Steuerharmonisierung in der EU - Argumente und Gegenargumente

Ein FES-Politikinfo von Alfred Pfaller

Zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union divergieren die Steuersätze beträchtlich. Dies gilt sowohl für die Mehrwertsteuer (und andere indirekte Steuern, etwa auf Tabak, Spirituosen oder Treibstoff) als auch für die Einkommens- und Unternehmenssteuern. Bei letzteren kommt hinzu, dass auch die Bemessungsgrundlagen - also die Festlegung der steuerpflichtigen Einkommen und Gewinne - von Land zu Land unterschiedlich sind. Seit langem wird eine Harmonisierung gefordert, aber auch abgelehnt. Politisch brisant ist vor allem der Bereich der direkten Steuern. Auf ihn konzentrieren sich die folgenden Thesen.

Das Basisargument für Steuerharmonisierung: Stopp dem Unterbietungswettlauf!
Unternehmen sind immer weniger an einen nationalen Standort gebunden. Sie machen ihre Standortentscheidungen länderübergreifend davon abhängig, wo sie die höchste Rendite für das investierte Kapital erwarten. Die von der jeweiligen Gebietskörperschaft - die wichtigste davon ist der Nationalstaat - erhobenen Steuern auf Unternehmensergebnisse und -aktiva sind dabei ein wichtiges Kriterium. Den Staaten wiederum ist daran gelegen, dass auf ihrem Gebiet möglichst viel produziert wird. Das bedeutet Wohlstand für die Bevölkerung, nicht zuletzt über vermehrte Einkommenschancen (Arbeitsplätze und Entlohnung) auf dem Arbeitsmarkt. Die Länder stehen also in einem internationalen Wettbewerb um die Gunst investierender Unternehmen. Dieser Wettbewerb tendiert dazu, ein Unterbietungswettbewerb zu werden: die Staaten suchen sich gegenseitig mit immer attraktiveren Steuerbedingungen zu übertrumpfen. Sollte ein einzelner Staat dagegen halten, wandern ihm nach und nach die Unternehmen ab. Neuinvestitionen werden anderswo getätigt. Dies gilt in besonderem Maße für die Europäische Währungsunion, wo es aufgrund der hohen Marktintegration und des nicht mehr existierenden Währungsrisikos für Unternehmen besonders leicht ist, sich andere Standorte auszusuchen.

Die Konsequenz: Zur Finanzierung der Staatsaufgaben (Infrastruktur, Ausbildung, öffentliche Sicherheit, soziale Absicherung etc.) müssen mehr und mehr diejenigen herangezogen werden, die keine Standortwahl haben: Arbeitnehmer, Verbraucher, Immobilienbesitzer. Das ist ungerecht. Gleichzeitig müssen immer mehr Abstriche bei den öffentlichen Leistungen gemacht werden. Das senkt die Lebensqualität.

Das Basisargument für Steuerwettbewerb: ein effizienterer Staat
Staaten neigen dazu, immer mehr Steuern zu erheben, um politisch wichtige Gruppen zufrieden zu stellen. Da sie auf ihrem Gebiet das Monopol in der Bereitstellung öffentlicher Güter haben, stehen sie nicht unter Druck, dies möglichst effizient zu tun. Wettbewerb zwischen den Staaten um die Gunst investierender Unternehmen führt einen wünschenswerten Druck ein, die staatlichen Leistungen möglichst effizient zu erbringen und Dinge sein zu lassen, deren Nutzen zweifelhaft ist.

Es besteht keine Gefahr, dass es zu einer unbegrenzten Unterbietungskonkurrenz kommt. Denn Unternehmen sehen nicht nur auf den Kostenfaktor "Steuern", sondern auch auf den Nutzenfaktor  "öffentliche  Leistungen". Sie gehen nicht dorthin, wo die Steuern am niedrigsten sind, sondern dorthin, wo das Verhältnis zwischen dem Preis (d.h. den zu entrichtenden Steuern) und den dafür gebotenen öffentlichen Leistungen günstig ist. Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung würde den effizienzfördernden Wettbewerb wieder ausschalten und ein Kartell der tendenziell unersättlichen Fiskusse etablieren - zum Schaden der Allgemeinheit.

Gegenargument: Der Markt für öffentliche Güter funktioniert anders
Die Hoffnung, dass Steuerwettbewerb für eine effizientere Bereitstellung öffentlicher Güter sorgt, beruht auf einer zu simplen Vorstellung von einem "Markt für öffentliche Güter". Dort gelten andere Gesetze als auf dem für private Güter.

Ökonomen weisen darauf hin, dass bei öffentlichen Gütern (etwa Verkehrswegen und Bildungseinrichtungen) die Grenzkosten weit unter den Durchschnittskosten liegen. D.h., wenn die entsprechenden Investitionen einmal getätigt sind, fallen für die Bereitstellung der zugehörigen Leistungen nur noch geringe bis gar keine Kosten an. Steuerwettbewerb zwischen den Staaten konkurriert dann den Preis, den die Unternehmen für die öffentlichen Leistungen zahlen müssen, soweit herunter, dass nur noch die Grenzkosten abgedeckt werden. Auf längere Frist reichen die Steuereinnahmen nicht, um die öffentlichen Aufgaben zu finanzieren.

Aber auch diese Vorstellung wird der Realität nicht gerecht. Vielmehr wird die Bereitstellung öffentlicher Güter von den Bürgern politisch (vermittelt über Wahlen, Parlament etc.) beschlossen - als kollektive Konsumentscheidung. Die Bürger lassen sich die öffentlichen Güter steuerlich etwas kosten, weil sie den gemeinsamen Nutzen im Auge haben. Ein Aspekt dieses Nutzens ist die Attraktivität des nationalen Standorts für Investoren. Sie zahlt sich in Arbeitsplätzen und Einkommenszuwachs aus. Auf dem Markt für "Standortdienste" zahlen die Unternehmen nicht in erster Linie mit Steuern für den Anbieter "Staat", sondern mit Einkommensquellen für den Anbieter "Gemeinschaft der Bürger". Damit aber kommt doch die Frage nach dem Preis auf, den die Gemeinschaft hierfür in Form von "Gratis-Vorleistungen" zahlen muss. Steuerkonkurrenz erhöht diesen Preis.

Steuerkonkurrenz verteilt die Steuerlast um
Ungerecht? Nicht unbedingt. Die ökonomische Logik spräche dafür, Unternehmen grundsätzlich von jeder Steuer zu befreien und lediglich die Einkommen, die Vermögen und den Konsum der Bürger (bzw. der Einwohner) zu besteuern. Unternehmen sind im Grunde "Wohlstandserzeugungsmaschinen", die es zu pflegen gilt. Erst wenn der erzeugte Wohlstand verteilt ist - in Form von Gewinnen, Löhnen, Zinsen und Renten - entsteht eigentlich die Frage nach der Steuergerechtigkeit. Ob Unternehmen hingegen hohe, geringe oder gar keine Steuern zahlen, hat mit Gerechtigkeit erst mal nichts zu tun. So gesehen, könnte man dem Steuerwettbewerb, was Unternehmenssteuern betrifft, getrost freien Lauf lassen.

Dieses ökonomische Ideal lässt sich jedoch schwer verwirklichen. Denn die Einkommen, die aus Kapitalbesitz entstehen, können sich der Besteuerung in großem Umfang entziehen, wenn sie nicht bereits an der Quelle, nämlich auf der Ebene der Unternehmen, erfasst werden. Lässt man zu, dass Standortwettbewerb die Unternehmensbesteuerung immer mehr absenkt, bleibt die Finanzierungslast für die öffentlichen Leistungen immer stärker an den Einkommen hängen, die sich der Besteuerung nicht entziehen können, d.h. vor allem den Lohneinkommen.

Die wahren "free riders", die öffentliche Leistungen in Anspruch nehmen, ohne dafür zu bezahlen, sind gemäß dieser Sichtweise aber nicht die Unternehmen. Es sind die Staatsbürger, die sich der Verpflichtung gegenüber ihrem Gemeinwesen entziehen - obwohl sie dessen Schutz und als Einwohner meist auch dessen sonstige öffentliche Leistungen in Anspruch nehmen.
Die Leidtragenden sind nicht in erster Linie die Armen, sondern eher die standortgebundenen Bezieher voll versteuerter mittlerer Einkommen. Sie sind es auch, die mit ihren Steuern die Umverteilung zugunsten der Bedürftigen finanzieren. Auch hier bietet sich ein "free ride" für die steuerflüchtigen Kapitalbesitzer. Denn Umverteilung ist eine Investition in gesellschaftliche Stabilität, die vor allem auch ihnen zugute kommt.

Kein Unterbietungs-, sondern ein Optimierungswettbewerb
Es gibt eine andere Sicht der Dinge: Die Finanzierung der öffentlichen Leistungen und die Verteilung der Steuerlast sind Scheinprobleme. In Wirklichkeit geht es nicht primär darum, wo Unternehmen investieren, sondern darum, dass sie investieren. Es geht - weltweit - um ein Steuersystem, das optimale Anreize für produktive Investition und somit die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Mehrung des gesellschaftlichen Wohlstands bietet. Ein derartiges Steuersystem beruht (a) auf mäßigen Spitzensteuersätzen auf Unternehmensergebnisse und Einkommen (etwa 30-35 %) und (b) einer breiten Steuerbasis, die wenige steuerbefreiende Tatbestände vorsieht.

In den vergangenen 20 Jahren ist weltweit ein Trend in genau diese Richtung festzustellen. Diejenigen Länder, die ihm nicht folgen, die überdurchschnittlich hohe Grenzsteuersätze aufweisen, haben in der Tat ein Problem im Wettbewerb um produktive Investitionen. Dieser Wettbewerb ist aber kein endloser Unterbietungswettbewerb. Die im Zuge der Globalisierung zu konstatierende weltweite Konvergenz der Unternehmenssteuern ist keine Konvergenz gegen Null. Vielmehr übt der Standortwettbewerb heilsamen Druck auf alle Länder aus, die wachstumsfeindlichen Fehlentwicklungen vergangener Jahrzehnte zu korrigieren. Dieser Wettbewerb ist kein Verdrängungswettbewerb, sondern der Mechanismus, der weltweit die "best practice", also das effizienteste Wirtschaftssystem, durchsetzt.

Darüber hinaus führt die Eliminierung der vielen Steuervermeidungsmöglichkeiten, die in Deutschland vor allem den Einkommensstarken offen stehen, im Ergebnis zu mehr Steuergerechtigkeit - trotz verringerter Spitzensteuersätze. Woher kommt die Zuversicht, dass der Standortwettbewerb nicht über die "optimalen" Sätze hinaus zu immer weiteren Steuersenkungen führt? Drei Antworten gibt es:

Steuerflucht: die Pervertierung des Leistungswettbewerbs
Selbst wer Steuerwettbewerb als effizienz- und/oder wachstumsfördernd ansieht, muss konstatieren, dass einzelne Staaten just damit wirtschaftliche Vorteile zu erlangen suchen, dass sie ausländischem Kapital Schutz vor dem Zugriff der Steuer anbieten. Hierbei geht es nicht um Realinvestitionen, sondern um Geldanlagen. Es geht um Wettbewerbsvorteile in einem ganz bestimmten Wirtschaftszweig: den Finanzdienstleistungen. Die Frage nach dem Preis-Leistungs-Verhältnis bei öffentlichen Gütern spielt dabei keine Rolle. Trittbrettfahren (angemessener: Schwarzfahren) ist hier das Prinzip. Denn man enthält denjenigen Staaten die Steuern vor, deren öffentliche Leistungen man als Staatsbürger in Anspruch nimmt.

Auch Unternehmen nutzen den Beihilfewettbewerb zur Steuerhinterziehung aus. Steuervergünstigungen veranlassen Unternehmen, ihre Gewinne - mit Hilfe fiktiver Verrechnungspreise - nicht in den Ländern anfallen zu lassen, in denen sie tatsächlich entstanden sind. Dies kommt einer Perversion des Preis-Leistungs-Gedankens für öffentliche Güter gleich; denn die Steuer kommt gerade nicht den Staaten zugute, deren Standortdienste man für die Produktion in Anspruch nimmt. Die "Steueroasen" aber profitieren von einer zusätzlichen Steuerbasis, für die sie nicht viel tun müssen.

Beide Varianten dieses rein buchgeldbezogenen Steuerwettbewerbs sprechen dem Prinzip der Steuergerechtigkeit Hohn. Je mehr er um sich greift, desto schwieriger wird letztlich auch die Finanzierung öffentlicher Leistungen; denn das Einkommen (bzw. der Konsum) der nicht-mobilen Bürger sowie das nicht-mobile Vermögen (Grundbesitz) sind nicht unbegrenzt belastbar.

Diejenigen Staaten, die in diesem Wettbewerb die Nase vorn haben, profitieren zum Schaden der anderen Länder. Lassen sich aber viele - oder gar alle - Staaten auf das Spiel ein, kommt es zu einem klassischen Negativ-Summen-Spiel. D.h. alle verlieren, nirgendwo entsteht ein dauerhafter Nutzen - weder in Form effizienterer Standortdienste noch in Form beschleunigten Wirtschaftswachstums. Auch die Effizienz der Unternehmen als "Wohlstandserzeugungsmaschinen" leidet. Denn der Wettbewerb zwingt sie, großen, volkswirtschaftlich unproduktiven Aufwand für komplexe Steuerbelastungsvergleiche zu treiben.

Die politischen Prioritäten

Beseitigung der Steueroasen für Zinseinkommen
Für das Anlocken von Geldkapital durch die Gewährung von "Steuerasyl" kann kein legitimes Argument vorgebracht werden. Dass einige Mitgliedsstaaten der EU genau dieses tun, sollte nicht länger toleriert werden. Die Wege zur Beendigung dieses Zustands sind (a) eine EU-weite einheitliche Quellensteuer, (b) Information der zuständigen Steuerbehörden über die Zinseinkünfte von Kontoinhabern.

Mindestsätze für Unternehmenssteuern
Eine probate Methode illegitimer Steuervermeidung sind Verrechnungspreise, die - unabhängig vom realen Produktionsprozess - Gewinne an Niedrigsteuerstandorten anfallen lassen. Angemessen hohe Mindeststeuersätze würden solche Möglichkeiten stark beschneiden.

EU-weites Informations- und Kontrollsystem
Steuerhinterziehung durch Geldanlage im EU-Ausland wird schwieriger, wenn die Anlageländer die Steuerbehörden der Herkunftsländer systematisch informieren würden.

Verringerung und Harmonisierung der Steuervergünstigungen
Auch wer Steuerwettbewerb als ein Mittel zur Verbesserung des Preis-Leistungs-Verhältnisses für öffentliche Güter oder zur generellen Dynamisierung der Wirtschaft ansieht, muss gezielte Steuerprivilegien als effizienzfeindlich ablehnen. Diese Art von Subventionswettbewerb, die in der EU durchaus verbreitet ist, sollte unterbunden werden. Dann ließe sich immer noch über einen Wettbewerb der allgemein geltenden Steuersätze diskutieren.

Globalisierung des Kampfes gegen Steuerflucht
Die Ausschaltung der schädlichen Varianten des Steuerwettbewerbs auf EU-Ebene bringt wenig, wenn Unternehmen und Einkommensbezieher auf Steueroasen außerhalb der Union ausweichen können. Harmonisierung und Informationsaustausch wären also zu "globalisieren". Trotzdem sollte man bis dahin die schädlichen Praktiken auf EU-Ebene nicht gewähren lassen.

Vernunft, Privilegien und politische Entscheidungsregeln
Darüber, dass bestimmte Praktiken des Steuerwettbewerbs schädlich sind, besteht kein Dissens. Dies betrifft

Interesse an ihrer Aufrechterhaltung haben einzelne Staaten, die bislang klare Vorteile aus ihnen bezogen haben (Luxemburg, Irland, UK). Diese Vorteile gereichen anderen EU-Staaten eindeutig zum Schaden.

Warum ist Abhilfe so schwierig? Weil sie gemäß den EU-Entscheidungsregeln nicht durch Mehrheitsbeschluss herbeigeführt werden kann. Die Minderheit der Nutznießer hat ein Vetorecht. Der Vernunft könnte dennoch der Durchbruch gelingen,



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