien oder der Slowakei, wo bislang noch keine einzige lebensfähige politische Elite die Bühne betreten hat und Parteienfragmente die politische Arena bedecken. So ist die Politikverdrossenheit der Bevölkerung in Tschechien und der Slowakei nicht weiter verwunderlich.


Eine "zweite" FIDESZ?

Der Wahlsieg 1998 war zugleich der spektakuläre Bühnenauftritt der "zweiten" FIDESZ. Sie ist die einzige Partei in Ungarn, bei der sich Zeichen von Kontinuität und eigener Identität nur schwer entdecken lassen, denn in den vergangenen zehn Jahren hat sich auch die "erste" FIDESZ mehrfach gewandelt und dann als "zweite" FIDESZ bis hin zur Unkenntlichkeit verändert. Nach der Ära als halbwüchsige Opposition und dann als ältlich-graue Regierungspartei ist nunmehr bereits die "dritte" FIDESZ für die Zeit nach den Wahlen im Entstehen. In einer schnelllebigen Welt ist es gang und gäbe, dass in der Zeit, in der etwas zu einem Gemeinplatz geworden ist, es seine Gültigkeit schon wieder verloren hat. Einem heute gültigen Gemeinplatz zufolge ist der "FIDESZ-Parteisoldat" ein Roboter oder ein gesichtsloses Massenprodukt, das sich in Disziplin übt – was, wenn man sich die anderen Parteien ansieht, gar nicht so schwer erscheint – und wie ein Papagei die Parolen der Agitprop-Abteilung nachplappert. Das gilt größtenteils bis zum Ende

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der 90er Jahre, ja sogar bis heute, obwohl seitdem aus der Anrufbeantworterpartei eine Massenpartei geworden ist.

Während früher, im Vergleich zu allen anderen Parteien, Mitgliedsbeiträge den kleinsten Teil am FIDESZ-Budget ausmachten, sind heute die zur Klientel gewordenen Mitglieder der Partei deren größte Beitragszahler. Allein diese Tatsache zeigt die Schranken der anderen Gemeinplätze auf. Nur schwer lassen sich neue Merkmale prognostizieren, weil die Öffentlichkeit nicht gerade überinformiert ist, was die wirklichen politischen Veränderungen innerhalb der FIDESZ betrifft. Es mag heute unglaublich klingen, aber nach den Wahlen 2002 kann die "FIDESZ-Seifenblase" der mit eiserner Disziplin organisierten Partei leicht platzen. Solange man auf Beute aus war, musste gemeinsam Politik gemacht werden, und waren die Auserwählten einmal auf die entsprechenden Positionen gehievt worden, so garantierte dies deren Parteitreue und Disziplin. Heute hat man sich nun schon so vieles verschafft, dass es genug Grund für Streitigkeiten gibt. Das zeichnet sich auch hinter der Mikola-Affäre ab, bei der die FIDESZ-Fraktion am 8. Mai 2001 die Vorlagen von Gesundheitsminister István Mikola zu mehreren Gesundheitsgesetzen niederstimmte – verständlicherweise, denn im Gesundheitswesen stecken immerhin Hunderte von Milliarden, weshalb auch gewissen rivalisierenden Gruppen innerhalb der FIDESZ nicht gleichgültig ist, was unter wessen Aufsicht steht. Abgesehen davon gibt es wohl kaum einen Politiker ohne Machtambitionen, und so kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch in der FIDESZ – vielleicht nur gut verborgen - ein Machtgerangel stattfindet und nicht jeder die "präsidiale" Einpersonenmacht mag. Es ist ohne weiteres möglich, dass sich dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seinem Umfeld Herausforderer stellen. Denn es wird kein Zufall gewesen sein, dass er Zoltán Pokorni zum Parteivorsitzenden gemacht und ihn auf diese Weise an die frühere Parteiaristokratie gekettet hat, um dadurch zu vermeiden, dass er nach einer eventuellen Niederlage bei den Wahlen 2002 eine Alternative gegenüber der jetzigen Parteiführung vertritt.

Insgesamt gesehen, erinnert die zweite FIDESZ als Partei an der Macht nicht im entferntesten an die ehemalige Oppositionspartei, die erste FIDESZ. Unabhängig davon, ob sie nun die Wahlen 2002 gewinnt oder verliert, wird es eine "dritte" Partei geben, weil die derzeitigen Strukturen durch den internen Machtkampf auf jeden Fall gesprengt werden. Schon heute ist ihre romantische Spätpubertät vorüber. Eine mittlere Generation, die schnell altert, regiert das Land, und diese Generation der jüngsten Greise nimmt Kurs auf eine Mythologisierung der Vergangenheit. Für die Mitglieder der Partei ist es zur obligatorischen Anstandsregel geworden, eine aggressive Sprache zu sprechen und Diskussionspartner zum Schweigen zu bringen, indem man ihnen einfach über den Mund fährt. Möglich ist aber auch, dass schon nach 2002 Anstand und gutes Benehmen in den Reihen der dritten FIDESZ zur Pflicht werden. Nebenbei ist die FIDESZ ja auch bisher außerordentlich innovativ gewesen. So glaubte Ende der neunziger Jahre jeder, die als Privatisierung bezeichnete "Große Kuchenverteilungsaktion" sei vorüber. Doch dann zeigte die "zweite" FIDESZ, dass es auch in der letzten Phase der Privatisierung noch etwas zu verteilen gibt und wie man sich die "Große Verteilungsaktion", genannt öffentliches Auftragswesen, zum Klientelausbau zunutze machen kann. Die "dritte" FIDESZ wird daher ganz sicherlich für neue Überraschungen sorgen und im politische Leben neue radikale Veränderungen auslösen.

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Die neue ungarische Mehrheitsdemokratie

Die Meinungen über die FIDESZ-Welt und den Angriff an allen Fronten gehen in der ungarischen Politikwissenschaft weit auseinander und haben sich zu Kontrapunkten entwickelt. In der ungarischen Publizistik gilt als Gemeinplatz, dass die FIDESZ Kurs auf die Mehrheitsdemokratie genommen hat, womit die Frage Mehrheits- oder Konsensdemokratie in den Mittelpunkt des politikwissenschaftlichen Diskurses in Ungarn gerückt ist. In der üblichen Gegenüberstellung sind diese beiden Begriffe im Grunde genommen irreführend, denn verfassungsmäßig gibt es in Ungarn auf jeden Fall eine Art Konsensdemokratie. Die Frage ist nur, inwieweit sie sich etablieren konnte und in welche Richtung wir jetzt gerade gehen, ob wir sie ausbauen oder zerstören? Es sei also deutlich gesagt: Der Begriff Mehrheitsdemokratie in den hiesigen Debatten bedeutet eigentlich, dass sich seitens der FIDESZ Bemühungen um eine tatsächliche Abwendung von den Konsensstrukturen erkennen lassen, was jedoch noch immer weit von einer tatsächlichen Mehrheitsdemokratie entfernt ist. Gleiche Spannungen zeigen sich im Ausdruck Konsensdemokratie. Zwar ist das politische System Ungarns in seiner Grundstruktur konsensuell, doch kann deutlich erkannt werden, dass es noch bei weitem nicht vollständig ausgebaut ist. Deshalb wird dieser Begriff häufig im normativen Sinne benutzt. Im übrigen tragen die westeuropäischen Länder ausgeprägte Merkmale der Konsensdemokratie, denn der zunehmende Ausbau der Institutionen nach dem Prinzip der "checks and balances" (Gegenkräfte und Gegengewichte) ist zu einer allgemeinen Tendenz geworden. Haupttriebkraft dabei ist in Westeuropa die Europäische Union als die größte und höchstentwickelte Konsensdemokratie der Welt.

Zwei Sichtweisen der neuen ungarischen Mehrheitsdemokratie lassen sich unterscheiden:

  1. Ende der Demokratie: Nach Lengyel [László Lengyel, Zweitausend, in: Politisches Jahrbuch 2001, Ungarisches Zentrum für Demokratieforschungen, Budapest 2001] hat die Orbán-Regierung mit der völligen Zerstörung der Konsensdemokratie perfekte Arbeit geleistet: "Bis zum Ende des Jahres 2000 ist kein einziges unabhängiges staatliches Gegengewicht zur Regierung, wie Justiz, Notenbank, Kontrollgremien, Beaufsichtigung der Gesetzeseinhaltung oder Wettbewerbsaufsicht, übriggeblieben. Eine zivile Gegengesellschaft existiert auch nicht, weshalb sich der zivile Widerstand nur in passiven und Abstand haltenden Verhaltensweisen artikulieren konnte. Das wahre Gegengewicht zur Regierung ist – von ihrer eigenen Unbeholfenheit abgesehen – das Ausland, die globale Welt." (Seite 70)

  2. Der Sieger bekommt alles (The winner takes all): Genau das Gegenteil dessen ist für Tamás Fricz [Tamás Fricz, Die Orbán-Regierung – Versuch zur Stabilisierung der politischen Wende, in: Politisches Jahrbuch 2001, Ungarisches Zentrum für Demokratieforschungen, Budapest 2001] der Ausgangspunkt, und implizit auch zugleich der Schlusspunkt seiner Analyse: "Es kann die Frage gestellt werden, ob die von der FIDESZ angewendete unerbittliche und konsequente Praxis der Machtausübung, die sich dem Konsens gegenüber zwar nur selten offen zeigt, doch trotz aller Kritik der Opposition natürlich im Rahmen der demokratischen Rechtsstaatlichkeit bleibt, begründet ist. Darauf muss, geht man von der politischen Zielsetzung aus, zu der sich die FIDESZ bekennt, ganz gewiss mit Ja geantwortet werden." (Seite 78)

Die beiden Autoren beschreiben denselben Prozess, d.h. die vollständige oder teilweise Zerstörung des Systems der "checks and balances", mit negativem bzw. positivem

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Ansatz. Während László Lengyel ihn als Zusammenbruch der Demokratie bewertet, gilt er für Tamás Fricz als Auftakt zu einer neuen Demokratie, da, seiner Meinung nach, der "Vielparteienkonsens" gerade dem "übermächtigen Gegner" – namentlich der MSZP (Ungarische Sozialistische Partei) - zu Mitteln für die Wahrung seiner gesellschaftlichen Macht verhelfen könnte. Doch gerade das möchte die FIDESZ vermeiden, und deshalb kann sie auf keine andere Regierungsstrategie und keinen anderen Regierungsstil als in den letzten beiden Jahren zurückgreifen. Gemein ist den Überlegungen beider Autoren vor allem die These, dass die FIDESZ erreicht hat, was sie wollte, nämlich die vollständige Inbesitznahme der Macht. Diese Behauptung wäre allerdings auch dann noch stark zu bezweifeln, wenn die Institutionen mit Gegengewichtsfunktion vielleicht nur noch ein Schatten ihrer selbst, d.h., nur noch Phantome oder bloße juristische Fiktion wären. Um das völlige Verschwinden des Systems an "checks and balances" zu beweisen, bedürfte es natürlich auf beiden Seiten einer nuancierten Analyse – und keiner Schreckensbilder oder Wunschträume.

Denn es ist zu fragen, ob ein derartiger Umgang mit der "Mehrheit" im Zuge der Machtausübung noch "auf natürliche Weise" im Rahmen des demokratischen Rechtsstaates bleibt, bzw. welche Einschränkung der Gewalten mit Gegengewichtsfunktion zum "Zusammenbruch" der Demokratie führt. Wenn dieser "Mehrheitsweg" zu beschreiten ist, wer wird dann wohl diese Korrektur korrigieren, oder wird die gegenüber der "Übermacht" (der Sozialisten) erworbene neue "Übermacht" der FIDESZ mit all ihren Verzerrungen dann dazu da sein, sie für immer und ewig zu erhalten? Jede anständige Jakobinerdiktatur argumentiert mit einer historischen Mission und der Unhaltbarkeit der früheren Zustände für den Terror, schweigt sich aber darüber aus, wer sie zur Anwendung der "außerordentlichen Mittel" ermächtigt hat. Bei den Wahlen 1998 waren 8.062.708 Bürger wahlberechtigt, doch nur 56,26 Prozent (4.547.682 Personen) von ihnen machten auch tatsächlich Gebrauch von ihrem Wahlrecht. Auf der Parteienliste erhielt die FIDESZ 29,48 Prozent der Stimmen (1,340.826 Personen), während sie in den Einzelwahlkreisen im zweiten Wahlgang 37,90 Prozent der abgegebenen Stimmen (1.709.155 Personen) auf sich vereinigen konnte.

Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, wie viele Stimmen in der heutigen Welt als Legitimation für den Marsch in Richtung Mehrheitsdemokratie erforderlich sind. Kann eine geringe Minderheit anstelle der Mehrheit über die Errichtung irgendeiner gelinderten Form der "Jakobinerdiktatur" entscheiden? Reicht dazu die Unterstützung eines Viertels der Wahlberechtigten oder eines Drittels der Wahlgänger aus? Dies sind keine abstrakten, theoretischen Fragen und auch keine publizistischen Floskeln. Die Bedeutung der neuerlich großen Epoche in der Demokratieentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg liegt doch gerade darin, dass die Macht der einfachen Mehrheit, der sehr, sehr relativen kleinen Mehrheit auf die unmittelbaren Regierungsaufgaben beschränkt und die Entscheidung in substantiellen Angelegenheiten mit langfristigen Auswirkungen der großen Mehrheit anvertraut wird. Wenn ein Viertel der Wähler auch in den Fragen, die das Schicksal des Landes bestimmen, entscheiden könnte, würden wir den Weg für extremste Formen des politischen Voluntarismus freimachen, da sich alle vier Jahre alles verändern und damit die Demokratie aus ihren Angeln gehoben werden würde.

Hinter dem Anspruch der Mehrheitsdemokratie auf eine einfache "kleine" Mehrheit verbirgt sich noch eine andere zwar stärker nuancierte, aber doch genauso verfehlte "historische" Argumentation. Tatsache ist, dass der Systemwandel so lang halbherzig bleibt, bis nicht mindestens zwei alternative Eliten, die miteinander konkurrieren, die

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Bühne betreten. Hinter der Etablierung der zweiten Elite steht bei dieser Argumentation bereits eine "revolutionäre Legitimation", d.h., wir haben es hier mit einer Argumentation zu tun, der zufolge man die Macht der ersten oder einzigen Elite, die bereits in das neue System integriert ist, nicht mit den gewohnten demokratischen Mitteln brechen kann. Zu einem "wirklichen" oder vollständigen Systemwandel ist früher oder später Diskontinuität erforderlich, und zwar mit "revolutionären" Mitteln. Diese "historische" Argumentation besitzt einen rationalen Kern, denn die eigentliche Aufgabe des Systemwandels besteht in der Zerstörung "geronnener Strukturen". Zugleich verursachen "revolutionären" Veränderungen nach dem Prinzip "Der Zweck heiligt die Mittel" (wie der bereits erwähnte "Angriff an allen Fronten" im FIDESZ-Programm) mehr Schaden, als dass sie Nutzen bringen, denn sie führen zur Herausbildung und längerfristigen Verankerung neuer autoritärer Strukturen. Wenn jedoch Institutionen ohne jegliche äußere Kontrolle geschaffen werden können, so werden alle verfehlten Schritte von vornherein unter Berufung auf die Konfrontation mit der dämonisierten Vergangenheit geheiligt. Es entsteht eine unbrauchbare neue Struktur, während die alte erhalten bleibt und sogar Modellwert gewinnen kann. Im Klartext bedeutet das: Es ist von großem Übel, wenn alles von persönlicher Zuverlässigkeit und kurzfristigen Machtinteressen des Klientelausbaus diktiert wird. Der gleiche politische Voluntarismus kann jedoch auch Strukturen sprengen oder einschränken, die er eigentlich erhalten und weiterentwickeln müsste, wie z. B. das Amt des Ombudsmanns.

Letztendlich besteht zwischen den Autoren Übereinstimmung in der Frage, dass in Ungarn – um etwas mit den Worten zu spielen - eine "Konfliktdemokratie" herrscht, deren Charakterisierung durch Tamás Fricz äußerst präzise ist und sich hie und da sogar auf den bereits zitierten Satz von László Lengyel reimt: "Die Orbán-Regierung hat sich klar und eindeutig für die Umsetzung des Mehrheitsdemokratiemodells entschieden. Dies zeigt sich u.a. in der Konzentration von Regierungsinstitutionen (in der Errichtung des Kanzleramtes), in der zeitweisen Umgehung von konsensbedürftigen Zweidrittelmehrheitsgesetzen, in der Vielzahl von personellen Veränderungen, in einem sehr energischen und entschlossenen politischen Stil, der Debatten nicht beschwichtigt, in einer Unerbittlichkeit, die die Opposition irritiert, in einer Strategie, die nach Dominanz in Fragen von öffentlichem Interesse, seien sie politischer und sonstiger Art, strebt, usw." (Seite 86). Diese Beschreibung würde durchaus auch László Lengyel ausreichen, um die von ihm genannten "verlorenen Illusionen" zu untermauern bzw. um den Schluss zu ziehen, dass die Regierung "ein System der Sieger konstruierte, mit dem sie sich langfristig zur Niederlage verurteilt hat." (Seite 73) Fricz meint dagegen, "der Konflikt bleibt, und die Demokratie bleibt auch", weil sich seiner Meinung nach die Orbán-Regierung parallel dazu auch um "Schritte, die für den Konsens unentbehrlich, für alle annehmbar und von Symbolkraft sind, sowie um die Schaffung gewisser demokratischer Traditionen, die zu den Grundlagen für einen sich langsam herausbildenden Konsens werden können", bemühe. Damit sind wir wieder an der Stelle, an der das grob ein Viertel an "nationalen Jakobinern" die orientierungslos herumirrende Mehrheit nach eigenen Vorstellungen zu formen, und wie Fricz schreibt, eine neue Tradition zu schaffen versucht, d.h., sich selbst als Zukunftsmodell präsentieren will. "Die Frage ist demnach, welche Bemühungen der Orbán-Regierung wohl zu einer Traditionsgrundlage in Ungarn werden – die um Verschärfung der Konflikte oder die um Schaffung eines nationalen Konsenses?" (Seite 88) Realistisch ist aber auch die Frage, die László Lengyel stellt, ob nämlich das "System der Sieger" als Ausdruck der schrankenlosen Gier des Gewinners die heutigen Sieger längerfristig nicht zur Niederlage verurteilen wird?

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Gegen Ende der Regierungsamtszeit stellen sich somit auf beiden Seiten eine Reihe realistischer Fragen, obwohl beide Gedankengänge jedoch mehr Fragen aufwerfen als lösen. Ist es einerseits wohl möglich, dass nur wir Ungarn durch irgendeinen uralten Fluch zur Mehrheitsdemokratie verurteilt sind, obwohl jedes westliche Land in die entgegengesetzte Richtung geht? Andererseits muss man sich fragen, wie László Lengyel meint, ob demokratische Institutionen so schnell und so gründlich, fast schon wie in einem Triumphzug, zerstört werden können, wie László Lengyel meint? Wenn sich im Ergebnis einer sorgsamen und nuancierten Analyse jedoch herausstellen sollte, dass diese höchstens nur verletzt und in ihren Kompetenzen eingeschränkt wurden, kann man dann nach so vielen Einschränkungen und Verzerrungen schon von einem Zusammenbruch der Demokratie reden, wohl wissend natürlich, dass wahre Demokratie ohne ein ausgedehntes System an Gegengewichten zur Regierung nicht existiert? Trifft dieses Vorwärtsdrängen der FIDESZ tatsächlich nur noch auf äußere Schranken, oder sind auch noch interne Schranken übriggeblieben, vielleicht sogar über "checks-and-balances-Institutionen" hinaus, sagen wir in der "Gegengesellschaft", den Gebietskörperschaften und Zivilorganisationen?

Fest steht, dass die alte Elite immer nörgelt, wenn eine neue alternative Elite auftaucht und sich zu formieren beginnt. Diese neue Elite ist, wenn sie sich etabliert, immer aggressiv, oder zumindest ohne Manieren. Den Emporkömmlingen mangelt es an Selbstvertrauen, ihre Aggressivität entspringt der Schwäche und verschwindet, sobald sie sich konsolidieren. Das Erscheinen einer neuen Elite ist also unvermeidlich, nur muss für sie ein hoher Preis gezahlt werden. Gäbe es die FIDESZ nicht, so müsste sie tatsächlich erfunden werden, nur vielleicht nicht als politische Kommandoeinheit für Bereicherungsaktionen. Es ist zwar nicht die Schuld der FIDESZ, dass die Opposition kaum zur Schadensbegrenzung imstande war. Dennoch muss nun gegen Ende der Regierungsamtszeit endlich mit der Feststellung der angerichteten Schäden während der vierjährigen Regierungszeit der zweiten FIDESZ begonnen werden.


Ungarns Demokratie: defekt oder nur defizitär?

Für zahlreiche verbitterte Intellektuelle mag es zwar traurig klingen, doch nach Meinung der Mehrheit herrscht in Ungarn Demokratie, und die Menschenrechte werden geachtet. Zugleich trifft aber auch zu, dass die Menschen mit dem Demokratieumgang und den Perspektiven für ihre Weiterentwicklung unzufrieden sind. Die österreichischen Politologen Fritz Plasser und Peter Ulram [Peter Ulram, Fritz Plasser, Mainly sunny with scattered clouds: Political culture in East- Central Europe, in: Attila Ágh (ed.), Prospects for democratic consolidation in East-Central-Europe, Manchester University Press, Manchester 2001] haben die politische Kultur der mittelosteuropäischen Länder einer Analyse unterzogen und dabei zwischen zuversichtlichen und besorgten Demokraten unterschieden. In Ungarn gehörten 1999 47 Prozent der Befragten zur ersten und 25 Prozent zur zweiten Gruppe. 2001 würden sie sicherlich mehr besorgte Demokraten finden, gibt es doch zweifelsohne ausreichend Grund zur Besorgnis.

Frühere Arbeiten der oben genannten Autoren beinhalten auch detaillierte Angaben und zusammenfassende Tabellen zum Kontrast zwischen der Akzeptanz der Demokratie einerseits und der Unzufriedenheit über den Umgang mit ihr andererseits. Nach ihren Angaben vertraten in den neunziger Jahren 60-70 Prozent der Ungarn die Meinung, im Lande herrscht Demokratie, die auch von ihnen unterstützt wird, und nur 20-30 Prozent

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waren mit deren Handhabung zufrieden. In anderen mitteleuropäischen Ländern fällt dieser Kontrast nicht so groß aus, da die Erwartungen bescheidener sind. Die Zufriedenheitsrate erreicht dort 30-40 Prozent. In der gesamten Europäischen Union als einem Bund aus entwickelten Demokratien liegt dagegen dieser Wert bei über 50 Prozent. In Meinungsumfragen wird diese Zweiseitigkeit, d. h. die Befürwortung der Demokratie und die Unzufriedenheit über den Umgang mit ihr, klar und deutlich bestätigt. Einer Umfrage von Modus [Die Daten stammen aus Meinungsumfragen der Meinungsforschungsinstitute Szonde Ipsos und Modus, veröffentlicht in: Politisches Jahrbuch Ungarns 2001, Ungarisches Zentrum für Demokratieforschungen, Budapest 2001] zufolge beklagten sich selbst im Jahr 2000 noch 65,9 Prozent über die Entwicklung der Demokratie, nur 27,8 Prozent waren zufrieden und 6,4 Prozent unsicher.

In der an gleicher Stelle erschienenen Umfrage von Sonda Ipsos wird auch auf das Warum eine Antwort gegeben. So sieht die Öffentlichkeit eine Kluft zwischen den Angelegenheiten, mit denen sich die Regierung befasst, und denen, mit denen sie sich ihrer Meinung nach befassen sollte. Am größten ist die Kluft zwischen den Erwartungen der Öffentlichkeit und der Regierungstätigkeit im sozialen Bereich (63-20, Kontrast -43), im Gesundheitswesen (47-11, Kontrast -36) und in der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (56-28, Kontrast -28). (Die ersten zwei Zahlen stehen für die Häufigkeit der Nennung in Prozent und die dritte Zahl ist die Differenz zwischen den ersten beiden). Ganz typisch handelt es sich hierbei um eine Frage des Vertretungsdefizits, denn, wie die Zahlen zeigen, beschäftigt sich die Regierung nicht mit dem, wofür sie gewählt wurde. Und obwohl die Harmonie nirgendwo vollkommen ist, stellt eine Divergenz dieser Größenordnung bei uns bereits eine ernsthafte Warnung an die Regierung dar, die ihr sagt, dass sie sich vom den Auftrag der Bürger losgelöst hat.

Grundfrage der Demokratisierung ist, ob mit dem Abbau der autoritären Strukturen eine defekte Demokratie, für die in Osteuropa Dutzende von Beispielen zu sehen sind, oder eine nur defizitäre Demokratie westlichen Zuschnitts entsteht. Keine Demokratie ist ohne Fehler, und doch gibt es enorme Unterschiede hinsichtlich ihrer Mängel, denn zur Zeit der globalen Demokratisierungswelle reicht die Bandbreite von Scheindemokratien, die die steifen und autoritären Strukturen schützen, bis hin zu reifen und ständig erneuerungsfähigen Demokratien. Natürlich sind die defekten und defizitären Demokratien nur theoretische Pole, und wie eng sich die Mängel und verschiedenen Schwächen eines demokratischen Systems in der Politik eines Landes miteinander verknüpfen können, zeigen die Beispiele Kroatiens und der Slowakei auf recht anschauliche Weise. Vorübergehend weisen alle jungen Demokratien kleinere oder größere Verletzungen auf, die jedoch langfristig heilen, sofern die Ursachen keine tiefliegenden genetischen Defekte sind. Selbst in einer reifen Demokratie kann es vorkommen, dass demokratische Grundsätze schwer verletzt werden oder einzelne Institutionen antidemokratisch agieren. In solchen Fällen greifen dann jedoch Korrekturmechanismen ein und stellen die demokratische Ordnung wieder her – bis zur nächsten Verletzung. In Weißrussland wird die Demokratie nicht nur hie und da, sondern ständig verletzt, weil sie von vornherein mit grundlegenden genetischen Defekten entstanden ist, wofür sich auf dem Balkan in etwas gemäßigterer Form reichlich Beispiele finden lassen.

Alles in allem versinnbildlicht die defekte Demokratie empirisch die tiefen Wunden der verschiedenen Sphären in den entstehenden Demokratien und systemtheoretisch den

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Irrweg und Abfall des Demokratisierungsprozesses. Demgegenüber zeigt die defizitäre Demokratie die Engpässe und inneren Widersprüche entwickelter demokratischer Ordnungen auf. Als Grundtyp und Irrweg lässt sich eine defekte Demokratie zwar korrigieren, hat aber auch dann langfristige Folgen, während die kleineren Defekte, die in jungen Demokratien übergangsbedingt entstehen, schnell behoben werden können. In der internationalen Politikwissenschaft dienen diese beiden begrifflichen Analyseinstrumente dazu, Ordnung in der Vielfalt der Demokratieformen zu schaffen, da heute so gut wie jedes Land mit dem Anspruch auftritt eine Demokratie zu sein oder sich zumindest eine demokratische Fassade gibt, um das autoritären System zu verschleiern. Meiner Ansicht nach ist die Demokratie Ungarns, was das Wesentliche anbelangt, nicht defekt, selbst dann nicht, wenn sie eine Reihe von defekten Zügen aufweist. Hinzu kommt, dass sich in ihr bereits einige typische Merkmale für eine defizitäre Demokratie erkennen lassen. Mit anderen Worten entwickelt sich in Ungarn eine wirkliche Demokratie mit allen schweren Kinderkrankheiten und auch schon den absehbaren "Erwachsenenkrankheiten" westlicher Art. Zwar war die FIDESZ fleißig um eine Mehrung der Defekte und Sondierung der Demokratiegrenzen bemüht, doch hat sie weder Typ noch Grundstruktur der ungarischen Demokratie verändert, d.h., das Land nicht in eine defekte Demokratie verwandelt, obwohl der Demokratie als solcher in vielerlei Hinsicht schwere Verletzungen zugefügt wurden. Die gegenwärtige Regierung hat auch das Demokratiedefizit im Hinblick auf Repräsentanz und Partizipation erheblich erhöht, am meisten im Bereich des Defizits politischer Öffentlichkeit. Sie schlug sich einen schmalen Pfad in den Grenzgebieten der Demokratie, vermied jedoch eine Entwicklung wie im Fall der Slowakei mit dem Extremismus à la Meciar.

In Ungarn liegt die erste große Welle an institutionellen Reformen im Zuge der Demokratisierung, die ein ganzes Jahrzehnt andauerte, bereits hinter uns. Heute bietet sich ein Gesamtbild, das mit dem Ausdruck "asymmetrische und fragmentierte Demokratie" und einer auf halbem Wege eingestellten und zwiespältigen Institutionalisierung beschrieben werden kann. Asymmetrische Demokratie bezeichnet hier den Zustand, dass die gut ausgebaute Makropolitik in scharfem Kontrast zur Mesopolitik, sprich zur ungenügenden Herausbildung der Mitte, steht. Historisch gesehen erfolgt die Umwandlung der Makropolitik notwendigerweise immer vor der Entstehung meso- und mikropolitischer Strukturen und setzt zugleich einen weiteren Ausbau des institutionellen Gefüges voraus. Dieser Prozess ist bei uns jedoch ins Stocken geraten: die institutionelle Mitte ist größtenteils aufgrund des Widerstandes durch die Akteure der Makropolitik, und hier vor allem der Regierungen, unentwickelt und unvollendet geblieben. Aber auch die Makropolitik selbst ist widersprüchlich geraten. So bezeichnet der Begriff "fragmentierte Demokratie" doch gerade die Zersplittertheit der makropolitischen Institutionen, durch die sich die Funktionen der verschiedenen Institutionen überlappen. Ein Beispiel dafür sind die ständigen Streitigkeiten zwischen dem Verfassungsgericht und dem Amt des Ombudsmanns. Der Regierung verschaffen diese Widersprüche in der asymmetrischen und fragmentierten Demokratie die Möglichkeit, immer weiter nach vorn zu drängen und eine übermächtige Position zu erlangen. Und von dieser Möglichkeit hat die Orbán-Regierung auch Gebrauch gemacht. Der Reihe nach hat die FIDESZ die demokratischen Institutionen, die als Gegengewicht fungieren, getestet und dabei mit Geschick heraus-

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gefunden, wie sie statt eines frontalen Zusammenstoßes durch Schlupflöcher umgangen, neutralisiert und umgedeutet werden können. [Vgl.Attila Agh , Early Consolidation and Performance Crisis: The Majoritarian-Consensus Democracy Debate in Hungary, in: West European Politics , Juli/2001 sowie András Körösényi, Elnöki demokrácia felé (Hin zur Präsidialdemokratie), in: Heti Válasz vom 27. April 2001)]


Dezentralisierung versus Präsidialisierung

Zunächst ist festzustellen, dass im Zeichen der asymmetrischen Demokratie ein zwiespältiges und mit Mängeln behaftetes Institutionsgefüge entstanden ist, vor allem in der "Mitte". Lang wäre eine Liste mit fehlenden Institutionen. Schmerzhaftester Mangel ist die "fehlende Mitte" selbst, was sich als Schwäche bei der Errichtung von Institutionen für den sozialen Dialog und die Vertretung der Regionen, sprich: der regionalen Interessen, erweist. Aufgrund dessen sind die Gemeinde- und Komitatsebenen von vornherein mit Defekten entstanden und agieren seitdem disfunktional. Von besonderer Bedeutung ist die institutionelle Mitte deshalb, weil hier der Mangel an Institutionen und defekte Institutionen aufeinander treffen, d. h., dass hauptsächlich durch das Fehlen bestimmter Institutionen auch die existierenden Schaden genommen haben. Die Mängel und Verletzungen des institutionellen Gefüges sind natürlich die unmittelbaren Ursachen für deren geringe Effizienz und Disfunktionalität. Mit der neuen demokratischen Verfassung wurde durch die Erklärung der Gebietskörperschaften zu einer selbständigen Gewalt zwar ein duales Institutionsgefüge geschaffen, doch die Trennung von zentralstaatlicher und kommunaler Verwaltung wurde noch nicht einmal formell vollständig vollzogen, ganz zu schweigen von der inhaltlich-substantiellen Trennung, die kaum begonnen hat. Der wichtigste demokratische Grundsatz besagt, dass der Staat in allem, d. h. uneingeschränkt, Zuständigkeit besitzt, er aber in all diesen uneingeschränkten Fragen nur beschränkt entscheiden kann, weil er durch die institutionellen Schranken der "checks and balances" gebunden ist. Demgegenüber kann die kommunale Sphäre in einem beschränkten Bereich uneingeschränkt entscheiden, d. h., sie ist in ihrer eigenen engen Sphäre mit "eigenmächtigen" Entscheidungskompetenzen ausgestattet und unterliegt mit ihren Entscheidungen nur einer formalen gesetzlichen Aufsicht.

Eine prägnante Zweiseitigkeit lässt sich ebenfalls bei der Umgestaltung der staatlichen Sphäre beobachten.

  • Einerseits spielte in Ungarn die Staats- bzw. Regierungssphäre eine bedeutende Rolle bei der Steuerung der Makroprozesse und beim Umgang mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen, obwohl, und nicht weil, alle drei aufeinanderfolgenden Regierungen nach einer Rezentralisierung strebten. Zugleich haben sie die Entwicklung einer Mesostruktur blockiert - die FIDESZ hat sie geradezu zerstört -, was zwar ernsthafte Störungen verursachte, aber alles in allem waren diese beiden Ebenen doch Schauplätze eines funktionsfähigen Krisenmanagements durch die Regierung.

  • Andererseits jedoch hat der Staat die Gewalt über die Mikroprozesse Anfang der neunziger Jahre verloren und sie bis heute noch nicht wieder völlig zurückgewonnen. Dies zeigt sich in der sowohl formal und als auch substantiell verstandenen Rechtssicherheit gleichermaßen. Die formale Rechtssicherheit bedeutet das Vorhandensein und die Einhaltung von formalen Regeln, und die substantielle, ob diese Strukturen de facto ihrem ursprünglichen Inhalt entsprechend funktionieren und damit – aufbauend auf einer rationalen Vorhersehbarkeit der Folgen – eine wirkliche, tatsächliche Rechtssicherheit entstehen kann. Zur forma-

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    len Rechtssicherheit ist vor allem eine Erhebung, d. h., die Sammlung einer ganzen Reihe von Basisdaten in allen betroffenen Sphären der Gesellschaft erforderlich, denn Anfang der neunziger Jahre brach die Selbstkenntnis der Gesellschaft, ihr aus einer Vielfalt geordneter Daten bestehende Kataster, zusammen. Bis heute gibt es keine angemessene Datenverwaltung, wie z. B. ein vollständiges und aktualisiertes Firmenregister oder ein geordnetes Grundbuch. Genauso fehlen auch ein Personenregister von Konkurs gegangenen Firmen und eine zentrale Nachweisführung darüber, wer wo und wie viel Sozialhilfe empfangen hat. Das war einer der Gründe für die überaus häufigen Fälle von betrügerischem Konkurs und Steuerhinterziehung sowie für eine ganze Reihe von institutionalisierten Missbräuchen. Allein schon zur formalen Rechtssicherheit wäre eine laufend aktualisierte Nachweisführung erforderlich, die die reale Lage bei aktivem Datenschutz und unter Einhaltung eines strengen Verkaufsverbots von Adresslisten zu Werbezwecken widerspiegelt. Zur tatsächlichen Rechtssicherheit wären dagegen effizient und schnell arbeitende demokratische Institutionen, so insbesondere ein dem entsprechendes Rechtssystem, notwendig, da dessen Fehlen wohl einer der Hauptgründe für die Unzufriedenheit mit der Demokratie ist. In dieser Hinsicht hat die FIDESZ-Regierung mit der Verdrängung und zeitweilig schweren Verletzung des Gefüges an "checks and balances" die defekten Züge der ungarischen Demokratie nicht vermindert, sondern in ihrem Streben nach der Mehrheitsdemokratie geradezu verstärkt.

Die Defekte der ungarischen Demokratie verdichten sich immer mehr, und ihre schweren Wunden manifestieren sich summiert in der "Präsidialisierung", mit anderen Worten, in der Regierungsstruktur oder dem Regime á la FIDESZ mit Tendenz zum Präsidialsystem. Das deutsche Kanzlersystem setzt prinzipiell eine stärkere und auf eine einzige Person konzentrierte Exekutive voraus, d. h., es trägt die Möglichkeit einer Übermacht des Regierungschefs in sich. Dazu müssten jedoch die "checks and balances"-Institutionen geschwächt und in den Hintergrund gedrängt werden, und zwar zuallererst auf Regierungsebene durch eine Übermacht des Ministerpräsidialamtes (sprich: Kanzleramtes), die weit über die nötige Koordinierungsfunktion hinausgeht und sämtliche Akteure der Regierung sowohl personell als auch öffentlich-politisch vom Ministerpräsidenten abhängig macht und in seine "Sekretäre" auf verschiedenen Ebenen verwandelt. Daraufhin kann dann die Regierungsübermacht mit Hilfe der Machtkonzentration in der Kanzlei auch gegenüber den anderen Gewalten gefestigt werden. In diesem Prozess erfuhren alle Kontrollinstitutionen eine Abwertung, was sich besonders spektakulär im Falle des Parlaments zeigte. Die FIDESZ-Regierung führte ständig einen verbitterten Kampf gegen alle anderen Gewalten und engte mit Erfolg deren Wirkungsbereich in der Praxis ein. Abschließendes Moment ist die Ausnutzung der Möglichkeiten in der Mediendemokratie zur Machtkonzentration, wie das auch in Westeuropa mit der Einschränkung der Fall ist, dass dort deren verzerrende Wirkung weniger zur Geltung kommt, weil diese sich in gereiften Demokratien mit den beiden anderen, oben genannten Faktoren nicht verknüpfen kann. So trägt die Mediendemokratie verstärkt dazu bei, die Persönlichkeit der führenden Politiker und die des Politikers Nr. 1 in den Vordergrund zu rücken. Auf eine letztendlich für die Gesellschaft auch äußerlich wahrnehmbare Weise summiert und äußert sich bei uns das Streben nach "Präsidialisierung", nach der "Führerrolle", hierbei am stärksten im Auftreten des Regierungschefs, in seinen "Präsidentengesten" wie dem Verlassen des Plenarsaals bei Parlamentsdebatten, dem bewusst gezeigten Schweben über der Politik und den jährlich außerhalb des Parlaments verkündeten "Präsidentenbotschaften" vor FIDESZ-Anhängern.

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Alles in allem besteht das größte Problem bei der paternalistischen Machtausübung, die sich in der Tendenz zur "Präsidialisierung" zuspitzt, darin, dass sie zu einer Reproduktion der früheren autoritären Strukturen mit ihren tiefsitzenden historischen Tendenzen und eingefleischten Reflexen führt, die sich gerade erst in den neunziger Jahren aufzulockern begannen. Mit anderen Worten werden, im Gegensatz zu ihren Behauptungen, die geronnenen Strukturen nicht zerstört, sondern erneut gestärkt. Währenddessen werden natürlich gewisse Positionen der früheren ersten und einzigen Elite tatsächlich zerstört, was sogar eine beschränkte historische Berechtigung und eine gewisse positive, vorwärtsweisende Bedeutung besitzt. Schon die Entstehung der ersten Elite war für die Bevölkerung mit viel Schmerz verbunden, und jetzt, nach zehn Jahren, müssen wir erneut das "Jammertal" durchqueren. Für die Europäisierung geht die größte Gefahr von den neuen autoritären und im Kampf gegen die Demokratie gestählten Strukturen aus. Größtes Hindernis für sie sind die EU-Vorschriften, die zugleich die Hauptgarantie für die weitere demokratische Entwicklung darstellen.


Die äußere Schranke – Was lässt die Europäische Union zu?

Nachdem die erste große Welle an institutionellen Reformen im Zuge der Demokratisierung vorüber ist, bestimmt nunmehr deren widerspruchsvolles Erbe unser Leben. In die EU passen wir auch so, mit auf halbem Wege eingestellter Institutionalisierung und unentwickelter institutioneller Mitte, hinein. Dessen ist sich die derzeitige Regierung bewusst, weshalb auch kein Zufall ist, dass sie sich allen Dezentralisierungsbestrebungen, so z. B. dem Beginn einer wirklichen Regionalisierung, widersetzt. Nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch auf Regierungsebene besteht bei uns der naive Irrglaube, dass eine Reform der Institutionen nur für den oder bis zum EU-Beitritt notwendig ist. Hier endet dann auch schon die Europäisierung, und das Faulenzen, das süße Nichtstun, kann beginnen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall, wie die Erfahrungen in neu aufgenommenen Ländern zeigen, weil die institutionelle Anpassung erst mit dem Beitritt beginnt. Noch mehr trifft dies auf die Osterweiterung zu, denn hier ist der Rückstand von vornherein größer. Zugleich verstärken sich auch die Nachteile eines späteren Beitritts: Je später nämlich der Beitritt erfolgt, desto schmerzhafter ist er und desto komplizierter wird die Eingliederung in das institutionelle Gefüge. Nach dem Prinzip der Mindestanpassung weiß die gegenwärtige Regierung sorgfältig zu trennen, was für die EU unbedingt zu tun und was nur wünschenswert, doch (noch) nicht verbindlich ist. Die Regierung macht diese Unterscheidung auch, weil sie die gesellschaftlichen Akteure noch nach Belieben schwächen und/oder zur Klientel formieren kann. Und wenn sie sich denn doch mit ihnen einigen muss, dann kann sie dies unter viel günstigeren Voraussetzungen tun.

Nach dem Beitritt wird auf alle Fälle eine zweite große Welle an institutionellen Reformen notwendig sein, denn ohne sie würden wir praktisch nur ein zweitklassiges, wettbewerbsunfähiges EU-Mitglied werden. Sollten wir nach 2002 "endgültig" den griechischen Weg des institutionellen Rückstands wählen, so werden wir das der FIDESZ, d.h. der Sackgasse der Mehrheitsdemokratie, zu verdanken haben. Die EU ist die größte Konsensdemokratie der Welt, die den Institutionen der Verhandlungsdemokratien zur Sicherung der wirtschaftlich-sozialen Wettbewerbsfähigkeit und effizienten politischen Partizipation den Vorzug gibt. Für uns heißt das, dass wir mit dem weiteren Marsch in Richtung Mehrheitsdemokratie den Misserfolg schon im Voraus buchen. Gerade die

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"softe" – d.h. nicht verbindliche, aber empfohlene – Anpassung und Übernahme der Institutionen ist die Hauptstoßrichtung der EU-Entwicklung und das Geheimnis des Erfolgs. Sehr deutlich zeigt sich dies auch darin, dass sogar die traditionellen Mehrheitsdemokratien, wie England, innerhalb der EU tiefgreifende institutionelle Reformen durchführen, weil sie keine Wettbewerbsnachteile erleiden und weder Einfluss noch Ressourcen verlieren wollen, oder dass Frankreich, das als klassisches Beispiel für eine zentralisierte Staatsverwaltung gilt, Regionen einrichtete, um an den politischen Ressourcen des Ausschusses der Regionen und den wirtschaftlichen Ressourcen der Strukturfonds teilhaben zu können.

Bei der zweiten institutionellen Reformwelle wird es vor allem um die Schließung der Lücke in der Mitte, d.h. um ein in vielerlei Hinsicht anderes Ungarn, um den Ausbau der Konsens- und Wohlstands-, sprich der sozialen Demokratie mit vielen Akteuren gehen. Es wäre kindisch sich die Europäische Union so vorzustellen, als würde sich ihr politisches Handeln auf die Ebene der Regierungschefs oder auf die wie breit auch immer verstandene politische Elite in den einzelnen Länder beschränken. Der wichtigste Begriff in der öffentlich-politischen Ordnung der EU ist nämlich "multilevel governance", das Regieren auf mehreren Ebenen, wo die Zentralregierung nur eine Etage darstellt und die Grundmauern des Gebäudes bis zu den Organisationen der Zivilgesellschaft reichen. Somit wird ein Land in der Größenordnung Ungarns etwa fünfzigtausend "Botschafter" haben. Die obenerwähnte Machtkonzentration in Form der eigenartigen "Präsidialisierung" á la FIDESZ stößt frontal mit dem EU-Grundsatz des weit gegliederten Regierens zusammen, da der alte Begriff der Innenpolitik in der EU völlig verschwindet. In ihrer gesamten vertikalen und horizontalen Struktur treten die Gesellschaften der EU-Staaten miteinander in institutionalisierte Verhandlungsbeziehungen. Und hier wird sich die größte Schwäche des ungarischen politischen Systems, oder dessen größter Engpass, auftun: die fehlende Mitte als schwerwiegendster Ausdruck der asymmetrischen Demokratie. Die großen gesellschaftlichen Akteure, wie die Kammern, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, Regionen und NGO-Zentralen, spielen im internen Leben der EU-Mitgliedsstaaten und auch in ihrem Umgang miteinander eine genauso wichtige Rolle wie die Zentralregierungen. Sie besitzen ein eigenes paralleles Regierungssystem, weil sich in der EU eine mehrschichtige horizontale Regierungsstruktur mit je einer zentralen Koordinierungsstelle, wie z. B. der Ausschuss der Regionen, auf den verschiedensten Ebenen und in den verschiedensten Formen des gesellschaftlichen Lebens herausbildet. Ohne legitime und wirksame gesellschaftliche Akteure droht uns in der EU ein Zustand der Gelähmtheit mit chronischer Unterrepräsentiertheit und einer Beeinträchtigung der nationalen Interessen, weil das überzentralisierte "Mehrheitssystem" Ungarns gerade eifrig dabei ist, diese ganz wesentlichen gesellschaftlichen Akteure aus den hiesigen öffentlich-politischen Entscheidungsprozessen auszugrenzen.

In jeder entwickelten Demokratie besitzt die institutionelle Mitte drei Dachorganisationen:

  1. Institutionen für den sozialen und zivilen Dialog,

  2. Regional- und Gebietsorgane sowie

  3. landesweite Dachorganisationen von öffentlich-politischen Gruppierungen, wie gemeinnützigen Vereinigungen oder nichtstaatlichen Organisationen (NGO), die auch als sog. "dritter" Sektor zwischen Regierung und Wirtschaft bezeichnet werden.

In der gegenwärtigen Situation hat die EU im Zuge der Beitrittsverhandlungen den formalrechtlichen Schein der Existenz dieser Dachorganisationen bei uns zwar akzep-

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tiert, deren tatsächliches Wirken aber schon mehrfach scharf kritisiert. Im Gegensatz dazu hat sie in der Frage der öffentlich-rechtlichen Medienaufsicht die verstümmelten Kuratorien selbst als formal berechtigte Gremien nicht mehr als existente öffentliche Institutionen hingenommen. Sie betrachtet sie vielmehr als "Scheinfirmen". In dieser Hinsicht erhob die EU bei der Bewertung inhaltliche Einwände, weshalb das 20. Verhandlungskapitel (Kultur und audiovisuelle Politik) bis heute nicht abgeschlossen wurde. Von den 12 Ländern, mit denen Beitrittsverhandlungen geführt werden, haben 10 dieses Kapitel bereits abgeschlossen. Mit Rumänien, dem einzigen Land, das außer uns dieses Kapitel zur "Freien Presse" noch nicht hat zum Abschluss bringen können, befinden wir uns nicht unbedingt in guter Gesellschaft. In dieser Frage hat sich die FIDESZ geirrt, weil sie die Konfliktduldungsfähigkeit der EU falsch einschätzte. Noch dazu könnte sich dieses 20. Kapitel, wenn dessen Abschluss auch längerfristig nicht gelingen sollte, als ein ernsthaftes Beitrittshindernis erweisen. Der Konflikt im Zusammenhang mit diesem Kapitel ist zugleich auch ein ernsthafter Hinweis darauf, dass es der gegenwärtigen Regierung an Kompromissbereitschaft fehlt, auf der die gesamte EU beruht und von der wir uns nun dank der von der FIDESZ angestrebten Mehrheitsdemokratie entfernen. Parallel dazu ist die Regierung zur Zeit der schwedischen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2001 in eine Falle geraten. Dank guten Willens und zum Preis großer Zugeständnisse wurden acht Kapitel abgeschlossen, was von uns zu Recht als Erfolg verbucht werden kann. Wenn sich jedoch der Beitritt, z. B. wegen Polen, hinauszögert und er am Ende des Jahrzehnts als "big bang", als großer Knall, mit acht bis zehn Ländern erfolgt, dann war es schade um die große Eile und die weitreichenden Zugeständnisse, wobei es jedoch nicht richtig wäre, diese zweifelhafte Lage der jetzigen Regierung anzulasten.

Auf der anderen Seite ist ein Konzentrieren auf die 31 Verhandlungskapitel auch irreführend, da die Hauptforderung der EU an die Beitrittsländer nicht nur in der einfachen Übernahme der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und der Rechtsvorschriften besteht. Viel wichtiger ist für sie eine wirksame Umsetzung der übernommenen Rechtsnormen und damit die Erhöhung der gesamten "administrativen Kapazitäten", d. h., ein effizientes Wirken aller demokratischen Institutionen, was eine breite Einbeziehung der Menschen und gesellschaftlichen Akteure voraussetzt. Doch gerade hier sind wir infolge der dauerhaften Tätigkeit der zweiten FIDESZ am schwächsten. Letztendlich stellt die EU der ungarischen Demokratie, die von zerbrechlichen Institutionen und deren "Gelenkerkrankungen" gebeutelt ist, den vollständigen institutionellen Ausbau der Konsens- oder Verhandlungsdemokratie und damit den Bedarf an einer Erhöhung und wachsenden Koordinierung der Institutions- und Organisationsdichte gegenüber. Die Forderungen der EU wirken in Richtung einer Erweiterung und symmetrischen Entwicklung der Institutionen, aber nur dann, wenn die betreffende Gesellschaft sich führen lässt. Dafür gibt es natürlich auch innerhalb der EU reichlich negative Beispiele, wie Griechenland, Portugal und Süditalien, die sich nicht so sehr haben führen lassen und auf ihrem Spaziergang hinein in die Sackgasse der Mehrheitsdemokratie den Rückstand "institutionalisierten".


Die innere Schranke – Auferstehung einer sich wehrenden Gesellschaft?

Ende der 80er Jahre habe ich die Frage der sich wehrenden Gesellschaft zum ersten Mal aufgeworfen, und jetzt, nach 15 Jahren, steht sie wieder auf der Tagesordnung. Schon damals haben viele gesagt, in Ungarn gäbe es keine Zivilgesellschaft, und wenn doch, dann ist sie zu schwach, zu unentwickelt und nicht fähig, sich zur Wehr zu setzen. Heu-

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te ist das Argument, es gäbe keine "Gegengesellschaft", nun wieder zu hören. Weitaus begründeter wäre es jedoch, anstatt der These über das ungarische Brachland, die Argumentation zu wählen, dass es eine sogar aktive Zivilgesellschaft gibt, die sich politisch deshalb nicht rührt, weil sie einfach keine Zeit dazu hat. Die Menschen werden von der Wende im eigenen Leben, von der ständigen individuellen Anpassung und der Sicherung des Lebensunterhalts dermaßen in Anspruch genommen, dass ihnen zur Partizipation am öffentlichen Leben und an der Politik einfach keine Kraft bleibt. Sollten sie doch einmal über die eigenen Alltagsinteressen hinausblicken, dann entsteht dort die Zivilgesellschaft nur, weil dort unmittelbare Gruppeninteressen in Form sich mehrender Organisationen wie viele Tausend kleine Vetopunkte, statt einiger Dutzend großer Vetopunkte oder eines einzigen großen Neins, artikuliert werden. Es gibt also schon eine "Gegengesellschaft", die in Form von etwa sechzigtausend gemeinnützigen und Stiftungsorganisationen existiert, nur ist sie viel ziviler und prosaischer, als dass sie den normativen und moralisierenden, von Politik durchdrungenen Erwartungen der Intellektuellen entsprechen könnte. Zahlreiche oppositionelle Intellektuelle können sich die Zivilgesellschaft nur in Gestalt von Großdemonstrationen der Demokratischen Charta vorstellen, obwohl die kräftig wachsende Zivilgesellschaft weit weniger romantisch ist und sich unter diesen Organisationen auch der reale Bedarf an einem zivilen Dialog stellt. In der EU wurden nicht nur die Institutionen des sozialen Dialogs als Rahmen für die funktionalen Interessenvertretungen, sondern auch die des zivilen Dialogs errichtet. Auch bei uns werden in dieser Hinsicht zwar gewisse Fortschritte gemacht, doch in bezug auf die landesweite Integration von Zivilorganisationen besteht noch immer großer Nachholbedarf.

Darüber hinaus kann auch festgestellt werden, dass sich die neue Zivilgesellschaft gegen die neue Marktwirtschaft organisiert, denn seit Károly Polányi wissen wir, dass die Marktwirtschaft aggressiv und nur dann akzeptabel ist, wenn sich die Gesellschaft mit entsprechenden Institutionen gegen sie wehren kann. Anstelle eines großen Netzes aus gesellschaftlichen Verteidigungslinien bauen sich die Menschen bei uns heutzutage noch viele kleine private auf, die jedoch nur vor Ort und zum Teil Schutz gewähren. Auf der anderen Seite sind die unzähligen kleinen Organisationen als dritter Sektor aufgrund ihrer Zersplittertheit noch weniger geeignet, sich dem "Mehrheitsstaat", der die Machtzentralisierung vollzieht, zur Wehr zu setzen. Und dabei müssten sich die Zivilorganisationen gerade heute nicht so sehr gegen die Willkür der Marktverhältnisse, sondern vielmehr gegen einen interventionistischen Staat, genauer eine Zentralregierung, die sich in die Wirtschaft, die Zivilgesellschaft und ins Privatleben hineindrängt und einmischt und einen wilden Kreuzzug für die religiöse Bekehrung führt, zur Wehr setzen.

Die eigentliche Schranke für die Fähigkeit der Zivilgesellschaft sich zur Wehr zu setzen, besteht jedoch nicht darin, dass sie organisatorisch gesehen noch fragmentiert ist, sondern vielmehr darin, dass der FIDESZ-Angriff an allen Fronten die gesamte Gesellschaft förmlich auf den Kopf gestellt hat. Durch ihn wurden die Lebenslage und Wertordnung von Hunderttausenden – und indirekt von Millionen – verändert, da sich die Formierung der Gegen- oder zweiten Elite auf sehr breite Schichten der Gesellschaft erstreckte. Ganz bewusst hat die FIDESZ die Strategie einer vergesellschafteten Staatspartei verfolgt, d.h., sie hat ihre Klientel in der ganzen Breite und Tiefe der Gesellschaft als ihre eigene, von oben organisierte Anti-Zivilgesellschaft ausgebaut. Dem Großteil der seit Anfang der neunziger Jahre gegründeten Scheinzivilorganisationen wurde, ganz im Einklang mit der Verkirchlichung des Staates, ein "christlicher" Name gegeben. Unter Führung der zweiten FIDESZ folgte tatsächlich ein umfassender "Angriff", denn Hundert-

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tausende, ja Millionen, wurden an der Umgestaltung beteiligt. Um es anders auszudrücken: Als Teil eines dynamischen Prozesses spaltete sich auch die heimische Zivilgesellschaft, und die FIDESZ nahe Hälfte Ungarns verwandelte sich in eine streng organisierte halbstaatliche Gesellschaft. Dieser Formierungsprozess, und die damit verbundene ideologische Verzauberung, war zwar nur partiell, von zeitweiliger Dauer und sehr brüchig, doch auf kurze Sicht sehr effektiv. Noch ist also die ungarische Gesellschaft keine wirklich sich wehrende Gesellschaft, weil sich ein Teil von ihr auf Seiten der FIDESZ gegen die frühere Verteilung von Macht und Vermögen "wehrt", genauer gesagt, dafür "zum Angriff übergeht" und erfolgreich an der staatlich gelenkten Neuverteilung teilnimmt. Sobald sie jedoch das, was ihr wirklich oder vermeintlich zusteht, erworben hat, wird sie das zunehmend auf europäische Weise nutzen wollen, und sie kann auch nicht anders, weil sie sonst in der EU alles verlieren würde.

Die staatlich organisierte Spaltung der Zivilgesellschaft erklärt auch, warum die Skandalpolitik die Menschen nicht stört, wie es Intelligenz und Presse erwarten würden. Die Menschen stören sich nicht daran, weil das Leben, das sie umgibt, schon allein ein schierer Skandal ist. Die Alltagsverhältnisse haben sich skandalös verändert, und deshalb empört es die Menschen kaum, wenn die Politik auf eigener Ebene das gleiche macht. Ursprünglich wurden zwar gesteigerte Erwartungen in die Politik gesetzt, aber das ist längst vorbei und ist sogar ins Gegenteil umgeschlagen. Nach den ersten Jahren der Wende fand eine Umdeutung des Demokratiebegriffs statt. Anfang der neunziger Jahre setzten die meisten Menschen die Demokratie einem schnellen Übergang zur Wohlstandsgesellschaft gleich. Heute hingegen bedeutet für sie Demokratie vielmehr die Einhaltung formaler Rechte und Spielregeln. Nach einem Jahrzehnt haben die Menschen die Existenz der formalen Demokratie und zugleich die moralzersetzende Wirkung der Großen Kuchenverteilung bzw. Rücksichtslosen Besitzergreifung, die mit der politischen Wende einhergingen, ebenso einfach zur Kenntnis genommen wie die Tatsache, dass alles Handeln des aktiven und erfolgreichen Teils der Gesellschaft von Aggressivität und Hemmungslosigkeit, die die FIDESZ auf klassische Weise verkörpert, bestimmt wird. Wenn dem sich über alle Regeln hinwegsetzenden Sieger im Geschäftsleben alles gehört, warum sollte es dann in der Politik nicht genauso erlaubt sein? Überaus augenfällig sind die erodierenden, moralzersetzenden Auswirkungen, die einerseits die Privatisierung und, parallel dazu, die Korruption sowie andererseits die Verknüpfung von Macht- und Wirtschaftsinteressen auf das Verhalten des Durchschnittsbürgers haben. Noch jahrzehntelang wird deren Einfluss auf die Politik und das öffentliche Leben bestehen bleiben.

Letztes Hemmnis auf dem Weg zu einer verstärkten Mobilisierung der Zivilgesellschaft und zur Auferstehung einer sich wehrenden Gesellschaft ist der Prozess der "Entzivilisierung". Durch die drastischen Finanzkürzungen im Gesundheits- und Unterrichtswesen nahmen Gesundheit und Bildungsstand der Zivilgesellschaft weit größeren Schaden als die der politischen Organisationen. Zu beobachten waren nicht nur eine starke Polarisierung, sondern auch allgemeine "entzivilisierende" Auswirkungen des Zusammenbruchs der öffentlichen Sphäre [Zsuzsa Ferge, Elszabaduló egyeblôtlenségel (Explodierende Ungleichheiten), Budapest 2001]. Schaden haben die Grundgewebe der ungarischen Gesellschaft - die Bildung, Gesundheit und vor allem die Kultur des Zusammenlebens - genommen, denn grobes, unzivilisiertes Benehmen ist zur Grundregel geworden. Die "Bürger" sehen, wie sich die unerbittliche Konfrontationspolitik des primitiven Markt-

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wettbewerbs auf die Politik überträgt und umgekehrt. Von allen Seiten her sind die Menschen umzingelt, es gibt keinen Ausweg und keine Kehrtwendung.

Im sich verschärfenden Konkurrenzkampf haben viele Politiker die "Kasperschule" erfolgreich absolviert. Mit viel Geschick machen sie sich zum Narren, indem sie sich eine neue Vergangenheit erträumen und von der Öffentlichkeit auch noch erwarten, dass sie diese akzeptiert. Jung und Alt drängen in der alternativen Elite, die sich heute formiert, mit dem Eifer von frisch Bekehrten empor, wobei von den neuen Gläubigen keine weltanschauliche Identifizierung, sondern Scheinheiligkeit erwartet wird. Für die Etablierung der neuen Elite ist das Durcheinander in der Wertordnung kein Hindernis, sondern vielmehr natürliches Terrain, denn es gilt, eine sehr breite und heterogene Schicht auf einmal anzusprechen und in eine dauerhafte Wählerbasis für die "Einheitliche Partei" – die neue nationalkonservative Sammelpartei nach dem Vorbild der heterogenen Herrschaftspartei zwischen den beiden Weltkriegen - zu verwandeln. Die FIDESZ wird durch die Zerstörung des kultivierten Zusammenlebens zum "Schmied des neuen Menschen", und es wird Jahrzehnte dauern, bis uns die EU wieder neu zivilisiert.

Nach fünfzehn Jahren sind wir an einem neuen historischen Wendepunkt angelangt, aber nicht wegen der Wahlen 2002. Jetzt wird sich tatsächlich entscheiden, wie die ungarische Demokratie aussehen wird, nicht nur politisch, sondern auch als "soziale Konstruktion". Obwohl sich heute ein politischer Kurs nicht mehr jahrzehntelang halten kann, wie zu Beginn der zwanziger Jahre, wird jetzt doch für längere Zeit entschieden, welche soziale Struktur die ungarische Demokratie annehmen wird. Der Rückzug des als Frühgeburt verspotteten Wohlfahrtsstaates hat ein volles Jahrzehnt gedauert, wobei sich der Staat in Wirklichkeit nicht zurückgezogen, sondern schlichtweg eine Flucht vom Terrain angetreten hat. In gewissem Sinne ist ein luftleerer Raum entstanden, und auch nach einem langen Jahrzehnt gibt es noch nichts, was ihn ausfüllen könnte. Diesbezüglich wird in den westlichen Gesellschaften die Selbstfürsorge zu Recht immer wichtiger, nicht so in Ungarn, wo die Mehrheit der Bevölkerung erst in ferner Zukunft die notwendigen Ressourcen dafür besitzen wird. Auf jeden Fall muss die öffentliche Sphäre umgestaltet werden, und zwar nicht nur auf Basis irgendeiner Sozial- oder Armenpolitik, sondern durch Investitionen in den Menschen, geleitet von der perspektivischen Logik der Bildung und dem optimalen Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten.

Ungeachtet aller Verletzungen der Demokratie ist demnach die Aufgabe der heutigen Zeit nicht hauptsächlich politischer, sondern gesellschaftlicher Art, denn ohne eine breite gesellschaftliche Partizipation kann die politische Demokratie an sich langfristig nicht konsolidiert werden. Die zivilisierte Gesellschaft europäischen Typs ist von Integrität, von einer starken inneren Kohäsion gekennzeichnet und besitzt inklusiven Charakter, d. h. sie schließt die Vielfalt der politischen und kulturellen Aktivitäten aller Bürger in sich ein. Dagegen ist die Übergangsgesellschaft, in der wir leben, noch immer von Ausgrenzung, Marginalisierung und Gettobildung geprägt. Selbst auf das Flaggschiff der Zivilgesellschaft, den gemeinnützigen Bereich, trifft dies oft zu, da er regional und gesellschaftlich betrachtet noch asymmetrisch ist, d.h. die Stärksten schützt und auch eine Rolle bei der Umgehung der Steuer spielt. Die traditionelle Solidarität ist zerbröckelt, eine neue Art gesellschaftlicher Solidarität ist vonnöten, mit all ihren symmetrischen Netzwerken, und das auch schon mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU. Abgesehen davon sind wir den materialistischen Bedürfnissen in die Falle gegangen, da den jungen Demokratien in den neunziger Jahren ein Armutszeugnis ausgestellt wurde und

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der frühere postmaterialistische Schwung durch die breite Verarmung einen Dämpfer erhielt. Egal, welch ernste Probleme es heute auch immer geben mag, die wirklichen Probleme sind die gesellschaftlichen. Deshalb ist das Programm für die "Wende zum Wohlstand", oder wie immer es genannt wird, auch heute so furchtbar aktuell.

Im allgemeinen beurteilt die Öffentlichkeit die aufeinanderfolgenden Regierungen nach deren politischem Kolorit und nicht nach der Reihenfolge ihrer Aufgaben, die von der jeweiligen Zeit bestimmt werden. Dabei haben Regierungen nicht nur politische Zyklen. Für sie lässt sich auch ein Zeitplan mit ihren aufeinander folgenden Aufgaben festlegen. Jede Regierung hat nacheinander ihre spezifischen Aufgaben zu lösen und ihre Sache zu machen. Die Sozialisten haben die Wirtschaftskrise gut gemanagt, waren aber zu eifrig mit der Schaffung der ungarischen Kapitalistenklasse befasst. Dahingegen hat die FIDESZ diese vier Jahre "privatisiert", d.h. meistens nur für sich genutzt, denn ihre Hauptregierungstätigkeit erschöpfte sich in der Etablierung der zweiten Elite und nicht in der Weiterführung der Reformen. Sie ist die Regierung der verpassten und versäumten Möglichkeiten und konnte im wesentlichen keine einzige der von der Zeit vorgegebenen Aufgaben, die auf sie von der Staatshaushaltsreform bis zum Gesundheitswesen gewartet hätten, lösen. Den Herausforderungen, die auf sie zukamen, hat sie sich nicht gestellt. Vielmehr hat sie sie am Ende der Regierungszeit als einen "Traum" geplant und an die nächste weitergegeben. In der Agitations- und Propagandamaschinerie der FIDESZ wurden die kleinen Ergebnisse hochgespielt, so wie jetzt im Falle der angeblich großzügigen Lohnerhöhungen, obwohl wir immer noch weit unter dem Durchschnitt in der Region liegen. Am Anfang der sozialen oder Wohlstandswende sollten wir wenigstens zu Polen und Tschechien aufschließen, weil derzeit bei uns die Löhne um immer noch 20-30 Prozent niedriger als in diesen beiden Ländern sind. Die FIDESZ tritt insofern das Erbe des MDF an, als sie für 2002, wie das MDF 1990, einen "leichten Traum verspricht".

Statt oppositioneller Dämonisierung und intellektuellem Geißeln müssen eine sich zur Wehr setzende Zivilgesellschaft und die EU gemeinsam die "dritte" FIDESZ zivilisieren, unabhängig davon, ob sie nun 2002 an der Regierung bleibt oder in die Opposition geht. Die Zukunft hat noch nicht begonnen, wie die FIDESZ in ihrem Wahlslogan verkündet, und die zweite FIDESZ gehört ganz gewiss noch zum letzten Aufzug der Vergangenheit. Beginnen wird die Zukunft erst, wenn wir endlich aus der Sackgasse der Mehrheitsdemokratie herausfinden. Wenn nicht, so wird auch uns innerhalb der Europäischen Union nichts anderes übrigbleiben, als den bei weitem nicht so sonnigen Weg Griechenlands oder Süditaliens zu gehen.


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