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Nächster Halt: Bagdad / [Michael Ehrke] - [Electronic ed.] - Bonn, [2002 - 2] Bl. = 20 KB, Text . - (Politikinfo / Internationale Politik-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT





Kein Vietnam am Hindukusch

Der schnelle und mit geringen eigenen Verlusten erfochtene Sieg der USA in Afghanistan übertraf alle Erwartungen. Die Erfahrungen der Sowjetunion wiederholten sich nicht, Afghanistan wurde nicht ein weiteres Mal zum Friedhof ausländischer Invasoren. Das Taliban-Regime ist zerstört, das Al-Qaeda-Netzwerk hat seine afghanische Basis verloren. Damit scheint der Afghanistan-Einsatz zwei „Lehren„ zu widerlegen, die Militärs, Politiker und Analytiker aus vergangenen Konflikten gezogen hatten:

1. Auch eine überwältigende militärtechnische Überlegenheit garantiert in Auseinandersetzungen auf fremdem Boden, insbesondere in Ländern der Dritten Welt, keinen Sieg. Eine technisch überlegene, aber nicht lokal verankerte, sondern als Invasor wahrgenommene Armee kann auch gegen militärisch schwache lokale Kräfte verlieren.

2. Mit einem nur oder in erster Linie aus der Luft geführten Krieg lässt sich ein entschlossener Gegner nicht unterwerfen.

Der Afghanistan-Krieg war ein aus der Luft geführter Krieg, unterstützt von kleineren Kommandoeinsätzen am Boden sowie den konventionellen Kräften der Nordallianz. Die Bomben, die die amerikanische Luftwaffe einsetzte, entsprachen in ihrer Zerstörungskraft taktischen Atombomben ohne radioaktiven Fallout. Der Nordallianz blieb es überlassen, die Ruinen zu stürmen und die demoralisierten Reste der Taliban-Kräfte einzusammeln. Wenn die Bombardierung intensiv genug ist – so die Lektion –, bedarf es nur geringer eigener oder verbündeter Kräfte am Boden, um den Gegner auszuschalten. Fazit: Ein Krieg kann mit geringen eigenen Verlusten geführt und gewonnen werden.

Gegen die These des schnellen Sieges wird eingewandt, dass zwar das Taliban-Regime entmachtet, der Friede in Afghanistan aber keineswegs gesichert sei. Der Machtbereich der international unterstützten Regierung Karzei reduziert sich de facto auf Kabul und Umgebung (oder nicht einmal das). Ein normaler Staat Afghanistan wird nur simuliert: In den Regionen hat die amerikanische Intervention wieder die Warlords an die Macht gebracht. Die ethnischen Spannungen sind nicht überwunden, der low intensity conflict ist vorprogrammiert. Auch die geschlagenen Taliban sind weiter aktiv. Der islamische Klerus, eine Stütze der Taliban, wurde vom Krieg kaum tangiert.

Doch es war nicht das Kriegsziel der Amerikaner, Afghanistan zu einem friedlichen, stabilen und demokratisch regierten Land zu machen. Kriegsziel war die Zerstörung des Taliban-Regimes, und dieses Ziel wurde erreicht. Wie und ob das Land in Zukunft regiert wird, ist Angelegenheit der Afghanen – wohlwollender Unterstützung wert, aber nicht mehr. Auch die Zerstörung einer Basis des Al-Qaeda-Netzwerks wurde erreicht, auch wenn Osama bin Laden nicht gefasst werden konnte. Im Krieg gegen den Terror wurde die erste Schlacht siegreich geschlagen, Afghanistan kann und muss abgehakt werden.


Die nächste Schlacht: Irak

Nach dem schnellen Sieg gegen die Taliban wird die einmal in Gang und – im Sinne der eigenen Kriterien – erfolgreich eingesetzte Militärmaschinerie kaum wieder angehalten werden, wird sich der „Krieg gegen den Terror„ nun nicht auf geheimdienstliche, diplomatische, finanzielle oder polizeiliche Maßnahmen in den 60 Ländern reduzieren, in denen Al-Qaeda aktiv sein soll. Ort und Zeitpunkt der nächsten Schlacht sind bereits gewählt. In der amerikanischen Regierung hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass Saddam Hussein das nächste target sein muss. Zwar wird der Krieg auch an anderen Schauplätzen weitergeführt – auf den Philippinen, möglicherweise im Jemen, im Sudan oder in Somalia –, hier geht es aber eher um Scharmützel, da konkrete Kriegsziele schwer zu definieren und sichtbare Erfolge kaum vorzuweisen sind.

Es gibt keine glaubwürdigen Hinweise, dass der Irak in irgendeiner Weise in die Terroranschläge vom 11. September oder in die Anthrax-Attentate verwickelt ist. Dies geben auch Vertreter der amerikanischen Regierung mehr oder weniger offen zu. Der Irak ist für die amerikanische Regierung ein Problem sui generis, zu dessen Lösung der 11. September und der Sieg in Afghanistan ideale Voraussetzungen geschaffen haben.

Die amerikanische Politik gegenüber dem Irak nach dem Golfkrieg ist – gemessen an den eigenen Zielen – gescheitert: Weder konnte Saddam Hussein an der Wiederherstellung der militärischen Kapazitäten des Irak gehindert werden, noch ließ sich das UN-Embargo gegen den Irak effektiv aufrechterhalten. Der Irak hat 1998 die UN-Inspektoren ausgewiesen, die das Potential zur Produktion von Massenvernichtungsmitteln untersucht hatten. Das Embargo wird zunehmend durchlöchert, die Auferlegung eines „smarten„ Embargos (höhere Durchlässigkeit der irakischen Grenzen für Lebensmittel, striktere Kontrollen militärisch nutzbarer Importe) ist im UN-Sicherheitsrat gescheitert. Die amerikanische Regierung befürchtet nun, Saddam Hussein könne sich in den Besitz chemischer, biologischer oder atomarer Waffen bringen – und damit die Kosten jeder künftigen Intervention in enorme Höhen treiben. Sie sieht sich unter einem doppelten Zeitdruck: Saddam Husseins Aufrüstungsbemühungen zuvorzukommen und das mit dem 11. September entstandene politische Klima auszunutzen, in dem eine militärische Intervention politisch (insbesondere innenpolitisch) möglich ist – und in dem der schnelle Sieg in Afghanistan zu einem zweiten Akt einige hundert Kilometer westlich geradezu drängt.

Eine Option der Politik gegenüber dem Irak ist gescheitert: Die Eindämmung durch die internationale Kontrolle der irakischen Waffenproduktion. Eine zweite Option – die Abschreckung – droht zu scheitern bzw. sehr kompliziert zu werden, wenn der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügt. Es bleibt eine dritte Option: Der Sturz Saddam Husseins und die Einsetzung eines kooperationsbereiten neuen Regimes. Zeitpunkt: Frühjahr oder Frühsommer 2002, wenn der Irak – womit man rechnet – ein Ultimatum zur Wiedereinsetzung der UN-Inspektoren ablehnt. Die Ansprache Bushs an die Nation und die Konstruktion einer „Achse des Bösen„ war bereits die inoffizielle Kriegserklärung an den Irak. Sollte sich der Irak allerdings anders als erwartet den UN-Inspektionen fügen, käme die amerikanische Regierung in Begründungsschwierigkeiten.

Ein Sturz Saddam Husseins würde in der Sicht der US-Regierung langfristig die Beziehungen der USA zur arabischen Welt entlasten. Ohne das Sicherheitsrisiko Saddam Hussein könnten die amerikanischen Truppen in Saudi-Arabien, deren Präsenz das saudische Regime dem Druck der islamistischen Opposition aussetzt, abgezogen werden. Die „Hüter der Heiligen Stätten„ des Islam könnten selbst für ihre Sicherheit sorgen. Zweitens könnte das Embargo, in dessen Folge sich – so die UNICEF – die Kindersterblichkeit im Irak dramatisch erhöht hat, aufgehoben werden. Die humanitären Kosten des Embargos waren und sind eine weitere dauerhafte Belastung der amerikanisch- arabischen Beziehungen.


Zwei taktische Optionen

Zur Erreichung des neuen Kriegsziels werden zwei Optionen erörtert. Die erste wäre die Wiederholung des Afghanistan-Erfolgs: Die amerikanische Luftwaffe bombardiert die Stellungen und Einrichtungen der irakischen Armee, die irakische Opposition übernimmt die Bodenoperationen und die Entmachtung Saddam Husseins. Dieses Szenario würde aller Wahrscheinlichkeit nach an zwei Faktoren scheitern. Zum einen ist die irakische Armee ein stärkerer und disziplinierterer Gegner als die Taliban. Sie verfügt über 400.000 Soldaten, darunter 100.000 Elitetruppen der Republikanischen Garde (Taliban: ca. 45.000), sowie – trotz Golfkrieg – 2.200 Panzer und 3.200 gepanzerte Fahrzeuge. Zum andern ist die irakische Opposition in jeder Hinsicht – vor allem militärisch – schwächer als die afghanische Nordallianz. Sie setzt sich zusammen aus einem Iraqi National Congress, einer Oppositionsgruppe mit Sitz in London, Damaskus und Teheran, die im Irak ohne Basis ist; zwei bewaffneten kurdischen Organisationen im quasi staatsfreien Nordteil des Landes, die sich gerne gegenseitig bekämpfen, und von denen man nicht weiß, ob sie außerhalb ihres Territoriums einsatzfähig wären; sowie schiitischen Milizen im Südteil des Landes, deren militärische Kapazitäten im besten Sinne zweifelhaft sind. Die afghanische Nordallianz dagegen war zwar den Taliban unterlegen, aber doch stark genug, um ihrem Gegner für sein Vorrücken einen hohen Preis abzuverlangen. Die Balance zwischen Nordallianz und Taliban war so beschaffen, dass der amerikanische Lufteinsatz als „Zünglein an der Waage„ wirken konnte. Dies würden die Kräftedifferenzen zwischen irakischer Armee und Opposition nicht zulassen.

Daher wird man wahrscheinlich auf die zweite Option zurückgreifen: Invasion des Irak mit amerikanischen Bodentruppen. Hierfür hält man 100.000 bis 200.000 Mann für notwendig und ausreichend (was den im militärischen Denken nicht Geschulten unklar bleibt: Warum 200.000 Mann ausreichen sollen, wenn im Golfkrieg mit seinem begrenzten Ziel 500.000 Mann notwendig waren). Eine Invasion birgt vor allem zwei Risiken: Wenn Saddam Hussein bereits über Massenvernichtungsmittel verfügt, würde er sie wahrscheinlich – anders als im Golfkrieg 1991 – einsetzen, da es um sein eigenes Überleben ginge. Zum andern könnte sich die irakische Armee in den Städten verschanzen und damit die technische Überlegenheit der amerikanischen Armee unterlaufen – und die Zahl der zivilen Opfer in astronomische Höhen treiben.


Nach Saddam?

Die Haltung der protestierenden Europäer ist für die US-Strategie belanglos. Wichtig sind die regionalen Bündnispartner, vor allem die Türkei und Saudi Arabien. Die Regierungen beider Länder fühlen sich von Saddam Hussein bedroht, aber noch mehr bedroht sehen sie sich von einem Machtvakuum, das sich mit dem Sturz Saddams auftun könnte – oder besser: von der Zementierung der gegenwärtigen Situation, in der der Norden und der Süden des Irak dem Zentralstaat de facto entzogen sind. Die ethnischen und religiösen inneren Konflikte der Türkei (Kurden) und Saudi Arabiens (Schiiten) könnten an Intensität gewinnen, wenn die intern als Minderheit bekämpfte ethnische oder religiöse Gemeinschaft im angrenzenden Irak über eine staatsähnliche Basis verfügt.

Der innerirakischen Opposition – den Kurden und Schiiten – dagegen wird gegenwärtig sein, dass sie im Golfkrieg 1991 von den Amerikanern zur Rebellion aufgerufen und dann im Stich gelassen und der Repression der irakischen Armee überlassen wurde. Alle drei potentiellen Bündnispartner (Türkei, Saudi Arabien, die Opposition) werden mit den USA nur dann kooperieren, wenn diese demonstrieren, dass sie fest zum Sturz Saddams entschlossen sind und hierfür auch eigene Verluste in Kauf nehmen.

Damit bleibt aber offen, wer die Nachfolge Saddams übernehmen könnte. Hofft man auf den deus ex machina einer putschenden Armee? Oder sollen sich zwei verfeindete kurdische Bürgerkriegsarmeen, schiitische Milizen, der bedeutungslose Iraqi National Congress und die Reste der Republikanischen Garde ohne Saddam in einer Art Petersberg II friedlich auf eine neue Regierung verständigen? Das heißt: Soll es Angelegenheit der Iraker bleiben, aus dem Irak nach vielen Jahrzehnten Saddam Hussein und drei Kriegen ein friedliches, stabiles und demokratisch regiertes Land zu machen?


„Hit and Run"

Die amerikanischen Strategen haben aus der eigenen Niederlage in Vietnam (und der der Sowjetunion in Afghanistan) Konsequenzen gezogen: Kriegsziele müssen so definiert sein, dass eine langdauernde und aufreibende militärische Präsenz im Kriegsgebiet nicht notwendig ist. Die dauerhafte Konfrontation mit einem militärisch schwächeren, aber lokal verwurzelten Gegner führt zur Abnutzung, auch zur moralischen und politischen Auszehrung. Es muss daher ausreichen, das als Gegner definierte politische Regime zu stürzen, es kann nicht mehr darum gehen, einem Land eine bestimmte dauerhafte politische Ordnung aufzuzwingen. Zur Zeit des sowjetischen Invasion Afghanistans war es Ziel der verdeckten amerikanischen Intervention– der Finanzierung und Bewaffnung der Mudjadehin, einschließlich der Al-Qaeda –, gewesen, die sowjetischen Truppen zu vertreiben. Als dieses Ziel erreicht war, überließ man „Afghanistan den Afghanen„ – also den Warlords, die man mit den Mitteln versehen hatte, sich gegen jede Friedenslösung zu behaupten. Die Warlords mochten eine Plage für ihr Land sein, international ging von ihnen – wie es schien – keine Bedrohung aus. Doch gerade die herbeigeführte Anomie bot einen idealen Nährboden für Organisationen wie die Taliban oder Al-Qaeda.

Eine vergleichbare Situation droht heute in Afghanistan und morgen im Irak einzutreten: Die Taliban sind zerschlagen, für die Ordnung auf dem Schlachtfeld haben andere zu sorgen; Saddam ist entmachtet, sollen die Iraker – oder die Europäer oder die UNO mit ihrem leicht bewaffneten Lazarettwägelchen – doch eine irakische „Loya Jerga„ einberufen, die den inneren Frieden sichert. Die amerikanischen Streitkräfte sind dann wahrscheinlich schon anderweitig gebunden.

Die amerikanischen Militärinterventionen stellen keine Stabilität in instabilen Regionen her, sondern wirken zusätzlich destabilisierend. Das Problem des amerikanischen Unilateralismus, der heute vor allem von den Europäern kritisiert wird, liegt nicht darin, dass die europäischen Bündnispartner mit Herblassung oder – schlimmer noch – Indifferenz behandelt werden (warum sollte es anders sein?), sondern darin, dass er unlösbare Problemlagen produziert, die dann doch multilateral (also von den Europäern, der UNO, den Japanern, einschließlich amerikanischer Beteiligung) gelöst werden sollen, aber nicht können, weil der Multilateralismus durch die amerikanische Strategie immer wieder unterlaufen wird. Kurz: Ein zentrales Problem der gegenwärtigen Weltordnung liegt darin, dass der mächtigste Akteur USA im Konfliktfall auf kooperative Lösungen nicht angewiesen ist, wohl aber multilateraler Unterstützung bedarf, um die von ihm selbst erzeugten Trümmer wegzuräumen.


Die Rolle der Europäer

Europäische Politiker – Joschka Fischer, Chris Patten, José Maria Aznar – haben die bevorstehende Militärintervention der USA im Irak und den in ihr zum Ausdruck kommenden Unilateralismus gegeißelt. Die amerikanische Antwort ist Indifferenz. Die USA brauchen die europäischen Bündnispartner militärisch nicht und können davon ausgehen, dass die Partner politisch auf den fahrenden Wagen springen werden, wenn die erste Schlacht erst einmal geschlagen ist.

Die amerikanische Regierung muss dagegen fürchten, dass sich der mit dem 11. September geschaffene antiarabische Konsens in den USA verbraucht, wenn ein Zusammenhang des Irak mit dem Terroranschlägen von New York und Washington nicht einmal mehr intuitiv erzeugt werden kann – wenn also die für die USA „existenzielle„ Dimension der Auseinandersetzung nicht mehr behauptet werden kann –, und wenn größere eigene Verluste eintreten.

Wenn die europäischen Staaten der „Koalition gegen den Terror„ beigetreten sind, um bei der amerikanischen Strategie ein Wort mitreden zu können, hat sich dies als Fehlkalkulation erwiesen. Der amerikanische Unilateralismus könnte nun den zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU nach dem 11. September entgegenwirken und dazu führen, dass sich die beleidigten Europäer wieder auf sich selbst konzentrieren. Vielleicht werden auch die Stimmen lauter, die die Stärkung der politisch-militärischen Handlungsfähigkeit Europas fordern, damit dem amerikanischen Unilateralismus ein Gegengewicht entsteht. Dass in absehbarer Zeit eine den USA ebenbürtige Großmacht Europa entsteht, ist jedoch weder realistisch, noch wünschbar. Statt dessen könnte die EU auch nach außen demonstrieren, dass ihre Schwäche – ihre Angewiesenheit auf kooperative Lösungen – in der heutigen Welt eine Stärke ist – und eher zu Konfliktprävention und Konfliktlösungen beiträgt als auf den ersten Blick erfolgreiche hit-and-run-Operationen.

Michael Ehrke


Friedrich-Ebert-Stiftung, 53170 Bonn, Fax: 0228-883 625, e-mail: ehrkem@fes.de


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