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[Seite der Druckausg.: 25]


6. Außenpolitik und wirtschaftliche Interessen Russlands

Eine der wenigen wesentlichen Errungenschaften des vergangenen Jahrzehnts ist der Verzicht auf die ideologische Überhöhung russischer Außenpolitik wie sie aus der Sowjetzeit bekannt ist. Das neue Russland richtet seine Außenpolitik vor allem nach wirtschaftlichen, dann nach geopolitischen und erst dann nach ideologisch-normativen Gesichtspunkten aus, wobei letztere schwer auszumachen sind. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die russische Außenpolitik hinsichtlich missionarischer Ideologieträchtigkeit erheblich von den USA aber weniger von anderen westlichen Staaten.

Zwischen Deklaration und Realität der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen in der Außenpolitik klafft jedoch eine große Lücke. Der Grund dafür liegt in den betrüblichen wirtschaftlichen Möglichkeiten Russlands. Nicht zufällig sehen die Experten reale Möglichkeiten für die Verbesserung der russischen Position am Weltmarkt in den nächsten 10 Jahren lediglich bei Brennstoffen und Energie, in der Rüstungsindustrie sowie bei der Förderung und Verarbeitung von Rohstoffen. Wissenschaft und High-Tech-Bereiche sowie Kultur und Bildung werden nach Einschätzung der Experten fatalerweise kaum eine relevante Rolle spielen. Aber immerhin rechnen ein Viertel der Experten mit Verbesserungen in Wissenschaft und der Hochtechnologie.

Bereiche, in denen Russland mit einer realen Verbesserung seiner Position am Weltmarkt in den nächsten 8-10 Jahren rechnen kann
(in % (Mehrfachnennungen)


  • 70,0

im Bereich Brennstoffe und Energie (Gas, Öl)

  • 53,3

Rüstungsindustrie

  • 44,3

Förderung und Verarbeitung von sonstigen Rohstoffen (Metall, Holz u.ä.)

  • 36,7

Kernenergie

  • 27,6

Wissenschaft und Hochtechnologie

  • 18,6

Energietransportinfrastruktur

  • 15,2

Kultur und Bildung



Dabei ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem russischen wirtschaftlichen Potential und seinem Ansehen in der Welt gar nicht so einfach, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Diese Frage hat die Experten in zwei nahezu gleich große Gruppen gespalten. 44% der Befragten glauben, dass der Einfluss Russlands auf die internationalen Beziehungen in etwa seinem gegenwärtigen Anteil an der Weltwirtschaft entspricht. In Anbetracht seiner heutigen Wirtschaftslage kann das Land daher keine führende Rolle auf dem internationalen Parkett für sich beanspruchen.

Eine nahezu gleich große Zahl von Experten (46%) vertritt einen gegensätzlichen Standpunkt: Diese glauben, es gebe keinen verlässlich ermittelbaren Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Potential eines Staates und seiner internationalen Rolle. Ihrer Ansicht nach gehört Russland trotz seines wirtschaftlichen Rückstands, aber dank seiner starken Stellung in Bereichen wie Verteidigung, Kultur und Bildung zu den führenden Weltmächten. Wenn man gleichwohl berücksichtigt, dass dieselben Experten meinen, Russland könne in naher Zukunft nicht mit einer progressiven Entwicklung in Wissenschaft, Bildung und Kultur rechnen, wird die internationale Stellung des Landes wiederum in Frage gestellt.

[Seite der Druckausg.:26]

Wie erwartet, wird die erste Ansicht (wirtschaftlicher Determinismus in den internationalen Beziehungen) meist von den Westlern vertreten, die zweite Ansicht – von den Traditionalisten/Eurasiern (siehe Tabelle 15).

Tabelle 15

Einfluss des wirtschaftlichen Potentials auf die internationale Stellung
Russlands, Traditionalisten/Eurasier und Westler, Analytiker (in %)


Einfluss des wirtschaftlichen Potentials
auf die internationale Stellung Russlands

Traditionalisten/
Eurasier

Westler

Einfluss und internationale Stellung Russlands entsprechen seinem Anteil an der Weltwirtschaft.

33,0

61,4

Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Potential eines Landes und seiner internationalen Stellung

57,7

34,9

Andere Meinung

6,2

2,4

Keine Antwort

3,1

1,2



Heute werden in der Außenwirtschaft russische Interessen nicht nur durch den Staat als Ganzes und von den föderalen Organen vertreten, sondern auch durch einzelne Regionen, Städte, Unternehmen etc. Dies bewirkt häufig chaotische Zustände und führt zu diversen Konfliktsituationen. Trotzdem glaubt eine Mehrheit der Experten (59%), dass die liberalisierte Außenwirtschaft für Russland vorteilhaft ist, und sieht keine Gründe, die für deren Zentralisierung sprechen würden. Der gegensätzliche Standpunkt, d.h. die liberalisierte Außenwirtschaft schade den wirtschaftlichen Interessen Russlands und müsse deshalb überwunden werden, wird aber immerhin noch von 30% der Befragten vertreten.

Ungeachtet der kritischen Beurteilung der heutigen Lage des Landes und seiner internationalen Stellung, blickt die außenpolitische Elite optimistisch in die Zukunft und glaubt an die Chance, die russische Position in den nächsten 10 Jahren stärken zu können. So glauben 89% der Befragten, dass Russland über ausreichend Ressourcen für die Stärkung seiner außenpolitischen Position verfüge. Als wirtschaftliche Ressourcen werden in erster Linie bezeichnet: die sinnvollere Nutzung des Rohstoffpotentials, das wissenschaftlich-technische Potential inklusive Bildung, Waffenexporte sowie Handel mit militärischen Technologien und die weitere wirtschaftliche und politische Integration in die westliche Staatengemeinschaft.

[Seite der Druckausg.:27]

Russische Ressourcen für die Stärkung seiner internationalen Stellung
(in %, Mehrfachnennungen)


  • 49,5

Neuer, flexiblerer und pragmatischerer Stil der Außenpolitik

  • 47,6

Sinnvollere Nutzung des Rohstoffpotentials des Landes

  • 37,1

Wissenschaftlich-technisches Potential und Bildungspotential

  • 30,5

Nutzung des Waffenhandels und Handels mit Militärtechnologien zur Stärkung der außenpolitischen Stellung des Landes

  • 27,6

Weitere wirtschaftliche und politische Integration Russlands in die westliche Staatengemeinschaft

  • 12,4

Wiederbelebung der von der sowjetischen Diplomatie geknüpften internationalen Beziehungen und Einflussmöglichkeiten

  • 8,1

Schaffung von Alternativen gegen die moderne globale Massenkultur

  • 8,1

Aktivierung der russischen Diaspora in anderen Ländern

  • 7,1

Russische Kultur und ihr geistiges Potential.



Nicht zufällig betont die außenpolitische Elite, dass es nicht nur um wirtschaftliche Fragen gehe, wenn das Ansehen und die Einflussmöglichkeiten des Landes wieder hergestellt werden sollen. Der russischen Außenpolitik komme dabei eine Schlüsselrolle zu. Erhebliche Möglichkeiten werden dabei einem neuen, pragmatischen und flexibleren außenpolitischen Kurs und der Entwicklung des wissenschaftlich-technischen und Bildungspotentials Russlands zugeschrieben.

Trotz bzw. vielleicht auch gerade wegen des Pragmatismus als neuer Verhaltensdoktrin der russischen Außenpolitik wird normativen Fragen eine vergleichsweise geringe Beachtung zuteil. Das hat durchaus ambivalente Folgen, etwa bei der Behandlung humanitärer Fragen. Dieser Paradigmenwechsel ist umso erstaunlicher, als dieser Faktor im politischen Bewusstsein Ende der 80-er und Anfang der 90-er Jahre eine wichtige Rolle spielte. Nur 7% der befragten Experten stimmten heute der Aussage zu, das geistige Potential Russlands sei zur Stärkung der internationalen Position des Landes förderlich; und nur 8% stellten einen Zusammenhang mit der Schaffung von Alternativen zur modernen globalen Massenkultur her.

Im Kontext der internationalen Beziehungen, die zumindest über mehrere Jahrhunderte hinweg von einem „gegenseitigen Durchdringen„ geprägt waren (I. Kirejewskij), muss ein solcher Standpunkt als ein Symptom der Kapitulation vor der globalen Massenkultur und der Schwächung historisch gewachsener geistiger und geistig-politischer Bindungen gewertet werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

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