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Aus Sieg wird Niederlage : die Falle des Terrors / [Michael Ehrke] - [Electronic ed.] - Bonn, [2001] - 4 S. = 20 KB, Text . - (Politikinfo / Internationale Politik-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT





Zur Logik des Terrors

„Terror ist die Ermordung weniger, um vielen zu verstehen zu geben, dass sie als nächste dran sein könnten", so der israelische Experte Ehud Springzak. Für Staaten ist Terror – zum ersten Mal systematisch eingesetzt von Robbespierre – ein Instrument, dessen sich illegitime Regime bedienen, um ihre Macht zu erhalten, indem sie Angst und Schrecken verbreiten. Prinzip des Staatsterrors ist seine Willkür, er kann buchstäblich jeden treffen, völlig unabhängig von individuell zurechenbaren Handlungen, von Schuld, Gefährlichkeit o.ä.. Der Terror nichtstaatlicher Organisationen gegen Staaten/ Gesellschaften dient ebenfalls der Einschüchterung, bedarf aber, um wirksam zu werden, einer zusätzlichen Bedingung: Die bislang kaum verstandene Einzigartigkeit der Strategie von Terroristen liegt darin, dass sie ihr Ziel nicht durch ihre Handlungen, sondern durch die Reaktion auf ihre Handlungen erreichen". Diesen Satz schrieb David Fromkin bereits 1977 in Foreign Affairs. Fromkin erläutert seine These anhand mehrerer Beispiele, unter anderem der jüdischen Irgun Zvai Leumi und der algerischen FNL.


Terror und Kolonialmacht: Irgun Zvai Leumi

Ziel der Irgun Zvai Leumi war nach Ende des Zweiten Weltkriegs der Abzug der britischen Kolonialmacht aus Palästina. Ihre Taktik war die – immer vorher angekündigte – Sprengung repräsentativer Gebäude; die britische Militärmacht stand vor der Alternative, ihre Präsenz in Palästina drastisch zu verstärken, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bekommen, oder sich ganz aus Palästina zurückzuziehen. In einer Zeit, in der Großbritannien, wirtschaftlich und finanziell durch den Krieg geschwächt, gerade dabei war, seine Armeen weltweit zu demobilisieren, war es – so der Kalkül der Irgun – wenig wahrscheinlich, dass die Kolonialmacht ihre Militärpräsenz verstärkte. Der Kalkül ging auf. Großbritannien zog sich zurück, das Feld für den Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina wurde frei.

Obwohl erfolgreich, war die Strategie mit zwei Risiken verbunden. Ein Risiko bestand darin, dass die britische Militärmacht nichts tat, sich weder zurückzog, noch ihre Präsenz verstärkte. Irgun hätte weiter Gebäude in die Luft sprengen können – und kein anderes Ziel erreicht als Immobilienschäden. Zweitens ließ sich die ursprünglich angestrebte Politik, keine Menschen zu töten, vorhersehbar nicht durchhalten: Beim Anschlag auf das King David Hotel in Jerusalem starben fast 100 Unbeteiligte. Das Attentat hatte die Isolation der Irgun innerhalb der jüdischen politischen Gemeinschaft zur Folge und erlaubte später Ben Gurion, die Organisation zu zerschlagen.


Terror und Kolonialmacht: Die algerische FNL

Als der antikoloniale Kampf in Algerien ausbrach, gab es keine algerische Nationalidentität, an die die antikoloniale FNL hätte anknüpfen können; Algerien bildete weder eine historische, noch eine ethnische Einheit, arabische, berberische und französische Bevölkerungsgruppen lebten auf demselben Territorium, es war offen, in welche Richtung Einheitsbestrebungen führen würden. Das französische Projekt, Algerien – anders als die Protektorate Marokko und Tunesien – direkt zu einem Teil des Mutterlandes zu machen, hatte durchaus gewisse Chancen, verwirklicht zu werden. In dieser Situation führte die FNL in Frankreich und in Algerien Terroranschläge auf zivile Ziele – Cafés, Busse, Märkte usw. – durch. Diese Anschläge hatten keinen militärischen Sinn – die getöteten Zivilisten waren militärstrategisch bedeutungslos –, sie zielten ausschließlich auf die Reaktion des französischen Staates. Diese bestand in einer Reihe polizeilicher Gegenschläge, bei denen de facto alle Moslems als Verdächtige eingestuft wurden. Damit hatte die FLN die Konkurrenz um die Definition Algeriens im Grunde gewonnen. Die moslemische Mehrheit Algeriens fühlte sich aus der französisch dominierten Gemeinschaft ausgeschlossen und war für den Befreiungskrieg mobilisierbar. Die FLN hatte den französischen Staat gezwungen, in einer zunächst offenen Situation die Konfliktlinie, die Trennung von „wir" und „sie", so zu definieren, dass das Führen eines nationalen Befreiungskrieges möglich wurde.


Terror und Guerrilla

Fromkin weist auf den Unterschied zwischen der Strategie des Terrors und der der Guerilla hin. Der Guerrillero hat ein militärisches Ziel: Die militärische Macht des Feindes zu schwächen. E.T. Lawrence, der im arabischen Befreiungskampf die Eisenbahnverbindungen zu den türkischen Militärlagern sprengen ließ, wollte das türkische Militär nicht in Angst und Schrecken versetzen, sondern es von seinem Nachschub abschneiden. Im Gegensatz hierzu haben Selbstmordattentate palästinensischer Terroristen, die sich an dicht bevölkerten Orten, in Pizzerien oder Diskos in die Luft sprengen, nicht die geringste Auswirkung auf die militärischen Kapazitäten der israelischen Armee, so wie auch die über 5000 Toten in New York die Schlagkraft der amerikanischen Streitkräfte nicht im geringsten beeinträchtigen. Das Ziel derartiger Anschläge liegt nicht in ihnen selbst, sondern in der erwarteten Reaktion – des Staates, der Gesellschaft oder auch der internationalen Öffentlichkeit.

Der Terror verhält sich indifferent gegenüber seinen Opfern, er nimmt den Tod Unschuldiger und Unbeteiligter in Kauf. Er nimmt auch eine Spirale der Gewalt in Kauf. Einer Analyse der RAND Corporation zufolge ist die Zahl terroristischer Angriffe in den neunziger Jahren deutlich zurückgegangen, während die Zahl der Opfer derartiger Anschläge ebenso deutlich stieg. Eine Ursache hierfür ist die Abhängigkeit des Terrors von den Medien: Er muss immer neue „Aufmerksamkeitsrekorde" erzielen. Der Massenmord ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern ein (wie immer perverses) Mittel zu einem (wie immer perversen) Zweck.


Der 11. September:
Definition einer Konfliktlinie

Wie sind die Anschläge vom 11. September in diesem Zusammenhang zu beurteilen? Was immer die individuelle Motivation der unmittelbaren Täter war, die gesamte Aktion folgte, wenn sie denn dem Al-Qa’eda-Netzwerk zuzuschreiben ist, einem terroristischen Kalkül, das heißt auch hier lag das Ziel der Anschläge nicht in diesen selbst, sondern in der Reaktion der USA (bzw. der westlichen Welt).

Theoretisch waren zwei Reaktionen denkbar:

Erstens: Die USA geben den Forderungen der bin Laden-Organisation(en) nach. Konkrete Forderungen waren aber gar nicht gestellt worden, sie hätten allenfalls aus älteren Erklärungen und Aufrufen der Al-Qa’eda extrapoliert werden können. Hierzu gehört der Abzug der „Kreuzfahrer und Juden" von den Heiligen Stätten des Islam, also aus Saudi Arabien – aber auch aus Jerusalem, dem Ort der al-Aq’sa-Moschee. Wäre der geforderte Abzug amerikanischer Soldaten aus Saudi Arabien als ausreichend akzeptiert worden? Oder würde sich der Terrorismus allenfalls mit dem Verschwinden des Staates Israel zufrieden geben? De facto sind die Forderungen der Terroristen so mehrdeutig formuliert und in der Tendenz grenzenlos, dass ein „Geschäft", ein Austausch von Konzessionen und Gegenkonzessionen, von vornherein ausgeschlossen war. Zudem war die Rückzugsoption angesichts des Charakters und der Dimension der Anschläge von New York und Washington für jede amerikanische Regierung versperrt.

Es liegt daher näher, dass der Terror der Al-Qa’eda, dem Muster der algerischen FNL folgend, ein anderes Ziel hatte. Wie in Algerien geht es um die Festlegung einer nun nicht mehr nur nationalen, sondern globalen Konfliktlinie, einer klaren Unterscheidung zwischen „wir" und „sie" (wobei der Islamismus seine Anschläge aber anders als die FNL nicht mir dem Kolonialverhältnis rechtfertigen kann). Wie in Algerien vor dem Befreiungskrieg war das Verhältnis zwischen Moslems und dem Westen vor dem 11. September offen. Besser: Es gab gar keine Beziehung zwischen „dem" Westen und „dem" Islam, sondern eher eine ganze Reihe voneinander unabhängiger Konstellationen, Kooperationen und Konflikte, die außer Professor Huntington kaum jemand unter den Oberbegriff „Zusammenstoß der Zivilisationen" gestellt hätte. Diese Offenheit und Vielschichtigkeit ist nach dem 11. September gestört: Das Verhältnis droht eindeutig (als Konfrontation) und einseitig zu werden. Die spontanen Reaktionen in den USA auf die Terroranschläge – die Angriffe auf vermeintliche oder wirkliche Moslems oder vermeintliche oder echte muslimische Einrichtungen – sind nicht unerwünschte Nebenfolgen der Anschläge auf New York und Washington, sondern deren Ziel. Die Reaktionen auf die Anschläge schufen wie in Algerien eine „Gemeinschaft der automatisch Verdächtigen", denen man auch noch ansieht, dass sie verdächtig sind. Damit definieren sie eine Konfliktlinie, wie sie so vorher nicht bestanden hatte. Mit dem Aufruf zum „Kreuzzug" entsprach auch Präsident Bush den Vorgaben der Terroristen. Danach freilich setzte offiziell eine deutliche verbale Deeskalation ein, einschließlich versöhnender Gesten (der Trauergottesdienst in der National Cathedral von Washington wurde von einem Moslem eingeleitet). Der immer wieder hervorgehobene Satz, der nun bevorstehende „Krieg gegen den Terror" richte sich nicht gegen den Islam oder die islamischen Länder, wurde zum ständigen (und oft wohl auch aufrichtigen) Bekenntnis, das nur einzelne Heckenschützen wie Berlusconi durchbrachen.


Bomben auf Afghanistan

Die Bombenangriffe auf Afghanistan dagegen müssen von vielen Moslems als Ergänzung und Bestätigung der privaten anti-islamischen Übergriffe wahrgenommen werden. Sie schufen endgültig die Situation, die die Terroristen herzustellen suchten. Denn es mag CNN und den Sprechern des Pentagon gelingen, die Fernsehzuschauer in New York und Berlin davon zu überzeugen, dass es sich bei diesen Angriffen um „chirurgische Schläge" gegen militärische Einrichtungen ohne nennenswerte Folgen für die Zivilbevölkerung handelt – die Leute in Bagdad, Gaza Stadt und Islamabad werden sich nicht überzeugen lassen. Sie werden davon ausgehen, dass die Bomben nicht nur grüne Leuchtsymbole auf Videoschirmen löschen, sondern – wie im Irak oder im Kosovo /in Serbien – Märkte, Krankenhäuser, Schutzbunker für Frauen und Kinder, Personenzüge, Flüchtlingstrecks und Rundfunksender treffen. Sie werden den Bomberpiloten und deren Vorgesetzten dieselbe Indifferenz gegenüber dem Leben von Zivilisten unterstellen, die man Osama bin Laden zu Recht unterstellt – auch wenn die selbsternannten Sprachregler im Westen diesen Vergleich für moralisch unzulässig erklären. Und vor dem Hintergrund dieser Erfahrung werden sie sich entscheiden, wie sie ihre Identität definieren: ob als Bürger einer offenen, multireligiösen und toleranten Weltgesellschaft oder als Bekenner eines Glaubens, der sie – in ihrer Wahrnehmung – zu den natürlichen Opfern einer feindlichen westlichen Zivilisation macht.

Der Propagandakrieg, um den es dem Economist zufolge gehen soll, wurde für den Westen wahrscheinlich mit der ersten amerikanischen Bombe auf Afghanistan verloren. Dies war vorherzusehen und von den Terroristen kalkuliert. Es ist nicht ohne bittere Ironie, dass das Propagandavideo bin Ladens, in dem zum Heiligen Krieg aufgerufen wird, wahrscheinlich vor dem Militärschlag produziert wurde, in der sicheren Gewissheit, dass die USA so auf die Anschläge von New York und Washington antworten würden, wie sie es taten.

Die amerikanische Regierung reagierte auf die Anschläge wie auf eine Kriegserklärung, Kriege aber sind per definitionem gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Staaten, bei denen es um den Besitz von oder den Einfluss auf Territorien geht. Der als Drahtzieher des Terrors identifizierte Osama bin Laden ist kein Staat, er repräsentiert auch keinen Staat, er hält sich lediglich in einem Staat auf. Die USA können jedoch keinen Krieg gegen eine Privatperson und deren Anhänger führen, sie brauchen einen Staat, ein Territorium, um ihr Instrumentarium – ihr Militär – einsetzen zu können. Die USA haben keine „Schläfer" in den islamischen Ländern, keine Netzwerke arabisch sprechender Agenten, keine zum Selbstmord bereiten Attentäter: Was sie haben, sind Cruise Missiles und B 52-Bomber, und um diese einsetzen zu können, müssen sie einen Gegner haben, der über ein Territorium verfügt (wer nur einen Hammer als Werkzeug hat, muss jedes Problem als Nagel definieren).

Es kommt natürlich hinzu, dass die US-Regierung unter dem innenpolitischen Druck steht, Bilder und Medienereignisse zu produzieren, und ein Krieg nur der Geheimdienste würde keine Medienereignisse produzieren. Sein Erfolg wäre ein Nicht-Ereignis, daran abzulesen, dass Ereignisse wie die Anschläge auf New York und Washington ausbleiben..


Gab es eine Alternative?

Hätte die amerikanische Regierung eine andere Option? Eine Option wäre es gewesen, sich weder aus dem Nahen Osten zurückzuziehen, noch einen offenen Militärschlag zu führen (so wie Großbritannien die Irgun hätte ins Leere laufen lassen, wenn es seine Truppen weder zurückgezogen noch drastisch verstärkt hätte). Man hätte sich auf einen unsichtbaren Krieg, der sich gegen den Terrorismus und nicht gegen ein Regime (so übel dieses auch sei) und damit ein Land richtete, konzentrieren können.

Auch heute ist denkbar, dass amerikanische Kommandoeinheiten bin Laden und wichtige Komplizen festnehmen oder töten; es ist sogar denkbar, dass sie die Infrastruktur der Al-Qa’eda zerschlagen. Dies wäre jedoch kein Sieg über den Terrorismus. Die Falle, die am 11. September aufgestellt wurde und am 7. Oktober zuschnappte, besteht darin, dass jeder westliche Militärschlag im Nahen Osten die von den Terroristen gezogene Linie zwischen „uns" und „denen" vertieft. Auch wenn die Destabilisierung der Region ausbleibt, wurde eine neue Generation von Terroristen bereits erzeugt.


Michael Ehrke



Analysen und Hintergründe zum 11. September unter



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