Globalisierung und Gerechtigkeit
Materialien zur Modernisierung sozialer Demokratie

Michael Ehrke
New Economy
Fünf Dimensionen eines Begriffs


Der Begriff New Economy, der die aktuelle wirtschaftspolitische Diskussion bestimmt, wird meist assoziativ verwandt, als gemeinsamer Nenner von Handys, e-mail und Internet-Millionären. Doch auch in der seriösen Diskussion bezeichnet er unterschiedliche Sachverhalte. So enthält dieselbe Ausgabe des „Wirtschaftsdienstes“ vom September 2000 zwei Beiträge zur New Economy, die ihren Gegenstand ganz unterschiedlich definieren, einmal technologisch – als Verschmelzung von Mikroelektronik, Telekommunikation und Medien – und einmal makroökonomisch – als Steigerung der potentiellen Wachstumsrate (in den USA).

Um die Mehrschichtigkeit des Begriffs annäherungsweise zu klären, sollen im Folgenden fünf seiner Dimensionen skizziert werden, nämlich
(1) die makroökonomische Dimension: eine neue makroökonomische Konstellation in den USA, in der dank höherer Produktivitätszuwachsraten höhere Raten inflationsfreien Wachstums möglich sind;
(2) die technologische Dimension: die Durchsetzung eines Technologieschubes - die IT-Revolution –, mit der die informationstechnische Industrie zur Schlüsselbranche wird;
(3) die mikroökonomische und Kapitalmarkt-Dimension: die zunehmende Bedeutung eines neuen Unternehmenstypus und neuer Bewertungskriterien für Unternehmen auf den Kapitalmärkten;
(4) die metaökonomische Dimension, d.h. a) die zunehmenden Bedeutung von Information als Input, Output und Strukturprinzip der Wirtschaft; b) der Zusammenhang zwischen technologischem Umbruch und der Intensivierung marktwirtschaftlicher Beziehungen; und c) der Zusammenhang zwischen technologischem Umbruch und der Tertiarisierung der Wirtschaft; sowie
(5) die soziale Dimension.
 

1.  Die makroökonomische Dimension

Die Produktivitätsdebatte (Krugman gegen Business Week)

Der Begriff New Economy wurde gebildet, um den aus konventioneller Sicht überraschenden Wirtschaftsaufschwung in den USA in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu erklären. Der mainstream  der Ökonomen und Wirtschaftspolitiker ging davon aus, dass die amerikanische Volkswirtschaft inflationsfrei nur mit einer niedrigen Rate wachsen kann. Der Council of Economic Advisors unter dem Vorsitz von Joseph Stiglitz etwa setzte die langfristig inflationsfreie Wachstumsrate 1997 auf 2,3% an. Diese Rate ergibt sich aus der Addition des Zuwachses an geleisteten Arbeitsstunden (pro Jahr 1,1%) und der Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität (pro Jahr 1,2%), zwei Größen, die als mehr oder weniger konstant angesehen werden. Bei einer Wachstumsrate von mehr als 2,3 Prozent geht die „natürliche Arbeitslosigkeit“ zurück, Löhne und Preise steigen. Genauer: Jeder Prozentpunkt Wachstum über 2,5% bringt eine Verringerung der Arbeitslosigkeit um 0,5 Prozentpunkte (Okun’s Law, nach dem Ökonomen Arthur Okun), und die Inflation beschleunigt sich, wenn die Arbeitslosigkeit unter eine Rate sinkt, für die man das schöne Wort Nairu (nonaccelerating inflation rate of unemployment) erfunden hat. In dieser Situation ist die Zentralbank gezwungen, auf die Zinsbremse zu treten und den Aufschwung abzuwürgen. Langfristig niedrige Wachstumsraten bzw. eine dem Wachstum eingebaute „Geschwindigkeitsbegrenzung“, so die Folgerung, sind das Schicksal hoch entwickelter Volkswirtschaften mit einer starken Zentralbank, ein Sachverhalt, für den Paul Krugman den Begriff des age of diminished expectations prägte. Logische Schlussfolgerung ist die Empfehlung einer konservativen Geldpolitik, welche die Konstanten der amerikanischen Wirtschaft berücksichtigt.

Diese mainstream-Position wurde von einigen Vertretern der Wirtschaft, der Wirtschaftspresse (wortführend waren die Zeitschrift Business Week und deren Herausgeber Stephen Shepard) und der Wirtschaftswissenschaft in Zweifel gezogen. Eine konservative Geldpolitik, so das Argument, behindere das Wachstum unnötig, da das inflationsfreie potentielle Wachstum höher anzusetzen sei als die mainstream-Ökonomen annehmen. Stephen Shepard etwa kalkulierte die langfristige inflationsfreie Wachstumsrate auf 3 bis 3,5%. Verantwortlich für diesen Sprung sind Shepard zufolge zwei Faktoren, die es rechtfertigten, von der Herausbildung einer New Economy bzw. eines New Paradigm zu sprechen: Erstens die Globalisierung der Wirtschaft und die Intensivierung des Wettbewerbs, die die Unternehmen unter stärkeren Wettbewerbsdruck setzt und die Margen der Preisbildung (einschließlich der Lohnfixierung) einengt, und zweitens die IT-Revolution, die einen Produktivitätsschub auslöste und die Annahme einer niedrigen und konstanten Produktivitätszuwachsrate widerlegt. Die Wirkung dieser Faktoren allerdings wird, so Shepard, nicht sichtbar, weil die etablierten statistischen Verfahren nicht geeignet sind, Output und Produktivität einer wissensbasierten Dienstleistungswirtschaft adäquat zu messen. So werde die Inflation über- und - in logischer Konsequenz - Wachstum und Produktivität unterschätzt, unter anderem weil der rasante Preisverfall der IT-Produkte und –Dienstleistungen nicht berücksichtigt werde.

Ergänzend kritisierte Barry Bluestone die Annahme einer konstanten, demographisch bedingten Zuwachsrate an geleisteter Arbeit, messbar anhand der wirtschaftlichen Partizipationsrate und der durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden. Bluestone zufolge gilt auch auf dem Arbeitsmarkt, dass  eine höhere Nachfrage ein höheres Angebot erzeugt: Attraktivere und besser bezahlte Jobs steigern auch die Zahl derjenigen, die Jobs suchen und akzeptieren. So tauchten mehrere Millionen junger männlicher Erwerbsfähiger, die aus den Statistiken „verschwunden“ waren, in der ersten Hälfte der neunziger Jahre wieder auf dem Arbeitsmarkt auf.

Der zentrale Punkt der 1996 und 1997 geführten Debatte ist jedoch die Bewertung der Produktivitätsentwicklung. Die Arbeitsproduktivität war in den Vereinigten Staaten zwischen 1900 und 1970 im jährlichen Durchschnitt um 2,3% gestiegen; in den fünfziger und sechziger Jahren wurde die langfristige Durchschnittsrate noch übertroffen (3,0 und 2,6% p.a.), in den siebziger und achtziger Jahren dagegen gingen die jährlichen Zuwachsraten auf 1,1 und 1,3 Prozent zurück. Hierfür wurde eine ganze Reihe von Faktoren verantwortlich gemacht, ohne dass sich eine Erklärung allgemein durchgesetzt hätte: Die Energiekrisen 1973 und 1979, die Erschöpfung des Technologiebooms nach dem Zweiten Weltkrieg, niedrige Spar- und Investitionsraten, unzureichende Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, Forschung und Entwicklung oder die sinkende Qualität der Ausbildung.

In der ersten Hälfte der neunziger Jahre tat sich ein neues Rätsel auf: Die Arbeitsproduktivität stieg zwischen 1990 und 1995 um 2,2% im jährlichen Durchschnitt, näherte sich also wieder ihrer historischen Wachstumsrate an. Diese gute Nachricht wurde jedoch sogleich wieder dementiert: 1995 änderte das Bureau of Economic Analysis die Kalkulationsmethode des BSP in einer Weise, die sie spezielle Preisentwicklung in der Computerindustrie stärker berücksichtigte (chain-weighed GDP method). Und nach der neuen Methode lag die Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität auch 1990-1995 im Jahresdurchschnitt bei nur 1,4%. Und dies trotz des spektakulären Siegeszugs der Informationstechnologie.
 
 
 
 

Tabelle 1
Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität in der amerikanischen Volkswirtschaft 1900-2000
Prozent im Jahresdurchschnitt



                      Alte Methode         Neue Methode
1900-1970          2,3
1950-1959          3,0
1960-1969          2,6
1970-1979          1,1
1980-1989          1,3
1990-1995          2,2                         1,4
1996-2000                                       3,0

Tabelle 2
Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität und Stundenlöhne in den USA 1990-2000
(non-farm business sector)
Jährliche Zuwachsraten in %



Jahr                   Arbeitsproduktivität     Entlohnung (real pro Stunde)
1990                         1,1                             0,4
1991                         1,2                             1,2
1992                         3,7                             2,6
1993                         0,5                            -0,4
1994                         1,3                            -0,1
1995                         0,9                            -0,4
1996                         2,5                             0,3
1997                         1,8                             0,6
1998                         2,6                             3,7
1999                         2,9                             2,7
2000, 1. Quartal         6,5
          2. Quartal        5,7

Die Daten der Produktivitätsentwicklung nach 1997 allerdings geben den Protagonisten der New Economy recht: 1998-99 wuchs die Produktivität über dem historischen Durchschnitt – auch gemessen nach der neuen chain-weighed-GDP-Methode. Die Daten für die beiden ersten Quartale des Jahres 2000 lassen sogar auf eine Rekord-Zuwachsrate schließen. Die Unsicherheit, die auf die umstrittenen Messmethoden des BSP zurückgeführt werden konnte, scheint überwunden. Die Zuwachsrate der Produktivität kann auch nicht mehr auf einen statistischen blip (wie im Jahre 1992) zurückgeführt werden, wenn auch die Zahl der beobachteten Jahre noch zu klein ist, um mit Sicherheit auf einen langfristigen Trend schließen zu können. Es kommt hinzu, dass 1998 und 1999 auch die Reallöhne schneller stiegen als in den Vorjahren, ohne dass sich die Inflation beschleunigt hätte. Diese günstigen Bedingungen haben einige Gurus zu der Behauptung verleitet, Wirtschaftszyklus und die Inflation überhaupt gehörten der Vergangenheit an. Der Clinton-Administration nahestehende think tanks wie das Progressive Policy Institute haben das New Economy-Argument in den Dienst der Politik gestellt und einen langfristigen Aufschwung ohne Inflation und ohne Rezessionen prophezeit. Der Kern des Arguments wird durch dessen Übertreibung jedoch nicht tangiert: Dank der gestiegenen Zuwachsraten der Produktivität sind die Spielräume für Wachstum, Beschäftigung und Löhne ohne Inflation erweitert worden. Diese Interpretation erhielt 1999 das Siegel einer offiziellen Beglaubigung durch die amerikanische Zentralbank.
 
 

Die Nachfrageseite

Das New Economy-Argument bezieht sich auf die potentielle, nicht auf die wirklich erzielte Wachstumsrate. Es bezieht sich m. a. W. auf die Angebotsseite und enthält eine implizite Aufforderung an die Zentralbank, das höhere Wachstumspotential durch die Stimulierung der Nachfrage (eine expansive Geldpolitik) auch auszuschöpfen. Dies verweist auf eine zweite Erklärung des amerikanischen Aufschwungs: Das hohe Wirtschaftswachstum in den Vereinigten Staaten ist – so argumentiert etwa Jörg Huffschmidt - nicht auf höhere Produktivitätszuwachsraten, sondern auf die Steigerung des privaten Verbrauchs zurückzuführen (s. Tabelle 3), der auf den explosionsartigen Anstieg der Aktienkurse reagierte: Die verbesserten Vermögenspositionen vieler privater Haushalte stimulierten den Konsum und lösten eine Verringerung der Ersparnisbildung aus, die unter Einbeziehung der privaten Verschuldung sogar negativ wurde. Die Zentralbank hat - und hierin liegt nach Huffschmidt das Spezifische des amerikanischen Aufschwungs - mit einer expansiven Geldpolitik den von der privaten Konsumnachfrage ausgehenden Boom nicht blockiert. Ergebnis ist allerdings auch ein Leistungsbilanzdefizit in Rekordhöhe, das durch externe Ersparnis finanziert werden muss - aber auch problemlos finanziert werden kann, weil der boomende Kapitalmarkt ausreichend Ersparnis ins Land zieht.
 

Tabelle 3
Das Bruttoinlandsprodukt und seine Komponenten 1992-2000
Durchschnittliche jährliche Zuwachsraten in Prozent



                                                         USA                     EU
BIP                                                     3,5                      2,0
Privater Verbrauch                                3,7                      1,9
Öffentlicher Verbrauch                          0,9                       1,3
Bruttoanlageinvestitionen                      7,3                       2,3
Innere Nachfrage                                  3,9                       1,9
Leistungsbilanz (% des BIP) 2000        -4,3                       1,0*


* Euroland

Der Kern des New-Economy-Arguments wird durch den Hinweis auf die Nachfrageentwicklung und die Geldpolitik nicht außer Kraft gesetzt. Eher handelt es sich um eine notwendige Ergänzung: Wenn das erhöhte Wachstumspotential keine Entsprechung auf der Nachfrageseite findet, bleibt es unausgeschöpft. Konsumboom und expansive Geldpolitik erklären, warum das höhere Wachstumspotential genutzt wurde; die erhöhten Produktivitätszuwachsraten erklären, warum die Nachfrageexpansion keine Inflation auslöste. Zweifel bleiben allerdings insofern, als - wie gesagt - der beobachtete Zeitraum zu kurz ist, um mit Sicherheit auf eine dauerhafte Tendenz schließen zu können. Darüber hinaus kann die niedrige Inflationsrate zumindest zum Teil dem eher zufälligen Zusammentreffen mehrerer günstiger Umstände geschuldet sein: Einem bis 2000 niedrigem Ölpreis, einem hohen Kurs des Dollars sowie einem Rückgang der Inflation im Gesundheitswesen, der der Einführung der managed care folgte. Und schließlich sind auch die Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität (sofern man die vorläufigen Daten des Jahres 2000 herausnimmt) zwar höher als in den siebziger und achtziger, aber nicht höher als in den fünfziger Jahren. Auf der Grundlage der bislang verfügbaren Daten lässt sich nur schließen, dass die New Economy möglicherweise eine Dynamik auslöst, die an den Boom der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts erinnert – nicht aber, dass etwas völlig Neues in Gang und die Gesetze der Wirtschaft außer Kraft gesetzt worden wären.
 
 

2.  Die technologische Dimension

Die IT-Revolution (Moore’s Gesetz, Netzwerkexternalitäten)

Die New Economy wird mit dem technologischen Durchbruch der IT-Industrie identifiziert. Dabei kann der Begriff in zweierlei Weise verwandt werden:
1.  Die New Economy ist die Summe aller wirtschaftlichen Aktivitäten, die entweder in der IT-Branche angesiedelt sind oder deren „Geschäftsidee“ auf einer neuartigen Nutzung der IT-Technologie, insbesondere des Internet, basiert.
2.  Die New Economy ist eine Volkswirtschaft, in der die IT-Branche aufgrund ihres schnellen Wachstums, ihres Innovationsrhythmus’ sowie der Streuung ihrer Produkte und Leistungen auf alle Wirtschaftsbereiche zum Schlüsselsektor geworden ist, der – vergleichbar der Automobilindustrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Produktion, Distribution und Konsum grundlegend strukturiert. In dieser zweiten Version gibt es keine old economy – es  sei denn in der Vergangenheitsform.

Es sind vor allem zwei Charakteristika, die die Dynamik der von der IT-Branche bestimmten New Economy (in beiden Versionen) kennzeichnen:
1.  Die Informationstechnologie ist keine einzelne Innovation und auch kein Bündel von Innovationen, sondern eine neue Innovationsdynamik, die nicht abgeschlossen ist und auch in absehbarer Zukunft nicht abgeschlossen sein wird - so lange jedenfalls nicht, wie die Miniaturisierung mikroelektronischer Komponenten im Nanobereich nicht auf absolute physikalische Grenzen stößt. Die IT-Revolution ist eine „permanente Revolution“. Motor der Industrie ist die kontinuierlich und schnell steigende Leistungsfähigkeit mikroelektronischer Komponenten und das Sinken der Kosten für Informationsverarbeitung und Übertragung. Moore’s Gesetz zufolge (nach Gordon Moore, dem Gründer von Intel) verdoppelt sich die Leistungsfähigkeit mikroelektronischer Komponenten alle 18 Monate. Dies ermöglichst die Entwicklung immer neuer Softwareanwendungen und Geräte und verkürzt den Lebenszyklus der Produkte und Prozeßtechnologien.
2.  Wachstum und Profitabilität der IT-Industrie sind auf Netzwerk-Externalitäten zurückführen, auf economies of scale auf der Angebotsseite und auf economies of scope auf der Nachfrageseite: Der Nutzen eines Netzwerks und damit die Bereitschaft, für seine Nutzung einen Preis zu entrichten, steigt mit der Zahl der über dieses Netzwerk ermöglichten Kontakte. Investitionen in Netzwerke können mit steigenden Erträgen verbunden sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht nur das Internet, sondern auch andere Hardware-Software-Konstellationen der Gesetzmäßigkeit von Netzwerken unterliegen (ein Computer-Betriebssystem ist um so nützlicher, je mehr Software-Anwendungen es ermöglicht).

Technischer Wandel und Wirtschaftswachstum (Solow, Romer, Bluestone)

Ein technologischer Umbruch muss nicht notwendig zu einer höheren Produktivitätszuwachsrate der gesamten Wirtschaft führen. Die wirtschaftliche Umsetzung der Informationstechnologie wurde im Gegenteil für lange Zeit unter dem Stichwort „Produktivitätsparadox“ diskutiert, ein Paradox, das der Nobelpreisträger Robert Solow bereits 1987 formuliert hatte: Computer sind überall, außer in den Produktivitätsstatistiken. Paul Krugman bezweifelte 1997, dass eine im Vergleich zur gesamten Volkswirtschaft kleine Branche einen Produktivitätsschub auslösen könne, der dem technologischen Nachkriegsboom vergleichbar sei - ein Boom, der das Alltagsleben in jedem seiner Aspekte verändert hatte. Die elektronische Buchung eines Flugtickets sei, so Krugman, eine gute Sache, eine Reise von der Ost- zur Westküste der USA dauere aber 1995 wie 1965 fünf Stunden - und hatte 1945 drei Tage gedauert. Die Tatsache, dass sich die Leistungsfähigkeit von PCs und Modems innerhalb von 10 Jahren verhundertfacht habe, sage noch nichts aus über die Produktivität der Nutzung. Alan S. Blinder hob hervor, dass die mit dem Einsatz der Mikroelektronik möglichen Produktivitätssteigerungen durch die Reallokation der freigesetzten Arbeitskräfte in weniger produktiven Wirtschaftssektoren mehr als kompensiert werden könne. Während die Produktivität in der verarbeitenden Industrie deutlich und in der Computerindustrie dramatisch stieg, sanken – wie oben gezeigt – bis Mitte der neunziger Jahre die Zuwachsraten der gesamtwirtschaftlichen Produktivität. Die Tertiarisierung der Wirtschaft, die Verlagerung von Aktivitäten aus der verarbeitenden Industrie in den weniger produktiven Dienstleistungssektor, in dem in den USA etwa 80 Prozent der Beschäftigten tätig sind, glich die mit der Informationstechnologie möglichen betrieblichen oder sektoralen Produktivitätssteigerungen wieder aus.

Die Diskussion um die New Economy ist daher auch eine Diskussion um den Zusammenhang zwischen technischer Innovation und Wirtschaftswachstum. Bereits in den achtziger Jahren hatten die Vertreter der „neuen Wachstumstheorie“ wie Paul Romer und Brad DeLong versucht, den technischen Fortschritt nicht als exogenen Faktor - als eine Art Regen, der auf die Wirtschaft herabrieselt -, sondern als endogene Variable des Zyklus zu fassen. Barry Bluestone zufolge geht das Produktivitätsparadox darauf zurück, dass die Inkubationszeiten technologischer Umbrüche unterschätzt wurden. Technische Innovationen sind keine Konstante, sie erfolgen in Schüben. Der Durchbruch der Informationstechnologie ist ein solcher Schub, vergleichbar mit der Durchsetzung der Dampfkraft im frühen 19., der Elektrizität im späten 19. und des Automobils in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Derartig weitreichende Umbrüche sind vorübergehend mit Produktivitätsverlusten verbunden: Qualifikationen, Organisationsformen und Verhaltensweisen ändern sich nur langsam, die ganze Gesellschaft muss zu hohen Kosten und unter Friktionen lernen, mit den neuen technologischen Optionen umzugehen. Diese Lernkurve, so Bluestone, hat die amerikanische Gesellschaft zur Jahrhundertwende bewältigt. Damit sei potentiell eine neue „lange Welle der Konjunktur“ (Kondratieff) mit durchschnittlich höheren Wachstums- und niedrigeren Inflationsraten eingeleitet.
 

3. Die mikroökonomische und Kapitalmarkt-Dimension

Neue Dynamik oder Kapitalmarkt-Bubble? (Bill Gates gegen General Motors)

Die New Economy ist gekennzeichnet durch die wachsende Bedeutung eines neuen Typs von Unternehmen. Es handelt sich um Firmen, die in der Regel erst in jüngster Zeit gegründet wurden, die schnell und unter hohen Risiken wachsen, und die sich oft (aber nicht nur) an „neuen Märkten“ finanzieren. Mit diesem neuen Unternehmenstypus verändern sich sowohl die Managementformen als auch die Bewertungskriterien auf den Kapitalmärkten. Das Management ist auf schnelle Innovationsrhythmen und hohe Flexibilität ausgerichtet; betriebliche Hierarchien und auf Langfristigkeit angelegte Transaktionsbeziehungen einschließlich langfristiger und geregelter Beschäftigungsverhältnisse werden abgebaut. Der Marktwert der Unternehmen wird von den Erwartungen der Investoren bestimmt, die sich von deren empirisch beobachtbarer Leistungsfähigkeit entkoppeln können; die vermuteten und schwer messbaren intellektuellen assets (intangibles) der Unternehmen sind für deren Marktwert weitaus wichtiger als Gewinne, Umsatz, Marktanteile und fixe assets. Die New Economy in dieser Version ist
1.  Die Gesamtheit dieser Unternehmen neuen Typs, unabhängig von der Branche, in der sie operieren (obwohl sich eine große Schnittmenge zwischen IT -Industrie und neuen Unternehmen ergibt). Zur old economy gehören die Firmen, die noch nach traditionellen Kriterien handeln und bewertet werden.
2.  Die gesamte Volkswirtschaft, in der die Unternehmen neuen Typs auf den Rest der Firmen ausstrahlen und diese zur Annahme neuer Praktiken zwingen oder aber aus dem Markt treiben.

Kritiker dieser Entwicklung sahen insbesondere in der Entkopplung vom Marktwert und der  beobachtbaren Leistungsfähigkeit der Unternehmen Anzeichen einer Kapitalmarkt-bubble. Die Erwartungen hinsichtlich der künftigen Profitabilität vieler Unternehmen sind, so das Argument, in der Regel überzogen; Firmen, die es vor wenigen Jahren noch nicht gab, wurden und werden (trotz der Korrektur der letzten Monate) zu einem Wert gehandelt, der erst nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten profitabler Operationen realisiert werden kann.

Gewinner und Verlierer (Cisco Systems gegen amazon.com)

Der irrationale Überschuss auf den Aktienmärkten enthält ein starkes spekulatives Element. Er ist aber auch mit der technologischen Dimension verknüpft: Mit der IT- und biotechnischen Revolution entstehen neue Märkte, auf denen - wie die Investoren hoffen - die first comer über dauerhafte monopolistische Vorteile verfügen. In der Tat gibt es einige Unternehmen (Microsoft im Bereich der PC-Betriebssysteme, Cisco Systems bei Routern, Sun Microsystems bei Netzwerk-Software, Intel bei Mikroprozessoren, Lucent bei Glasfaserkabeln), die Standards setzen und zumindest für eine gewisse Zeit Monopolprofite erwirtschaften können. Wenn sich durch Zufall auf dem Markt ein bestimmter Standard durchsetzt, hat dieser einen Vorteil auch gegenüber technisch besseren oder billigeren Lösungen, die später angeboten werden (s. die Netzwerkexternalitäten: Die Konsumenten wollen über Produkte verfügen, die ihnen möglichst viele Anwendungen und Kontakte eröffnen), und der mögliche Vorteil eines technisch besseren oder billigeren Produkts wird durch die Zersplitterung des Marktes mehr als kompensiert.

Die große Mehrheit auch der „neuen“ Unternehmen dagegen wird der Preiskonkurrenz ausgesetzt sein und (von der Startphase abgesehen) keine Monopolprofite erwirtschaften. Die zündenden „Ideen“, die viele Internetfirmen haben entstehen lassen, lassen sich nicht gegen Konkurrenz schützen. Ein Buchversand wie amazon.com kann von anderen Unternehmen imitiert werden; das Internet selber ermöglicht schnelle Preisvergleiche, so dass der Spielraum zur Fixierung monopolistischer Preise noch geringer wird als im traditionellen Einzelhandel, wo wenigstens die geographische Lage eines Geschäfts eine gewisse Monopolposition mit sich brachte. Das heißt: Beide Seiten sind im Recht, sowohl diejenigen, die in der New Economy eine neue und unkonventionelle Dynamik vermuten, die die Abschaffung konventioneller Bewertungsmethoden rechtfertigt, als auch diejenigen, die lediglich eine Kapitalmarkt-Bubble sehen. Beide fassen zwei Seiten der New Economy ins Auge - die (wenige) Gewinner und (viele) Verlierer haben wird.

4. Die metaökonomische Dimension

Mit dem Begriff New Economy verbindet sich eine ganze Reihe von Assoziationen, die aus der ökonomischen Debatte im engeren Sinne herausführen. Von eher esoterischen Spekulationen, denen zufolge etwa das Internet das Nervensystem eines sich herausbildenden globalen Organismus ist, soll an dieser Stelle abgesehen werden. Plausibler ist das Etikett der „zweiten industriellen Revolution“, das herangezogen wird, um die historische Dimension der IT-Revolution und des Übergangs zur New Economy zu illustrieren. Im Kontrast hierzu steht eine Interpretation, die den gegenwärtig zu beobachtenden Umbruch in der Kontinuität der industriellen Revolution stellt: Die IT-Revolution ist kein singulärer Umbruch, sondern nur der letzte mehrerer Technologieschübe, wie sie für industrielle Volkswirtschaften seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts kennzeichnend sind..

Informationswirtschaft oder „economy of attention“? (Michael Goldhaber)

Die IT-Revolution wird als zweite industrielle Revolution interpretiert, da sich mit ihr der „Grundstoff“ der Wirtschaft verändert. Mit dem Start in eine Informationswirtschaft wird Information zum wichtigsten Input (anstelle von Kapital, Arbeit, Energie und Rohstoffen), Output (anstelle materieller Güter und traditioneller Dienstleistungen) und strukturierendem Prinzip der Wirtschaft. Hieraus ergeben sich freilich einige grundsätzliche Probleme:
1.  Wie lässt sich in einer Marktwirtschaft ein Preis für Information fixieren, für ein Gut also, dessen Produktionskosten hoch sein können, dessen Reproduktions- und Grenzkosten aber gegen Null tendieren? Nicht zufällig verbindet sich ein relevanter Teil der Diskussion um die Informationswirtschaft  mit der Frage, wie sich das Eigentum an Information schützen lässt (ein zentrales Thema auch der neuen Wachstumstheorie), wenn Information in „reiner“ Form, also ohne den Schutz ihrer Einbettung in materielle Güter gehandelt wird. Wenn das Eigentum an Information nicht wirksam geschützt werden kann, könnte der Anreiz zur privaten Produktion von Information entfallen, so dass die Informationswirtschaft paradoxerweise von Knappheit an Information begleitet sein kann oder einen steigenden Aufwand mit der Verschlüsselung, also der partiellen Vernichtung von Information, betreiben muss .
2.  Allgemein zugängliche Information ist die Voraussetzung jeder rationalen Transaktion (und des Funktionierens eines demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens) und trägt damit die Züge eines öffentlichen Gutes. Information kann gleichzeitig privat besessen und gehandelt werden. Die Frage ist also nicht nur, wie der private Besitz an Information, sondern auch wie das öffentliche Gut Information geschützt werden kann.
3.  Schließlich wurde eingewandt, dass es keine Informationswirtschaft geben kann, da sich Wirtschaft per definitionem mit knappen Gütern befasst und Information kein knappes Gut ist. Im Gegenteil löst der Begriff der Informationsgesellschaft eher Überflutungsassoziationen aus. Das knappe Gut ist die physisch bedingte und durch den 24-Stundentag begrenzte Aufnahmefähigkeit der Individuen für Information. Anstatt von einer Informationswirtschaft sollte, so Michael Goldhaber, von einer economy of attention die Rede sein, in der die Verteilung und Nutzung von „Aufmerksamkeit“ im Zentrum steht.

Markt oder Nicht-Markt (Brad DeLong gegen den Economist)

Auch in einer anderen Hinsicht kann der Begriff der „zweiten industriellen Revolution“ bemüht werden. Die ökonomiegeschichtliche Bedeutung der ersten industrielle Revolution lag in dem der Bevölkerung auferlegten Zwang, die Mittel ihres physischen Überlebens auf dem Markt durch die Erwirtschaftung eines Einkommens zu sichern. Gleichwohl ließ auch die aufkommende Industriegesellschaft vor-marktwirtschaftliche Beziehungen (die Familie) bestehen und schuf selber neue, nicht marktgemäße Institutionen (den Sozialstaat). Die New Economy dagegen kann nicht nur mit der Ausweitung („Globalisierung“) von Marktbeziehungen identifiziert werden, sondern auch mit deren Vertiefung (marketization) im Sinne eines Abbaus all der nicht marktgemäßen Einrichtungen, welche die traditionelle Industriegesellschaft entweder übernahm oder neu bildete. Der Hebel der Marktradikalisierung ist die mit der IT-Revolution mögliche umfassende und schnelle Verfügbarkeit über Information und - in der Folge – sinkende Transaktionskosten und -risiken. Die schnelle Transmission elektronischer Daten ermöglicht, so das Argument, einen schnellen und vollständigen Überblick über Angebot und Nachfrage. Kosten und Risiken von Transaktionen sinken. So wird vermutet, dass
(1)  mit der zunehmenden Nutzung des Internet Unternehmen weniger Leistungen intern erstellen und mehr Leistungen auf dem Markt erwerben werden;
(2)  langfristig angelegte Transaktionsbeziehungen durch direkte und kurzfristige Markttransaktionen verdrängt werden; und
(3)  die Preisbildung transparenter wird, so dass Festpreise dank Internet-Auktionen und -Börsen durch optimale markträumende Preise (einschließlich des Preises für Arbeitskraft) abgelöst werden.
Die allseitige und umfassende Verfügbarkeit von Information macht es m.a.W. möglich, Marktsubstitute wie die semipermanente Organisationsform der Unternehmen, langfristige Transaktionsbeziehungen und Festpreise, die sich „imperfekter Information“ verdanken, durch Marktbeziehungen zu ersetzen. Die reale Wirtschaft, so scheint es jedenfalls, nähert sich ihrem neoklassischen Ideal an, die entsprechend höhere Effizienz kommt der Nachfrage, also letztlich den Konsumenten, zugute.

Gegen diese Erwartungen wurde eingewandt (unter anderem von Brad DeLong), dass die Gesetze des Marktes auf Produkte und Leistungen der Informationswirtschaft keine optimalen Resultate hervorbringen. Die für einen funktionierenden Markt im Sinne Adam Smiths notwendigen Voraussetzungen, nämlich
1)  die Möglichkeit, Nicht-Besitzer vom Genuss eines Gutes auszuschließen;
2)  eine Kostenstruktur, bei der die Produktion zweier Einheiten desselben Gutes (annähernd) doppelt so teuer sind wie die einer; und
3)  die Transparenz der zu erwerbenden Güter und Leistungen
sind nicht mehr gegeben, wenn mit Information bzw. mit Gütern mit einem hohen Informationsgehalt gehandelt wird. Das Fehlen dieser Voraussetzungen ist kein Novum, die Wirtschaftswissenschaften haben seit langem mit Begriffen wie economies of scale, imperfekte Information, Externalitäten usw. Einschränkungen der reinen Marktgesetze anerkannt und begrifflich zu fassen versucht. Was aber in der Vergangenheit als zweitrangige Abweichung gelten konnte, wird - so die These - in einer Informationswirtschaft zu einem erstrangigen Problem:  The friction becomes the machine.

Die Tertiarisierung der Wirtschaft

IT-Revolution und der Übergang zur New Economy werden oft in den  Zusammenhang mit einem weitaus älteren und früher beobachteten Trend gestellt: Der Tertiarisierung der Wirtschaft, dem relativen Beschäftigungsrückgang in der verarbeitenden Industrie – das Ergebnis der der industriellen Produktion innewohnenden Rationalisierungdynamik – zugunsten des Dienstleistungssektors. So wird die postindustrielle Gesellschaft als Dienstleistungsgesellschaft oder, in Anspielung auf die IT-Revolution, als „wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft“ bezeichnet.

Generell sind Dienstleistungen Wirtschaftsgüter, bei denen Produktion und Verbrauch zusammenfallen. Ihre Bereitstellung kann nicht oder nur eingeschränkt arbeitsteilig organisiert werden, so dass sich die der Industrie innewohnende Rationalisierungsdynamik nicht entfalten kann. Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ist, wie oben erwähnt, meist mit einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktivität verbunden – er ist die Grundlage des Produktivitätsparadoxes. Diese Logik wurde jedoch in den USA seit Mitte der neunziger Jahre außer Kraft gesetzt, sei es, weil der systematische Einsatz der Informationstechnologie die für die Produktivität negativen Folgen der Tertiarisierung kompensierte, sei es, weil die Tertiarisierung selber an eine Grenze gelangte.

Von der Tertiarisierung im engeren Sinne zu unterscheiden ist
1)  der Rückgang materialverformender zugunsten symbolanalytischer (Robert Reich) oder intellektueller Tätigkeiten, die der Produktion im engeren Sinne vor- oder nachgelagert sind (Forschung und Entwicklung, Software-Produktion, Marketing, Distribution), die aber auf die arbeitsteilige industrielle Produktion von Gütern bezogen bleiben;
2)  der (mögliche) Rückgang der Produktion materieller Güter zugunsten von „Informationsgütern“ (Infotainment, Multimedia); auch Informationsgüter können arbeitsteilig produziert und gelagert (gespeichert) werden;

Von einer „wissensbasierten“ Dienstleistungsgesellschaft kann nur unter dem Gesichtspunkt dieser beiden letzteren Aspekte die Rede sein: Der Anteil des „Wissens“, der in die Produktion eingeht, steigt im Vergleich zu den materiellen Inputs – in bestimmten Branchen so weitgehend, dass die Materialverformung zu einem Nebenaspekt der Produktion wird (wie bei der Produktion eines Mikrochips); möglicherweise steigt auch der Informationsgehalt des Verbrauchs, wobei freilich der Verbrauch von Informationsgütern durch die physische Aufnahmefähigkeit der Individuen begrenzt ist (s.o.) – während die Akkumulation materieller Güter keine Grenze hat. Der weitaus größte Teil der Tätigkeiten im tertiären Sektor aber – also der Gebäudereiniger, Masseure, Heil- und Pflegekräfte, Köche, Kraftfahrer, Hausmeister usw. – wird nur in Grenzen durch eine relative Zunahme des Inputs „Wissen“ gekennzeichnet sein.
 

5.  Die soziale Dimension

Fast schon stereotyp wird vermutet, dass die New Economy mit einer Verschlechterung der Lage der Arbeitnehmer, zumindest ihrer großen Mehrheit, verbunden ist. Dies ist nicht zwingend: Wenn die Beschäftigung schneller als in der Vergangenheit wachsen kann, ohne Inflation auszulösen, ist dies gerade für die Arbeitnehmer eine gute Nachricht. Die zunehmende relative Knappheit der Arbeitskraft hat zur Folge, dass höhere Löhne und bessere Beschäftigungsbedingungen ausgehandelt werden können. Meist waren Zeiten hoher Wachstumsraten (wie die fünfziger und sechziger Jahre in den USA und in Westeuropa) auch Zeiten einer relativen Verbesserung der Lage der Arbeitnehmer, und die amerikanischen Daten von 1997-2000 (s. Tabelle 2) legen die Annahme nahe, dass sich auch in jüngster Zeit höhere Wachstumsraten in höhere Reallöhne umsetzten (obwohl, um es noch einmal zu betonen, der beobachtete Zeitraum noch zu kurz ist, um endgültige Schlüsse zu ziehen). Es gibt auch Hinweise, dass die Ungleichheit der Einkommen 1997-2000 (leicht) abgebaut wurde (wenn sich Löhne und Beschäftigungsbedingungen generell verbessern, wird sich die zunehmende Knappheit an Arbeitskräften vor allem in den unteren Segmenten des Arbeitsmarkts bemerkbar machen). Unter diesen Bedingungen lässt sich der Übergang zur New Economy möglicherweise nicht als Beschleunigung, sondern als Korrektur des Trends interpretieren, der in den USA in den siebziger und achtziger Jahren zu beobachten war: Des drastischen Rückgangs der Reallöhne insbesondere niedrig qualifizierter Arbeitskräfte und der hohen Konzentration der Einkommen.

Wenn die Auswirkungen der New Economy auf Beschäftigung und Arbeitnehmereinkommen nicht negativ sein müssen, so gilt doch als ausgemacht, dass das Beschäftigungsrisiko der Arbeitnehmer in der New Economy höher bzw. die Beschäftigungsstabilität schwächer sein wird. In der traditionellen Industriegesellschaft war das in der Regel langfristige, oft lebenslange  Beschäftigungsverhältnis selbst die wichtigste Absicherung gegen soziale Risiken; die soziale Sicherung im engeren Sinne war (und ist) an das Beschäftigungsverhältnis gebunden und schützt die Arbeitnehmer vor „anormalen“ Unterbrechungen des Beschäftigungsverhältnisses. Langfristige Beschäftigungsverhältnisse aber, so die Annahme, werden in der New Economy eher die Ausnahme als die Regel sein. Die normale Erwerbsbiographie wird in Zukunft durch den häufigeren Wechsel des Arbeitgebers und der Beschäftigungsform (befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Telearbeit, echte und Scheinselbständigkeit, Tätigkeit gegen Honorar, Aus- und Weiterbildungszeiten, Arbeitslosigkeit usw.) gekennzeichnet sein.

Die Frage ist allerdings, ob diese Verlagerung des Beschäftigungsrisikos auf die Arbeitnehmer ausschließlich oder in erster Linie auf die IT-Revolution oder die New Economy zurückgeführt werden können. Für die IT-Industrie selbst erscheint dies zunächst plausibel: Der hohe technologische Innovationsrhythmus, der Wissen schnell veralten lässt, in Verbindung mit der Kurzlebigkeit vieler IT-Firmen, die in einem sich bildenden Markt nicht nur schneller wachsen, sondern auch schneller niedergehen, verkauft oder restrukturiert werden, scheint langfristige Beschäftigungsverhältnisse zur Ausnahme werden zu lassen. Dem widerspricht jedoch die Tatsache, dass die Arbeitnehmer in der IT-Industrie nicht nur überdurchschnittlich entlohnt werden, sondern auch in den Genuss einer überdurchschnittlichen Beschäftigungssicherheit kommen.

Alternativ kann die Erhöhung des Beschäftigungsrisikos für die Arbeitnehmer zurückgeführt werden
1. auf die erwähnte Tertiarisierung der Beschäftigung; und (hiermit im Zusammenhang)
2. auf den Abbau großbetrieblicher Formen der Produktionsorganisation und der industriellen Interessenvertretung; und auf den Abbau der Normierung der Beschäftigungsverhältnisse in der gesamten Wirtschaft durch die (Groß)-Industrie (unter über den Druck der Gewerkschaften).

Letztlich werden nicht nur die Arbeitnehmereinkommen, sondern auch die Beschäftigungsbedingungen davon abhängen, ob und in welchem Ausmaß sich die Erhöhung der potentiellen Wachstumsrate in neue Knappheitsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt umsetzt. Sollte die New Economy wirklich die Dynamik entfalten, die ihre Protagonisten ihr zusprechen, würden sich auch die Möglichkeiten verbessern, die Arbeitnehmer gegen soziale Risiken – einschließlich der Risiken der New Economy selbst – abzusichern.


Anhang: Einige Links

Die Produktivitätsdebatte des Jahres 1997 ist am besten dokumentiert auf der von Nouriel Roubini betreuten Website
http://www.stern.nyu.edu/nroubini/NewE.html
Die Site enthält Links zu den wichtigsten Teilnehmern der Debatte wie Paul Krugman, Steve Roach, Allan S. Blinder und Steven Shepard. Sie bietet auch die Verbindung zu wichtigen statistische Informationsquellen. Die Debatte zwischen Allan S. Blinder und Barry Bluestone/ Bennett Harrison ist am besten in der Online-Version der Zeitschrift American Prospect dokumentiert:
http://www.prospect.org/authors/ index.html
Beiträge insbesondere zur Messung des BSP in der New Economy enthält die Dokumentation einer vom Department of Commerce im Mai 1999 ausgerichteten Konferenz zum Thema The Digital Economy: Data, Tools and Research:
http://mitpress.mit.edu/ude.html

Die wichtigste Site zum Thema Internet (The Economics of the Internet, Information Goods, Intellectual Property and Related Issues) wird von Hal Varian betreut:
http://www.sims.berkeley.edu/resources/infoecon
Zur Analyse von Netzwerkökonomien (einschließlich des Internet) ist die Site von Nicholas Economides zu empfehlen:
http://stern.edu.networks/site.html
Michael Goldhabers Beitrag zur attention economy findet sich unter
http://firstmonday.dk/issues/issue2_4/goldhaber
Die besten Informationen und Links zur neuen Wachstumstheorie bietet:
http://www.nuff.ox.ac.uk/Economics/Growth
Es bietet sich grundsatzlich an, Brad De Longs Website auch direkt aufzusuchen:
http://www.j-bradford-delong.net

Die politische Interpretation der New Economy seitens der New Democrats (des Bill Clinton nahestehenden rechten Flügels der Demokratischen Partei) und deren Think Tank, dem Progressive Policiy Institute, findet sich unter
http://www.ndol.org/blueprint/summer 2000/default.html
und
http://www.ppionline.org/ppi_ci.cfm
Eine eher gewerkschaftlich ausgerichtete Site ist der New Economy Information Service:
http://www.newecon.org

Überflüssig schließlich ist die von der online-Zeitschrift wired angebotene Enzyklopädie der New Economy, die nur aus einer Sammlung schwach und ideologisch erläuterter modischer Schlagwörter besteht:
http://hotwired.lycos.com/special/ene/index.html
Die angemessene Antwort hierauf bietet der Web Economy Bullshit Generator:
http://www.dack.com/web/bullshit.html



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